ENCYKLOPÄDIE

MATHEMATISCHEN WISSENSCHAFTEN

MIT EINSCHLUSS IHRER ANWENDUNGEN.

VIERTER BAND: MECHANIK.

ALLE RECHTE, EINSCHLIESSLICH DES ÜBERSETZUNGSRECHTS, VORBEHALTEN.

ENCYKLOPÄDIE

MATHEMATISCHEN WISSENSCHAFTEN

MIT EINSCHLUSS IBBER-ANWENDUNGEN.

HERAUSGEGEBEN IM AUFTRAGE DER AKADEMIEN DER WISSENSCHAFTEN ZU GÖTTINGEN, LEIPZIG, MÜNCHEN UND WIEN, SOWIE UNTER MITWIRKUNG ZAHLREICHER FACHGENOSSEN.

VIERTER BAND IN VIER TEILBÄNDEN.

MECHANIK.

REDIGIERT VON

FELIX KLEIN UND CONR. MÜLLER

IN GÖTTINGEN.

ERSTER TEILBAND.

&

LEIPZIG, DRUCK UND VERLAG VON B. 6. TEUBNER. 1901 1908.

MATH-SUT, Übersicht über die im vorliegenden ersten Teilbande von Band IV zusammengefassten Hefte und ihre Ausgabedaten.

A. Grundlegung der Mechanik.

Heft 1. [art.1. Voss: Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

13. XI 1901. | B. Mechanik der Punkte und starren Systeme. I. Behandlung elementarer Fragen in geometrischer Form.

8. VII. 1902 starren Körpers.

Heft 2 Wi 2. Tımervina: Geometrische Grundlegung der Mechanik eines Art. 3. ScHoEnFLies-GrüsLer: Kinematik.

Heft 3. Art. 4. Juna: Die Geometrie der Massen. 11. IX. 1908. \ Art. 5. Hensesere: Graphische Statik.

5. II. 1908. Keim: Vorrede zu Band EV:

Heft 4. [x 6. Stricker: Die elementare Dynamik. «' Inhaltsverzeichnis von Band IV, erster Teilband.

Vorrede zum vierten Bande.

Mit dem Bande IV, dessen ersten Teil ich hiermit dem Publikum vorlege, beginnt gemäss dem Plan der Encyklopädie die Reihenfolge der drei Bände, welche den Anwendungen der Mathematik: auf Natw- wissenschaft und Technik gewidmet sein sollen, also der Mechanik, der theoretischen Physik und der Geonomie und Astronomie. Wie Hr. v. Dyck in seinem „Einleitenden Bericht“ in Band I bereits ausein- andergesetzt hat, will die Encyklopädie in diesen Bänden mehr sein als eine blosse Zusammenstellung der fertig ausgearbeiteten mathe- matischen Theorieen; sie möchte der ferneren mathematischen Ent- wickelung der in Betracht kommenden wissenschaftlichen Disziplinen allgemein die Wege ebnen, indem sie ihren Lesern neben den Resul- taten auch die Ansätze zur Kenntnis bringt, writ denen die Fach- verständigen der verschiedenen Gebiete versucht haben, den ihnen vorliegenden Bedingungen der Wirklichkeit mathematisch gerecht zu werden.

Die Schwierigkeiten, welche sich der Durchführung dieses Pro- gramms sogleich bei der Inangriffnahme der Bände und dann Schritt für Schritt bei der weiteren Arbeit entgegenstellten und fortgesetzt entgegenstellen, sind in der Tat sehr bedeutende. Denn die Ent- wickelung im 19. Jahrhundert ist im ganzen die gewesen, dass sich die verschiedenen Gebiete der mathematischen Praxis von dem Betriebe der reinen Mathematik immer mehr abgetrennt haben, so dass die sachliche und namentlich auch die persönliche Verbindung, welche die notwendige Voraussetzung für die Durchführung unseres Planes ist, von Fall zu Fall immer erst mühsam hergestellt werden muss.

Hr. v. Dyck hat in seinem „Einleitenden Bericht“ bereits des näheren dargelegt, wie sich diesen Verhältnissen gegenüber der Gedanke der Encyklopädie allmählich durchgesetzt hat. Den Anfang machte vor nun zehn Jahren eine allgemeine Orientierung nach der persönlichen Seite, unter direkter Bezugnahme mit hervorragenden Vertretern der verschiedenen Gebiete im Inlande und Auslande, wofür die Akademieen in dankenswerter Weise die Mittel zur Verfügung gestellt hatten. Die Redaktion der Bände V (Theoretische Physik)

M79A651

VI Vorrede zum vierten Bande.

und VI (Geonomie und Astronomie) konnte bald hernach hervor- ragenden jüngeren Kräften übertragen werden. Die Bearbeitung von Band IV aber (Mechanik) übernahm ich selbst (Herbst 1899) und dies um so lieber, als mir die Herstellung normaler Beziehungen zwischen theoretischer und angewandter Mechanik nach dem Gange meiner persönlichen Entwickelung von je Herzenssache gewesen ist.

Ein besonderes Mittel, sich in Gebiete, die ihm ferner liegen, einzu- arbeiten, ist für den deutschen Universitätsdozenten, der in hohem Masse über die besondere Richtung seiner Lehrtätigkeit frei verfügen kann, die Abhaltung geeigneter Vorlesungen und Übungen. Ich habe von diesem Mittel im Interesse meiner Tätigkeit an Band IV der Encyklopädie alle die Zeit hindurch vielseitigen Gebrauch gemacht. Insbesondere las ich im Winter 1899—1900 über Hydrodynamik und verband damit Seminarübungen über Schiffstheorie; Vorlesung und Übungen waren nicht mehr als ein erster Versuch, aber sie haben mir denjenigen Mitarbeiter zugeführt, der mir für meine Aufgabe sehr bald die aller- wesentlichste Hilfe werden sollte, Hrn. Conrad H. Müller. Ich bezeichne den Umfang seiner Mitwirkung am einfachsten, indem ich angebe, dass er nur an den drei Referaten Voss, Schönflies-Grübler und Abraham (IV 1, 3 und 14) nicht direkt mitgearbeitet hat; bei allen anderen hat er durch eindringendes Sachstudium und sorgfältigste Kontrolle sowohl der allgemeinen Exposition als der bibliographischen und drucktechnischen Einzelheiten zur Vollendung der endgültigen Darstellung ausserordentlich viel beigetragen, was von sämtlichen be- teiligten Verfassern gewiss mit Dankbarkeit bestätigt werden dürfte. Hr. Müller war, als unser Zusammenarbeiten begann, noch Student. Er ist dann später zwei Jahre lang bei mir Assistent gewesen und folgeweise in die Bibliothekarlaufbahn eingetreten. Ich habe der Verwaltung der hiesigen Universitätsbibliothek wie dem vorgesetzten Ministerium meinen besten Dank dafür auszusprechen, dass Hr. Müller seit dem 1. Juli 1906, wo er zum Hülfsbibliothekar 'befördert wurde, im Interesse seiner Arbeit an der Eneyklopädie für längere Zeit beurlaubt worden ist. Seit Ende 1904 wird Hr. Müller auf dem Titel von Band IV neben mir ausdrücklich als Mitherausgeber genannt.

Was die Abgrenzung der Mechanik gegen die Nachbargebiete angeht, so ist diese dem Wesen der Sache nach in hohem Masse willkürlich. Für eine abstrakte Auffassung ist die Mechanik, wie sie hier verstanden wird, nur ein Teil der theoretischen Physik und die Lehre von der Bahnbestimmung der Gestirne hinwiederum nur eine Anwendung der Mechanik. Für den Umfang von Band IV glaubten wir uns statt dessen im ganzen an das historische Herkommen halten

Vorrede zum vierten Bande. VI

zu sollen, wie es der Hauptsache nach durch Lagranges Mecanique analytique festgelegt ist. Elastizität und Akustik haben wir noch mit zur Mechanik gerechnet, dagegen Kapillarität und kinetische Gastheorie nicht mehr, ebensowenig Thermodynamik. Die astronomischen Einzel- heiten. bleiben dem Bande VI vorbehalten. Auch treten hier diejenigen Entwickelungen zurück, deren Schwerpunkt nach seiten der reinen Geometrie liegt; nach dem Plan der Encyklopädie gehören sie in den Band II.

Innerhalb des so umgrenzten Bereiches haben wir dann gemäss den oben genannten Grundsätzen nach möglichster Vielseitigkeit des Inhaltes gestrebt. Neben der analytischen Formulierung kommt die anschauungsmässige Behandlung zu ihrem Recht, neben Untersuchungen, welche die höchsten Mittel der Analysis erfordern, die elementar ge- haltene Darstellung. Insbesondere aber haben wir überall die besonderen Ansätze und Approximationsmethoden zur Geltung gebracht, deren sich die Physiker und Ingenieure zur Erledigung der ihnen entgegentreten- den mechanischen Aufgaben bedienen. Auf diese Weise sind aus dem ursprünglich einheitlich gedachten Band IV allmählich vier Teilbände, jeder im Umfange von etwa 40 Bogen, geworden, die selbständig paginiert sind und auf den Titelblättern der einzeln ausgegebenen ‚Hefte als IV ı (bezw. IV ı, 1), IV ı, ı1, IV 2 (bezw. IV3,1) und IV», unterschieden wurden.

Die Disposition des Gesamtstoffes wird sich erst ganz über- sehen lassen, wenn die gesamten Teilbände sämtlich vollendet vor- liegen; ich behalte mir vor, in einem Schlussworte zu IV 2, ır auf die hierher gehörigen Fragen zurückzukommen. Dort soll dann auch ein alphabetisch geordnetes Register für den Gesamtband gegeben werden. Vielleicht aber darf schon hier hervorgehoben werden, dass die Dis- position trotz aller Verschiebungen, die sich im Laufe der Ausführung einstellten, einer gewissen Symmetrie nicht entbehrt. In der Tat stehen zu Anfang und Ende Artikel, die sich mit der Frage nach der philosophischen Begründung der Mechanik befassen (der Artikel Voss über die Prinzipien der rationellen Mechanik und der ursprünglich von Boltzmann übernommene Artikel über das Eingreifen der Wahr- scheinlichkeitsrechnung in die Mechanik der aus sehr zahlreichen diskreten Teile bestehenden Systeme), während die zwischengelagerten Artikel sich ziemlich zu gleichem Umfange auf die Mechanik der Systeme von endlichem Freiheitsgrad und die Mechanik der Kontinua verteilen.

Dies eine wird man uns jedenfalls zugestehen, dass eine ausser- ordentliche Menge von Stoff kritisch durchgearbeitet und nach einem

vm Vorrede zum vierten Bande.

einheitlichen Plane geordnet worden ist. Dass dabei vieles noch un- vollkommen und unvollständig geblieben ist, ist niemandem besser bewusst als der Redaktion. Aber immer sind die ersten wichtigen Schritte auf das im Eingang dieser Vorrede bezeichnete Ziel hin getan. Der Studierende, der sich eine Übersicht über das Gesamtgebiet der Mechanik verschaffen will, erfährt doch zum mindesten von dem Vorhandensein der verschiedenen, neben einander herlaufenden Unter- suchungsrichtungen und der zugehörigen Litteratur. Mögen unsere Bibliotheken ein übriges tun und dafür sorgen, dass diese Litteratur überall zugänglich sei. Mögen namentlich auch die elementaren Lehr- bücher ihre vielfach einseitig gehaltenen Darstellungen an der Fülle des gebotenen Stoffes einer Revision unterziehen.

Wir meinen also, wenn erst Band IV vollendet vorliegt, etwas Bestimmtes und Nützliches geleistet zu haben. Aber freilich ist es, vom höheren Standpunkte, nur eine Vorbereitung. Mechanik, über- haupt angewandte Mathematik, kann nur durch intensive Beschäftigung mit den Dingen selbst gelernt werden; die Litteratur giebt nur eine Beihilfe. Anleitung zum Beobachten mechanischer Vorgänge von früher Jugend an, und auf höherer Stufe Verbindung des mathe- matischen Nachdenkens mit der Arbeit im Laboratorium, das ist, was behufs gesunder Weiterbildung der Mechanik daneben und vor allen Dingen in die Wege geleitet werden muss. Die moderne Entwickelung hat ja auch in dieser Hinsicht in vielversprechender Weise eingesetzt. Möge die Wissenschaft der Mechanik, die eine Grunddisziplin aller Naturwissenschaft ist, solcherweise einer neuen Blüte ehtgegengeführt werden. Möge insbesondere auch das Wort Leonardo da Vineis sich wieder bewahrheiten, dass die Mechanik das Paradies der Mathe- matiker ist!

Es erübrigt, dass ich allen Denen namens der Redaktion danke, die uns mit hingebender Arbeit unterstützt haben oder weiter zu unterstützen bereit sind. Zunächst unseren geehrten Referenten, deren guten Willen wir vielfach auf eine harte Probe gestellt haben, indem wir immer wieder genauere Darlegungen oder vielseitigere Darstellung verlangten. Dann aber nicht minder der Verlagsbuchhandlung, welche die vielen weitgehenden Änderungen des Textes, die im Laufe der Arbeit notwendig schienen, immer in entgegenkommendster Weise aufgenommen und zur Ausführung gebracht hat. Mögen sie alle die Befriedigung empfinden, die aus dem Bewusstsein entsteht, an einer guten Sache in hervorragender Weise mitgewirkt zu haben.

Göttingen, Weihnachten 1907. F. Klein.

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X 10

9. 10.

11. 12.

13. 14. 15. 16. EN.

18. 19.

Inhaltsverzeichnis zu Band IV, 1. Teilband.

A. Grundlegung der Mechanik (Art. 1).

Art.1. Die Prinzipien der rationellen Mechanik. Von A. Voss in Würzburg (jetzt in München).

I. Begriff und Aufgabe der Mechanik.

N A . Prinzipe und Prinzipien. der Mechanik . ....... 222er 00.

Begriff und Aufgabe der Mechanik, . . . .».. 22.0... cl. .

. Verschiedene Zweige der Mechanik . .. . 2.2 222er. Pinsmemone Beneskunsen ; 2... 022. 2200, en

II. Die allgemeinen Prinzipien der rationellen Mechanik. A. Philosophische Prinzipien.

. Das Kausalitätsprinzip und der Satz vom zureichenden Grunde. . . . Prmsolelsehe Fansipien. » » un nen ein no Fische: Toetumle Prinmimaen 2. 0... 0. me

B. Mathematische Prinzipien.

Mathematische Voraussetzungen über die Natur der Funktionen Is Hompgensikklaprinmip. .. » : -: .. nun een

C. Mechanisch-physikalische Prinzipien.

BE EDBNRGIBBDEIRRID : , ; 2... u na Fernewirkung und Feldwirkung . .. . ... ver r0rc..n

III. Die Grundbegriffe der rationellen Mechanik.

A. Die Grundbegriffe der Phoronomie.

Die Anschauungen von Raum und Zeit... 2:2... en VRR Re ERS: TOR PER. ee Philosophische Ansichten der Gegenwalt . . » em. Das Bezugssystem der Mechanik. ...... 2 ven. EIERN. rennen

Inhaltsverzeichnis zu Band IV, 1. Teilband.

Seite C. Die Grundbegriffe der Dynamik. 20. Galilei und die Principia von Newton . 2: N 2m ren 46 21. Die dynamische Bewegungslehre . . . . 2 2 2 22 ren. 47 22. Das System der klassischen Dynamik. . . . . . 2 2 2 222 m een 49 23. Kritische Bemerkungen über das System der Dynamik. ....... 50 24. Die momentanen Kräfte, Stösse oder Impulse . . . . . 2 2 2 220. 56 25. Druck- und Oberflächenkräfte, verallgemeinerter Kraftbegrif . . . . . 58 D. Die rein kinetischen Theorieen. 26. Die Elimination der Kraft in der Kinetik von W. T’homson (Lord Kelvin) 60 27. Die kinetische Theorie der Kraft von J. J. Thomson . . : 2 2 2.. 61 Bu I06 Mechanik von H Hau... ni... 00 uw 62 IV. Die speziellen Prinzipien der rationellen Mechanik. A. Elementare Variations- oder Differentialprinzipe. «) Die Statik.

20. Der Bogrifi das Gleichgewichle :, , ;.. ...0... 2, ru. 64 80. Das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten . . . . . 2.2 2 22.0. 66 31. Beweis des Prinzips der virtuellen Geschwindigkeiten .. ...... 67

32. Die Beweise von Lagrange, Poinsot und anderen (für das Prinzip der Yirmielien Geschwingkltan): . . con. 0. ya. aa, 69

33. Zusammenfassung (betreffend das Prinzip der virtuellen Geschwindig- Bu a ne: a | 34. Das Fouriersche Prinzip; materielle Systeme allgemeinerer Art. 13 86. Die Gleichgewichtebedingungen . . . . 2: 22 2 nee een .. 75

ß) Die Dynamik. Ba De aseumbertchn Erusp 2... 02... 022, any 76 37. Die Lagrangeschen Gleichungen . . . . 2.2.22... Dun 78 u Diekkkplonome Bystame., . 2... 52.0.0. ea 82 839. Das Prinzip des kleinsten Zwanges von Gaus. . » 2 2220 e00. 84 40. Die Differentialgleichungen der Bewegung bei Ungleichungsbedingungen 85 41. Das d’Alembertsche Prinzip für Impulse. . . .... 2222000. 87 B. Eigentliche Variations- (isoperimetrische) Prinzipe. #5 Ds DRMNORDE FEDED.. . :. ....,.,. 0 u na en 88 28: Des Feinsip der Klsiunten Aktion .. . ... u 22 u, u 0 92 44. Historisches üher das Prinzip der kleinsten Aktion . : 2.2.2.2... 95 C. Eigentliche Integralprinzipe.

45. Das Prinzip der lebendigen Kraft . .. . 2.2.2.2... nn. 9 46. Historische Bemerkungen über Arbeit, lebendige Kraft und Energie. . 101 EE Des Beaprgleprinsin : 2... 0. 0 na BR us 0 48. Das Virial und der zweite Hauptsatz der Thermodynamik ..... . 107 49. Die Lokalisierung der Energie. . .. . . 2.2: 222 een en. 109 50. Energetische Begründung der Mechanik .. . 2... 222.000. 115 DE DORIS ns a een 116 el N nt A Re 117

(Abgeschlossen im Juli 1901.)

I.

Inhaltsverzeichnis zu Band IV, 1. Teilband XI Seite

B. Mechanik der Punkte und starren Systeme (Art. 2—13). Behandlung elementarer Fragen in geometrischer Form (Art. 2—6).

Art.2. Geometrische Grundlegung der Mechanik eines starren Körpers. Von H. E. Tımervine in Elsfleth (Oldenburg) (jetzt in Strassburg i. E.).

Vorbemerkung. . . . . ee a ee a ee 123 I. Geometrische Grundbegriffe.

4 Dor- Vektor... 00000000 ee 128 Addition und: Subtraktion der Vektoren 0. un. 129 EIERN. u ee a ee 130 4 Skalsre’erster. und zweiter Art... 00. een 132 5 umienterilei.. 0 ee 132 6. Ein Linienteil als Summe zweier anderen Linienteile. Poinsotsche Paare 134 Meaanlensummen: ls urn en en eu ea 135 #- Die Zentralaxe einer Ianiensumme ...... 2.0.02 nn. e 136 9. Das gegenseitige Moment zweier Liniensummen . . . 2.2... 0. 137 10. Das vektorielle Moment einer Liniensumme für einen beliebigen Punkt

11. 12. 13. 14.

15.

16. #7: 18. 19.

20. 21. 22.

23.

24. 25. 26. 27.

28.

29. 80. 31.

und das Möbiussche Nullsystem :. . . . .. ce. 202er. 139

II. Die ersten Sätze der Kinematik des starren Körpers und die Ballschen Schrauben.

Jede unendlich kleine Bewegung eine Schraubung. . . . . 2.2... 142 Analogie der Schraubungen und Liniensummen . . . 2.2.2... 0. 144 Zu: BABIChen Bcranben ;,.... 2.0 0. 0 a 146 Schraubenkoordinaten, sowie allgemeinste lineare Transformation der-

a ne au 148 Lineare Schraubensysteme und ihre Bedeutung in den Fällen beschränkter

Bewegungsfreiheit eines starren Körpers . .. 2.2... 150 Schraubensysteme zweiter Stufe. Das Cylindroid ..... 2... 151 Schraubensysteme dritter Stufe...» . 2222er een. 154 Schraubensysteme vierter und fünfter Stufe...» 2.2.2.0. 156 Homographische Schraubensysteme. . . . 2. 22. 158

III. Die Grundzüge der elementaren Statik.

Der statische Kraftbegriff. Das Parallelogramm der Kräfte... . . 160 Der starre Körper. Das Hebelgesetz. Systeme paralleler Kräfte... .. 161 Allgemeine Kräftesysteme. Ihre Reduktion auf zwei zu einander normale

Ba ea ah 161 Reduktion eines Kräftesystems auf eine Einzelkraft und ein Kräftepaar.

Beziehungen zur Schraubentheorie . . . 2.22... 0. En 163 Vereinigung zweier Kräftesysteme . .... ven 164 Kräfte im Gleicberdehk a ie 165 Arbeit eines Kräftesystemms bei einer unendlich kleinen Verrückung . . 166 Unrichtige Auffassungen der Analogie zwischen Kräften und unendlich

BIeame Drohungen , 0... 2 meer ee 168 ea ae ee a 169

IV. Astatik. A. Geometrische Einleitung.

Ebenenkoordinaten. Polar- und Antipolarsysteme . .. .. 2... 172 Konfokale Flächen zweiten Grades... 2... 22. ee ee. 173 Der Reyesche Axenkomplex ....... ee de \

saPpuwm

31.

Inhaltsverzeichnis zu Band IV, 1. Teilband.

B. Theorie der gebundenen Kräftesysteme und ihrer Drehung.

. Systeme parallei gerichteier Kräfte. , . _ . . . 2 2 ee en . Astatisches Gleichgewicht und astatische Aquivalenz. ... 2.2... Gebundene KIBEBBSEO-.. ; 0. na ee . Das vektorielle Moment eines gebundenen Kräftesystems für eine Ebene . Das skalare Moment in Bezug auf eine Ebene . .... 22.2.0. . Gebundene Komponenten eines Kräftesystems . . . . 2. 22 2220. . Die von den Ebenen gleichen Momentes umhüllte konfokale Flächenschar . Die statischen Axen von F' Siacei (für einen beliebigen Punkt). Der

a a > EN ee

. Verallgemeinerung des Mindingschen Satzes durch @. Darboux. . . . Eee Bawpiazen Ger Drawn - 27 2... 00 nen ni . Besondere Fälle astatischer Koordinaten . . . 2». 22.220000.

(Abgeschlossen im Februar 1902.)

Art.3. Kinematik. Von A. SCHOENFLIES in Königsberg i. Pr., (mit einem Zusatze Nr.28—30 von M. GRÜBLER in Dresden).

A. Endliche Bewegungen.

Die einfachsten Typen der Bewegungen und Umlegungen . ..... Zusammensetzung von Bewegungen und Umlegungen . ....... Der Dualismus der Bewegung . . . .. 2:2: v2 en... 0 nee.

. Mehrere incidente Lagen derselben Ebene oder desselben Bündels . Mehrere Lagen desselben räumlichen Systems... . 2... 2... 0. . Analytische Darstellung der Bewegungen. . ... 22...

B. Stetige Bewegungen.

. Geschwindigkeit und Beschleunigungen eines Punktes... ..... . Die stetige Bewegung einer Ebene in sich . .. 2... 2 nn. . Metrische und konstruktive Fragen. . ... 2.2.22 nee ee. . Geschwindigkeit und Beschleunigungen der ebenen Bewegung .

. Spezielle Bewegungen in der Ebene . .. .. 2... Das Korbeigemiebe ; , . un. 5. 2 20 00 Jane

. Angenäberte Kurvenführungen mittelst des Kurbelgetriebes“ . . . . . . Die stetige Bewegung um einen festen Punkt. .. 2.2... une. . Geschwindigkeit und Beschleunigungen bei der Bewegung um einen Punkt »Polbodie und Herpolhodie. .. . . . one cv u... 0 wru ng nl . Die Axenflächen der allgemeinsten Bewegung...» 2.2... . Geometrische Eigenschaft

. Geschwindigkeit und Beschleunigungen der räumlichen Bewegung

. Bewegung bei Freiheit zweiter und höherer Stufe... 2... . Besondere räumliche Bewegungen . ... 2:22. SRANEmBANSIE ee ee ee a

ten der räumlichen Bewegung. .......

C. Die Mechanismen. Mehrere in einander bewegliche Ebenen . . . 2.2... ec.

. Die durch Gelenkketten herstellbaren Verwandtschaften .. . ... - . Die Untersuchungen von A. B. Kempe und die übergeschlossenen Ketten ‚Melalise Doweguäg ; . . : . . m u. “nal nn e Zahnräder und verwandte Mechanismen . . : . 22 nn nee. . Allgemeine Theorie der kinematischen Ketten. ..... 0... Eihere kmemstische Kokten: - 0.000 0000. Bäomliche kmemstische Ketten. = , -.3. . ou. 2.00

D. Anhang.

Kinematik veränderlicher Systeme . . ... : 2 2 2er (Abgeschlossen im Juni 1902.)

Seite

177 178 179 179 180 181 184

185 187 187 188

En Euer)

Inhaltsverzeichnis zu Band IV, 1. Teilband. x

Art. 4. Geometrie der Massen. Von G. Jung in Mailand.

Une Dessie Goa Mamsenpyslems . . 2... 0.0 0 ee 282

x

I. Lineare Momente. Der Schwerpunkt.

..Polare lineare Momente. Die verschiedenen Arten von Massensystemen 283 . Planare lineare Momente. Statische Momente in Bezug auf eine Ebene 286 . Ebene Projektionen eines Massensystems. Geradlinige Systeme. . . . 287 . Sätze über den Schwerpunkt. Das Zentrum der mittleren Entfernungen 288

Bexysonizische Koordinaten . . .. . 2.2.22. 222 en nna 290 . Das Massensystem, aufgefasst als ein System paralleler Kräfte... .. 291 . Kongruente und ähnliche Systeme . ... 2... 2 222mm. 293

II. Quadratische Momente. Das Antipolarsystem.

9. Die verschiedenen Arten quadratischer Momente und ihre gegenseitigen EBRORIUR 2 2 a nee re ee 293 10. Polare quadratische Momente . . .. . 222 nenne. 296 11. Planare quadratische Momente, Deviationsmomente und ihre Beziehung zu dem mit dem Massensystem verknüpften Antipolarsystem.. . . . . 299 12. Die Zentralflächen für die planaren quadratischen Momente und die BRECHEN 5 er er ae 803 13. Die konfokalen Flächen konstanten planaren Momente . . ..... 306 14. Axiale quadratische Momente und die zugehörigen Zentralflächen für Misemaine Bsumb. , 2... u Zaun. De ee 308 15. Deviationsmomente, insbesondere für rechtwinkelige Ebenenpaare, bei BERWMERSBRENMOR. u 0 en a es 311 16. Die Trägheitsflächen eines beliebigen Punktes... . 2... 2... 0. 312 17. Das Hauptträgheitstripel eines beliebigen Punktes... .. 2... 316 18. Der Trägheitskomplex eines Massensystems . . . x... 2-2. 0 ne. 319 19. Planare und axiale Hauptmomentenflächen. Die Schar der Strahlen- komplexe konstanten axialen Momentes. . . . 2. 22.0... 320 20. Quadratische Momente bei ebenen und geradlinigen (allgemeinen) Massen- BEI a a ee m ee En 322 21. Die historische Entwickelung der Lehre von den Trägheitsmomenten GR TERGRSSIWDRONeNG 0 en 325 22. Quadratisch äquivalente Massensysteme. . . ». 22. 329 III. Anhang zur Theorie der linearen und quadratischen Momente. 23. Lineare und quadratische Momente kontinuierlicher Systeme. Der Kern einer kontimierlichen Figur. . . . . 2.2... 2er u ne 331 24. Die Auswertung linearer und quadratischer Momente ... x... 334 IV. Höhere Momente. 25. Allgemeine Definition der höheren Momente . . .. 2... 337 26. Die Nullflächen eines Massensystems . . .. 2.2 22. 338 27. Aquivalenz höheren Grades, Indifferenz höheren Grade . ..... - 339 28 Polarität und Apolarität ....... ae 341 29. Ersetzung eines Massensystems hinsichtlich seiner Momente m‘ Grades DIR RER 3 ee a na es er eh 342 30. Das Problem der Grenzwerte von P. L. Tschebyschef . - - » + 344

(Abgeschlossen im März 1903.)

XIV Inhaltsverzeichnis zu Band IV, 1. Teilband.

DD Ik

28. 29. 30. 31.

32. 33. 34. 35.

36. 37. 38. 39.

Art.5. Die graphische Statik der starren Körper. Von L. HENNEBERG in Darmstadt.

NDERGSBEENOE 2. 0 aa ETeIOHBcOen 5 00 en

I. Grundzüge der graphischen Statik. A. Das ebene Kräftesystem.

. Die analytische Zusammensetzung der Kräfte... . . 2 2220. . Graphische Bestimmung des resultierenden statischen Momentes

. Graphische Zusammensetzung der Kräfte durch das Seilpolygon

. Die verschiedenen Seilpolygone des nämlichen Kräftesystemes a . Das Seilpolygon als Projektion des Schnittes eines räumlichen Gebildes . Das Gelenkpolygon als Seilpolygon . . . 2: 2. 2 nn nee. . Weitere Methoden für die graphische Zusammensetzung der Kräfte. . uralekorve. uud Beilkumre, 20. 2 0 en . Kräfte mit demselben Angriffspunkt. Reziproke Figuren. ...... . Allgemeine Theorie der reziproken Figuren... 2... 222200. . Zerlegung einer Kraft in Komponenten in derselben Ebene... .. .

B. Das ebene Kräftesystem. Anwendungen.

. Graphische Schwerpunktsbestimmung. . . » 2: 2222. . Weitere graphische Methoden für die Schwerpunktsbestimmung .. . . Bestimmung des statischen Momentes einer Kraft durch das Seilpolygon . Biegungsmoment. Biegungsmomentenfläche. Einflusslinie ...... . Konstruktion des Trägheitsmomentes durch das Seilpolygon . . . . . . Weitere graphische Methoden zur Bestimmung des Trägheitsmomentes . Konstruktion der Trägheitsellipee . . . .... rennen. . Trägheitskreis und Zentralkreis . . .. . : 202er . Zentrifugalmoment (Deviationsmoment) . . .. 2.2. een. ee N a ae

C. Das räumliche Kräftesystem.

. Kräfte mit demselben Angriffspunkt . . . .. 2.2... ne, . Kräftepaare in verschiedenen Ebenen. . .. 2... 0... a . Graphische Zusammensetzung der Kräfte im Raum mit verschiedenen

Anosepunkeen =... u nme

. Parallele Kräfte. Mittelpunkt. Schwerpunkt... 2... u...

II. Die bestimmten Fachwerke. Allgemeine Theorie. A. Ebene Fachwerke.

ee a a Gelenksysteme und deren Klassifikation. Definition der freien Fachwerke Analytische Kennzeichen für die verschiedenen Arten von Gelenksystemen Das statische Grundproblem für die freien Fachwerke. „Bestimmte“ a ae ee ae Dreiecksfachwerke. Schnittmethode. Methode der Kräftepolygone . . Maxwellsche Fachwerke.. . . :: 22 ve. ce kiule dag. Die Struktur des (allgemeinen) „bestimmten“ ebenen Fachwerkes N Bestimmung der Spannungen in den (allgemeinen) „bestimmten“ ebenen Fachwerken. Einleitung . . -. » . 00 nl ne nee Fortsetzung: Die Methode von Henneberg. .. : 0. Fortsetzung: Die kinematische Methode von Mohr und Müller-Breslau Fortsetzung: Die allgemeine Verwendung der reziproken Fachwerke. . Allgemeine Kriterien für das Auftreten der Gesstklle . .,: 2 ..%

Seite

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366 366 367 369 372 374 375 376 377 379

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382 385

Inhaltsverzeichnis zu Band IV, 1. Teilband. XV

B. Räumliche Fachwerke.

. Räumliche Gelenksysteme. „Bestimmte“ räumliche freie Fachwerke. . 412 . Spezielle räumliche Fachwerksformen und Diagramme . .. ..... 415 . Struktur des (allgemeinen) „bestimmten“ räumlichen Fachwerkes . . . 417 . Bestimmung der Spannungen im (allgemeinen) „bestimmten“ räumlichen Ba a DR", . Allgemeine Kriterien für das Auftreten der Grenzfälle. ....... 420

III. Spezielle Fachwerksträger.

#6. Vorbemerkung . .. . 2... a 421 Be agerpunkte. der Fachwörke 2... 0.200 ee nn 421 DE aaa BachmerHe 2... 0.00 0 inne 422 48. Spezielle ebene Fachwerksträger . . . 2... 2 2 2 nennen 424 49. Fortsetzung: Gestützte ebene Fachwerke als Fachwerksträger. . . . . 428 650. Spezielle räumliche Fachwerksträger . . .. 2: 2: 222m en 431 3 a Re Be LE EN Pa RE Er 434

m Om

. Stösse bei Systemen. ..... . ee ee

(Abgeschlossen im Juni 1903.)

Art. 6. Elementare Dynamik der Punktsysteme und starren Körper. Von P. STÄCKEL in Hannover.

. Geschichtliche Bemerkungen. Begriff und Aufgabe der elementaren

a ee ee 443

I. Punktdynamik.

. Bedeutung der Punktdynamik für die gesamte Mechanik und Physik . 449

A. Allgemeine Theorie. a) Der einzelne Punkt.

Frauganıentele DoatBe N 00 ee 454 . Aufstellung der ie eg der Bewegung. . ......- 457 . Diskussion der Differentialgleichungen der Bewegung . . . ..... 462 Bene ee 469 b) Systeme diskreter Punkte. . Die Differentialgleichungen der Bewegung . . ... cr. 473 Mechanische Abziohkele 0... 2.2. 2. mn wenn 478 . Kleine Schwingungen ohne Reibung . .... 2.2. 480 Fame Bewesonn... 0,0. 00, nee 485

c) Beziehungen zu Nachbargebieten.

. Beziehungen zur Lehre von der Gleichgewichtsgestalt der Fäden , . . 489

EBaBshangen Sur UBBE 2 5: 22. nennen 490 B. Spezielle Ausführungen. a) Der einzelne Punkt. . Freie Bewegung in der Ebene und im Raume. ..... 2.2... 493 . Bewegung auf einer Kurve. .. ..... 22 499 . Bewegung auf einer krummen Fläche: ...... 22... ee. 502 . Nichtholonome Bedingungen... . .. x er eeenennne 508 b) Systeme materieller Punkte. . Spezielle Probleme aus der Statik der Systeme; statische Behandlung

anetischer Probleme = 0 2 0.0.00 0a ee 510

xXVI Inhaltsverzeichnis zu Band IV, 1. Teilband.

19. Sogenannte Anfangsbewegungen . . .. 2.2: 2 2 2 ern 20. Ausführungen über kleine Schwingungen der Systeme, insbesondere über solche m Bibi. . ii. ... vi... HE ee 21. Sonstige Probleme aus der Kinetik der Systeme. .. ... 22 .2.. C. Zwischenstück: Zusammenhang mit der Mechanik der Kontinua. 22. Übergang zu Systemen von unendlich vielen Punkten ........ 23. Gleichgewichtsgestalten von Fäden. ... 2... 2.2 n run 24. Gleichgewichtsgestalten von Membranen . . .. 2.2.2222. II. Dynamik starrer Körper. 25. en Bemerkungen und Geschichtliches über die Dynamik starrer BEDer. 0 ann Br" 26. Bedeutung der Mechanik starrer Körper für die gesamte Mechanik und rn Be Ne A. Der einzelne starre Körper: Allgemeine Theorie. A ee 27. Bemerkungen zur Statik des starren Körpers . . . . 2. 222.0... 28. Vorbereitungen zur Kinetik des starren Körpers... . 2.22.22... a) Lage und Beweglichkeit, b) Massenverteilung, c) Geschwindigkeits- zustand, d) Lebendige Kraft und Impuls. 29. Allgemeine Kinetik des starren Körpers . ... 22220 na a) Aufstellung der Differentialgleichungen der Bewegung in synthe- tischer Behandlung, b) Analytische Behandlung, c) Kinetostatik, d) Be- deutung der Schraubentheorie für die Kinetik des starren Körpers. 30. Drehung um einen festen Punkt: Eulersche Gleichungen... ... . 81. Reibung. Gebundene Bewegungen; nichtholonome sy: je Wi a) Reibung, b) Aufstellung der Differentialgleichungen der Bewegung für einen starren Körper auf einer Unterlage, c) nicht-holome Be- dingungen. B. Der einzelne starre Körper: Spezielle Ausführungen. Bu: Drohung um one feste Are... nn. ee BE EBERB DOWERUNGgn . .. . 222 0. mes Ve BI Bram . ner an. ed a) Synthetische Behandlung der Bewegungsgleichungen, b) Analytische Behandlung der Bewegungsgleichungen. 85. Schwerer symmetrischer Kreisel . . . . . 2.2.2020 ee ee 0 a) Allgemeine Sätze über den Bewegungsverlauf, b) Besondere Fälle; reguläre und pseudoreguläre Präzession. 36. Schwerer unsymmetrischer Kreisel . . . . . 2.222200. 87. Auf horizontaler Ebene spielender Kreisel (Spielkreisel) ... ... . 838. Gleiten und Rollen auf Unterlagen. . . .. 2.2.22. u memmmmmende Römer; , 2.2.33, .. a0 05 a C. Systeme starrer Körper. 40. Einleitende Bemerkungen . . . . . te ee 41. Die Differentialgleichungen der Bewegung . ... 2.22... a) Freie starre Körper, b) Allgemeine Kinetik der Ale Systeme starrer Körper, c) Gelenkketten; Massenausgleich. 42. Kinetostatik der Systeme starrer Körper... . 22220 neo 43. Spezielle Probleme aus der Kinetik der Systeme starrer eig u a) Regulatoren, b) Kreisel mit einem Freiheitsgrade; Gyrostaten, c) Kreisel mit zwei Freiheitsgraden. eg u BO ER BE ER re BE ee ae ne a ee

(Abgeschlossen im Dezember 1905.)

681 589

598 603 605

619

639 646 650 657

660 661

667 670

682 685

Eneyklopädie der Mathematischen Wissenschaften.

Sonderabdruck aus dem Archiv der Mathematik und Physik, begründet von J. A. Grunert, hrsg. von E. Lampe, W. Franz Meyer und E. Jahnke. III. Reihe. I. Band,

Sprechsaal für die Eneyklopädie der Mathematischen Wissenschaften.

Unter dieser Rubrik nimmt die Redaktion ihr aus dem Leserkreise zugehende Verbesserungsvorschläge und Ergänzungen (auch in litterarischer Hinsicht) zu den erschienenen Heften der Eneyklopädie auf. Die Redaktion hofft vielfach geäufserten Wünschen zu entsprechen, wenn derartige Ver- besserungen an dieser Stelle einen Sammelpunkt finden.

Es wird gebeten, diesbezügliche Einsendungen an das Redaktionsmitglied Prof. Dr. W. F. Meyer in Königsberg i. Pr., Mitteltragheim 51, richten zu wollen.

Die Redaktion des Archivs der Mathematik und Physik.

Zu IA5: A. Schoenflies, Mengenlehre.

I. S. 190, Z. 16. Die Teilmengen » und *o brauchen nicht zugleich in einer transfiniten geordneten Menge enthalten zu sein.

1. 8.193, Z.7. Auch die Belegungsmenge von M mit einer aus zwei Elementen bestehenden Menge hat bereits höhere Mächtigkeit als M.

I. S.196, 2.10. Die Ziffer O ist zu tilgen. 5 2.16u.20;: Lieg @,„ statt R.. e 72.23. Die Intervalle d, genügen naturgemäfs der Bedingung, dafs zwischen je zweien von ihnen stets andere Intervalle liegen.

I. S. 201, Z.3 v.u. statt „abzählbare“ lies „abzählbare überalldichte.“

Königsberg i. P. A. SCH@ENFLIES.

BA we

Zu IA 6: H. Burkhardt, endliche diskrete Gruppen.

I. S. 217, Anm. Z. 1: statt 1893 ist 1895 zu setzen.

I. S. 222, Anm. 111). „Der Satz ist implizite in N. H. Abels Unter- suchungen über Gleichungen enthalten“ ist unzutreffend. Abel reduziert die nach ihm benannten Gleichungen nur auf eine Kette nach einander, nicht neben einander zu lösender einfacher solcher Gleichungen. (Ich habe dies näher ausgeführt in der in Ostwalds Klassikern erschienenen Abelschen Arbeit, Nr. 111, 8.47, 48, Anm. 15.)

I. S. 222, Anm. 111): 1829 statt 1839.

I. S. 239, vorletzte Zeile des Textes. Der Eisensteinsche Satz ist von Th. Schoenemann in J. f. Math. 40, S. 188 für sich reklamiert worden. Das dort angegebene Zitat aber ist falsch gedruckt, es muls Bd. 32, S. 93 dieses Journals heilsen.

I. S. 593, 2.6 v. u. wäre neben „Fundamentalgleichung“ die Bezeichnung „charakteristische Gleichung nach Frobenius“ hinzuzufügen.

Freiburg i. B. A. Lewr.

Zu IC1: P. Bachmann, niedere Zahlentheorie.

1. S. 579. Zu Fufsnote 64). Hier fehlt: Jacob Bernoulli mittels der nach ihm benannten Zahlen (siehe über diese II A 3 Nr. 18, Bd. I, 8. 182 ff.).

An den anderen Stellen: Wahrscheinlichkeitsrechnung und Differenzen- rechnung ist bereits auf IT A 3 hingewiesen worden.

Königsberg i.P. L. SAALSCHÜTZ.

Zu IIA3: G. Brunel, bestimmte Integrale.

II. S. 183. Zu Fufsnote 160). In der Anmerkung $. 7f. meiner Vorlesungen über die Bernoullischen Zahlen (Berlin 1893) habe ich bereits hervor- gehoben, wie geringen Anteil Moivre an der nach ihm benannten Formel hat.

II. 8.183. Zu Fufsnote 160a). Hinter Sterns Formeln wären meine verkürzten Rekursionsformeln, Ztschr. f. Math. u. Phys., Bd. 37 (1892), 8. 378 (oder Vorles. 8.39 u. 8.185) zu erwähnen. (Die 1. Seidelsche und die ein- fachste von meinen verkürzten Rekursionsformeln stehen schon, wie, ich vor kurzem fand, in Raabes Monographie über die Bernoullischen Funktionen, siehe Fufsnote 167a). Sodann meine Mitteilungen in den Schriften der Königsb. Phys. Oek. Ges. 1892, 8. [44], worin verkürzte Rekursionsformeln, in denen Zwischenglieder fehlen, und auch Aus-

Er

wertungen gewisser Determinanten durch Bernoullische Zahlen sich

- finden. Die Haufsnerschen Arbeiten knüpfen an die Kroneckersche

1.

HI.

1l.

II.

Darstellung der B. Z. (s. Fufsnote 163)) durch Einheitswurzeln an und gelangen zu sehr bemerkenswerten verkürzten Rekursionsformeln, welche mittels Änderung eines Parameters einerseits zu vollständigen Rekursionsformeln, andererseits zu independenten Darstellungen der B. 2. führen.

8.184. Zu Fufsnote 163). Unter „anderen“ Darstellungen sind haupt- sächlich independente zu verstehen.

8.184. Zu Fulsnote 165). Unter den Autoren für bestimmte Integrale fehlt Catalan, der sich vielfach mit den B. Z. beschäftigt hat (s. meine Vorles. 8. 114—116).

8.185. Zu Fufsnote 167a). Hier fehlt das Zitat: Raabe, die Jacob- Bernoullische Funktion, Zürich 1848. Raabe hat von ganz anderem Ausgangspunkt und unabhängig von Malmsten gearbeitet. An der angegebenen Stelle im J. f. Math. stellt Raabe einige bestimmte Integrale auf, die sich durch Bernoullische Funktionen auswerten lassen, wie z. B.:

4 no

ur du _e Juan So m(x)- In m+tı_ f e "_—_ 2 cos am) 0 sin (2m)

0

2 Be (8, (x) = ao (N) gr 3-+..-

nach Hermites Bezeichnung).

8.185. Zu Fufsnote 170). Neue Beweise lieferten Schering, Math. Annalen Bd. 52 (1900), 8. 171; J. C. Kluyver, ib. Bd. 53 (1900), 8.591. Im Text mufs in der Gleichung für B,„ rechts (— LA, (statt (— IT 1A.) stehen, wenn A, dieselbe Bedeutung wie bei den S. 186 oben angeführten Autoren (Hermite, Stern, Lipschitz) haben soll. Übrigens ist die rechte Seite, von m= 7 an, positiv, da B viel schneller als 0,577 + 1(2m + 1) wächst.

8.186. Zu Fufsnote 173). Bezüglich der zahlentheoretischen Eigen- schaften der B. Z. sei noch (da ich in I C 3 nichts darüber gefunden habe) auf die Aufsätze von Kummer, J. f. Math. Bd. 41 (1859), 8. 368 und Stern, ib. Bd. 79 (1875), 8.67, sowie ib. Bd. 88 (1880), 8. 85 (oder meine Vorl. $$ 19 u. 20) hingewiesen.

Königsberg i. P. L. SAALSCHÜTZ.

A

Zu IA3: A. Pringsheim, Irrationalzahlen und Konvergenz unendlicher Prozesse. I. S. 78, Anm. 151). Die angeführte Ungleichung ist zu ersetzen durch:

1 at 1 1 a ar 0 mL (a=2,3,4,..-.)

Königsberg i. P. W. Fr. Meyer.

Zu IA3: A. Pringsheim, Irrationalzahlen und Konvergenz unendlicher Prozesse.

I. 8.120, 2.6 v. o. soll b, statt a, stehen.

Königsberg i. P. E. MÜLLER.

Zu IB2: W. Fr. Meyer, Invariantentheorie. I. S. 402, Anm. 435. In der vorletzten Zeile ist hinter „eingehend“ der Name „G. Kohn“ einzuschalten.

Königsberg i.P. E. MÜLLER.

bestellt zur Ansicht abonniert

Der Unterzeichnete 1 Exemplar des

Archiv der Mathematik und Physik mit besonderer Rücksicht auf die Bedürfnisse der Lehrer an höheren Unterriehtsanstalten.

Gegründet 1841 durch J. A. Grunert.

Herausgegeben von E. Lampe, W. Franz Meyer und E. Jahnke. Verlag von B. G&. Teubner in Leipzig, Poststralse 3. II. Reihe. Band 1 u. ff. Preis für den Band von 4 Heften n. 4. 12.—

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A. GRUNDLEGUNG DER MECHANIK.

Encyklop. d. math, Wissensch. IV 1. 1

et

a

13. 14. 15. 16. 17.

18. 19.

IV ı. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

&

IV ı. DIE PRINZIPIEN DER RATIONELLEN MECHANIK. Von A. VOSS

IN WÜRZBURG.

Inhaltsübersicht.

I. Begriff und Aufgabe der Mechanik. Einleitung. Prinzipe und Prinzipien der Mechanik. Begriff und Aufgabe der Mechanik. Verschiedene Zweige der Mechanik. Historische Bemerkungen.

II. Die allgemeinen Prinzipien der rationellen Mechanik. A) Philosophische Prinzipien.

Das Kausalitätsprinzip und der Satz vom zureichenden Grunde. Teleologische Prinzipien. Mach’s formale Prinzipien.

B) Mathematische Prinzipien.

Mathematische Voraussetzungen über die Natur der Funktionen. Das Homogeneitätsprinzip.

C) Mechanisch-physikalische Prinzipien. Das Kontinuitätsprinzip. Fernewirkung und Feldwirkung.

IH. Die Grundbegriffe der rationellen Mechanik. A) Die Grundbegriffe der Phoronomie. Die Anschauungen von Raum und Zeit. Die Zeitmessung. Philosophische Ansichten der Gegenwart. Das Bezugsystem der Mechanik. Neuere Theorieen.

B) Die Grundbegriffe der Statik. Die Kräfte in der Statik. Das Parallelogramm der Kräfte, 1 Boa

4

20. 21. 22. 23. 24. 25.

26. 27. 28.

29. 30. 31. 32. 33. 34. 35.

36. 37. 38. 39.

40.

41.

42. 43. 44.

45. 46. 47. 48. 49. 50. 51.

IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

C) Die Grundbegriffe der Dynamik. Galilei und die Principia von Newton. Die dynamische Bewegungslehre. Das System der klassischen Dynamik. Kritische Bemerkungen über dasselbe. Die momentanen Kräfte oder Impulse. Druck- und Oberflächenkräfte, verallgemeinerter Kraftbegriff.

D) Die rein kinetischen Theorieen. Die Elimination der Kraft in der Kinetik von W. Thomson (Lord Kelvin). Die kinetische Theorie der Kraft von J. J. Thomson. Die Mechanik von H. Hertz.

IV. Die speziellen Prinzipien der rationellen Mechanik.

A) Elementare Variations- oder Differentialprinzipe. «. Die Statik. Der Begriff des Gleichgewichts. Das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten. Beweis desselben. Die Beweise von Lagrange, Poinsot und anderen. Zusammenfassung. Fourier’s Prinzip; materielle Systeme allgemeinerer Art. Die Gleichgewichtsbedingungen.

ß. Die Dynamik. d’ Alembert’s Prinzip. Die Lagrange’schen Gleichungen. Nichtholonome Systeme. Das Prinzip von Gauss, Ungleichungsbedingungen. d’Alembert’s Prinzip für Impulse.

B) Eigentliche Variations- (isoperimetrische) Prinzipe. Das Hamilton’sche Prinzip. Das Prinzip der kleinsten Aktion. Historische Bemerkungen dazu.

C) Eigentliche Integralprinzipe. Das Prinzip der lebendigen Kraft. Historische Bemerkungen über Arbeit, lebendige Kraft und Energie. Das Energieprinzip. Das Virial und der zweite Hauptsatz der Wärmetheorie. Die Lokalisation der Energie. Energetische Begründung der Mechanik. Schlussbemerkung.

; N

Litteratur. 5

Litteratur.

l) Ältere Fundamentalwerke.

J. le Rond d’Alembert, Traite de dynamique, Paris 1743, 2. ed. 1758; auch deutsch Ostwald’s Klassiker der exakten Wissenschaften (eitiert als Ostwald, Klassiker-Bibliothek, X. B.) Nr. 106, herausgegeben von A. Korn, Leipzig 1899.

Jacob Bernoulli, Opera, 2 Bde., Genevae 1744.

Johann Bernoulli, Opera, 4 Bde., Lausannae et Genevae 1742.

L. Euler, Mechanica*) sive motus scientia, analytice exposita, 2 Bde., Petropoli 1736; deutsch von J. Wolfers, Greifswald 1848/50.

Theoria motus corporum solidorum, Gryphiswaldiae et Rostockii 1765; deutsch von J. Wolfers, Greifswald 1853.

Methodus inveniendi lineas curvas maximi minimive proprietate gaudentes, Lausannae et Genevae 1744.

J. B. Fourier, Oewvres, 2 Bde., ed. @. Darboux, Paris 1888/90.

@G. Galilei, Opere, 10 Bde., Firenze 1890—1900. Discorsi e demostrazioni in- torno a due nuove scienze, Leida 1638; deutsch Ostwald, K. B. Nr. 11, 24, 25, herausgegeben von A. v. Oettingen.

J. L. Lagrange, De la Grange, Mechanique analitique, 1. &d., Paris 1788; Meca- nique analytique 2. &d., 2 tomes, 1811/15; 3. ed. 1853 (J. Bertrand); 4. ed., Oeuvres complötes 11, 12, Paris 1892 (G. Darboux); deutsch von F. Murhard 1817; A. L. Orelle, Berlin 1853; H. Servus, Berlin 1887; eitiert ist nach der Ausgabe v. Darbou.

P. S. Laplace, Mecanique celeste, Paris 1799—1825; Oeuvres completes, 7 Bde., Paris 1843/47; desgl. Paris 1878—82; citiert ist nach der Ausgabe v. 1843.

I. Newton, Philosophiae naturalis Prineipia Mathematica, London 1687; 2. ed. London 1713; ceitiert ist nach der Ausgabe Amstelod. 1723.

P. Varignon, Projet de la nouvelle mecanique, Paris 1687; Mecanique nouvelle, 2 vols., Paris 1725.

2) Ältere Litteratur des 19. Jahrhunderts.

E. Bour, Cours de mecanique et machines, 3 Bde., Paris 1865/68.

L. N. M. Carnot, Principes fondamentaux de l’&quilibre et des mouvements, Paris 1803.

A. L. Cauchy, Exercices de mathömatiques, Paris 1826, 27, 28; auch Oeuvres completes (2) 6, 7, 8, Paris 1887/99.

@. Coriolis, Traite de la mecanique des corps solides et du calcul de l’effet des machines (1. ed. Paris 1829); 2. &d. Paris 1844.

J. M. C. Duhamel, Cours de mecanique, 2 Bde., Paris 1845; 3.6d. 1862; deutsch von H. Eggers, Leipzig 1853, W. Wagner, Braunschweig 1853, O. Schlömilch, Leipzig 1861.

@G. Green, Mathematical Papers, ed. N. M. Ferrers, London 1871.

*), In der durch kursiven Druck hervorgehobenen Abkürzung ist das be- treffende Werk im folgenden citiert; Seitenzahlen beziehen sich meistens nicht auf die Stelle, wo der Titel der Abhandlung, sondern wo die betreffende Erörte- rung in derselben zu finden ist.

ER IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

©. @. J. Jacobi, Vorlesungen über Dynamik, herausg. v. A. Olebsch, Berlin 1866; desgl. Werke, Supplementband, herausg. v. E. ‚Lottner, Berlin 1884.

Vorlesungsheft vom Winter 1847/48, ausgearbeitet von W. Scheibner, Ab- schrift in der Bibliothek d. Akademie d. Wissensch. zu Berlin.

F. Minding, Handbuch der Differential- u. Integralrechnung, Teil 2, Mechanik, Berlin 1838.

A. F. Möbius, Lehrbuch der Statik, 2 Bde., Leipzig 1837.

F. Moigno, Legons de m&canique analytique, statique, Paris 1868.

L. Poinsot, Elemens de statique, Paris 1804; 11. ed. (Bertrand), 1873.

8. D. Poisson, Trait6 de m&canique, Paris 1811; 2. €&d. 1833, übers. von M. A. Stern, Berlin 1835; desgl. A. Pfannstiel, Dortmund 1888.

J. V. Poncelet, Cours de mecanique industrielle, Metz 1829; 3. ed. (X. Kretz), Paris 1870; Cours de mecanique appliquee aux machines, Metz 1826; 2. ed. (X. Kretz), Paris 1874/76; deutsch von C. Schnuse, Darmstadt 1845; auch als Traite de mecanique appliquee aux machines, 2 Bde., Liege 1856.

F. Reech, Cours de mecanique, Paris 1852.

3) Neuere Litteratur.

J. Andrade, Mecanique physique, Paris 1896.

P. Appell, Traite de mecanique rationelle, 2 Bde., Paris 1893/96.

D. Bobylew, Analytische Mechanik (russisch), 3 Bde., St. Petersburg 1885/86.

L. Boltzmann, Vorlesungen über die Prinzipe der Mechanik, Leipzig 1897.

J. Boussinesq, Legons synthetiques de mecanique generale, Paris 1889.

E. Budde, Allgemeine Mechanik, 2 Bde., Berlin 1890. _

KR. Olausius, Mechanische Wärmetheorie (1876), 3. Aufl. 2 Bde., Braunschweig 1887.

W. K. Clifford, Elements of dynamic, part 1, London 1878.

Th. Despeyrous, Cours de mecanique, 2 Bde., Paris 1884, mit Noten von @. Darboux.

4. Föppl, Einführung in die Maxwell’sche Theorie, Leipzig 1894.

Vorlesungen über technische Mechanik, 2. Aufl., 4 Bde., Leipzig 1900.

J. W. Gibbs, Thermodynamische Studien, übersetzt von W. Ostwald, Leipzig 1892.

H. v. Helmholtz, Vorlesungen über die Dynamik diskreter Massenpunkte, her- ausg. von O0. Krigar-Menzel, Berlin 1897.

Vorlesungen über die elektromagnetische Theorie des Lichtes, herausg. von R. König und (©. Runge, Leipzig 1897.

Wissenschaftliche Abhandlungen, 3 Bde., Leipzig 1892/95.

H. Hertz, Gesammelte Werke, Bd. 3, die Prinzipe der Mechanik, Leipzig 1894.

@. Kirchhoff, Vorlesungen über mathem. Physik, Bd. 1, Mechanik, Berlin 1876.

L. Koenigsberger, Die Prinzipien der Mechanik, Leipzig 1901.

A. E. H. Love, Theoretical mechanies, Cambridge 1897.

A treatise on the mathematical theory of elastieity, 2 Bde., Cambridge 1892.

@. A. Maggi, Principii della teoria matematica del movimento dei corpi, Milano 1895.

E. Mathieu, Dynamique analytique, Paris 1878.

J. ©. Maxwell, Matter and motion, London 1876; deutsch, Substanz und Be- wegung, übersetzt von E. Fleischl, Wien 1879.

Seientific Papers, ed. W._D. Niven, 2 vols., Cambridge 1890.

Treatise on electrieity and magnetism, 2 vols., Oxford 1873; 2. ed. 1881; deutsch, Lehrbuch der Elektricität und des Magnetismus, übersetzt von B. Weinstein, Berlin 1888.

Litteratur. 7

C. Neumann, Beiträge zur mathematischen Physik, Leipzig 1893.

Allgemeine Untersuchungen über das Newtonsche Potential, Leipzig 1896.

Die elektrischen Kräfte, 2 Bde., Leipzig 1873 u. 1898.

P. Painleve, Legons sur Vintegration des &quations differentielles de la me&canique et applications, Paris 1895, lith.

Lecons sür la theorie analytique des equations differentielles, Paris 1897, lith.

J. Petersen, Lehrbuch der Statik, Kinematik und Dynamik fester Körper, 3 Bde.; deutsche Ausgabe von R. von Fischer-Benzon, Kopenhagen 1882/87.

H. Poincare, Klectrieite et optique, Paris 1890, deutsch von W. Jäger und E. Gumlich, Berlin 1891; 2. €d., Paris 1893.

Thermodynamique, redigee par J. Blondin, deutsch von W. Jäger und E. Gumlich, Berlin 1893.

H. Resal, Traite de mecanique generale, tome 1, 2, Paris 1873.

E. J. Routh, A treatise on analytical staties, 2. ed., Cambridge 1896.

Essay on stability of a given state of motion, London 1877.

A treatise on the dynamics of a system of rigid bodies, 2 vols., 6. ed., London 1897; deutsch von A. Schepp, die Dynamik der Systeme starrer Körper, 2 Bde., Leipzig 1898.

W. Schell, Theorie der Bewegung und der Kräfte, 2 Bde., 2. Aufl., Leipzig 1879.

J. Somoff, Theoretische Mechanik, 2 Bde., übersetzt von A. Ziwet, Leipzig 1878.

@G. @. Stokes, Mathematical and Physical Papers, 2 vols., Cambridge 1883.

J. J. Thomson, On some applications of dynamics to physical phenomena, Cam- bridge 1888; auch deutsch, Anwendungen der Dynamik auf Physik und Chemie (ohne Angabe des Übersetzers), Leipzig 1890.

W. Thomson u. P. @. Tait, Treatise on natural philosophy, 1. ed., Oxford 1867, deutsch von H. Helmholtz u. G. Wertheim, Braunschweig 1874; 2. ed. 1, part. 1, 2, Cambridge 1879/83.

W. Thomson, Gesammelte Abhandlungen, deutsch von L. Levy u. B. Weinstein, Berlin 1890.

Mathematical and Physical Papers, 3 Bde., London 1890.

W. Voigt, Kompendium der theoretischen Physik, 2 Bde., Leipzig 1895.

A. Ziwet, An elementary treatise on theoretical mechanics, 3 Bde., New-York 1894.

4) Historisch-kritische Litteratur.

M. Cantor , Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, 3 Bde., Leipzig 1880—98.

W. K. Clifford, Lectures and essays, 2 vols., London 1879.

The common sense of the exact sciences, London 1879; 2. ed. 1886.

E. Dühring, Kritische Geschichte der allgemeinen Prinzipien der Mechanik, 1. Aufl. 1872, 3. Aufl., Leipzig 1887.

J. M. ©. Duhamel, Des methodes dans les sciences de raisonnement, 4 Bde., 1. ed. Paris 1866/72; 2. &d. 1886; eitiert ist nach der ersten Ausgabe.

C. de Freycinet, Essais sur la philosophie des sciences; analyse, mecanique, Paris 1896.

G. Helm, Die Energetik in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Leipzig 1900.

H. v. Helmholtz, Vorträge und Reden, 4. Aufl., Braunschweig 1896.

A. Höfler, Studien zur gegenwärtigen Philosophie der Mechanik, Leipzig 1900.

I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 1786 (Harten- stein, Kant’s Werke, Bd. 2); eitiert ist nach Bd. 3 der Veröffentl. der phi- losoph. Gesellschaft zu Wien, Leipzig 1900.

8 IV ı. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

H. Klein, Die Prinzipien der Mechanik, Leipzig 1872.

L. Lange, Die geschichtliche Entwicklung des Bewegungsbegriffs, Leipzig 1886.

J. Larmor, Aether and matter, Cambridge 1900.

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I. Begriff und Aufgabe der Mechanik.

1. Einleitung. Die Erscheinung, dass die Resultate mathema- tischer Lehrgebäude von grundlegender Wichtigkeit oft eine lange Zeit hindurch ihrer strengen wissenschaftlichen Begründung voraus- geeilt sind, hat sich in weit höherem Grade bei der Mechanik, wie bei der Arithmetik oder der Infinitesimalrechnung wiederholt. Man kann den Standpunkt, welchen die systematische Entwicklung der Mechanik in ihrer gegenwärtigen Gestalt einnimmt, etwa mit dem der Infinitesimalreehnung vor Cauchy vergleichen, auf den sich fast

1. Einleitung. 9

wörtlich die Bemerkungen von Hertz!) in seiner Einleitung zur Mechanik anwenden lassen. Die folgende Darstellung, welche die Prinzipien der Mechanik, wie sie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt haben, darzulegen bemüht ist, erhebt nicht den Anspruch darauf, die vorliegenden logischen Schwierigkeiten überall zu beseiti- gen, sie wünscht vielmehr nur dazu beizutragen, dass eine befriedigende Einigung über diese Prinzipien, die ein unabweisbares Bedürfnis ist, allmählich getroffen werden könne’).

1) Siehe die Bemerkung von Hertz, Mechanik, p. 8, über das bei der Ex- position der Grundlagen der Mechanik häufig hervortretende Bestreben, über die Schwierigkeiten und Verlegenheiten in denselben möglichst bald hinaus und zu konkreten Beispielen zu kommen.

Dass wir aus der neueren Zeit verschiedene vorzügliche Darstellungen der Mechanik besitzen, soll hier keineswegs unterschätzt werden; überhaupt liegt dem ganzen Artikel eine polemische Tendenz völlig fern. Ein Blick auf den gegenwärtigen Zustand der Werke über Mechanik, soweit sich dieselben nicht auf eine rein mathematische Behandlung, sondern auf die Entwicklung der eigentlich mechanischen Vorstellungen beziehen, dürfte indes zeigen, dass unter denselben, da wo es sich nicht um stereotype Wiederholung gewisser Wendungen handelt, die grössten Verschiedenheiten hinsichtlich der Prinzipien bestehen. Zur Gewinnung einer möglichst objektiven Prüfung ist sowohl im Text, als auch in den Fussnoten eine Übersicht über zum Teil ganz verschiedene An- sichten gegeben.

2) Die Forderung eines einzigen allgemein verbindlichen Lehrgebäudes soll damit nicht bedingungslos erhoben werden. Ob sich dieselbe überhaupt befrie- digen lässt, kann um so mehr zweifelhaft erscheinen, als auch in der reinen Mathematik zur Zeit über grundlegende Fragen noch verschiedene theoretische Auffassungen bestehen.

Dass eine Darlegung der Prinzipien der Mechanik eine allgemeine Kenntnis der mechanischen Untersuchungen bereits voraussetzen muss, ist wohl selbstverständlich. Die folgende Ausführung bestrebt sich indessen, soviel wie möglich, die direkte Anknüpfung an spezielle mathematische Theorieen zu ver- meiden.

Die in den letzten dreissig Jahren entstandene umfangreiche Litteratur zur kritischen Betrachtung der Mechanik ist bisher noch sehr wenig gesichtet. Dühring’s kritische Geschichte der Mechanik enthält über die älteren Perioden viele interessante Bemerkungen, die sich in schlichterer und angemessenerer Darstellung zum Teil auch schon in Whewell’s History of the inductive sciences finden; eine eigentliche Kritik ist indessen in Dühring’s Werk nicht versucht; auch fehlte dem Verfasser vollständig das Verständnis der mit Lagrange's Arbeiten beginnenden Entwicklung der Mechanik. Maxwell’s Matter and motion erscheint nicht frei von schwer zu vereinigenden Widersprüchen und bezieht sich vorzugsweise doch auf Gegenstände der physikalischen Mechanik. Die Mechanik von Mach, welche von einer einheitlichen Grundanschauung aus mit dem feinsten Verständnis der Entstehung der mechanischen Prinzipien nach- geht, wird man in vielfacher Beziehung wohl als grundlegend ansehen dürfen.

10 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

2. Prinzipe und Prinzipien der Mechanik. Der Ausdruck Prinzipe oder Prinzipien wird in der Mechanik in sehr verschiedener Weise angewendet. Unter Prinzipien versteht man in irgend einer Wissenschaft, hier speziell der Mechanik, erstens Aussagen, die nicht wieder auf andere demselben wissenschaftlichen Gebiete angehörige Behauptungen zurückgeführt, sondern als Ergebnis anderer Resultate der Erkenntnis angesehen werden°), z. B. die Axiome oder Postulate*), und die teils logischer oder methodologischer teils metaphysischer oder physikalischer Art sein können; zweitens allgemeine aus den Grund- vorstellungen der Mechanik gewonnene Sätze, die wenn auch in ihren einfacheren Fällen auf Grund früherer deduzierbar, doch in ihrem weitesten Umfange thatsächlich nicht mehr vollständig beweisbar erscheinen (z. B. das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten, das d’Alembert'sche resp. Gauss’sche Prinzip); drittens?) allgemeine rein

Auch hier ist aber allerdings in Rücksicht auf den ganzen Plan des Werkes die Ausbildung der Mechanik im 19. Jahrhundert insbesondere in ihrem Zusammenhang mit der gleichzeitigen Vertiefung der mathematischen Methoden nur an wenigen Stellen berührt, während der vorliegende Artikel den Versuch macht, diese Epoche in den Vordergrund zu rücken und mit Hülfe der ge- samten Litteratur historisch und kritisch dem allgemeinen Verständnis näher zu bringen. Hertz’ kritische Einleitung erscheint, auch wenn man von einzelnen Missverständnissen absieht, im ganzen doch zu einseitig bestimmt durch die in ihrer näheren Ausführung leider unvollendet gebliebene Absicht, aus einem ein- zigen Grundprinzip alles zu deduzieren. M. Cantor berücksichtigt in seiner Geschichte der Mathematik die Entwicklung der Mechanik nur bis zur Zeit von Galilei. Ausgezeichnet sind durch die Klarheit der analytischen Darstellung C. Neumann’s über fast alle Gegenstände der Mechanik und mathematischen Physik sich erstreckende Arbeiten. Von grosser Bedeutung erscheinen für die neuere Entwicklung der physikalischen Mechanik die zusammenfassenden Ge- sichtspunkte von Duhem im Commentaire sur les principes de la thermodyna- mique; besonders beachtenswert sind auch die in ganz modernem Geiste ab- gefassten Lectures on natural philosophy von T’h. Young. Auf eine weitere Darlegung der Vorarbeiten zur kritischen Untersuchung der Prinzipien der Mechanik glauben wir hier nicht eingehen zu sollen.

3) Hertz, Mechanik, p. 4.

4) Über den Unterschied zwischen Axiom und Postulat in physikalischer Hinsicht vgl. P. Volkmann, Theor. Physik, p. 11.

5) Die methodologische Stellung der Prinzipien zweiter und dritter Art zueinander wird sehr verschieden beurteilt. Auch wenn man beide, wie viel- fach zu geschehen scheint, gleichsam als Beschwörungsformeln ansieht, in denen ein lange fortgesetzter Prozess induktiver Erkenntnis seinen Ausdruck gefunden hat, besteht doch ein sehr wesentlicher Unterschied in dem Grade der Ab- straktion, der in beiden Fällen eintritt. Die im Texte getroffene Unterschei- dung von Prinzipien verschiedener Art kann überhaupt nur eine allgemeine sein; an welcher Stelle jede einzelne der mannigfaltigen als „Prinzipe“ im Laufe

2. Prinzipe u. Prinzipien d. Mechanik. 3. Begriff u. Aufgabe d. Mechanik. 31

mathematische Methoden für die Behandlung der mechanischen Probleme, die an sich zunächst völlig auf Grund von Prinzipien der zweiten Art erweisbar, zur rein deduktiven Behandlung ausgedehnter Teile der Mechanik ausreichend sind, in ihrer weitesten Ausdehnung aller- dings wieder einen heuristischen Charakter erhalten (Hamilton’sches Prinzip, Prinzip der kleinsten Aktion), endlich nach €. @. J. Jacobi ®) analytische Methoden, Integralgleichungen der dynamischen Differen- tialgleichungen zu gewinnen. Hinsichtlich der Prinzipe der letzteren Art verweisen wir auf IV 1la. Eine Übersicht über den Einfluss der mathematischen Methodik auf die gegenwärtige Darstellung und Behandlung der mechanischen Probleme gehört ihrem Wesen nach aller- dings in die Lehre von den Prinzipien der Mechanik. Wir treten indes hier auf eine solche Erörterung nicht ein, da die speziellen mathematischen Methoden in den folgenden Artikeln des vorliegenden Bandes der Encyklopädie zum grössten Teil eine ausführliche Dar- stellung erfahren.

3. Begriff und Aufgabe der Mechanik. Die Mechanik’) ist die Grundlage der gesamten physikalischen Wissenschaften, d.h. der Wissen- schaften, die Vorgänge in der Natur durch nach bestimmten Gesetzen geordnete Zahlwerte?), deren Abhängigkeit durch das mathematische Bild der Funktion dargestellt wird, beschreiben’). Seit Aristoteles !) ist die durch den metaphysischen Begriff der Identität begründete Ansicht mehr oder weniger maassgebend gewesen, dass eine solche Erklärung nur durch Zurückführung aller Erscheinungen auf Be- wegungsvorgänge räumlich unveränderlicher Substanzen geliefert wer- den könne‘). Diese Ansicht aber kann möglicherweise zu enge

der Zeit bezeichneten Aussagen einzuordnen ist, wird von den oft schwanken- den Vorstellungen abhängen, die den Ausdruck Prinzip begleiten.

6) Jacobi, Dynamik, 1842, herausg. v. A. Clebsch, p. 2. Wir rechnen dahin die analytische Verwendung des Satzes von der lebendigen Kraft, die Schwer- punktsintegrale, das Prinzip der Flächen, des letzten Multiplikators, Hamilton’s Prinzip der variierenden Wirkung, das Poisson-Jacobi’sche Prinzip, die mannig- fachen Transformations- und Äquivalenzprinzipe etc. etc.

7) Das Wort Mechanik zuerst in den Aristoteles zugeschriebenen unygavına reoßinuere (Erklärung einer Reihe sinnreicher Erfindungen), übers. von F. Th. Poselger, Berlin, Abhandlungen d. Akademie 1829, p. 56.

8) Vgl. J. C. Maxwell, On Faraday’s lines of force, 1855, Scientific Papers 1, p. 155; auch Ostwald, K. B. Nr. 69.

9) E. du Bois-Reymond, Reden, zweite Folge 1848, p. 6, Leipzig 1887.

10) Vgl. W. Wundt, Physikal. Axiome, p. 6 ff.; K. Lasswitz, Atomistik 1, p. 89; 2, p.1.

11) So auch Wundt in seiner Logik, 2, p. 225 ff.; desgl. H. Petrim,

12 IV ı. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

gefasst sein!?); auch findet trotz der vielleicht entgegenstehenden philosophischen Bedenken, die in dem Begriff der Substanz liegen, die moderne physikalische Anschauung keine Schwierigkeit darin, von verschiedenen nicht weiter zu erklärenden Zuständen einer Substanz '?) zu reden, deren funktionelle, auch in der Zeit veränderliche, Beziehung zu ermitteln lediglich eine Aufgabe der mathematischen Darstellung ist; es sei hier nur ausser der ganzen durch Maxwell eingeleiteten Forschungsrichtung an die Ausbildung einer chemischen Statik und Dynamik erinnert, welche z. B. Lösungs- und Reaktionsgeschwindig- keiten mit Hülfe von Formeln bestimmt.

Abgesehen von dieser sehr wesentlichen Erweiterung der Gesichts- punkte handelt es sich aber in erster Linie bei den rein physikalischen Wissenschaften um die Betrachtung derjenigen Vorgänge, die durch Vorstellung der Bewegung verständlich gemacht werden. Insofern ist dann die Mechanik die Lehre von der Bewegung, und ihre Aufgabe, aus einem als gegeben vorausgesetzten Bewegungszustande alle seine Folgen herzuleiten.

Da es sich lediglich um Zahlwerte handelt, ist die Mechanik ebenso wie die analytische Geometrie angewandte Mathematik; sie wird wie die Geometrie an gewisse Voraussetzungen gebunden sein. Wäh- rend aber diese in der Geometrie früher in der begrifflichen Formulie- rung a priori gewisser Aussagen gesucht wurden, sind dieselben in der Mechanik von Anfang an ganz anderer Art gewesen. Die naive An- sicht der früheren Zeit wollte durch das Wirken der Dinge aufein- ander den realen Verlauf der Erscheinungen begreifen und erklären: so vermischen sich denn von Anfang an mit den rein mathematischen Elementen der Bewegungslehre metaphysische Spekulationen. Das Wirken der Dinge besteht hiernach darin, dass sie Kräfte aufeinander ausüben, d. h. Beschleunigungsursachen für einander sind'*).

Kritische Studien über die grundlegenden Prinzipien der Mechanik, Archiv für system. Philosophie 1 (1895), p. 204.

12) E. Mach, Geschichte d. Satzes v. d. Erhaltung d. Arbeit, Prag 1872, bemerkt, p. 23, dass keine Notwendigkeit vorliegt, sich alles Gedachte blos räum- lich vorzustellen, so z.B. sei die Auffassung von fünfatomigen isomeren Molekülen, die nur durch Beziehung zweier Punkte sich unterscheiden sollen, im dreidimen- sionalen Raum unmöglich, ib. p. 29; desgl. Mach, Mechanik, p. 486: „Dass alle physikalischen Vorgänge mechanisch zu erklären seien, halten wir für ein Vor- urteil.“ Vgl. auch P. Beck, Der Substanzbegriff in d. Naturwissenschaften, Diss. Leipzig 1896, p. 59.

13) P. Drude, Physik d. Äthers, Stuttgart 1894, p. 10; bei W. Thomson treten diese Ideen schon 1847 auf (Papers 1, p. 76); vgl. auch P. Duhem, Traite

elementaire de m6canique chimique, 4 vols., Paris 1897/99, Bd. 1, p. 29. 14) Diese bekannte Definition der Mechanik schon bei P. Varignon, Nou-

3. Begriff und Aufgabe der Mechanik. 13

Gewiss halten auch jetzt noch viele an diesem Kausalitätsgedanken fest, der alle Vorgänge durch das Verhältnis von Ursache und Wirkung „erklären“ will. Aber immer mehr macht sich die Auffassung von der Notwendigkeit und Eindeutigkeit‘®) des Naturgeschehens geltend: das einzig thatsächlich Feststellbare läuft darauf hinaus, dass gewisse vollkommen quantitativ bestimmte Erscheinungsklassen in unlöslicher und eindeutiger Verbindung mit anderen so verknüpft sind, dass die eine als zeitliche Folge der anderen erscheint'°).

Lässt man die Voraussetzung einer metaphysischen Kausaltät fallen!”), so bleibt als Aufgabe der reinen Mechanik einzig und allein die, den gesetzmässigen Verlauf der Bewegungen zu bestimmen, resp. zu beschreiben'®). Diese durch Kirchhoff’s Autorität für weite Kreise

velle möcanique (1687), 1725, Bd.1, p.1: La mecanique en general est la science du mouvement, de sa cause et de ses effets.

15) J. Petzoldt, Das Gesetz der Eindeutigkeit, Vierteljahrsschrift für wiss. Philosophie 19 (1895), p. 257, in Übereinstimmung mit H. v. Helmholtz, Wiss. Abh. 1, p. 13 u. 68: „Ich habe mir erst später klar gemacht, dass das Prinzip der Kau- salität nichts anderes ist, als die Voraussetzung der Gesetzlichkeit‘‘ Auch P. Volkmann, Erkenntnistheor. Grundzüge der Naturwiss., Leipzig 1896, desgl. Theoretische Physik, p. 39, lehnt die Kausalitätsidee grundsätzlich ab; nach E. Mach, Die Prinzipien der Wärmelehre, Leipzig 1896, p. 433 ist der Kausali- tätsgedanke nichts anderes, als Fetischismus; vgl. auch Mach, Das Prinzip der Vergleichung in der Physik, Leipzig 1894, p. 12: „Ich hoffe, dass die künftige Naturwissenschaft die Begriffe Ursache und Wirkung ihrer formalen Unklarheit wegen beseitigen wird.“

16) H. Weber, Über Kausalität in den Naturwissenschaften, Leipzig 1881, will allerdings den philosophischen Begriff der Kausalität festhalten, ihn aber mit der Vorstellung, dass der notwendige Verlauf der Erscheinungen vom that- sächlichen nicht verschieden sei, vereinigen.

17) So wie aber der Fortschritt der mathematischen Wissenschaften fast unabhängig von den allgemeinen Untersuchungen über die erkenntnistheoreti- schen Grundbegriffe von der Zahl gewesen ist, so zeigt auch der geschichtliche Verlauf, dass gerade besonders erfolgreiche Erweiterungen in der Erkenntnis der Naturerscheinungen von solchen Männern ausgegangen sind (z. B. Poncelet, Fa- raday, R. Mayer, auch Maxwell und Helmholtz in ihren anfänglichen Schriften), die von besonders lebhaften und konkreten Kausalitätsideen erfüllt waren. Die prinzipielle Unterdrückung derselben würde, wie es scheint, auch dem forschen- den Physiker einen grossen Teil der lebendigen Anschauung rauben, welche man z. B. in Kirchhoff’s abstrakten Darstellungen vermisst. Das Ideal der Wissenschaft in ihrer vollkommensten Gestalt kann dabei ganz wohl in einer Weise gefasst werden, welche dem jeweiligen Standpunkte der Erkenntnistheorie besser zu entsprechen scheint; man wird aber stets zu beachten haben, dass unsere abstrakten Begriffe in einer beständigen Anpassung und Weiterbildung durch die Anschauung und Beobachtung sich befinden müssen.

18) G. Kirchhoff, Mechanik, p. I u. 1—5. Über Beschreibung und Er-

14 IV ı. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

maassgebend gewordene Auffassung mag noch weiterer erkenntnis- theoretischer Erläuterung bedürfen, jedenfalls ist sie allgemein genug, um in erweiterter Form auch noch der obigen allgemeinen Begriffs- bestimmung der Mechanik sich anzupassen.

Sieht man von der naiven, durch Kant ein für allemal beseitigten Auffassung ab, dass sich über das Wirken der Dinge an sich auf ein- ander etwas erkennen lasse, so folgt, dass die metaphysische Erklärung der Naturvorgänge überhaupt keine Aufgabe der Naturwissenschaft ist!9), sondern dass die Mechanik ebenso wie die Geometrie mit den idealen durch Axiome der Anschauung definierten Raumvorstellungen operiert, aber auf Grund bestimmter in Axiomen und Postulaten formulierter Erfahrungsthatsachen ein Bild der Wirklichkeit ®) zu entwerfen sucht, dessen Brauchbarkeit durch die Erfahrung zu be- stätigen, resp. weiter zu erproben bleibt. Selbstverständlich kann sich die Aufgabe, ein solches Bild zu entwerfen, nur insoweit lösen lassen, als die betreffenden Vorgänge in ihren gegenseitigen quantitativen Beziehungen bereits als hinreichend bekannt vorausgesetzt werden dürfen. Ob dies in Bezug auf die Erscheinungen des organischen Lebens in weiterem Umfange schon zutrifft, kann hier nicht unter- sucht werden ?°®).

klärung vgl. Wundt, Logik 2, p. 282; Mach, Wärmelehre, p. 430 ff.; ©. Neu- mann, Prinzipien der Galilei’schen Theorie, p. 13 u. 22.

19) Vgl. H. Burkhardt, Mathematisches u. naturwissenschaftliches Denken, Beilage Münch. Allg. Zeitung 1897, Nr. 264.

.

20) Dies ist die wesentlich durch Maxwell, On Faraday’s lines of force, Papers 1, p. 155 und On the math. classification of physical quantities, Lond. Math. Ba Proc. 3 (1871) Scientific Papers 2, p. 257, eingeleitete Vorstellung ; vgl.auch Maxwell, p. 68 in Ostwald’s K.B. Nr.69. Vgl. auch L. Boltzmann, Über die Entwicklung der theoret. Physik in neuerer Zeit, Deutsche Math.-Ver. 8 (1900), p. 71. Ähnlich auch C©. Neumann, Prinzip. d. Galil. Theorie, 1870. Die Existenz der Green’schen und ähnlicher Funktionen, die Eindeutigkeit gewisser Lösungen in anderen Problemen hat man geradezu daraus geschlossen, dass in der Wirklichkeit der durch jene Funktionen bezeichnete Zustand vorhanden sein müsse. Dieser metaphysische Grund wird hinfällig, wenn man die Theorieen der Mechanik nur als Bilder ansieht, deren Übereinstimmung mit den Erschei- nungen keineswegs a priori feststeht. Damit soll natürlich der hewristische Wert solcher Vorstellungen nicht bestritten werden.

20°) Vgl. J. Larmor, Aether and matter, p.288, Hertz, Mechanik, p. 165. Gegenüber der ganz abstrakten Auffassung moderner Theorieen mag hier noch darauf hingewiesen werden, dass die Untersuchungen von @. @. Stokes, Helmholtz, namentlich aber von W. Thomson doch im allgemeinen von der Voraussetzung einer durch mechanische Konstruktionen begründeten Einführung der allgemei- nen Koordinaten ausgehen, von der erst Maxwell in seiner Herleitung der Elek-

4. Verschiedene Zweige der Mechanik. 15

Die Mechanik geht dabei allerdings zunächst von den körperlichen Dingen aus, welche Eindruck auf unsere Sinne machen. Aber schon die einfachsten Vorgänge haben von jeher dazu geführt, über dieses rein sinnliche Erfahrungsgebiet hinauszugehen, von Atomen, Mole- külen, materiellen Punkten zu reden, neben den ponderablen alsbald auch imponderable Substanzen einzuführen. Sehen doch manche gegenwärtig das vollendete Bild der Naturwissenschaft in einer Lehre, welche alle Vorgänge als Zustandsänderungen des Äthers auffassen will.

Als Gesichtspunkte, nach denen man den Wert der Darstellung physikalischer Theorieen in diesem Sinne zu beurteilen hat, bezeichnet Hertz”®) „diese Bilder müssen so beschaffen sein, dass die denknot- wendigen Folgen der Bilder stets wieder Bilder seien von den natur- notwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände“; sie müssen lo- gisch zulässig, einfach und zweckmässig und möglichst umfassend sein.

Diese Anschauung befreit uns zugleich von der Verpflichtung, in der Mechanik selbst den psychologischen Ursprung dieser Bilder zu entwickeln, so wichtig das auch in anderer Beziehung, z. B. bei einer pädagogischen Behandlung sein mag '). Denn eine innere Wahrheit an sich, welche sich durch psychologische Analyse erweisen liesse, besitzen dann diese Bilder überhaupt nicht; ihre einzige Berechtigung liegt in ihrer Zweckmässigkeit. Und wir glauben daher hier die Frage, woher diese besonderen Formen der mechanischen Grundvor- stellungen stammen, dem Gebiet der philosophischen Analyse über- lassen zu sollen, in demselben Sinne wie wir etwa in den Grundlehren der Arithmetik darauf verzichten können, die primitiven Verknüpfungs- gesetze des Zählens selbst noch psychologisch besonders zu recht- fertigen.

4. Verschiedene Zweige der Mechanik ®'*). Man pflegt theoretische, reine, rationelle, allgemeine (m&canique generale, rationelle, theoretical

trizitätsbewegung aus den Lagrange’'schen Gleichungen den letzten Rest ab- gestreift hat.

20°) Hertz, Mechanik, Einl. p. I; vgl. auch H. Kleinpeter, Entwicklung des Raum- und Zeitbegriffs in der neueren Mathematik u. Mechanik und seine Be- deutung für die Erkenntnistheorie, Archiv für system. Philosophie 4, p. 32 (1898).

21) Man vgl. in dieser Hinsicht Mach, Beiträge zur Analyse der Empfin- dungen, Jena 1886; Wärmelehre, p. 422 ff.; Föppl, Mechanik 1, p. 21; Klein u. Sommerfeld, Theorie d. Kreisels, p. 70, Leipzig 1897; Budde, Mechanik 1, p. 111; Lasswitz, Atomistik 2, p. 23.

21°) Vgl. Newton, Principia, praefatio ad lectorem: Mechanicam vero du- plicem veteres constituerunt: rationalem, quae per demonstrationes accurate pro- cedit, et practicam. Quo sensu mechanica rationalis erit scientia motuum qui ex viribus quibuscunque resultant. Newton’s mechanica practica ist indes Technik.

16 IV ı. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

mechanics) Mechanik von der angewandten zu unterscheiden und letztere als astronomische Mechanik, mathematische Physik und angewandte Mecha- nik (m&canique appliquee, applied mechanics) zu charakterisieren.

Eine völlig scharf definierte Grenze lässt sich zwischen diesen Disziplinen nicht ziehen"), Von jeher sind einzelne Teile der astronomischen Mechanik (z. B. Planetenbewegung) und mathematischen Physik (z. B. Hydrodynamik, Elastizitätstheorie) in den rein theo- retischen Werken über Mechanik behandelt. Sieht man es als die Aufgabe der Mechanik an, vollständig klare Bilder der Erscheinungen in mathematischer Darstellung zu liefern, so ist insbesondere der Charakter der rationellen Mechanik durch die Forderung bestimmt. dass diese Bilder ausschliesslich auf der Vorstellung reiner Dewegungs- verhältmisse beruhen sollen. Dem entspricht freilich die astronomische Mechanik in hohem Maasse; während aber die reine Mechanik ihre Probleme selbst insoweit auswählt, als die mathematische Bearbeitung derselben mit den Mitteln der Analyse sich vollständig wenigstens im Prinzip durchführen lässt wobei die Gewinnung numerischer End- resultate oft als Nebensache erscheint sah man sich in der Astro- nomie bestimmten Aufgaben gegenüber, die nur mit Hülfe von Nüähe- rungsprozessen zu erledigen waren, deren Grenzen sich durch die sich verfeinernde Beobachtungskunst stets verschieben. Anders liegen wieder die Verhältnisse in der mathematischen Physik; hier sind es vorzugsweise eigentümliche mathematische Methoden, die, mit der Poten- tialtheorie beginnend, vermöge der Green’schen Sätze sowie der voll- ständig ausgesprochenen Verzichtleistung auf die Erklärung der physi- kalischen Erscheinungen im alten Sinne den Untersuchungen ihr be- sonderes Gepräge verleihen.

Die angewandte Mechanik endlich hat im weitesten Sinne zur Aufgabe die statische und dynamische Untersuchung der Baukon- struktionen und Maschinen (siehe IV 8 u. 23), sowie die Lehre von den mechanischen Theorieen derjenigen physikalischen Vorgänge, die bei der Durchführung der Präzisionsmessungen in der Physik in Betracht kommen (IV 7 u. 25). Da hier schon die aus der Erfahrung zu entnehmenden Voraussetzungen vorzugsweise durch Mittelwerte aus- gedrückt sind, welche durch die veränderliche Natur der Materialien bedingt sind, so hat die rein mathematische Durchführung, selbst wenn sie möglich wäre, überhaupt keinen eigentlichen Zweck mehr und muss durch besondere, stets durch die Erfahrung zu kontrollierende

21°) Auch die folgenden Erörterungen sind nur als ein Versuch zu be- trachten, diese Gebiete in angemessener Weise gegen einander abzugrenzen.

5. Historische Bemerkungen. 17

Mittelwertschätzungen ersetzt werden, durch welche zugleich eine Be- wältigung der mathematischen Schwierigkeiten überhaupt erst möglich wird. Zudem verlangen die Aufgaben der angewandten Mechanik fast immer die Berücksichtigung solcher Erscheinungen, bei denen infolge der unbekannten Natur der Kräfte (insbesondere derjenigen der Reibung, Zähigkeit und unvollkommenen Elastieität) Energieände- rungen im dissipativen Sinne eintreten, für die die rationelle Mecha- nik nur die allgemeinen Schemata zu entwickeln pflegt (siehe IV 8). Selbstverständlich sind ihrem allgemeinen Ansatz nach auch hier die Probleme im Sinne einer rein mathematischen Behandlung zu fassen.

In Rücksicht auf diese Erörterungen rechnen wir im folgenden zur rationellen Mechanik alle Untersuchungen, welche bei der Zurück- führung der Naturvorgänge auf Bewegungen keine andern als mathe- matisch scharf definierte Bilder verwenden und ohne Rücksicht auf eine unmittelbare praktische Verwendung die Lösung der Probleme mit derjenigen Genauigkeit anstreben, welche der jeweilige Zustand der mathematischen Analyse gestattet.

5. Historische Bemerkungen. Galilei’s Untersuchungen in den Discorsi und der Scienza meccanica enthalten neben der Dynamik der fallenden Körper die Theorie der einfachen Maschinen, die Anfänge der Festigkeitslehre ete. Varignon fasst in seiner Nouvelle mecani- que die Mechanik als Statik, Euler in seiner Mechanica sive motus scientia ausschliesslich als Dynamik auf. Newton kann man als Be- gründer, Laplace als eigentlichen Vollender der mit Olairaut, d’Alem- bert, Lagrange und anderen beginnenden klassischen Epoche der astro- nomischen Mechanik ansehen; ZLagrange gab der rationellen Mechanik ihre charakteristische Form in der Meeanique analytique. Daneben entwickelt sich unter den Bernoulli auch die technische Mechanik sowie die mathematische Physik als Hydrostatik und Hydrodynamik. Mit Poncelet und Coriolis beginnt die eigentliche schöpferische Zeit der technischen Mechanik, allerdings mit vorwiegend dynamischer Färbung; sie wird später durch Oulmann namentlich in Rücksicht auf die sta- tischen Fragen ausgebaut, während die Ausbildung der mathematischen Physik vorzugsweise durch Fourier, Cauchy, Poisson, Green, Gauss, Lame, B. de Saint-Venant, F. E. Neumann, Stokes, Maxwell, W. Thom- son, Kirchhoff, v. Helmholtz und andere erfolgte.

Encyklop. d. math, Wissensch. IV 1. 2

48 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

II. Die allgemeinen Prinzipien der Mechanik. A) Philosophische Prinzipien.

6. Das Kausalitätsprinzip und der Satz vom zureichenden Grunde. Die allgemeinen, d. h. nicht erst auf dem speziellen Gebiete der mathematischen Analyse entstandenen Prinzipien der Mechanik kann man einteilen in philosophische, rein mathematische und mecha- nisch-physikalische.

Von den philosophischen Prinzipien muss hier neben dem schon oben erwähnten Kausalitätsprinzip der Satz vom zureichenden Grunde hervorgehoben werden. Man schloss aus dem letzteren, dass der in Bewegung unabhängig von allen anderen Dingen vorgestellte materielle Punkt seine Richtung nicht ändern könne ?), während ein Gleiches auch von der Grösse der Geschwindigkeit zu behaupten erst durch die dialektische Unterscheidung von Ursache und Wirkung möglich wird, welche die Ursache ausserhalb des Bewegten verlegt ?). Auch bei der Entwicklung des Kraftbegriffes, den Beweisen für das Paral- lelogramm der Kräfte, der Betrachtung der Fernewirkung zwischen zwei materiellen Punkten ete., spielt dieser Satz eine historische Rolle *).

Dass man aus bloss logischen Prämissen keine Entscheidung über reale Verhältnisse treffen kann, wird gegenwärtig wohl nicht be- zweifelt ®). Anders aber steht es, wenn der Satz vom zureichenden Grunde in der Form eines logischen Schlusses auftritt, dessen Prä- missen vollständig als aus der Erfahrung bekannt vorüusgesetzt werden. Nimmt man z. B. an, dass die Resultante von auf einen materiellen

22) Euler, Mechanica, $ 56, Theoria motus, $ 83, auch Recherches sur l’origine des forces, Berlin, M&m. de l’Acad. 1750, p. 419; Laplace, Mee. c#leste (Oeuvres 1, p- 15); desgl. $. D. Poisson, M&canique, &d. 2 (übers. v. Stern), p. 167. Siehe auch Fussn. 142.

23) So z.B. Wundt, Axiome, p. 121.

24) Zu einer systematischen Deduktion der physikalischen Axiome benutzte Wundt diese Überlegungen (Axiome, p. 115 ff.)

25) Treffend bemerkt Mach, Mechanik, p. 135, der Satz „cessante causa cessat effectus“ sei ebenso richtig wie sein Gegenteil, jenachdem man ihn für den Begriff der Geschwindigkeit oder Beschleunigung zur Anwendung bringt. Ähnlich Helmholtz, Erhaltung der Kraft, Ostwald, K. B. p. 58: „Was viele als Gipfel von Mayer’s Leistungen ansehen, nämlich die metaphysischen Schein- beweise für die apriorische Notwendigkeit dieses Gesetzes, wird jedem an strenge wissenschaftliche Methodik gewöhnten Naturforscher gerade als die schwächste Seite seiner Anschauungen erscheinen.“

6. Das Kausalitätsprinzip ete. 7. Teleologische Prinzipien. 19

Punkt wirkenden Kräften eindeutig und vollständig durch die Lage und Grösse der letzteren bestimmt sei, so folgt daraus, dass die Re- sultante zweier entgegengesetzt gleicher Kräfte oder dreier gleicher unter Neigungswinkeln von 120° gleich Null ist; unter der Voraus- setzung, dass für das Gleichgewicht des Hebels allein die relative Lage der Kräfte zu demselben maassgebend ist, folgt, dass der beharr- liche Ruhezustand der einzig mögliche für den in der „Ruhelage“ gleichförmig belasteten gleicharmigen Hebel ist.

7. Teleologische Prinzipien. Von ganz wesentlichem Einflusse sind für die Entwicklung der Mechanik teleologische Prinzipien ge- wesen. Das Prinzip der kleinsten Wirkung ist geradezu von Euler ?*) aus einem solchen Gesichtspunkte abgeleitet; Gauss’ Prinzip des kleinsten Zwanges, sowie gewisse Prinzipe der Elastizitätstheorie ?®) knüpfen ebenfalls an solche Vorstellungen an. Die Frage, ob in der Natur wirklich Thatsachen vorliegen, welche den Gedanken be- stätigen, dass mit dem kleinsten Aufwande von Mitteln der grösste Effekt erreicht werde, braucht man indessen hier nicht zu berühren. Bei Überlegungen dieser Art dürfte meistens ein sicheres Maass weder der aufgewandten Mittel noch des erreichten Effektes zugrunde gelegt sein, sodass die Behauptung einen klaren Sinn überhaupt nicht besitzt. Was aber die Anwendung desselben in der Mechanik be- trifft, so sind diese teleologischen Gesichtspunkte im eigentlichen Sinne schon um deswillen ganz unzutreffend °*), weil keineswegs weder beim Prinzip der kleinsten Aktion, noch beim Gauss’schen Prinzip die wörkliche Bewegung durch eine Minimumeigenschaft vor allen andern ebenfalls möglichen ausgezeichnet ist, sondern nur gegenüber gewissen rein fingierten, im allgemeinen aber unmöglichen Bewegungen. Thatsächlich haben sich allerdings diese teleologischen Gesichtspunkte für den Ausbau der Wissenschaft als sehr förderlich erwiesen, und

25°) Siehe Fussn. 257.

25®) Siehe Nr. 39 und Fussn. 224.

26) Vgl. O. Hölder, Die Prinzipien von Hamilton und Maupertuis, Gött. Nachr. 1896. Nach J. Petzoldt, Maxima, Minima und Ökonomie (Diss. Göt- tingen, Altenburg 1891) beseitigen diese mechanischen Maximum-Minimum-Prin- zipien gerade die teleologischen Vorurteile. Vgl. auch R. Henke, Über den Zu- sammenhang der Naturerscheinungen mit der Methode der kleinsten Quadrate (Dresden 1868, 2. Aufl. Leipzig 1894).

Ähnliche Vorstellungen entwickelt in einer weit bestimmteren mathemati- schen Form, welche als ganz speziellen Fall das Prinzip der kleinsten Wirkung umfasst, W. Gosiewski in Prace mat. fis., 3, Warschau 1892 (vgl. das Referat in den Fortschr. d. Math. 24, p. 73 [1892)).

2#

20 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

es erscheint in mehrfacher Beziehung von Interesse, die allgemeinen Gründe hierfür aufzusuchen "),

8. Mach’s formale Prinzipien. Mach ”®) hat dagegen auf andere Prinzipien aufmerksam gemacht welche aller Naturauffassung zu- grunde liegen sollen, die der Ökonomie und Einfachheit. Nach ihm ist es das Ziel aller Wissenschaft, das Gebiet der einzelnen Er- fahrungen durch zusammenfassende Beschreibung derart zu ersetzen, dass durch den geringsten Aufwand an Gedankenarbeit dasselbe über- sehen werden kann. Dies ist natürlich nur dadurch möglich, dass man die den einzelnen Erfahrungen zugrunde liegenden Elemente aufsucht und durch deren gesetzmässige Konstruktion eine Erklärung der Vorgänge liefert, für deren fortschreitende Ausbildung dann wieder rein formale Prinzipien, wie das der Kontinwität und Stetigkeit, dem Hankel’schen ®°) Prinzip der Permanenz der formalen Gesetze vergleich- bar —, vor allem aber die Prinzipien der Analogie ®), d. h. die Über- tragung gewisser Gedankenreihen, welche für ein Gebiet vollständig entwickelt sind, auf neue Gebiete, maassgebend werden.

B) Mathematische Prinzipien.

9. Mathematische Voraussetzungen über die Natur der Funk- tionen. Insbesondere ergeben sich aus dem Prinzip der Einfachheit gewisse allgemeine Gesichtspunkte rein mathematischer Art. Solche liegen

27) Siehe Mach, Mechanik, p. 443 ff. Auch Petzoldt sucht a. a. 0. p. 11 einen logischen Grund für das häufige Auftreten dieser, Max.-Min.-Sätze anzuführen; man vgl. das von W. Ostwald (Leipz. Ber. 45 (1893), p. 599; 47 (1895), p- 37) später ausgesprochene Prinzip des ausgezeichneten Falls, das allerdings in seiner Allgemeinheit sehr unklar ausgedrückt zu sein scheint.

28) E. Mach, Almanach d. Wiener Akad. 1882, p.293, Mechanik, p. 471, 481, Wärmelehre, p. 372, 494; vgl. Petzold, Max., Min. u. Ökonomie, p. 54; desgl auch Mach, Populär-wiss. Vorlesungen, Leipzig 1896, p. 203 ff. Selbstverständ- lich lassen sich hier noch viele Betrachtungen heranziehen, z. B. Newton’s regulae philosophandi; in der klarsten Weise finden sich diese Ideen schon von Galilei ausgesprochen; vgl. Wundt, Axiome, p. 38; P. Natorp, Galilei als Philo- soph, Phil. Monatshefte 18, p. 193 (1882). Ähnliche Gesichtspunkte auch häufig in metaphysischem Sinne, z. B. P. de Fermat, Opera 1, Paris 1891, p. 173 (1662); Naturam operari per modos faciliores et expeditiores .., non ut plerique: na- turam per lineas brevissimas operari.

29) H. Hankel, Theorie d. komplexen Zahlensysteme, Leipzig 1867, p. 11.

30) Über Prinzipien der Analogie vgl. Mach, Mechanik, p. 131, P. Volkmann, Theoretische Physik, p. 32. Eine Aufzählung der bemerkenswertesten Analo- gien bei L. Boltzmann, Über Faraday’s Kraftlinien, Ostwald K.B. Nr. 69; vgl. auch W. Dyck, Über die wechselseitigen Beziehungen zwischen der reinen u. an- gewandten Mathematik, München 1897, p. 25.

8. Mach’s formale Prinzipien. 9. Mathematische Voraussetzungen etc. 21

vor, wenn wir den Bewegungsraum als Euklidischen mit seiner unend- lichen Theilbarkeit?'), die Koordinaten der Bahnen der Punkte als stetige, beliebig oft differentiierbare Funktionen der Zeit??), wenigstens insoweit von einzelnen singulären Stellen abgesehen wird, ansehen, wenn wir demgemäss von den Grenzwerten s, 5?) d.h. den Geschwin- digkeiten und Beschleunigungen reden°*), wenn wir voraussetzen, dass das Verhältnis von Masse zum Volum bei kontinuierlicher Raumer- füllung bei stets abnehmender Grösse des letzteren sich einem be- stimmten, überdies wieder differentiierbarem Grenzwerte, der Dichtig- keit nähere. Die Mathematik ist freilich gegenwärtig so weit ent- wickelt, dass auch bei Zugrundelegung des allgemeinen Begriffes der stetigen Funktion noch bestimmte Aussagen möglich sind, doch hat sich bisher kein Bedürfnis gezeigt, in die Mechanik diese von der anschaulichen Form der Bewegungsvorgänge weit abliegenden Abstrak- tionen aufzunehmen®®*). Man betrachtet es ferner als ein allgemeines Prinzip, dass eine durch Kräfte definierte Bewegung durch ihren An- fangszustand vollkommen bestimmt sei?); ausreichend ist dafür, die

31) Vgl. H. Hertz, Mechanik, p. 53. Die nicht-euklidische Auffassung ist bereits in umfangreicher Weise und zahlreichen Arbeiten auch in die Kinematik, Statik und Dynamik eingeführt. Wir gehen hierauf nicht weiter ein, da sich bisher keine Veranlassung gezeigt hat, durch die Erscheinungen einer nicht- euklidischen Mechanik über die Möglichkeit eines von Null verschiedenen Krümmungsmaasses Aufschluss zu gewinnen. Man vgl. auch die Bemerkung von O. Heaviside (Electromagnetic theory, 2 vols., London 1883/99, Bd. 1, p. 2): Now the real object of true naturalists, when they employ mathematics to assist them, is not to make mathematical exercises (through that may be necessary) but to find out the connection of the phenomena.

32) Diese Voraussetzung bei Helmholtz, Dynamik, p. 7; ausführlicher Boltz- mann, Mechanik, p. 10.

33) Die Differentialquotienten nach der Zeit sollen hier der Kürze halber und in Rücksicht auf den historischen Charakter dieses Artikels nach Newton’s (Tractatus de quadratura curvarum (1706), Opuscula, Lausannae 1744, Bd. 1, p. 203), namentlich bei englischen Schriftstellern (Thomson und Tait) gebräuchlicher,

Schreibart durch & = = Ben etc. bezeichnet werden.

34) F. A. Müller, Das Problem der Kontinuität in der Mathematik und Mechanik, Diss. Marburg 1886, schreibt Leibniz (Mathem. Schriften 3, ed. G@er- hardt, p. 538 ff.) das Prinzip der Kontinuität von Geschwindigkeiten und Be- schleunigungen zu.

34%) P. Appell u. Jannaud, Remarques sur l’introduction de fonctions con- tinues n’ayant pas de derivee dans les elöments de la dynamique, Paris C. R. 93 (1881), p. 1005; auch Archiv f. Math. u. Physik 67 (1882), p. 160. In Bezug auf die Anwendung stetiger Funktionen in der Potentialtheorie vgl. O. Hölder, Potentialtheorie, Diss. Tübingen 1882.

35) Bei anderen Annahmen kann die Bewegung sehr wohl mehrdeutig

‚=

22 IV 1. A. Voss.‘ Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

Kräfte als eindeutige‘ beliebig oft differentiierbare insbesondere als reguläre Funktionen der Koordinaten und Geschwindigkeiten voraus- zusetzen.

Die hiermit berührte moderne Entwicklung der Mathematik nach der kritischen Seite hin, welche F. Klein als Arithmetisierung der Mathematik ®°®) bezeichnet, insofern als einzige Grundlage derselben der strenge Zahlbegriff erscheint, hat bisher nur in geringerem Grade Einfluss auf die Mechanik gehabt; ja man kann in letzterer gegen- wärtig hie und da ein geringeres Maass von Strenge und Systematik bemerken, als früher üblich war. Trotzdem wird man nicht bezwei- feln, dass die arithmetisierte Mathematik wenigstens als Ausgangspunkt für alle Fragen der Anwendung festzuhalten sein wird. Zunächst würde in der Mechanik die sorglose Verwendung der unendlich kleinen Grössen wenigstens prinzipiell zu beseitigen sein, wie dies neuerdings z. B. von Maggi®») versucht ist; von Bedeutung erscheinen hier ferner die Untersuchungen von Poincard »e) über die exakte Fest- stellung der Konvergenz der Reihen in den Problemen der Astronomie, sowie der ganze Kreis der Fragen, die sich um die Existenz der Lösungen von Systemen von Differentialgleichungen, namentlich mit Bezug auf das Dirichlet’sche Prinzip drehen. Daneben treten aber auch andere Fragen auf, welche sich auf die praktische Verwendung, insbesondere Vereinfachung der mathematischen Methoden beziehen, als deren letztes Ziel hier doch nicht die abstrakt formulierten Zahl- grössen, sondern nur solche Abschätzungen derselben verlangt werden, welche in Rücksicht auf die Ungenauigkeit aller durch die Erfahrung

werden, vgl. Poisson, J. &c. polyt., cah. 13, p. 63 u. 106 (1806); desgl. P. Painleve, Legons, p. 549 ff., der Poisson’s Beispiel & = k?x” welches fürrt= 0,2 = 0, = = 0 die Lösungen = 0 und 2—= ct? hat, durch eine ganze Reihe kompli- zierterer vermehrt. Auf die Betrachtungen von J. Boussinesq (Paris C. R. 74, p. 362 [1877]), der so die Notwendigkeit eines principe directeur, das in die mechanische Unbestimmtheit nach den Gesetzen der Freiheit eingreife, beweisen und dadurch den absoluten Determinismus in einer sonst streng mechanistischen Weltanschauung vermeiden will (vgl. J. Boussinesq, Conciliation du veritable determinisme m6canique avec l’existence de la vie et la liberte morale, Paris 1878), gehen wir hier nicht ein; über die mathematische Untersuchung solcher singulärer Lagen eines Systems siehe Painleve, Lecons, p. 562.

35) F. Klein, Über Arithmetisierung der Mathematik, Gött. Nachr. 1895, p.82.

35°) @. A. Maggi in den Principii del movimento; in kinematischer Hin- sicht vgl. man J. Tannery, Deux legons de cinematique, Ann. 6c. norm. (3) 3 (1886), p. 43.

35°) H. Poincare, Methodes nouvelles de la mecanique celeste, 2 Bde., Paris 1892/93; sur les &quations aux derivees de la physique math&ematique, Amer. J. of math. 12 (1896), p. 220.

10. Das Homogeneitätsprinzip. 23

kontrollierbarer Vorgänge eine hinreichend begrenzte Genauigkeit be- sitzen ®®@); Fragen, welche gegenüber der gegenwärtigen Neigung der mathematischen Analyse zu möglich abstraktester Vertiefung wichtig genug sind, um eine besondere Behandlung zu verdienen, und in um- fassender Weise bisher nicht erörtert zu sein scheinen.

10. Das Homogeneitätsprinzip. Hierher gehört auch das Homo- geneitätsprinzip. Die Begriffe der Mechanik erfordern die Festsetzung einer Reihe fundamentaler Einheiten (z. B. für Länge, Zeit, Masse in der reinen Kinetik), aus denen weitere Begriffe (wie z. B. Geschwindig- keit, Beschleunigung, Kraft ete.) abgeleitet werden. Es liegt nun in der Natur der Sache, dass bei vielen Betrachtungen Deziehungen zwischen diesen Begriffen von der Wahl dieser Grundeinheiten unab- hängig sein müssen. Solche Gleichungen bleiben daher invariant, wenn die Fundamentaleinheiten der Maassbestimmung durch irgend welche andere unabhängig von einander ersetzt werden. In diesem Charakter der Invarianz besteht das Prinzip der Homogeneität?‘),; durch dasselbe wird denjenigen Gleichungen der Mechanik, welche zur Beschreibung von den gewählten Einheiten unabhängiger Vorgänge dienen sollen, ein formeller Charakter zugeschrieben, der sich zur Prüfung solcher Gesetze selbst nützlich erweist®”); siehe den Artikel Maass und Messen, Band V. In einer etwas anderen Form kommt das Prinzip bei der Untersuchung dynamischer Verhältnisse als Prinzip der Ähnlichkeit (prineipe de similitude) zur Verwendung?’*). Endlich sei noch an das Superpositionsprinzip, als einer unmittelbaren Folgerung aus den Eigen- schaften der Lösungen linearer homogener Differentialgleichungen, er- innert.

35%) Man vgl. das Gutachten der Philosoph. Fakultät zu Göttingen über die zur Erlangung des Beneke-Preises für 1898 eingelaufenen Arbeiten, Gött. Nachr. 1901 und Math. Ann. 55 (1901), p. 143.

36) Die von J. B. Fourier, 1822 (Oeuvres 1, p. 137) stammende Lehre von den Dimensionen hat Poisson zuerst in seinen trait6 aufgenommen (Mechanik 1, p. 23); man sehe auch Maxwell, Elektrieität u. Magnetismus 1, $ 3; in W. Voigt's Kompendium in besonders ausführlicher physikalischer Durchführung.

37) Über die Verwendung des Prinzipes in methodologischer Hinsicht scheinen auch gegenwärtig noch Unklarheiten zu bestehen, vgl. z. B. die Artikel von F. Pietzker und anderen, Unterrichtsblätter f. Mathem. u. Naturwiss. 4 (1898), p. 64 ff; 5 (1899), p. 31.

37°) Dasselbe ist von Newton zuerst, Principia, p. 294, aufgestellt; man vgl. J. Bertrand, J. &e. polyt., cah. 32 (1848), sowie F. Reech, Cours de meca- nique, p. 265.

24 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

C) Mechanisch-physikalische Prinzipien.

11. Das Kontinuitätsprinzip. In naher Beziehung stehen zu den mathematischen Prinzipien die mechanisch-physikalischen, insbesondere die Kontinuitätshypothese, die man über die Materie ®®), die bewegliche Sub- stanz, zugrunde legt. Es erscheint nicht angebracht, hier zu erörtern, ob die Mechanik ein Interesse daran hat, den Begriff der Materie neben dem für sie allein maassgebenden der Masse beizubehalten. Die Mechanik geht zunächst von dem Begriff des materiellen Punktes ?”) d. h. eines geometrischen aber vermöge seiner Masse unserer Beobach- tung zugänglichen Punktes, dann von dem System » solcher Punkte aus, und man wird geneigt sein, die Vorgänge bei einem beliebig grossen n, wenigstens soweit allgemeine Theoreme in Frage kommen, hiernach zu beurteilen. Es ist aber leicht zu sehen, dass man auf

38) Dieser nach K. Pearson, Grammar, p. 251, für die Naturwissenschaft ganz nutzlose Begriff ist durch Descartes eingeführt (vgl. P. Beck, Substanz ete. Fussn. 12, p. 25). Über verschiedene Auffassungen des Begriffs der Materie vgl. z.B. P. @. Tait, Properties of matter, Edinburgh 1885, deutsch von @. Siebert, Wien 1888, p. 13 u. 288.

39) Lagrange kennt die Bezeichnung „materieller Punkt‘ noch nicht, sondern gebraucht dafür, wie Euler, der in seiner Mechanica, dem ersten Lehrbuch der analytischen Mechanik, den Punkt als Element aller dynamischen Betrachtungen einführt, und d’Alembert das Wort (petit) corps, das an die Korpuskulartheorieen des 18. Jahrhunderts (Hobbes) erinnert; Laplace beginnt ohne nähere Angabe die Möcanique c6leste mit dem &quilibre du point materiel. ‘Mit Recht bemerkt E. Bour (Mecanique 2, p. 6), dass die prinzipiellen Aussagen der Mechanik einen deutlichen Sinn nur für den geometrischen mit Masse behafteten Punkt haben, den er als ötre de raison bezeichnet, so auch Th. Despeyrous, M6- canique 1, p.5; daneben wird man natürlich gern daran festhalten, dass in Bezug auf mittlere Abschätzungen auch kleine Systeme (Körper) als materielle Punkte angesehen werden können, so lange es sich nicht um rotatorische Er- scheinungen an denselben handelt (so z. B. F. Reech, Cours de mecanique, p. 39; A. Föppl, Mechanik 1, p. 17). Boltzmann versteht unter materiellen Punkten „einzelne aus einem Körper herausgegriffene Punkte“ (Mechanik, p. 7); bei Poisson (Mechanik 1, $ 1), Kirchhoff (Mechanik, p. 2) ist der materielle Punkt von unendlich kleiner Dimension (so auch €. Neumann, Leipz. Ber. 39 [1887], p. 135), eine Bezeichnung, die nur dann Sinn zu haben scheint, wenn man das Unendlich-kleine, das doch nur ein mathematischer Hülfsbegriff ist, als existie- rend ansieht. Bei H. Resal (M&canique generale, 2. &d. 1, p. 71) heisst es: „on regarde une molecule comme un point geomötrique dit materiel. La matiere ötant ind6structible, elle ne peut se diviser ind6finiment, son dernier etat de division est la mol6cule.“ Völlig einwurfsfrei ist die auf dem Begriffe der figura materiale gegründete Auffassung bei Maggi (Principii, p. 149), der auch Love (Mechanics, p. 85) sich anschliesst.

11. Das Kontinuitätsprinzip. 25

diesem Wege nicht unmittelbar zu der Vorstellung der Bewegung eines kontinuierlich mit Masse erfüllten Raumes kommt").

Übrigens ist es für die mechanische Auffassung nicht wesent- lich, ob bei der Vorstellung der Kontinuität die Masse so, wie die naive Ansicht es‘ sich von einer Flüssigkeit vorstellt, den Raum erfüllt, sondern dass alle bewegungsbestimmenden Merkmale stetige Funktionen des Ortes sind, wobei auch an beliebig vielen Stellen noch leere Räume bleiben können*'). Die Mechanik der Kontinua‘?) beruht demnach gegenüber der Mechanik »-gliedriger Systeme auf weit engeren mathe- matischen Voraussetzungen, wie z. B. erhellt, wenn man die Unter- suchungen über das Problem der » Körper mit denen der Hydro- dynamik vergleicht; sie werden im wesentlichen durch Euler’s Kon- tinuitätsgleichung und durch den Übergang von gewöhnlichen zu partiellen Differentialgleichungen ausgedrückt.

Diese Kontinuitätsfragen spielen auch eine wesentliche Rolle in der Entwicklung der Elastizitätstheorie*°) und der Kapillarität. Die alte Theorie Navier's erhielt für die Druckkomponenten sechsfache Summen, die Navier durch Integrationen bestimmte“), hierbei wird aber vorausgesetzt, dass die Wirkung unmittelbar benachbarter Teil- chen ebenso verschwindet, wie ein über ein beliebig kleines Gebiet erstrecktes (uneigentliches) Integral, eine Voraussetzung, die sich wenigstens bisher nicht vollständig hat rechtfertigen lassen‘®).

40) Die Mathematik entwickelt nach Weierstrass in strenger Weise den Begriff des Kontinuums; vgl. @. Cantor, Math. Ann. 21 (1883), p. 575, vgl. auch IA 5, p. 201.

41) Über die Frage, ob zur Beurteilung der Eigenschaften scheinbarer Kontinua notwendig die Vorstellung der bis ins Unendliche gehenden Theilbar- keit des idealen Raumes herangezogen werden müsse, vgl. Mach, Wärme- lehre, p. 71.

42) Über die Vorstellung des Kontinuums vgl. Pearson, Grammar, p. 171. H. Poincare zeigt (Amer. J. of math. 12 [1896], p. 283), wie sich beim Übergang vom molekularen zum kontinuierlichen Medium die gewöhnlichen Differentialglei- chungen in partielle verwandeln: „C’est par un veritable passage ä la limite, qu’on passe en suite de l’hypothöse mol6eulaire A celle de la matiere continue.“

Unstetige Funktionen treten dann nur noch vermöge der Anfangszustände und Grenzbedingungen auf; vgl. Cauchy, M&moire sur les fonctions discontinues, Paris C. R. 28 (1849); p. 27 = Oeuvres (1) 9, p. 120.

43) Poincare, Amer. J. of math. 12 (1896), p. 290.

44) ©. L. Navier (1821), Paris, M&m. de l’Acad. 7 (1827), p. 381.

45) Siehe Cauchy, Exerc. 1828 Oeuvres (2) 8, p. 236; Boltzmann erhebt denselben Einwand gegen Gauss’ Molekulartheorie der Kapillarität, Ann. Phys. Chem. 141 (1870), p. 582.

26 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

12. Fernewirkung und Feldwirkung. Ausgehend von Gallei’s einfacher Beschreibung der Fallbewegungen erweitert sich in Newton’s Prinzipien die Aufgabe dahin, vermöge der beschleunigenden Kräfte, die das Gravitationsgesetz liefert, die Bewegungen der Himmelskörper als notwendige Folge der allgemeinen Mechanik zu erklären. Diese Me- chanik der Fernkräfte, die in Laplace's Mecanique celeste sich geradezu die Aufgabe stellt, alle Vorgänge der Natur auf Wirkungen materieller Punkte auf einander, wie sie nach dem Schema des Gravitations- gesetzes erfolgen, zurückzuführen‘), und deren mathematische Form durch Lagrange ein einheitliches Gepräge erhalten hatte, das kaum noch einer weiteren Vollendung zu bedürfen schien, feiert ihre grössten Erfolge in den theoretischen Resultaten, welche bis in die fernsten Zeiten den Lauf der himmlischen Körper, wie es scheint, voraussagen, ja selbst die Entdeckung bisher unbekannter veranlassen.

Neue Impulse erhielt die Mechanik der Fernkräfte durch die er- folgreiche Anwendung auf die Theorieen des Magnetismus und der Elektrizität, welche, durch Laplace und Poisson begonnen, zuletzt in dem Weber’schen Gesetze‘”) gipfeln, das alle Erscheinungen auf diesem Gebiete durch eine fundamentale Formel begreifen will.

Es ist interessant, die Wandlungen zu verfolgen, welche die Vor- stellung der Fernkräfte im Laufe der Zeit erfahren hat. Galilei steht in seinen Anschauungen völlig auf dem Boden der Erkenntnislehre Mazxwell’s, welche überhaupt keine physikalischen Theorieen, sondern nur eine Beschreibung der Vorgänge auf Grund der notwendigen mathematischen Relationen geben will#®). Die Theorie’ der Fernkräfte fand zuerst lebhaften Widerspruch®®). Erst durch die Erfolge der

46) Laplace, M&e. c@l.1, p.1: „Je me propose de presenter, sous un möme point de vue ces th6ories, dont l’ensemble, embrassant tous les resultats de la gravitation universelle sur l’&quilibre et sur les mouvements des corps ... forme la m&canique celeste. Il importe extrömement d’en bannir tout empirique .. .“

47) W. Weber, Elektrodynamische Maassbestimmungen, Leipzig 1846. Werke, 6 Bde., Berlin 1891/94, Bd. 3, p. 132.

48) Galilei, Il saggiatore (Opere 6, p. 232): La filosofia & scritta in questo grandissimo libro, che continuamente ci sta aperto innanzi a gli occhi (jo dico l’universo), mai non si puo intendere, se primo non s’impara a intender la lingua & conoscer i caratteri, nei quali & seritto. Egli seritto in lingua matematica & i caratteri sono triangoli cerchi ed altre figure matematiche.

49) Leibniz, Mathem. Schriften, ed. Gerhardt, 3, p. 964: Ita quidquid ex naturis rerum inexplicabile est, quemadmodum attractio generalis materiae Neutoniana aliaque hujus modi vel miraculosum est vel absurdum. Übrigens sagt Newton selbst in dem bekannten Brief an Bentley: Dass ein Körper aus der Ferne durch ein Vakuum hindurch ... einen Körper beeinflussen könne,

12. Fernewirkung und Feldwirkung. a

astronomischen Mechanik gewöhnte sich das Denken an das bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts herrschende Dogma derselben °").

Indessen ergab sich auch, dass keineswegs zur Untersuchung der Verhältnisse kontinuierlich ausgedehnter Körper immer die Theorie der punktuellen Fernkräfte erforderlich ist. Die Theorieen über das Gleich- gewicht und die Bewegung der Flüssigkeiten sind kaum je durch solche Vorstellungen beeinflusst worden; sie zeigen, dass hierbei derartige An- sichten ganz überflüssig sind, und dass es sich nur um Differential- gleichungen handelt, welche für die unmittelbar benachbarten Teilchen die Veränderung der Lage charakterisieren. Allerdings verwendet die Theorie der Flüssigkeiten den Begriff des inneren Druckes, über den auch wohl oft solche Spekulationen angestellt werden, doch tritt der- selbe schon bei Lagrange in Form des analytischen im Variations- problem anzuwendenden Faktors A auf, der ein völlig abstraktes Ele- ment der Beschreibung wird. Auch die Kapillaritätserscheinungen, welche von Laplace und Gauss') nach dem Prinzip der Fernkraft- wirkungen erklärt werden, lassen sich einfacher durch solche Diffe- rentialformeln darstellen.

Von entscheidender Bedeutung aber wurde die Elastizitätstheorie. Freilich gewinnt auch hier Navier ®*) die Gleichungen der elastischen Medien auf Grund von molekularen Anschauungen, aber Cauchy's Arbeiten zeigen, dass es sich hier nur im Sinne Faraday’'s um Feld- wirkungen handelt, durch welche die Vorgänge in der Nähe eines jeden Punktes ganz unabhängig. von solchen Hypothesen beschrieben

ist für mich eine so grosse Absurdität, dass ich glaube, niemand, der in philo- sophischen Dingen hinlängliche Denkfähigkeit besitzt, kann jemals darauf verfallen. (Vierter Brief an R. Bentley, 25. Febr. 1693, vgl. F. Rosenberger, Newton, p. 267.) Über die Lehre von der Fernewirkung in historischer Be- ziehung vgl. auch J. ©. F. Zöllner, Wissenschaftliche Abhandlungen, 4 Bde., Leipzig 1878, insbes. Bd. 1, p. 16; 2, p.1 u. 181.

50) E. du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens, Reden 1, p. 105, bezeichnet noch 1872 als Erkenntnis der Natur die Auflösung aller Vor- gänge in mit Zentralkräften begabte Atome, wie sie systematisch zuerst R. G. Boscovich, Theoria philosophiae naturalis, Venet. 1758 gelehrt hatte (vgl. auch G. Th. Fechner, die physikalische und philosophische Atomenlehre, Leipzig 1864, p. 153 u. 239). Von diesem Ideal des Laplace'schen Geistes (Essai philo- sophique sur les probabilites 1814 Oeuvres 7, p. VD) sind wir gegenwärtig weiter entfernt, wie je zuvor. Vgl. J. Larmor, Aether and matter, p. 272.

51) Laplace, Theorie de l’action capillaire, Me6c. celeste 4; Grauss, Prin- cipia generalia theoriae figurae fluidorum 1829 Werke 5, p. 29. Vgl. Volkmann, Theoret. Physik, p. 240; desgl. Fussn. 45.

51%) Siehe Fussn. 44, dann die Historical introduction der theory of elastieity von Love, 1, p. 1—34; 2, p. 1—24.

“28 IV ı1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

werden können. So gewinnt Oauchy neben den Druckkomponenten, die thatsächlich nur noch an das Vorhandensein eines schief zur Tren- nungsfläche gerichteten Druckes?) anknüpfen, und die gegenwärtig als stress oder Spannung bezeichnet werden, mittelst des Deformations- ellipsoides die Komponenten der Deformation, des strain oder der elastischen Formänderung. So wird die Mechanik der physikalischen Körper zur Analysis von stress und strain‘®) bezw. der Beziehung zwischen beiden Grössensystemen; damit gelang es auch, die irrtüm- lichen Folgerungen der alten Navier-Poisson’schen Theorie zu beseitigen und eine viel allgemeinere und zutreffendere Ansicht über das Wesen der elastischen Konstanten zu gewinnen ®%).

Der mathematisch physikalische Takt, der offenbar bei üle Hand- habung der Feldwirkung erforderlich wird, hat sich freilich an den Leitmotiven der Molekulartheorieen herangebildet, und erscheint noch weit mehr in Anspruch genommen bei den durch Faraday’s Ideen veranlassten Theorieen Mazxwell’s, die in den letzten 30 Jahren der Lehre von der Feldwirkung‘”) die entscheidende Stellung, welche sie gegenwärtig einnimmt, verliehen haben. In prägnanter Weise kommt diese Darstellung zum Ausdruck in der Mechanik der deformierbaren Körper des Treatise von Thomson und Tait, sowie in der Hertz’schen’®) Entwicklung von Mazxwell’s Grundgleichungen.

Die allgemeinen Ansichten über den erkenntnistheoretischen Wert der atomistischen Vorstellung, die durch Fernkräfte verbundene mate- rielle Punkte annimmt, und der phänomenologischen Auffassung des Kon- tinuums werden dadurch auch gegenwärtig nur mittelbar beeinflusst. Es ist hier nicht der Ort, auf diese zum Teil von der Individualität des einzelnen Forschers abhängigen Fragen einzugehen”). Entscheidend

52) So Cauchy schon 1823 im Paris, Soc. Philom. Bull. = Oeuvres (2) 3 (noch nicht erschienen); vgl. Exereices 1827 = Oeuvres (2) 7, p. 61.

53) Diese Bezeichnungen von Rankine (Cambr. and Dubl. Math. J. 1851 = Misc. scientific papers, London 1881, p. 68; Lond. Roy. Soc. Proc. 1855, p. 119).

54) Poisson, Paris, M&m. de l’Acad. 18 (1842), p. 3, hat freilich allgemeinere Annahmen gemacht, welche diese Mängel beseitigen sollen; durch W. Voigt’s Annahme von molekularen Drehungsmomenten wird dies allerdings erreicht, Gött. Abh. 34 (1887), p. 11.

55) So Maxwell seit 1864 in der Dynamical theory of the electromagnetic field = Papers 1, p. 256. W. Thomson, Phil. Mag. (4) 1 (1851), p. 179.

56) Hertz, Gött. Nachr. 1890, p. 106.

57) H. Poincare, Klectrieit6 et optique, introd. p. VI: „Les anciennes theories de la physique nous donnaient une satisfaction complete; ils semblent vouloir donner & chacune des branches de la physique la m&me pre&eision, qu’ä la me&canique celeste.“ Nach Boltzmann (Verhandl. deutscher Naturf., Leipzig

12. Fernewirkung und Feldwirkung. 29

wird diejenige Ansicht sein, welche die grössten Erfolge aufzuweisen hat. Der Physiker wird nicht im Zweifel sein, wo dieselben liegen ; doch ist zu bemerken, dass gerade für das klassische Beispiel der Ferne- wirkung, die Gravitation, sich bisher keine allgemein befriedigende Ab- leitung aus der Vorstellung einer kontinuierlich verbreiteten Materie er- geben hat. Wer vermag überhaupt zu sagen, ob die phänomenologische Auffassung sich nicht zu einer psychologischen umgestalten kann, welche an Stelle scheinbar kontinuierlicher Vorgänge Mittelwerte aus diskontinwierlichen Prozessen setzt; Vorstellungen, welche in der mecha- nischen Theorie der Gase bereits weitläufig ausgebildet vorliegen, und auch in anderen allgemeinen Ideen der Gegenwart verbreitet er- scheinen. Bei einer exakten Verfolgung derselben gewinnen die Unter- suchungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung eine hervorragende Bedeu- tung, die auch für die prinzipielle Auffassung der rationellen Mechanik in Betracht kommen kann. Wir treten indes auf dieselben hier nicht ein, da sie in systematischer Weise in der letzteren bisher nicht auf- genommen sind, und verweisen auf IV 26, sowie auf Band V.

Auf die eigentlich energetische Phänomenologie hier schon näher einzugehen, ist nicht unsere Absicht. Während die alte Fernewirkung auf Grund explieiter Kraftformeln, die meist mit Hilfe von dreifachen Integralen gewonnen werden, die Bewegung der kleinsten Teilchen der Materie zu erforschen sucht”), setzt die Feldwirkung an die Stelle Relationen zwischen Differentialausdrücken, welche die Beziehungen zwischen den benachbarten Teilchen regeln, ohne dass solche zu den anderen Teilen des Raumes bekannt zu sein brauchen. Noch ein dritter

1900, p. 112) ist die „alte“ Mechanik die einzige, welche klare Vorstellungen enthält; derselbe macht (Über die Unentbehrlichkeit der Atomistik in der Naturwissenschaft, Ann. Phys. Chem. (2) 60 [1897], p. 231) das Argument gel- tend, dass die Beschreibung des kontinuierlichen Mediums durch Differential- gleichungen einen Sinn nur vermöge des Grenzüberganges von atomistischen Vorstellungen aus hat.

Das Entgegengesetzte behauptet Volkmann (Über die notwendige und nicht notwendige Verwertung der Atomistik in den Naturwiss., Ann. Phys. Chem. (2) 61 (1897), p. 196), obwohl (Theor. Physik, p. 242) für gewisse physikalische Vor- gänge atomistische Bilder bis jetzt noch wesentlich erscheinen.

Nach Mach, Wärmelehre, p. 428, ist der Atomismus der Versuch, die Sub- stanzvorstellung in ihrer naivsten und rohesten Gestalt zur Grundlage der Physik zu machen. Über die gegenwärtigen, vielfach zwischen atomistischen Vorstellungen und der Voraussetzung des Kontinuums schwankenden physika- lischen Theorieen vgl. das Beneke-Preis Gutachten der Göttinger Philos. Fakultät, Gött. Nachr. 1901 und Math. Ann. 55 (1901), p. 143.

58) Hertz, Mechanik, p. 15, beschreibt sehr anschaulich den nicht nur mathematisch komplizierten Charakter dieser Anschauung.

30 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik. N Ze u

Standpunkt ist möglich: de mit Hilfe von Integralformeln die be- stimmenden Verhältnisse ganzer Systeme zu anderen auszudrücken, ohne dabei auf die Zwischenzustände achten zu müssen, welche dabei jene Systeme durchlaufen haben. Dies ist die Richtung, nach der sich die energetische Behandlungsweise der Mechanik °®*), wenigstens in ihrer methodologischen Form, entwickelt hat.

III. Die Grundbegriffe der Mechanik. A) Phoronomische Grundbegriffe.

13. Die Anschauungen von Raum und Zeit. Die Grundbegriffe der Mechanik sind zunächst rein phoronomischer Art, insoweit sie den blossen Bewegungsvorgang°”) in Raum und Zeit betreffen; man kann es als ein Axiom ansehen, dass jede Ortsveränderung nur in der Zeit vor sich geht‘). Dass alle Bewegungen stetige Ortsveränderungen sind, denen stetig sich ändernde Zeitwerte entsprechen, scheint zu unseren fundamentalsten Anschauungen zu gehören®®). Die Zeit er- scheint dabei zunächst als eine stets wachsende Variabele, doch findet die Betrachtung negativer Zeitgrössen, besonders in der Mechanik um- kehrbarer Prozesse, fortwährend Anwendung ®P). Es lässt sich natür- lich eine reine Bewegungslehre denken, welche der Geometrie völlig an die Seite zu stellen ist und mit dem abstrakten Raum, als dem Sub- strat aller geometrischen Konstruktion und den abstrakten Zeitgrössen, welche dann die Rolle einer vierten Variabeln spielen, operiert®!). Aber

1 r

58°) Siehe Nr. 47.

59) Vgl. im folgenden namentlich L. Lange, Bewegungsbegriff, Leipzig 1886.

60) So schon Jak. Hermann in seiner Phoronomia, Amstelod. 1716, p.1, einer im Anschluss an Newton’s Prineipia abgefassten Dynamik der festen und flüssigen Körper.

60°) W. K. Clifford entwickelt gelegentlich, Lectures and essays 1, p. 112, auf Grund bekannter optisch-physiologischer Erscheinungen die Vor- stellung, dass die Zeit aus diskreten Momenten besteht, denen ebenso diskrete Positionen der „bewegten“ Körper entsprechen.

60°) Übrigens kann auch die Anwendung imaginärer Zeitgrössen als spe- zieller Fall von projektiven Transformationen nützlich werden, vgl. z.B. P. Appell, Sur une interpretation des valeurs imaginaires du temps en me&canique, Paris C. R. 87 (1878), p. 1074, auch L. Lecornu, ibid. 110, p. 1244; P. Painleve, Legons sur l’integrat., p. 226: Die Einführung imaginärer Zeiten wird vom rein mathe- matischen Gesichtspunkt äus schon bei ganz einfachen Problemen nötig, wenn man die Koordinaten als eindeutige analytische Funktionen allgemein darzustellen wünscht; vgl. z. B. F. Klein, The mathematical theory of the top, Princeton lectures, New-York 1897, p. 33, 52.

61) Die Idee einer solchen Bewegungslehre (Phoronomie, Kinematik), welche

13. Die Anschauungen von Raum und Zeit. 31

dann fehlt der prinzipielle Zusammenhang mit der Mechanik der Wirk- lichkeit, in der doch die Bewegungen ihrem zeitlichen Verlaufe nach erkannt werden sollen ®!®),

Newton sah sich daher veranlasst, sowohl dem Raume als der Zeit eine allerdings transcendente Realität beizulegen®?). Der New- ton’sche absolute Raum ist ein immaterielles Medium, an sich unbe- weglich und unerkennbar‘®), das gleichwohl das feste Bezugsystem für alle Bewegungen abgeben soll, und die absolute Zeit ist einer Normaluhr zu vergleichen, die alle Vorgänge mit ihrem Pendelschlag begleitet. Die in dieser Vorstellung liegenden Schwierigkeiten wurden schon von Euler sehr deutlich ausgesprochen, während man sich später daran gewöhnte, über sie als unvermeidliche hinwegzusehen; so wird es zur stehenden Redensart in der Mechanik‘) „on ne definit ni le

man oft auf A. M. Ampere, Essai sur la classification des sciences, 2 Bde., Paris 1834—43; 1, p. 50, zurückführt, ist schon in Kant’s metaphysischen Anfangs- gründen, 1786, ausgesprochen. Vom Standpunkt des reinen Analysten sagt z. B. Lagrange, Theorie des fonctions, &d. 2 (1813), p. 311: Ainsi on peut regarder la mecanique comme une geometrie & quatre dimensions et l’analyse mecanique comme une extension de l’analyse geom6trique. Derartige Ansichten bestehen auch noch gegenwärtig, vgl. z. B. O. Rausenberger, Analyt. Mechanik, p. 1. Man kann natürlich auch den Weg einschlagen, zuerst ein widerspruchsloses, völlig abstraktes Bild der Erscheinungen vermöge der geometrisch-mechanischen Fundamentalbegriffe zu entwickeln, und dann die weiteren Bestimmungsweisen einzuführen, welchen letztere in Rücksicht auf die Möglichkeit einer Beziehung auf die Wirklichkeit unterworfen werden müssen; bei dieser Anordnung würde die reine Bewegungslehre z. B. eine andere systematische Stellung einnehmen. Dies ist die von Hertz, Mechanik, p. 53 und 157 scharf festgehaltene An- schauung.

61°) Die Disziplin der Kinematik, vgl. IV A, kann sich natürlich auf diesen abstrakten Zeitbegriff als methodisches Hülfsmittel bei ihren Beweisen stützen. Sie bildet einen wichtigen Teil der descriptiven Mechanik, die seit Poncelet’s Vorlesungen (1836) sich zur graphischen Darstellung von Geschwindigkeiten und Beschleunigungen (in Bezug auf letztere bei R. Proell, Versuch einer graphi- schen Dynamik, Leipzig 1874) und damit zu der Idee einer graphischen Dynamik sich fortbildet, deren allgemeine Ziele freilich erst neuerdings durch K. Heun skizziert sind (K. Heun, Die kinetischen Probleme der wissenschaftlichen Technik, Deutsche Math.-Ver. 9 (1900), p. 112). A. Schönflies entwickelt den Begriff einer reinen Geometrie der Bewegung in synthetischer Darstellung, Leipzig 1886, welche die Begriffe Geschwindigkeit und Beschleunigung in den Beweisen ver- meidet.

62) Newton, Principia, p. 5—7; vgl. Lange, p. 47—72; Laplace beginnt die M&canique cel. p. 4 mit den Worten: On s’imagine un espace, sans bornes, immobile et penetrable pour la matiere, c’est aux partiees de cet espace reel ou ideal que nous rapportons par la pensee la position des corps.

63) Newton, Prince. p. 7: Verum quoniam hae spatii partes videri nequeunt.

64) Newton, Princ. p. 5: Nam tempus spatium locum et motum ut omni-

32 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

temps ni l’espace“; höchstens hielt man es für nötig, den Begriff gleicher Zeiten zu erörtern.

Aber seit Kant**) ist die Erkenntnis allgemein durchgedrungen, dass Raum und Zeit Formen unserer Anschauung sind, denen nur transcendentale Realität zukommt, und an dieser Einsicht werden auch alle tiefern psychologisch-physiologischen Erkenntnisse über den Pro- zess der Entstehung und weiteren Ausbildung dieser Anschauungs- formen nichts ändern). Damit ist aber zugleich ausgesprochen, dass man von Bewegung im mechanisch mathematischen Sinne nur reden kann, wenn man ein Koordinatensystem angiebt, in Bezug auf das die Lage des sich bewegenden Punktes definiert ist‘®).

Schon Euler °°) spricht es vollkommen klar aus, dass alle Be- wegung, d. h. Ortsveränderung, nur relativ sei, freilich nicht ohne hinzuzufügen, dass man doch an der absoluten Bewegung festhalten

bus notissima non definio; Poisson, M&canique 1, $ 112: Duhamel, Me&canique 1, p. 3: „La notion de temps est une de celles, qui ne sont pas susceptibles de definition, mais ce qu’il faut definir, c’est l’&galit& des temps.“

Allerdings ist es ein naives, des wissenschaftlichen Betriebes unkundiges Verlangen, alles definieren zu wollen (Boltzmann, Wien. Ber. 106 (1897), p. 83). Wenn es aber auch nicht die Aufgabe der einzelnen Wissenschaft ist, durch psychologische Analyse ihre Begriffe vollständig zu definieren, so muss sie doch jedenfalls den ihr eigentümlichen Sinn derselben genau bezeichnen.

64°) Die Ansicht, dass Raum und Zeit keine objektive Realität besitzen, ist natürlich weit älter, als Kant’s Kritik der reinen Vernunft (1781). Schon Euler polemisiert (Reflexions sur l’espace et le tems, Berlin, M&m. de l’Acad. 1748, p. 324), gegen die „Metaphysiker“, welche dieser Ansicht waren, die ihm für die Mechanik unannehmbar erschien. Nach dem auf Kant’s Terminologie zurückgehenden Gebrauche bezeichnet man als transcendent Gegenstände, die jenseits der Grenzen der Erfahrung liegen,‘ dann auch Behauptungen, die sich auf solche Gegenstände beziehen. Transcendental, d. h. die Voraussetzungen der Erkenntnis betreffend, heissen dagegen Untersuchungen, die sich auf solche Voraussetzungen beziehen, sowie diese letzteren selbst. Die Lehre von dem Vorhandensein eines absoluten Raumes, einer absoluten Zeit, ist hiernach eine transcendente; die Lehre von der Idealität von Zeit und Raum eine transcen- dentale.

65) Dagegen fällt mit der Beseitigung der Kant’schen Lehre von der Aprio- rität des Raumes und der Zeit in dem Sinne, wie ihn Kant selbst gewollt hat, auch das Dogma, dass in der Mechanik nur das als zeitlich und räumlich Aufgefasste als objektiv wahr anzusehen sei; vgl. P. Beck, Diss. p. 37.

66) Vgl. Pearson, Grammar, p. 233. Die Frage nach dem transcendentalen Charakter der Bewegung überhaupt (vgl. z. B. A. Höfler, Studien, p. 127, 133) berühren wir nicht; sie gehört nicht in die Mechanik.

67) Euler, Theoria motus (1765); desgl. Reflexions sur l’espace et le tems, Berlin, M&m. de l’Acad. 1748, p. 324 Über Euler's Ansichten vgl. Lange, Bewegungsbegriff, p. 87—97.

13. Die Anschauungen von Raum und Zeit. 33

müsse‘®), Weit schärfer sagt Kant‘): „Der absolute Raum ist an sich nichts und gar kein Objekt,... sondern bedeutet nur einen jeden einzel- nen relativen Raum..., den ich mir über jeden gegebenen... hinausrücke. Ihn zum wirklichen Dinge zu machen .., heisst die Vernunft in ihrer Idee missverstehen“, will aber gleichwohl die Rotationsbewegung als etwas Wirkliches ansehen. Obwohl sich von seiten der Mathematik die Lehre von der relativen Bewegung”®) zu grösster Vollkommenheit ausbildete, blieb doch für die Mechanik die Voraussetzung des absolut festen Ko- ordinatensystems '') (sowie auch der absoluten Zeit, in die noch dazu astronomische Erörterungen über das Maass der Zeit in unklarer Weise eingemischt werden) bestehen.

Duhamel und ©. Neumann haben’?) in nachdrücklicher Weise auf diese Mängel aufs neue aufmerksam gemacht. Nach Neumann ist das Prinzip der Trägheit völlig unverständlich”), wenn nicht hinzugefügt wird, in Bezug auf welches Koordinatensystem sich der „sich selbst überlassene“ materielle Punkt geradlinig bewegt und was gleichförmige Bewegung ist; man muss, um diese Aussagen verstehen zu können, einen hypostasierten unbeweglichen Raum’), „den starren Körper A“

68) Theoria motus, $ 81.

69) Kant, Metaph. Anfangsgründe, Wiener Ausgabe, p. 16; bei Lange, p. 97—108.

70) G. Coriolis, J. €c. polyt. cah. 24 (1835), p. 142.

71) So z. B. F. Minding, Mechanik, p. 1: „Es ist klar, dass jedem Körper eine absolute Bewegung zukommt.“ Dagegen kann man sich mit der Äusse- rung von R. Hoppe (Archiv f. Math. (2) 16 [1898], p. 8) die Auffassung der Be- wegung als absolute sei eine Bedingung der Erkenntnis, noch immer einver- standen erklären, auch wenn man die Relativität der Bewegung völlig zugiebt.

72) J. M. C. Duhamel, Sur les principes de la science des forces, Paris, C. R. 69 (1869), p. 773 und ausführlicher in den Methodes 4 (1870), p. 454 sagt: Le mouvement absolu generalement admis jusqu’iei est une pure chimere, fondee sur une autre chim£re, celle d’un espace 6ternel et absolu. Nous avons encore & combattre une conception aussi chimerique que celle de l’espace, qui fait du temps un ötre rel necessaire independant de toute erdation; vgl. auch daselbst p. 224 und XVI im avant-propos. Die Ansichten Duhamel’s scheinen weniger beachtet zu sein. F. Reech, Cours de mecanique, Paris 1852, äussert sich schon früher folgendermassen: Cette loi d’inertie ne sera plus un principe ni un fait d’experience, mais une pure convention, und will die Statik begründen, sans quil jamais il faille invoquer ni I’hypothöse de la rigidit6 des corps, ni celle d’un etat absolu de repos, ni celle d’un 6tat absolu de mouvement rectiligne uniforme dans l’espace. Übrigens entwickelt 7%. Young in seinen Lectures 1, p- 18 und 2, p. 27 ausführlich ganz ähnliche Gesichtspunkte wie Duhamel. C. Neumann, Die Prinzipien der Galilei- Newton’schen Theorie, Leipzig 1870.

73) Neumann, Prinzipien, p. 14.

74) Neumann, Prinzipien, p. 15.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1. 3

34 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

als existierend annehmen, dessen drei Hauptträgheitsaxen die Koordi- natenaxen liefern. Dagegen schien ihm im Zusammenhange dieser Auffassung eine neue Wendung für das Zeitmaass zu gelingen: Je zwei sich selbst überlassene materielle Punkte bewegen sich so, dass gleichen Wegstrecken des einen stets gleiche des anderen korrespondieren ”). Bezeichnet man dann die Zeiten, in denen der eine gleiche Strecken zurücklegt, als gleich, so spricht das Trägheitsgesetz die Behauptung aus, dass jeder sich selbst überlassene Punkt gleichförmig und gerad- linig fortschreitet "®).

14. Die Zeitmessung. D’Alembert‘) suchte eine metaphysische Definition gleicher Zeiten zu gewinnen: Gleiche Zeiten sind solche, in denen identische Körper identische Bewegungsvorgänge unter identi- schen Umständen ausführen. So anschaulich diese Definition zu sein scheint man denkt dabei etwa an ein mathematisches Pendel, das in gleichen Elongationen schwingt —, so muss dabei doch schon die erkennbare Identität der Wirkungen vorausgesetzt werden.

Diese Schwierigkeit hängt eng zusammen mit der Voraussetzung des unbeeinflussten Bezugsystems, die sowohl der Neumann’schen, als auch späteren Auffassungen (Lange, Streintz) zugrunde liegt, bezw. des materiellen Punktes. Man wird vielleicht sagen, ein Punkt sei dann unbeeinflusst, wenn er durch keine Lagenveränderung der ausser ihm vorhandenen Körper irgend welche Änderungen seines Bewegungs- zustandes erfährt”®). Aber der letztere kann doch schliesslich nur durch das Fehlen von Unterschieden in den Koordinaten und Ge- schwindigkeiten, d. h. durch zeitliche Bestimmungen erkannt werden, setzt also schon das Zeitmaass voraus.

So scheint man sich in der That immer weiter in unauflösliche Widersprüche zu verlieren. Ein Ausweg scheint hier nur möglich, wenn

75) Neumann, Prinzipien, p. 18.

76) Neumann’s Zeitvorstellung auch bei Maxwell, Substanz und Be- wegung, p. 35.

77) d’Alembert, Trait6 2. ed. (1758); in der Übers. v. A. Korn, Ostwald K. B., Nr. 106, findet sich diese Stelle nicht; ähnlich auch Poisson, Me&canique 2, 8 11, von en Auffassung sich H. Streintz (Grundlagen, p. 85) befriedigt erklärt, Euler sagt einfach, Theoria motus, $18: Was gleiche Zeiten sind, sieht ein jeder ein, auch wenn vielleicht nie in beiden gleiche Änderungen eintreten, aus denen auf jene Gleichheit geschlossen werden könnte. Die d’Alembert'sche Auffassung findet sich weit vollständiger schon von J. Locke (1690) entwickelt.

78) P. Duhem (Commentaire 1892, p. 274) spricht von dem Begriff un- abhängiger Systeme, falls die Parameter derselben unabhängig von den Para- metern anderer Systeme sich ändern können, wogegen sich vom abstrakten Standpunkt aus nichts einwenden lässt.

14. Die Zeitmessung. 15. Philosophische Ansichten der Gegenwart. 35

man entweder von der ganz abstrakten Auffassung der Voraussetzung des absoluten Determinismus ausgeht, bei der alle variabeln Grössen, welche die Natur der Körper bestimmen, nur von einer Grundvari- abeln abhängen, die nun ? genannt wird’), oder, was der Rückkehr zu einer natürlichen Auffassung mehr zu entsprechen scheint, sich durch den praktischen Hinweis auf das thatsächliche Zeitmaass befriedigt er- klärt, welches durch die Dauer der Erdrotation resp. durch die besten Chronometer, welche sich anfertigen lassen, gegeben wird®).

Dabei ist es denn unwesentlich, ob wegen der an einem Chrono- meter von idealer Vollendung in längeren Zeiträumen nachweisbaren Ungleichförmigkeit der Erdrotation das Zeitmaass etwa durch die Schwingungsdauer des Lichtes einer bestimmten Farbe, etwa einer der Natriumlinien®®), oder die durch Maxwell, Helmholtz u. a. vor- geschlagene Umlaufszeit eines idealen Planeten um einen Central- körper ersetzt wird.

15. Philosophische Ansichten der Gegenwart. Man sieht hier- aus, dass eine allgemeine Einigung über diese dem Grenzgebiet der Philosophie und Mechanik angehörenden Fragen bisher trotz mancher Versuche nicht erreicht ist. Auch die philosophischen Ansichten gehen noch diametral auseinander. Volkmann bezeichnet die Existenz einer absolut gleichförmig dahinfliessenden Zeit als ein notwendiges Postu- lat®?), ganz ebenso äussert sich auch Liebmann®°); andere geben rück- haltlos die Relativität von Zeit und Raum zu. Alle diese Schwierig- keiten sind schon ausführlich von Locke hervorgehoben %*), aber auch in den neuesten Arbeiten nicht beseitigt.

J. Epstein®) will analog mit den Helmholtz’schen Axiomen der

79) Vermöge dieser Auffassung kommt man dann wieder zu Lagrange’s Standpunkt, Fussn. 61.

80) So Hertz, Mechanik, p. 158; Boltzmann, Mechanik, p. 8; Love, Me- chanics, p. 3 ff.

81) Thomson u. Tait, Treatise 1, part 1, p. 226. Für die Längeneinheit derartige Untersuchungen bei A. A. Michelson, Les methodes interferentielles en metrologie, J. de phys. (3) 3 (1894), p. 1. Die auf der gegenwärtigen Dauer der Erdrotation gegründete Bestimmung der Zeitmessung steht mit der Vorstellung, dass diese an ein und demselben idealen Chronometer gemessene Dauer im Lauf der Zeit wechseln könne, nicht im Widerspruch.

82) Volkmann, Theor. Physik, p. 51 u. 71.

83) O. Liebmann, Zur Analysis der Wirklichkeit, p. 70 ff., 87, 93— 95; Wundt, Logik 1, p. 430, scheint der entgegengesetzten Ansicht zu sein.

84) J. Locke, An essay concerning human understanding, book 2, chapt. 14, $ 3 (1690); vgl. die Ausg. Oxford 1894, vol. 1, p. 249; siehe Fussn. 77.

85) J. Epstein, Die logischen Prinzipien der Zeitmessung, Diss. Leipzig 1887 (Berlin 1887).

3*

36 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

Geometrie als Axiome der Zeitmessung ansehen, dass die Dauer eines Vorgangs unabhängig von der Zeit und dem Orte seines Stattfindens ist®®%). Ob sich mit dieser Aussage ein klarer Sinn verbinden lässt, mag dahinstehen; jedenfalls besteht ein Unterschied zwischen der Raum- und Zeitanschauung, der eine so analoge Behandlung unmög- lich macht.

Dass wir in unserer Raumanschauung das Vermögen besitzen, auf Grund der axiomatischen Aussagen völlig definierte Konstruk- tionen vorzunehmen, insbesondere die Gleichheit zweier Strecken durch „Aufeinanderlegen“ definieren zu können, scheint ebenso unzweifelhaft, als dass diese Konstruktionen sich auf unser räumliches Bild von der Wirklichkeit anwenden lassen. Aber von dieser Dogmatik grundver- schieden ist die andere, welche ein ähnliches für die Vorstellung der Zeit behaupten will. In uns finden wir zunächst nur die Vorstellung des Nacheinander, dann die der Dauer, welche aber sobald nicht gleich- zeitige Ereignisse verglichen werden, sondern solche, von denen das eine früher endet wie das andere, nur auf den unbestimmten Empfindungen der Ermüdung und Erholung beruht®”). Auf keine Weise aber können wir in unserer innern Anschauung zu verschiedenen Zeiten stattfindende Ereignisse hinsichtlich ihrer Dauer vergleichen, was erforderlich ist, wenn man mit Epstein eine auf Axiome der Anschauung gegründete Zeitmessung analog zu dem Verfahren der Geometrie einführen will®®).

16. Das Bezugsystem der Mechanik. Hatte ©. Neumann durch die Forderung des existierenden Körpers A drastisch das Fehlen eines Bezugsystems bezeichnet, so suchte nun Streintz®*) dasselbe zu liefern. Absolute Translation ist ihm selbstverständlich etwas Unerkennbares; die Aussage, dass das Bezugsystem keine absolute Translationsbeschleu- nigung besitzen darf, ersetzt er daher durch die Forderung, dass das- selbe unbeeinflusst sein soll. Dagegen hält Streintz fest an der Mög- lichkeit einer absoluten Rotationsbewegung”); diese kann dann natür-

86) So auch Maxwell, Substanz und Bewegung, p. 15.

87) Dagegen behauptet O. Lodge, Phil. Mag. (5) 36 (1893), p. 8: „Ihe conception of uniform motion is based on a simple primary muscular sensation.“

88) Unverständlich bleibt es daher auch, wenn Hertz, Mechanik, p. 53, einfach die Zeit als die „unserer innern Anschauung“ definiert; desgleichen, wenn man physiologisch offenbar erworbene Fähigkeiten, wie Zählen im Takt u. dgl., als primäre ansehen will.

89) H. Streintz, Die physikal. Grundlagen der Mechanik, Leipzig 1883. Ähnliche Ideen zum Teil schon bei Mach in der Mechanik von 1883; siehe dessen Kritik der Streintz’schen Betrachtungen, Mechanik, p. 232.

90) Diese direktionelle Ruhe nimmt auch Maxwell an, Substanz und Be-

16. Das Bezugsystem der Mechanik. 37

lich an den scheinbaren Eigenbewegungen eines gyroskopischen Kom- passes, d. h. eines nach der Methode Cardani’scher Aufhängung um eine freibewegliche Axe rotierenden Rotationskörpers, eines Gyroskops erkannt, und, wenn man die betreffenden Lehrsätze der Mechanik kennt, auch verstanden werden. In praktischer Hinsicht ist zuzugeben, dass man in den gyroskopischen Kompass ein Mittel besitzt, um Be- zugskörper zu gewinnen, in Bezug auf die das Galilei’sche Prinzip gilt"); zu beanstanden aber bleibt hier die Annahme der absoluten Rotation, die mit den gegenwärtigen erkenntnistheoretischen Grund- sätzen schwer vereinbar ist, sowie in methodischer Hinsicht die Ein- führung eines komplizierten Versuches als Voraussetzung der weiteren Erkenntnis, dessen Verständnis erst nach manchen Vorbereitungen in der Dynamik gegeben werden kann.

L. Lange hat diese Lücke auszufüllen gesucht, indem er ein System angab, welches wenigstens keinen logischen resp. methodo- logischen Fehler besitzt und zugleich nicht, wie Neumann’s Körper A, transcendent real, sondern nur ideal ist”). Es ist dies das folgende:

Schon W. Thomson) hatte vorgeschlagen, als Bezugsystem die Konfiguration von vier materiellen Punkten anzusehen, die gleichzeitig von einem Orte aus geschleudert werden. Nach Lange ist jedes etwa Descartes’sche Koordinatensystem, dessen als starre Drähte, auf denen

wegung, p. 95. B. u. J. Friedländer, Absolute und relative Bewegung (Berlin 1896), wollen sogar durch Versuche diese Frage zu entscheiden suchen. Eine allgemeine Einigung über diese Frage (vgl. auch Kant, metaphys. Anfangs- gründe, p. 96) ist bisher noch nicht erfolgt; man vgl. die Kritik der verschie- denen Anschauungen bei Mach, Mechanik, p. 221—240. L. Lange (Bewegungs- begriff, p. 63) bemerkt treffend, dass man aus den Kräften, die doch nur Aussagen über wahrgenommene Bewegung enthalten, keine Aufklärung über die absolute Natur der Bewegung gewinnen könne, wie dies das Newton’sche Rotations- excperiment, Principia, p. 9, will.

91) Das Gyroskop bestimmt Körper, die nicht in Bezug auf ein Streintz- sches Frundamentalsystem rotieren, keineswegs aber Körper, von denen sich das Nichtvorhandensein einer absoluten Rotation aussagen liesse; letztere ist nach Mach, Mechanik, p. 218, eine ganz überflüssige metaphysische Vorstellung.

92) L. Lange, Über das Beharrungsgesetz, Leipz. Ber. 37 (1885), p. 353; die wissenschaftl. Fassung des Galilei’schen Beharrungsgesetzes, Phil. Studien 2, p. 266, 539; vgl. auch das Referat von H. Seeliger, Vierteljahrsschr. d. astro- nomischen Gesellsch. 22 (1887), p. 252.

93) Thomson u. Tait, Treatise 1, part 1, p.242. Ein ähnliches Koordinaten- system betrachtet J. Tilly, der übrigens an den Vorstellungen der absoluten Be- wegung festhält (Brux. Bull. de l’Acad. Roy. (3) 14 (1887)), schon 1878 in dem Essai sur les principes fondamentaux de la geometrie et de la mecanique, Bor- deaux, M&m. (2) 3 (1878), p. 1.

38 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

jene Punkte wie glatte Kugeln gleiten können, vorgestellte Axen be- ständig durch drei von einem Punkt aus (nach verschiedenen räumlichen Richtungen) geschleuderte Punkte hindurchgehen, ein Galilei’sches Bezugsystem; es ist dann leicht zu zeigen, dass jedes solche System in Bezug auf ein anderes wieder den Charakter eines solchen hat. In Bezug auf ein solches System wird nun die Bahn des sich selbst überlassenen Punktes als Gerade definiert; wird der Zeitbegriff dann nach Neumann eingeführt, so hat man die weitere Aussage, dass jeder Punkt in Bezug auf ein Inertialsystem und eine Inertialzeitskala sich gleichförmig und gradlinig bewegt.

Eine allgemeine Konvention über diese Fragen ist bis jetzt noch nicht erreicht, und aus der Thatsache, dass noch neuerdings die alten Zweifel über absolute und relative Bewegung und über den Sinn der Newton’schen Lehre ausführlich Besprechung gefunden haben, muss man wohl schliessen, dass diese fundamentalen Fragen noch immer nicht völlig aufgeklärt und durchdacht sind ”®).

Indessen ist darauf hinzuweisen, dass James Thomson °*) schon in ähnlicher Weise wie Lange auf die Notwendigkeit eines „frame of reference“”), etwa eines Thomson -Tait’schen Koordinatentetraeders, hingewiesen hat; in mehr logischer Weise sucht Muirhead die dem Newton-Galilei’schen System zugrunde liegenden Gesichtspunkte zu skizzieren, wenn er sagt”):

„It is possible to choose the masses of the solar system, the axes, the chronometry.., so that the masses shall correspond with those of astronomy and the forces shall be resolvable into such as will be expressed by the law of universal gravitation.... Then true time, ab- solute velocity and mass-measurement being defined from this system, there would be a further law of physics, that the forces of the various

93°) Vgl. das Referat über eine in verschiedenen englischen Zeitschriften zwischen Love, Me Gregor, A. Basset, E. Dixon, Me Aulay, A. Gray, O. Lodge geführte Diskussion über absolute und relative Bewegung von E. Lampe, Fort- schritte d. Mathem. 25 (1897), p.1318, sowie eine Reihe von Noten von E. Goedseels, P. Mansion, Pasquier, E. Vicaire in den Bruxelles, Ann. Soc. Seientif. 16—21 (1890—1897).

94) J. Thomson, On the law of inertia, Edinb. Roy. Soc. Proc. 12 (1882/84), p. 568, 730.

95) J. Thomson a. a.0.; P. @. Tait, Edinb. Roy. Soc. Proc. 12, p. 743.

96) F. Muirhead, The laws of motion, Phil. Mag. (5) 23 (1887), p. 473. Ähn- lich auch Petrini, Fussn. 11, p. 231 ff.; desgl. Love, Mechanics, p. 92, sowie auch J. Hadamard, Sur les principes fondamentaux de la me&canique, Bordeaux, Ann. Soc. Phys. (1897).

17. Neuere Theorieen. 39

partieles ecomposing the members of the solar system and others are expressed by our various physical laws or theories.“

Es liegt indessen nahe einen anderen weniger abstrakten Stand- punkt zu wählen, um die vorliegenden Schwierigkeiten zu heben. Betrachtet man in Bezug auf irgend ein uns zur Verfügung stehendes Koordinatensystem die Beschleunigung als Maass der Kraft, welche diese Bewegung „hervorbringt“, so wird, falls letztere Null ist, für den be- treffenden materiellen Punkt die gleiehförmige geradlinige Bewegung entstehen. Auf Grund dieser Voraussetzung wird man zu bestimmten Aussagen gelangen, welche entweder mit der Wirklichkeit in genügen- der Übereinstimmung sind oder nicht. Im letzteren Falle wird man das Bezugsytem als ungeeignet verwerfen°”); es ergiebt sich aber zu- gleich die T’hatsache, dass es bisher immer, wenigstens in der Mecha- nik der ponderablen Körper, gelungen ist, dann ein anderes einzu- führen, welches den Erscheinungen der Werkchkeit mit hinreichender Annäherung sich anpasst. So geht man von den Erscheinungen des Falles, der in Bezug auf irgend ein Bezugsystem auf der Erde betrachtet wird, über zu einem geocentrischen System, welches an der Rotation der Erde nicht teilnimmt; bei erweiterten Fragen über zu einem System, dessen Anfang der Sonnenmittelpunkt, dessen Z- Achse die Normale auf der invariabeln Ebene sind, resp. zu einem System, dessen Achsen durch die Richtungen bestimmter Fixsterne bestimmt sind. In diesem Falle bleibt der Zweifel, ob es wirklich ein fundamentales Bezugsystem giebt, aber die Erwartung ist berechtigt, dass es auch bei der Vertiefung in weitere Fragen immer gelingen werde, die An- wendungsfähigkeit eines solchen erprobt zu sehen.

17. Neuere Theorieen. Dieser, neuerdings wieder mehrfach ver- tretene, wenn auch sehr populäre Standpunkt dürfte vorläufig, soweit es die Mechanik ponderabler Körper betrifft, einen Vorzug verdienen vor

97) Die Wahl des „frame of reference“ steht in unserem Belieben; die Beschreibung der Bewegungen wird aber verschieden je nach dieser Wahl aus- fallen, vgl. Love, Mechanics, p. 8. Dies scheint auch der Standpunkt von Hertz, Mechanik, p. 158, von A. Föppl, Mechanik 1, p. 1, zu sein. Vgl. auch P. Du- hem, Commentaire 1892, p. 271: „Si nous regardons comme exacte une hypothöse intervient la sen du mouvement absolu et si cette hypothese, appliqu6e aux mouvements relatifs & un certain triedre, conduit & des resultats inexacts, nous declarons que ce tri®dre n’est pas absolument fixe“; desgl. Mach, Mechanik, p. 236: „Der natürlichste Standpunkt bleibt der, das Trägheitsgesetz zunächst als eine hinreichende Annäherung zu betrachten, dasselbe räumlich auf den Fixsternhimmel, zeitlich auf die Rotation der Erde zu beziehen, und die Korrektur von einer erweiterten Erfahrung zu erwarten.“

40 Ivı. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

denjenigen Betrachtungen, welche durch die Voraussetzung eines den Raum erfüllenden Mediums, des Äthers, den Newton’schen absoluten Raum wieder allerdings nur in gewissem Sinne einführen wollen. Für die ältere Auffassung, die durch Bewegungsverhältnisse des Äthers die Licht- und Wärmeerscheinungen beschreibt, ist diese Wendung allerdings unmöglich. Anders steht es aber, wenn in der fortgebildeten Max- well’schen Theorie der Äther als ein vorhandenes, in seiner geometri- schen Konfiguration unveränderliches Medium mit bestimmten wohl- definierten Eigenschaften aufgefasst wird®). Es ist hierbei nur daran zu erinnern, dass die elektrischen und magnetischen Vorgänge nicht mehr als Bewegungen, sondern als Zustände der Polarisation ete. auf- gefasst werden, die man nun auch wieder unter dem Bilde einer Strö- mung sich vorstellen kann. Gegen einen solchen Äther, welcher dann das absolute Bezugsystem bildet, über dessen absolute Ruhe ») damit freilich nichts ausgesagt werden kann und soll, und dessen Zustände durch beobachtbare Vorgänge in einem Felde definierbar sind, lassen sich dann auch Relativbewegungen '®) der „ponderablen“ Körper denken, so lange man noch nicht dazu gelangt ist, alle Erscheinungen als Zu- stände des Äthers überhaupt zu beschreiben. Vielleicht ist letzteres die Tendenz einer elektrischen Weltanschauung, die gegenwärtig bei manchen Physikern verbreitet ist; es wird vor allem darauf ankommen inwieweit durch Versuche entschieden werden kann, ob die thatsäch- lichen Erscheinungen mit der Voraussetzung eines ruhenden Athers, für. die die Aberration des Lichtes eine bekannte Stütze bildet, in Einklang sind oder nicht. Die formalen Grundlagen der Mechanik würden damit einen ganz anderen Charakter annehmen können, als bisher; doch scheint es verfrüht, hierauf weiter einzugehen.

In einer eigentümlichen Weise hat neuerdings im Anschluss an die Ideen von F. Reech, im Cours de mecanique 1852, Andrade !!) ver-

98) Vgl. das Referat von W. Wien, Über die Fragen, welche die translato- rische Bewegung des Lichtäthers betreffen, Beibl. Ann. Phys. Chem. (2) 65 (1898).

99) H. A. Lorentz, Versuch einer Theorie der elektrischen und optischen Erscheinungen in bewegten Körpern, Leiden 1895, p.4; desgl. J. Larmor, Aether and matter including a discussion of the influence of the earths motion in op- tical phenomena, Cambridge 1900. Auch schon früher bei J. J. Thomson, An- wendungen, p. 40.

100) Vgl. z. B. Volkmann, Theor. Physik, p. 54; E. Budde, Mechanik 1, p: 112, 135; desgl. Mach, Mechanik, p. 225. Den Versuch, eine Mechanik in diesem Sinne zu skizzieren, macht W. Wien, Über die Möglichkeit einer elek- tromagnetischen Begründung der Mechanik, Livre Jubilaire dedie & H. A. Lorentz, La Haye 1901, p. 96, auch Ann. Phys. Chem. (3) 5 (1901), p. 501.

101) F. Reech, Cours de m6canique, Paris 1852, p. 21; J. Andrade, Legons de m&canique physique, Paris 1898.

18. Die Kräfte in der Statik. 41

sucht, eine formale Mechanik zu begründen, ohne über das Trägheits- prinzip von vornherein zu entscheiden. Bei ihm werden die Kräfte statisch, durch Spannungen gemessen. Er unterscheidet dann bei jedem materiellen Punkte eine Endbeschleunigung j (acceleration finis- sante) und eine Anfangsbeschleunigung (acc. commengante) J,') deren vektorielle Differenz in Bezug auf irgend ein relatives Koordinaten- system von der Beschaffenheit desselben nach den Coriolis’schen For- meln!P®) über relative Bewegung unabhängig ist und setzt voraus, dass in der Formel F=m(J—-j)T für die relative Kraft die Grösse 7 ein nur vom Zeitmaass abhängen- der Faktor ist. Da beim Übergang zu einem neuen Zeitmaasse ?’, das mit dem alten # durch die Gleichung it’ = f(t) verbunden ist, gar —jN,arı wird, so folgt a Em) (7) T; man kann daher immer eine absolute Zeitskala einführen, für die

dt’\? (a) F=1 ist. Allerdings muss die acceleration finissante oder der Verlauf der natürlichen Bewegung bekannt sein, wenn diese Formeln eine prak-

tische Verwendung finden sollen.

B) Die Grundbegriffe der Statik.

18. Die Kräfte in der Statik. Wir gehen weiter auf die me- chanischen Grundbegriffe ein. Die Mechanik hat sich durch die Be- trachtung der einfachsten Maschinen, dann durch die geometrischen Lehren des Archimedes über den Schwerpunkt entwickelt; sie tritt zu- nächst als Statik auf, in der die Kräfte direkt durch Zug- und Druck- wirkungen, wie sie von menschlichen Händen oder Gewichten an ge- spannten Seilen ausgehen, also noch ganz anthropomorphistisch gefasst werden !%). Es ist keinem Zweifel unterworfen, dass diese statischen

102) Andrade, Legons, p. 51 ff.

103) @. Coriolis, M&moire sur les &quations du mouvement relatif des syst&mes de corps, J. 6c. polyt, cah. 24 (tome 15) (1835), p. 142.

104) So z. B. bei Galilei in der Scienza della meccanica (1592), Opere 2; bei Varignon in der Me&canique nouvelle u. s. w.; allmählich verschwinden diese handgreiflichen Ilustrationen und gehen in die jetzt übliche vektorielle Bezeich- nung durch gerichtete Strecken (Vektoren) über. Auch ©. Neumann spricht von

42 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

Kräfte durch bestimmte Gewichtseinheiten gemessen und in Zahlen durch räumliche Vektoren ausgedrückt werden können. Auf diesem Wege entwickelt sich namentlich durch Varignon’s Einfluss die Statik der starren Körper, die ihre Vollendung in der von Poinsot geschaffenen Theorie der Kräftepaare (couples) zu erreichen schien, und in voll- kommener Strenge, sobald man die mehr oder weniger scharf ausge- sprochenen axiomatischen Grundlagen zugiebt, zu den Gleichgewichts- bedingungen des starren Körpers hinleitet.

Zwei Kräfte sind dann gleich, wenn sie in entgegengesetzter Rich- tung angebracht sich im Gleichgewicht halten; nimmt man ferner an, dass Kräfte, in gleicher oder entgegengesetzter Richtung, sich durch: algebraische Summation vereinigen, so bleibt nur noch die Aufgabe, die Zusammensetzung verschieden gerichteter Kräfte an demselben mathematischen Punkte vermöge der Regel des Parallelogramms zu beweisen.

Der soeben berührte Begriff des starren Körpers ist ein von der Statik selbst geschaffener, der ursprünglich nur die Vorstellung einer ihrer geometrischen Konfiguration nach unveränderlichen Substanz enthält, für deren Punkte die Verlegbarkeit der Kräfte in der Rich- tung ihrer Angriffslinie als Axiom, als Prinzip der Verlegung des An- griffspunktes der Kraft in ihrer Richtung festgesetzt wird. Solche Vek- toren werden passend von E. Budde (Mechanik 2, p. 537) linienflüch- tige im Gegensatze zu den freien (z. B. Kräftepaaren) genannt.

Diese Untersuchungen, in die im weiteren Verlaufe, namentlich wo es sich um Wirkungen verschiedener starrer Körper auf einander beim Stoss und verwandten Fragen handelt, auch die Vorstellung einer jedem starren Körper eigentümlichen Masse (und damit die ganze Lehre von der Geometrie der Massen (siehe IV 3) in ihrer über die barycentrischen Lehren des Archimedes weit hinausgehenden Aus- führung mit Hülfe der Infinitesimalmethoden) hineinbezogen wird, stehen ihrem historischen Charakter nach ausser Zusammenhang mit

Befehlen, welche sich die Körper erteilen, Prinzipien, p. 5, auch Math. Ann. 1 (1869), p. 317). Treffende Äusserungen dieser Art sind gewiss nicht wertlos. Dass die abstrakte wissenschaftliche Darstellung darnach strebt, die anthropomorphisti- schen Anschauungen zu beseitigen, ist wohl selbstverständlich; aber auch in allgemeiner Beziehung kann es nur voreilig erscheinen, diese einem ganz be- schränkten Gebiet von Empfindungen entnommenen Vorstellungen als für alle Erscheinungen maassgebend anzusehen. In dieser Beziehung beachte man auch die Bemerkung von Th. Young, Lectures 1, p. 28: We must not imagine, that the idea of force is naturally connected with that of labour or diffieulty, this association is only derived from habit.

19. Das Parallelogramm der Kräfte. 43

der eigentlichen Dynamik. Ihr steht die dynamische Vorstellung des starren Körpers gegenüber, welche denselben von vornherein als Aggre- gat von Massenteilchen auffasst, die durch Kräfte, welche jede Ver- änderung der Konfiguration verhindern !%°), zu einem System verbunden sind. Diese‘ scheint in viel ungezwungener Weise zu der Idee eines allgemeinen materiellen Systems hinüberzuleiten, bei der die eigen- tümlichen Fälle der statischen Unbestimmtheit (siehe IV 5 und 22) nicht auftreten. Der grundlegende Wert der Statik beruht übrigens nicht so sehr auf dieser doch nur in sehr beschränktem Maasse an die Wirklichkeit angepassten Unveränderlichkeit der Konfiguration, son- dern in der Entwicklung der Lehre von der Äquivalenz der Kräfte, welche auch die dynamischen Anschauungen später beständig begleitet; auf den wertvollen methodischen Inhalt der Statik, wie er namentlich in der Theorie der Momente auftritt, und den wichtigen Dualismus zwischen Statik und Bewegungslehre, den die Theorie der Vektoren und Schrauben darlegt, kann hier nur hingewiesen werden.

19. Das Parallelogramm der Kräfte. Newton und Varignon!®) hatten diesen Fundamentalsatz, den Stevinus nach Cantor (Vorlesungen 2, p. 449), doch als solchen nicht ausdrücklich ausgesprochen hatte, unmittelbar aus der Lehre von der Zusammensetzung der Bewegungen entnommen. Für den strengen statischen Kraftbegriff, den man hier im Auge haben muss, erscheint aber die Rekursion auf eine Bewegung, die gar nicht zustande kommt‘), nicht unmittelbar zulässig. Aus dieser Ansicht entspringen die mannigfachen Versuche, das Parallelogramm der Kräfte auf Grund an sich leichter zu übersehender Axiome, d. h. spezieller Fälle des Satzes selbst, zu beweisen. Sie erscheinen auch

104°) Die im Texte gewählte abstraktere Fassung ersetzt man gewöhnlich durch die Vorstellung, dass bei kleiner Veränderung der Konfiguration sehr grosse entgegenwirkende Kräfte auftreten; das Gleichgewicht bezieht sich dann auf diesen eigentlich doch unbekannten Deformationszustand.

105) Newton, Prineipia, p. 13: „Corpus viribus componentis diagonalem parallelogrammi eodem tempore describere quo latera separatis.* Varignon, Nouvelle m&canique, 1 (1725); dort zuerst die bekannte Regel über das Gleich- gewicht zwischen drei an einem Punkt angreifenden Kräften.

106) Joh. Bernoulli, Opera 4, p. 256: „Peccant, qui compositionem virium cum compositione motuum confundunt“; desgl. H. Lambert, Beiträge zum Ge- brauche der Mathematik 2, Berlin 1770, p. 451; F. Reech, Cours de mecanique, p. 61: Nous rejetterons absolument toutes les prötendues demonstrations du theor&me du parall&logramme des forces au moyen de la rögle 6vidente du paralle&logramme des vitesses en geometrie"; E. Bour, Mecanique 2, p. 16; vgl. auch R. Heger, Schul-Programm Dresden, Nr. 498 (1887), p. XVIL. Thom- son u. Tait, Treatise 1, part 1, p. 244, sind anderer Ansicht.

44 IV ı. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

gegenwärtig nicht wertlos, obwohl Mach bemerkt, dass bei vielen dieser Beweise gerade eine schwierig zu erwerbende Induktion über das Wesen der zu erwartenden Erscheinungen zugrunde liegt.

Von dem rein statischen Begriffe der Kraft ausgehend ver- suchten zuerst Dan. Bernoulli !), später d’ Alembert!%) und andere, die Resultante zweier Kräfte zu bestimmen. Die von letzterem gefundene Funktionalgleichung tritt in etwas anderer Form bei Poisson'!) auf; bei dem Beweis rekurriert man auf die Zusammensetzung zweier gleichgerichteter Kräfte durch algebraische Addition, unter der Vor- ausetzung, dass die eindeutig bestimmte Resultante R den inneren Winkel 22 zweier gleicher Kräfte P halbiert und der Grösse nach durch die stetige Funktion

R=P.y(e) gegeben ist; dabei ist dann R= 2P für «= 0, für x = 60° nach dem Symmetrieprinzip R= P. Ersetzt man jede der Kräfte P durch zwei gleiche Kräfte Q, die mit P den Winkel z bilden und setzt voraus, dass dadurch die Resultante nicht geändert wird, so muss @ der

Gleichung ya+t2)+tpya@—)=pl)-ple)"")

107) Mach, Mechanik, p. 45. Es sei noch einmal betont, dass es sich in der Ausführung des Textes nur um den statischen Kraftbegriff handelt.

108) D. Bernoulli, Comm. Ac. Sc. imp. Petrop. (1726), 1 (1728), p. 126.

109) d’ Alembert, Opusc. math. 1, Paris 1761, p. 269; vgl. auch D. de Foncenex, Melanges de philosophie et math&ematique, Turin 1760/61, p. 305; ferner d’Alembert, Berlin, M&m. de l’Acad. 1750, p. 350; in vereinfachter Form bei’ Aime, J. de math. 1 (1836), p.335. Über die ältere Litteratur vgl. ©. Jacobi, Praecipuorum inde a Newtone conatuum compositionem virium demonstrandi recensio, Diss. Gottingae 1817. Die kritische Besprechung der Beweise für das Parallelogramm durch A. H. ©. Westphal (Diss. Göttingen 1868) ist weder vollständig, noch in ihrem allzu abstrakten Schematismus übersichtlich; eine bis in die neueste Zeit reichende ausführliche Darstellung ist trotz Mach’s geringschätzendem Urteil (Mechanik, p. 48) über diese allerdings mehr methodologisch-mathematische Frage wohl nicht überflüssig. In neuern Darstellungen der Mechanik treten die Beweise für das Parallelogramm überhaupt nicht mehr auf. 0. Heaviside (Electromagnetic forces, 1, p. 147, London 1883) bemerkt: Is it not sufficient to recognise, that a quantity is a vector, to know that it follows the laws of the geometrical vector? Schärfer sagt A. E. H. Love (Mechanics, p. 89): We define the force exerted upon the particle m to be a vector localised at a point. Man ver- gleiche dazu die Bemerkung in Fussn. 61.

110) Poisson, Du parallölogramme des forces, Corresp. de l’&c. polyt. 1, 1804/8, p. 357; M&canique 1, p. 6 in d. Ausg. v. Stern.

111) Diese schon bei d’Alembert, Paris, M&m. de l’Acad. 1769, p. 278; eine andere Funktionalgleichung bei d’Alembert, Opuse. math. 6 (1773), p. 360; ein- facher bei O. Schlömilch, Zeitschr. f. Math. Phys. 2 (1857), p. 85. P. 5. Laplace,

19. Das Parallelogramm der Kräfte. 45

genügen, woraus wegen (0) —= 2 cos 0, p (m/3) —= 2 cos /3 folgt, dass für alle rationalen Werte a

= ) mithin unter Ausdehnung auf das irrationale Gebiet

p(x) = 2 cos x

wird. Von dem Fall zweier gleichen Kräfte kann man dann mittelst des Übergangs zu rechtwinkligen Kräften durch die elementare Be- trachtung von Bernoulli zum allgemeinen Fall übergehen '?),

Den von Bour “') und Mach“) gemachten Einwand, dass die Resultanten ausser den Bedingungen der Eindeutigkeit, Stetigkeit und Differentiierbarkeit als innere Winkelhalbierende vorausgesetzt werden müssen, suchte Boltzmann durch eine etwas andere Anordnung der Poisson’schen Darstellung zu vermeiden !"?).

Ein gewisser Abschluss in der ganzen Frage ist durch Darboux erreicht"), der bei der Zusammensetzung abweichend von den meisten früheren Autoren!!?) räumliche Betrachtungen hinzuzieht und so die d’Alembert’sche Funktionalgleichung vermeidet. Unter der Voraus- setzung, dass die Resultante von n Vektoren P, P,.. P, erstens ein- deutig bestimmt ist, zweitens sich nicht ändert, wenn man beliebig viele der P durch ihre Resultanten ersetzt, drittens von der Lage der Vektoren gegen das Koordinatensystem unabhängig ist, ergiebt sich, dass dieselbe der nach der Parallelogrammregel aus

$(Pı), P(P3)---P(Pr),

Mec. ceeleste, p. 3—8, giebt einen Beweis, der zuerst die Grösse der Resultante bei rechtwinkligen Komponenten bestimmt, ihre Richtung aber mittelst wenig übersichtlicher Infinitesimalbetrachtungen findet; ähnlich Cauchy (Exere. de math., 1826, p. 29), doch wird die Richtung nur durch eine Funktionalgleichung ge- funden; ähnlich wieder W. @. Imschenetzky, Charkow. Ges. (2) 2, p. 108. An- dere Beweise von E. Brassinne, Nouv. ann. de math. (3) 1 (1882), p. 320; De- legue, ibid. (2) 12 (1873), p. 495. Ausgezeichnet durch sorgfältige Ausführung der Voraussetzungen ist die Darstellung von Möbius, Statik 1, p. 22—39 (vgl. auch J. f. Math. 42 (1851), p. 179), sowie von Poinsot, El&mens de statique, 11. ed., p. 11—25.

112) D. Bernoulli Fussn. 108, p. 134, prop. IH.

113) Bour, Mecanique 2, p. 45.

114) Mach, Mechanik, p. 48.

115) Boltzmann, Mechanik, p. 31.

116) @. Darboux, Bull. science. math. 9 (1875), p. 281; anch als Note 1 in Bd. 1 der M&canique von Despeyrous, p. 371.

117) Zum Teil finden sich solche schon in dem von Andrade A. Morin zu- geschriebenen Beweise, M&canique, p. 357, den F. Siacei, Napoli, Rend. Accad. reale 1899 wieder aufgenommen hat.

46 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

gebildete Vektot ist, falls @ eine willkürliche Funktion bedeutet und jedes p(P;) bei positivem Werte auf der Richtung von P; abgetragen wird. Unter der Voraussetung der Addition gleichgerichteter Vektoren

folgt nun y(P+Q)=g(P)+y(Q),

woraus p(x) = A x folgt, wenn man viertens entweder p(x) als stetig oder p(x) als positiv voraussetzt).

C) Die Grundbegriffe der Dynamik.

20. Galilei und die Prineipia von Newton. Galilei erkannte in dem Begriffe der Beschleunigung die Möglichkeit einer einfachen Beschreibung der Naturerscheinungen!"®). Es ist sehr merkwürdig, dass der Begriff der Geschwindigkeit dazu nicht ausreicht !?), sondern die grössten Komplikationen herbeiführen würde, und dass es anderer- seits bisher nicht notwendig geworden ist, zu dem Begriff der Be- schleunigung höherer Ordnung überzugehen, der doch den Vorgang der Bewegung auf eine viel allgemeinere Weise charakterisiert. Auf Grund des Galilei’schen Gedankens erhebt sich das Newton’sche Lehr- gebäude, welches mit Hülfe des Begriffes der Masse m als Wirkung der Kraft K die Beschleunigung p = K:m definiert.

Newton stellt an die Spitze seiner Prineipia vier Definitiones und drei Axiomata sive leges motus:

1) Definitiones"?*). 1) Quantitas materiae est mensura ejusdem orta ex illius densitate et magnitudine conjunctim; 2) Quantitas motus est mensura ejusdem orta ex veloeitate et quantitate materiae conjunctim;

118) Noch allgemeiner zeigt Darboux, Math. Ann. 17 (1880), p. 56, dass die Gleichung p(x) = A:x schon dann folgt, wenn an Stelle der Voraus- setzungen 4) des Textes nur angenommen wird, dass p(x) in irgend einem end- lichen Intervall nur positive oder negative Werte annimmt, deren absoluter Be- trag unter einer endlichen Grenze liegt.

119) Galilei, Opere 2, vgl. namentlich p. 261 de motu accelerato mit der Definition der Beschleunigung.

120) Dies ist natürlich in Rücksicht auf die thatsächliche Entwicklung der Mechanik zu verstehen, welche die Bewegungen durch Differentialgleichungen der Bahnkurven der Punkte definiert. Die energetischen Vorstellungen, welche vielleicht mit Recht auf so detaillierte Bilder verzichten, würden aller- dings auch eine andere Beschreibung der Vorgänge als denkbar erscheinen lassen.

121) Principia, p. 1.

20. Galilei u. die Prineipia v. Newton. 21. Die dynam. Bewegungslehre. 47

3) Materiae vis insita est potentia resistendi, qua corpus unum quodque quantum in se est, perseverat in statu suo vel quiescendi vel movendi uniformiter in direetum;

4) Vis impressa est actio in corpus exercita, ad mutandum ejus statum vel quiescendi vel movendi uniformiter in directum.

2) Axiomata sive leges motus!??).

1) Corpus omne perseverare in statu suo quiescendi vel movendi uniformiter in direetum, nisi quatenus a viribus impressis cogitur statum illum mutare; |

2) Mutationem motus proportionalem esse viri motriei impressae et fieri secundum lineam rectam, qua vis illa imprimitur;

3) Actioni contrariam semper et aequalem esse reactionem, sive corporum duorum actiones in se mutuo semper esse aequales et in partes contrarias dirigi.

21. Die dynamische Bewegungslehre. Auf Grund der vor- stehenden allgemeinen Prineipien hat sich allmählich im Anschluss an eine durchgebildete Phoronomie das System der klassischen Mecha- nik des 19. Jahrhunderts entwickelt, bei dessen Darlegung wir die an die Vorstellung von Raum und Zeit anknüpfenden Fragen nun nicht weiter berühren.

Die reine Bewegungslehre, welche die Lage des Punktes durch seine drei als Funktionen der Zeit t gegebenen Koordinaten x, Y, 2 beschreibt, geht davon aus, dass bei der Bewegung auf beliebiger Bahn

lim At in Bezug auf den durchlaufenen Weg s—s,—=As und das zugehörige Zeitintervall —1,=At einen völlig bestimmten Grenzwert, die Ge- schwindigkeit v des Punktes, darstellt. Wird die Bewegung auf irgend eine Axe X, etwa durch Parallelprojektion, projiziert, so ist die Ge- schwindigkeit der projizierten Bewegung gleich der Projektion von v. Durch die Projektion auf drei am bequemsten zu einander rechtwinklige Koordinatenaxen x, y, 2 gilt die Bewegung als vollkommen bestimmt, und

für t=14,

? dx :

= hl, Yy,?, t) - d

= —hl, Y,?2, t)

j dz = —=hle, Y,?, t)

sind die drei Differentialgleichungen erster Ordnung, welche bei ge-

122) Principia, p. 12.

48 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

gebener Anfangslage (X,, Yo, 20, to) die Koordinaten x,y,z als ein- deutige Funktionen von t bestimmen.

Bei der selbständigen Stellung, welche jede der Geschwindig- keiten, z. B. © für einen Beobachter, der die Projektionsbewegung in der YZ-Ebene mitmacht, besitzen, nennt man diese die Komponenten; ihre Resultante ist der Vektor v. Durch diese Betrachtung, welche jeder Bewegung ihre orthogonalen oder auch allgemeinen Parallel- projektionen auf irgend welche Axen zuordnet, werden die überflüssigen Untersuchungen über Zusammensetzung und Zerlegung der Geschwindig- keiten vermieden, während zugleich die Vorstellung, welche einem Punkte gleichzeitig mehrere Bewegungen zuschreibt, als eine rein logische, allerdings durch die Anschauung vermittelte, Abstraktion hervortritt, der ein reales Verhalten gar nicht entspricht.

Bei konstanten &, y, 2 ist die Bahn eine gerade Linie, die gleich- förmig durchlaufen wird. In jedem andern Falle kommt zum Vektor v ein unendlich kleiner Vektor dv in der Zeit dt hinein, der als Maass der Geschwindigkeitsänderung angesehen wird; auch hier betrachten wir diese Beschleunigung als einen nach Richtung und Grösse voll- kommen bestimmten Grenzwert. Bei dieser Auffassung ist es selbst- verständlich, dass sich die Beschleunigungen ebenfalls nach dem Parallelogrammgesetze zusammensetzen; insbesondere erhellt dies durch Hamilton’s Begrifi des Hodographen'””*). Und umgekehrt definieren die Gleichungen

i=fıi(@,y,2,%,Y,2,t) y=h(&,Y,2,8,9,2,}) = f,(@,y,2,%,9,2,0)

bei gegebenem Anfangszustande (&,, Yo, 20, Xo, Yo, Zo, 4) wieder unter geeigneter Beschränkung der Funktionen die Bewegung vollständig. Der hierdurch eingeleitete Prozess der phoronomischen Begriffsbildung ist damit noch nicht abgeschlossen, doch hat die Dynamik keine Ver- anlassung, von den höheren Beschleunigungen Gebrauch zu machen !??®).

122°) W. R. Hamilton, Dublin, Trans. 3 (1846), p. 345; Elements of Quater- nions, London 1866, p. 100, 718, 2. ed., 2 vols., London 1899/1901; der Begriff des Hodographen indess schon 1843 bei Möbius, Mechanik des Himmels Werke 4, Leipzig 1887, p. 36 u. 47.

122°) Schon C. @. J. Jacobi weist 1825 (Werke 3, p. 44) auf die Theorie der höheren Beschleunigungen hin, deren allgemeinen Begriff Möbius, J. f. Math. 36 (1838), p. 91, verwendet. A. Transon, Note sur les principes de la meca- nique, J. de math. (1) 20 (1843), p. 320, führt neben mä& geradezu m& als virtualite motrice ein, während H. Resal (Trait€ de cindmatique pure, Paris

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22. Das System der klassischen Dynamik. 49

22. Das System der klassischen Dynamik'?”). Den Übergang zur Dynamik des materiellen Punktes gewinnt man nun in den ge- bräuchlichen Darstellungen durch die folgenden'*) als Abstraktionen aus der Erfahrung anzusehenden Grundsätze:

1) So oft ein materieller Punkt sich nicht gleichförmig und geradlinig bewegt, sind immer andere Körper vorhanden, deren Lage und Bewegungszustand als bestimmende Bedingungen für diese Ab- weichung von der Trägheitsbahn erscheinen; man sagt, dass wirkende Kräfte vorhanden sind, welche die betreffende Beschleunigung er- teilen '?°).

2) Masse ist diejenige Eigenschaft der materiellen Punkte, unter gleichen Bedingungen dieser Art skalar verschieden grosse Beschleuni- gungen zu erhalten; die Einheit der Masse ist willkürlich wählbar.

3) Einheit der Kraft ist diejenige, welche der Einheit der Masse die Beschleunigung Eins erteilt. Jede Masse, die „vermöge“ der Kraft Eins die Beschleunigung Eins erhält, repräsentiert die Masseneinheit.

4) Wird die Masseneinheit von mehreren Krafteinheiten zugleich ergriffen, so wirkt jede einzelne genau so, als ob die übrigen gar nicht vorhanden wären. Man gewinnt so die Vorstellung der Kraft n, welche der Masseneinheit die Beschleunigung » erteilt.

5) Ein materieller Punkt, der unter dem Einfluss der Kraft » die Beschleunigungseinheit erhält, besitzt die Masse n. Ein materieller

1862) eine systematische Theorie der Beschleunigungen erster und zweiter Ord- nung liefert, die seitdem von anderen noch viel weiter ausgeführt wurde.

123) Wir verstehen darunter etwa die Lehren, welche durch den Einfluss der französischen Mathematiker in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ziem- lich allgemeine Geltung erlangt haben.

124) Diese Grundlagen der Dynamik erscheinen meistens mit metaphysi- schen Ideen über Trägheit, Ursache ete. verbunden (vgl. z. B. die Darstellung bei E. Bour, Mechanik 2, p. 5, Duhamel und anderen); der hier gewählte Text beabsichtigt, soweit wie möglich, sich bereits neueren Vorstellungen anzupassen. Vgl. z. B. Streintz, Grundlagen, p. 99 ff. Es ist daher auch das Trägheits- prinzip durch die Aussage Nr.1 ersetzt. Der Zusammenhang dieser axiomati- schen Grundsätze mit der Erfahrung wird nicht selten durch Berufung auf ganz unkontrollierbare Beobachtungen in übertriebener Weise dargestellt; so z. B. von Coriolis, M&canique, p. 5: si la force F' varie pendant la durde du mouvement, Vobservation fait voir que le rapport p (Beschleunigung) varie de la möme maniere; c’est & dire que les valeurs de g demeurent proportionelles aux valeurs de F.

125) Selbst Kirchhoff und Mach sprechen von wirkenden Kräften. Nach 4A. Höfler, Studien, p. 56 ist Wirken eine besondere Art der Relation, nämlich eine Notwendigkeitsbeziehung von Realitäten gewisser Art, deren Vorstellung anthropomorphistische Elemente gar nicht enthält.

Encyklop. d. math. Wiesensch. IV 1. 4

50 IV ı. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

Punkt mit der Masse m erhält daher durch die Kraft F= mn die Beschleunigung g=n; mithin wird F=mp. 6) Bei den ponderablen materiellen Punkten kann die Proportio-

nalität von Masse und Gewicht durch Versuche, in ihrer einfachsten Form z. B. durch die Atwood’sche Fallmaschine, bestätigt werden '?®).

23. Kritische Bemerkungen über das System der Dynamik. Dass die Definitiones von Newton zum Teil im Ausdrucke recht sorg- los gewählt sind, z. B. quantitas materiae durch densitas, vis durch actio erklären, etc. ist oft bemerkt worden!?”). Noch weniger passend scheint es zu sein, von einer vis inertiae!?®) zu reden; es ist hier

126) Dahin gehören auch die Resultate von F\ Bessel’s Arbeit „Versuche über die Kraft, mit welcher die Erde Körper von verschiedener Beschaffenheit anzieht“, Berlin, Abhand. d. Akad. 1830, p. 41, auch Ann. Phys. Chem. 25 (1832), p. 401. Bessel’s Untersuchungen sind neuerdings mit noch feineren Hülfs- mitteln wieder aufgenommen durch R. v. Eötvös, Über die Anziehung der Erde auf verschiedene Substanzen, Mathematische und naturwissenschaftliche Berichte aus Ungarn 8 (1891), p. 65; vgl. auch Ann. Phys. Chem. (2) 59 (1896), p. 354.

127) Diese Ansicht wird nicht von allen geteilt. Thomson und Tait sagen (Treatise (1) 1, p. 279): the introduction to the principia contains in a most lueid form the general foundations of dynamies. Ähnlich äussert sich auch Volk- mann, Theor. Physik, p. 70. Es ist namentlich in England üblich, aus New- ton’s kurzen Sätzen viel weitergehende Konzeptionen, z. B. das d’Alembert’sche Prinzip, die Erhaltung der Energie, u. s. w. herauszulesen. Wir lassen diese übrigens auch in England keineswegs allgemein vertretenen Ansichten dahingestellt. Beachtet man indess die Thatsache, dass trotz der mangelhaften äusseren Form aus Newton’s Prinzipien sich die ganze Dynamik entwickelt hat, ohne dass man bis in die neuere Zeit es für unerlässlich fand, die Anzahl der axiomatischen Aussagen wesentlich zu vermehren, so wird man geneigt sein, sich ebenso sehr zu hüten, in Newton’s Gedanken zu wenig hineinzulegen. Dass übrigens die Newton’schen leges, welche den Bedürfnissen der astronomischen Mechanik vollständig angepasst sind, für die Deduktion der Mechanik bedingter materieller Systeme allgemeiner Art nicht ausreichen, dürfte gegenwärtig kaum bezweifelt werden.

128) Die vis inertiae, das sogen. Beharrungsvermögen, kann als ein ganz überflüssiger scholastischer Begriff erscheinen; schon Euler weist ihn in den Reflexions sur P’espace auf’s entschiedenste zurück. A. M. Ampere entwickelt bei Gelegenheit seines ganz nützlichen Deviationsbegriffes der Bewegung des materiellen Punktes sogar die Vorstellung, dass die force d’inertie der wirken- den Kraft beständig entgegengesetzt gleich sei (J. de math. 1 (1836), p. 211), Die damit zusammenhängende Unterscheidung der Kräfte in bewegende und be- schleunigende oder forces d’inertie (als solche treten noch gegenwärtig im d’Alem- bert’schen Prinzip die mä&, mi, auf) scheint ebenfalls nicht sehr glücklich. Hierauf beruhen auch die falschen Auffassungen über die Centrifugal- kraft, in denen Hertz sogar einen wesentlichen Mangel der üblichen Mechanik

RER TEE

33. Kritische Bemerkungen über das System der Dynamik. 51

nicht der Ort, diese formellen Fragen zu behandeln; unerlässlich er- scheint aber eine kurze sachliche Besprechung der Axiome.

1) Die Unabhängigkeit der Axiome. Weit grösser sind die Schwierigkeiten, welche sich dem Verständnis der Newton’schen Axiome entgegenstellen; sie haben eine ausgedehnte Litteratur hervorgerufen, von der hier indes nur das Wesentlichste angeführt werden kann. Wir erwähnen zunächst die Fragen, welche sich auf die gegenseitige Unabhängigkeit der Aussagen beziehen. Dass z. B. das erste Ge- setz in dem zweiten enthalten ist, wird wohl allgemein anerkannt. Offenbar können diese Fragen durch eine rein logisch-mathematische Untersuchung entschieden werden, in welche wir indessen hier nicht eintreten. Auch scheint es noch zweifelhaft, ob die bisherigen Be- strebungen, welche namentlich in der englischen Litteratur auftreten !?°), bereits zu einem wirklich abschliessenden Ergebnis gelangt sind. Es sei dabei an die Schwierigkeiten erinnert, welche analoge Unter- suchungen in dem viel durchsichtigeren geometrischen Gebiete zeigen, und die erst in der neuesten Zeit durch Helbert eine entscheidende Förderung erhalten haben").

2) Der Begriff der Masse. Newton und Poisson erklären Masse als Quantität der Materie‘?‘). Hertz bezeichnet!??) ein Massenteilchen als ein Merkmal, durch das man einen geometrischen Punkt von einem anderen unterscheiden kann, und geht zur Gewinnung eines rein pho- ronomischen Massenbegriffs auf die Zählung hypothetischer Atome in einer bestimmten Volumeinheit zurück, während er in der Dynamik „greifbare“ (ponderable) Massen dem Gewichte proportional setzt. Französische Mathematiker!’®) definieren Masse durch das Verhältnis der

zu erblicken glaubte (Mechanik, p. 6); man vgl. darüber Boltzmann, Mechanik, p- 45.

129) Vgl. namentlich J. Me. Gregor, On the fundamental hypotheses of abstract dynamics, Canada, R. Soc. Trans. 3 (1892); desgl. Phil. Mag. (5) 35 (1892), p. 134; 36 (1893), p. 243, sowie Canada, R. Soc. Trans. 6 (1895), p. 95.

130) D. Hilbert, Über die Grundlagen der Geometrie, Festschrift zur Ent- hüllung des Gauss-Weber-Denkmals zu Göttingen, Leipzig 1899; auch franz.: Les principes fondamentaux de la g6ometrie, trad. L. Laugel, Paris 1900.

131) So auch Kant, Metaphysische Anfangsgründe, p. 95; diese Ausdrucks- weise auch noch gegenwärtig bei Physikern, z. B. W. Voigt, Kompendium 1,

- p. 14; sie hat nur dann Sinn, wenn man von einer abstrakten Materie redet,

welche sich superponieren kann und dadurch fähig wird, Zustände verschiedener

- Dichtigkeit anzunehmen. L. N. M. Carnot (Prineipes 1803) definiert Masse über-

haupt nicht. 132) Hertz, Mechanik, p.54. Ähnlich auch Schell, Mechanik 1, p. 2, 72.

133) So z.B. Duhamel, Me&canique 1, p. 93; P. Appell, Mecanique 1, p. 86; H Resal, Mecanique 1, p. 132,

4*

59 IV ı. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

Kraft zur Beschleunigung; selbstverständlich muss dann zuvor die Kraft definirt sein, was dann nur im statischen Sinne durch Gewichte ge- schehen kann. Bei Kirchhoff‘) erscheint die Masse einfach als ein in den Differentialgleichungen der Bewegung von Systemen eingeführter Zahlenkoeffizient, durch den die Möglichkeit einer eindeutigen Be- schreibung der Bewegung nicht aufgehoben wird, bleibt also völlig un- definiert. Nach Andrade'®) lässt sich aus den Erscheinungen des Stosses von zwei materiellen Punkten ein Massenbegriff konstruieren, der von der Voraussetzung eines bestimmten Koordinatensystems und einem bereits gewählten Zeitmass ganz unabhängig ist. Andere begnügen sich mit blossen Nominaldefinitionen, so z. B. wenn Masse als Be- schleunigungskapazität bezeichnet wird!%),

Am eingehendsten hat sich Mach 1”) mit dem Massenbegriff be- schäftigt. Nach ihm sind Körper gleicher Masse solche, die auf ein- ander wirkend sich gleiche entgegengesetzte Beschleunigungen erteilen. Diese Aussage schliesst natürlich die mit der Erfahrung überein- stimmende und von Mach noch weiter begründete!?®) Voraussetzung

134) Kirchhoff, Mechanik, p. 13—21; ähnlich auch wohl (©. Neumann, Grund- züge der analytischen Mechanik, Leipz. Ber. 39 (1887), p. 155. Dass Kiürchhoff’s einleitende Betrachtungen in einem auffallenden Gegensatz zu der sorgfältigen analytischen Darstellung der späteren Teile stehen, welche sich nur an wenigen Stellen beanstanden lassen, wird gegenwärtig wohl nicht bezweifelt werden.

135) Andrade, Me&canique, p. 54. Die Erscheinungen des Stosses an und für sich sind natürlich schon viel früher herangezogen;, in Beziehung auf ex- perimentelle Prüfung vgl. man z. B. W. M. Hicks, Elementary dynamics of solids and fluids, London 1890.

136) So z. B. A. Höfler, Studien, p. 70. Ch. Freyeinet vergleicht (Essais sur la philosophie des sciences, Paris 1896, p. 177), die Masse als capacit& dy- namique mit der spezifischen Wärme. Bei Euler ist Masse die Grösse der Trägheit (Theoria motus $ 153); Volkmann, Theoret. Physik, bezeichnet den Be- griff der Masse als einer sich beim Wechsel der Erscheinungen erhaltenden Grösse als ein Postulat; dies wird man natürlich bei jeder Erörterung über diesen Gegenstand im Auge zu behalten haben. Die Mechanik der Punkte mit veränderlicher Masse, auf welche Jacobi (Dynamik, Ausg. A. Olebsch, p- 57) hin- zudeuten scheint, wird man zunächst als eine ganz abstrakte Erweiterung der Differentialgleichungen der Dynamik ansehen. Sie kann indessen bei gewissen Fragen (z. B. allmähliche Änderung der Masse der Himmelskörper durch Auf- nahme kosmischer Massen) Anwendung finden; doch handelt es sich dann eigentlich nicht um jene Abstraktion, sondern um eine Untersuchung von Stoss- erscheinungen; man vgl. J. Mestschersky, Dynamik des Punktes mit veränderlicher Masse, Referat in den Fortschr. d. Mathematik 28 (1897), p. 645.

137) Mach, Mechanik, p. 210.

138) Mach, Mechanik, p. 213. In Verbindung dieses Massenbegriffs mit der Erfahrungsthatsache, dass die Beschleunigungen, welche mehrere Körper 4A,,

23. Kritische Bemerkungen über das System der Dynamik. 53

ein, dass zwei Körper A, und A,, welche im Vergleich mit einem Einheitskörper A gleiche Masse haben, auch in Bezug auf jeden anderen Vergleichskörper B sich so verhalten. Diese Fassung, welche den neuesten Darstellungen'??) zugrunde liegt und dem Vorschlage von Andrade nahe kommt, scheint sich ebenso sehr wie dieser letztere zu empfehlen; eine allgemeine Einigung ist bis jetzt nicht erfolgt.

Es scheint übrigens kein Hindernis zu bestehen, auf den ganz popu- lären Standpunkt zurückzugreifen und einfach die Masse der ponde- rablen Körper zunächst dem Gewichte proportional zu setzen!) mit Berufung auf bestimmte Erfahrungsthatsachen über die Abhängigkeit derselben von Ort, Zeit und sonstigen physikalischen Zuständen, als- dann die Einführung anderer Massen der Analogie vorzubehalten, welche bei der Betrachtung verborgener Massen wie bei Hertz ohne- dies eintreten muss. In diesem Sinne hat man übrigens von jeher die Einführung nicht gravitierender (elektrischer, magnetischer ete. .. positiver und negativer) Massen!) vorgenommen, indem man die Einheit derselben auf die bereits gewonnene Einheit der Kraft zurück- führte; dies ist auch notwendig, wenn der Begriff der Arbeit einen allgemeinen Sinn erhalten soll.

3) Das Trägheitsprinzip. Das erste Axiom von Newton ist unter dem Namen des Galile”schen Trägheitsprinzips bekannt: der sich selbst überlassene unabhängig von allen anderen Körpern vorgestellte Punkt bewegt sich gleichförmig und geradlinig"). Abgesehen von den schon oben besprochenen Schwierigkeiten, welche in der Vor- stellung des unbeeinflussten Punktes liegen, erscheint dieses Axiom

A,, A, an einem Körper A bestimmen, von einander unabhängig sind (siehe Alinea 4 des Textes) gelangt Mach, Mechanik, p. 242 zu einem System von Aussagen, welche geeignet erscheinen, die Fassung in Nr. 22 zu ersetzen.

139) Siehe Love, Mechanics, p. 87; Maggi, Principü, p. 150; Boltzmann, Mechanik, p. 22.

140) Die Einwände gegen diese Ansicht, vgl. z.B. @. A. Greenhill, On weigth, Nature 46 (1892), p. 247; ibid. 51 (1894), p. 105, sind bekannt; sie scheinen aber bei genauer Abwägung schliesslich nicht grösser als die Schwierig- keiten, welche bei der Definition einer physikalischen Längeneinheit vorliegen.

141) A. Coulomb, Paris, M&m. de !’Acad. 1745, p. 569, Ostwald, K. B. Nr. 13; C. F. Gauss, Intensitas vis magneticae terrestris ete. 1833 = Werke 5, p. 79.

142) Galilei, Discorsi, dritter und vierter Tag, Ostwald, K. B. Nr. 24, p. 57, 81. Nach E. Wohlwill, Zeitschr. f. Völkerpsychologie u. Sprachwissenschaft 15 (1883/84), p. 104 hat Galilei, bei dem eine apriorische Begründung des Trägheitsprinzips im Sinne von Fussn. 22 sich überhaupt nicht zu finden scheint, übrigens seine Aussage auf die Vorgänge an der Erdoberfläche beschränkt; die anal auf die Mechanik des Himmels rührt von Newton her.

54 IV ı1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

überhaupt überflüssig. Überdies ist es eine Täuschung “), wenn man glaubt, dass sich in der Erfahrung dasselbe nachweisen lasse. Aller- dings lässt sich erkennen, dass die Abweichungen von der Trägheits- bahn kleiner und kleiner werden, je mehr man gewisse die Bewegung beeinflussende „Umstände“ beseitigt; dass aber, wenn der Punkt sich gleichförmig und geradlinig bewegt, solche Umstände nicht mehr vor- handen sind, wird schon vorausgesetzt und liegt jenseits aller mög- lichen Erfahrung'“). Einen wirklichen, dann aber auch nur meta- physischen Sinn hat das Trägheitsprinzip allein dann, wenn man neben Newton’s realem Raum, in dem die Bewegung des einzelnen Punktes betrachtet werden kann, auch ein reales absolutes Zeitmass annimmt.

4) Der Kraftbegriff. Die rein dynamische Definition der Kraft als einer bloss abkürzenden Bezeichnung für die Thatsache, dass ein Massenteilchen eine gewisse Beschleunigungskomponente besitzt, steht aller- dings in keinem Zusammenhang mit dem statischen Kraftbegrif. Man wird sich aber um so eher entschliessen, den letzteren aufzugeben, und damit den schon von Gauss!#) gerügten Dualismus zwischen

143) Über die logischen Schwierigkeiten, die im Trägheitsgesetz liegen, und zum grossen Teil durch Missverständnisse selbst geschaffen sind, vgl. F‘. Poske, Der empirische Ursprung von der Allgemeingültigkeit des Beharrungs- gesetzes, Vierteljahrsschr. f. wiss. Philosophie 8 (1884), p. 385, mit Zusatz von W.Wundt, p. 405; desgl. L. Weber, Über das Galilei’sche Prinzip, Kiel 1891; P. Johannesson, Über das Beharrungsgesetz, Schul-Programm, Berlin 1896, Nr. 98.

144) Man kann sich daher sehr wohl eine Mechanik denken, bei der die Bewegung des unbeeinflussten Punktes eine ganz andere wäre, so z. F. Reech im Cours de mecanique, vgl. Fussn. 72; dann J. Andrade, Mecanique physique; ähnlich äussern sich auch H. Poincare und P. Painleve [Revue de metaphys. (8) 5 (1900), p. 557]; auch schon weit früher Jacobi in seiner Vorlesung 1847/48, p.1.

145) Gauss, J. f. Math. 4 (1829), p. 233: „So fordert doch der Geist den umgekehrten Gang, wobei die ganze Statik als ein besonderer Fall der Dynamik erscheint“; Laplace, Mee. c£l., p. 16 will noch die Proportionalität von Kraft und Beschleunigung beweisen, so auch Poisson, M6canique, 2. &d., 1, 8 116.

Eine allgemeine Einigung über diese beiden Auffassungen des Kraft- begriffs ist bisher nicht erzielt. Während die abstrakte Dynamik, für die die Statik nur ein Grenzfall ist, den Begriff mp als ausreichend betrachtet, gehen die auf die Anwendungen gerichteten Darstellungen der Mechanik zunächst von den statischen Erscheinungen (als den scheinbar einfacheren) aus, d. h. von der Messung der Kräfte durch Gewichte, resp. durch die Formänderungen elastischer Systeme (Federwagen, Dynamometer). Vgl. die ausführliche Darlegung bei Oh. Frey- cinet, Essais sur la philosophie, Paris 1896, p. 153 ff. A. Ritter, Lehrbuch der analytischen Mechanik, 2. Aufl. Leipzig 1883, p. 66, dessen Anschauung gewiss von vielen geteilt wird, definiert zwar Kraft durch mp, will aber die Masse selbst nur durch die Kräfte messen. „Es muss vielmehr vorausgesetzt werden, dass es erfahrungsmässig noch ein anderes Kriterium giebt, um die Gleichheit

23. Kritische Bemerkungen über das System der Dynamik. 55

Statik und Dynamik zu beseitigen, als eine befriedigende Darstellung der statischen Vorgänge als solcher, bei denen die Beschleunigung Null ist, nicht allein gelingt, sondern damit zugleich weitere Voraus- setzungen entbehrlich zu werden scheinen. Das Unabhängigkeits- prinzip “%), das nach Ansicht mancher englischer Autoren in Newton’s lex secunda enthalten ist, und auf das sich der Parallelogrammsatz gründet, ist erst später in der französischen Schule mit besonderem Nachdrucke hervorgehoben. Dasselbe scheint überflüssig zu werden, wenn man die Lehre von der Zusammensetzung der Beschleunigungen einfach als Forderung auf die Beschreibung der Erscheinungen durch den Kraftbegriff überträgt‘"). Als Ausdruck der dynamischen Grund- vorstellungen gelten nun die bewegungsgleichungen des freien materiellen Punktes

m& = X my=Y mi=Z,

in denen die X, Y,Z als die durch Beobachtung der Beschleuni- gungen und Massen resp. der statischen Wirkungen, je nach dem zu- grunde gelegten Kraftbegriff, zu gewinnenden Werte der Kraftkom- ponenten aufzufassen sind "P).

zweier Kräfte zu erkennen“, nämlich die Identität der Formänderungen am Dynamometer; ähnlich auch bei A. Ritter, Lehrbuch der technischen Mechanik, 7. Aufl. Leipzig 1896, p. 42; vgl. auch E. Budde, Mechanik 1, p. 111.

146) Siehe dessen Fassung bei Duhamel, Mechanik 1, p. 338; E. Bour, Mecanique 2, p. 7. Von D. Bernoulli (Comm. Ac. Petrop. 1728, p. 126) ist das- selbe zuerst ausgesprochen. Poisson legt es seiner Mechanik von 1811 (p. 277) zugrunde; in der 2. &d., 1, p. 172 sucht er dasselbe durch eine Betrachtung zu beseitigen, auf deren Haltlosigkeit schon der Übersetzer M. A. Stern aufmerk- sam macht. Der willkürliche, aber einer bequemen Beschreibung der Be- wegungsvorgänge angemessene Charakter des Unabhängigkeitsprinzips ist wohl selten bezweifelt worden. Poincare (vgl. Fussn. 144) bemerkt neuerdings, dass das Verhalten magnetischer Massen mit dem Gesetze nicht unmittelbar in Ein- klang stehe; vgl. dazu die Bemerkung von Painleve „Les principes de la m&ca- nique sont des conventions que l’experience ne pourra jamais mettre en defaut‘“.

147) So z. B. Tait, Encyel. Brit., 9. ed. (1881), Art. Mechanics, p. 701; Me. Gregor, On the hypotheses, Fussn. 129; F' Muirhead, On the laws of motion, Phil. Mag. (5) 23 (1887), p. 489.

148) Es besteht kein Hindernis, diese Werte der X, Y, Z als abhängig vom Bewegungszustande, d. h. den x, y, 2, &, y, 3 anzusehen; enthalten sie auch die &, %, Z, so ergiebt sich durch Auflösung nach denselben ein analoges Problem. Ein ganz anderes Verhalten aber tritt ein, wenn die Krüfte von noch höheren Derivierten abhängen, da nun der Anfangszustand (im gewöhnlichen Sinne) überhaupt nicht mehr zur Bestimmung hinreicht; dies wird nicht immer hervorgehoben.

56 IV ı1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

5) Das Gesetz der Aktion und Reaktion, Newton’s lex tertia, wel- ches in Nr. 22 nicht unter die Lehren der klassischen Dynamik auf- genommen wurde, ist für die akademischen Beispiele der Bewegung freier Punkte nicht erforderlich, enthält aber für die Betrachtung von materiellen Systemen gerade den wichtigsten Teil der Newton’schen Mechanik. Nach Hertz, der dasselbe für die Wirkungen zwischen Teilsystemen als eine Folge seines Grundgesetzes beweist), ist das- selbe in seiner Ausdehnung über diesen Fall hinaus eine unerweis- bare, vielleicht nicht einmal richtige Behauptung; überdies sind in der Elektrodynamik und Elastizitätstheorie allgemeinere Formen dieses Gesetzes aufgetreten °®). Es erscheint nicht unrichtig, wenn Petrini °') in dem Gesetz eine im Interesse der Einfachheit nützliche Me- thode zur angemessenen Begrenzung der Untersuchungen sieht.

24. Die momentanen Kräfte, Stösse oder Impulse'®?). Da jede Kraft K in der Zeit dt in ihrer Richtung nur die geradlinige Ab-

weichung oder .Deviation'°?)

ik. et

dagegen die unendlich kleine Geschwindigkeit Kat mM

hervorbringt, so ist die abstrakte Mechanik zunächst nicht im stande, die scheinbar plötzlichen Änderungen des Bewegungszustandes zu er- klären, welche man beim Stosse wahrzunehmen glaubt. Ohne auf die frühere Behandlung dieser Fragen durch Huygens '”*) und andere ein- zugehen, sei nur bemerkt, dass sich gegen die Vorstellung '°**) nichts

149) Hertz, Mechanik, p. 215.

150) Erweiterung desselben bei Volkmann, Theoretische Physik, p. 131; nach anderer Richtung bei Voigt, Kompendium 1, p. 79.

151) H. Petrini; Fussn. 11, p. 221.

152) Die Bezeichnung ist an sich natürlich gleichgültig; der Ausdruck Im- puls (nach Thomson und Tait (Treatise (1) 1, p. 283) gewählt, obwohl dies auch nichts anderes als Stoss bedeutet), z.B. bei E. Budde, Mechanik 1, p. 411, scheint allgemeiner in Gebrauch zu kommen. Vgl. Klein u. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, p. 69 ff.

153) Diese Formel zuerst bei Euler, Decouverte d’un nouveau principe de mecanique, Berlin, M&m. de l’Acad. 1750 (1752), p. 185; Theoria motus, $ 169.

154) Über Huygens und seine Vorgänger vgl. z.B. Mach, Mechanik, p. 300 325; desgl. Galilei’s Untersuchungen über den Stoss, Ostwald, K.B. Nr. 25, p. 37.

154°) In der Mechanik von Hertz, p. 288, ist die Vorstellung gerade um- gekehrt; es handelt sich um wahre Unstetigkeiten der Bewegung, welche ver- möge der existierenden Zeitintegrale der Beschleunigungen beschrieben werden.

24. Die momentanen Kräfte, Stösse oder Impulse. 57

einwenden zu lassen scheint, dass es sich hierbei um Vorgänge kon- tinuierlicher Art handelt, die in so kurzer Zeit ablaufen '°°), dass eine scheinbare Diskontinuität entsteht. Wenn in der Formel

mt—=X } t oder m(&— &)=/Xdi—= P to

X als sehr gross angesehen wird, kann selbst in einem ausserordent- lich kleinen Zeitintervall 1, die rechte Seite einen unter einer end- lichen Grenze liegenden mit den gewöhnlichen Grössenordnungen ver- gleichbaren Wert P annehmen, den man nun als Intensität des Stosses oder Impulses bezeichnet; links steht der Zuwachs an Bewegungsgrösse (quantit€E de mouvement, momentum). Die momentanen Kräfte oder Impulse werden daher durch den vektoriellen Zuwachs an Bewegungs- grösse gemessen, welche sie in einem ausserordentlich kleinen Zeitraum erzeugen. Da gleichzeitig t C— = 3 "wdt to

ist, so erfährt der materielle Punkt m bei einer Lagenänderung von der Ordnung t— t, einen Geschwindigkeitszuwachs &—@,.'%%) In erster Annäherung gestattet man sich von einer plötzlichen Geschwin- digkeitsänderung bei unweränderter Lage des Punktes und von dem Integralwert bei gegen Null konvergierendem t —, zu reden. So unbefriedigend diese Auffassung in mancher Hinsicht ist, deren Inhalt- losigkeit nur formal durch die benutzten Integralzeichen°”) verdeckt wird, so hat sich doch gegen diese in der französischen Schule be- sonders nachdrücklich ausgebildete Vorstellung, die mit den Beobach- tungen in genügender Übereinstimmung zu sein scheint, ein Wider- spruch bislang nicht erhoben. |

Die Vorstellung, dass die Bewegungsgrösse mv eines materiellen

155) Dies ist die Stosszeit, time of impact der englischen Schriftsteller, vgl. Thomson und Tait, Treatise (1) 1, p. 274.

156) Theoretisch sind natürlich ganz andere Fälle denkbar, da es sich um die Grenzwerte handelt, gegen welche die Integrale konvergieren sollen; so z. B. der, wo ohme Geschwindigkeitsänderung noch eine endliche Verschiebung bei gegen Null konvergierender Zeit erfolgt; Beispiele dieser Art bei @. Darbou«, Bull. sciences math. (2) 4 (1880), p. 128.

157) Diese Integrale in Poisson’s Me&canique, bei Duhamel, Mechanik 2, p. 81. Insbesondere vgl. man @. Darboux, Etude geom6trique sur la percussion et le choc les corps, Paris C. R.78 (1874) und Bull. sciences math. (2) 4 (1880), p. 126; dort auch momentane Reibungsimpulse.

58 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

Punktes mit der Masse m einem Impulse P= mv äquivalent ist, der dem ruhenden Punkte plötzlich die Geschwindigkeit » mitteilt, ist übrigens keine nur nebensächliche; dies zeigt sich insbesondere, wenn

man die generalisierten Impulse p, - vgl. Nr. 26, als solche betrachtet, die den generalisierten Koordinaten q, die Geschwindig- keiten g, erteilen. Sie tritt sogar von vornherein als gleichberechtigt neben die der kontinuierlichen Kräfte. Übrigens handelt es sich dabei nicht eigentlich um eine diskontinuierliche Auffassung, da die Impulse doch selbst wieder als stetig wechselnd im allgemeinen angesehen werden. d’Alembert scheint auf sein Prinzip ursprünglich durch Be- trachtung von Impulsen gekommen zu sein!?’#); auch Lagrange be- rücksichtigt in seiner Mecanique gleichmässig beide Vorstellungen, die später besonders in Poinsot’s synthetisch-dynamischer Theorie der Bewegung des starren Körpers hervortreten !?7®),

Diese verallgemeinerte Auffassung des Impulsbegriffes, auf die Maxwell seine allerdings bestrittene Herleitung der dynamischen Differentialgleichungen gründete, sowie der reiche Inhalt der verschie- denen Theoreme, welche Thomson und Tait in Verfolgung der Oar- not’schen und Bertrand’ schen Sätze '?’°) entwickeln, kommt in der deutschen Litteratur neuerdings in methodisch Eickeller Form zur Geltung in Klein und Sommerfeld’s Theorie des Kreisels !74),

25. Druck und Oberflächenkräfte; verallgemeinerter Kraft- begriff. Bei der Annahme einer kontinuierlichen Massenverteilung hat man sich genötigt gesehen, neben den direkt gegebenen Kräften, die dann gewöhnlich auf die Masseneinheit bezogen durch X, Y, Z bezeichnet werden, also für die Masse odr gleich Xodr, Yodr, Zeodr sind, noch Oberflächenkräfte und Druckkräfte einzuführen. Dynamisch bildet die Vorstellung einer über eine Oberfläche ver- breiteten Druckkraft gewisse Schwierigkeiten, da diese Kräfte über- haupt nicht mehr an den Massenteilchen haften, sondern nur als

157°) Siehe die Dynamik von d’Alembert, Ostwald, K. B. Nr. 106, p. 138.

157®) L. Poinsot, Theorie nouvelle de la rotation, Paris 1834, dann J. de math. (1) 6 (1851), p. 9 u. 289; Sur la percussion des corps, ibid. (2) 2 (1857), p.281 und (2) 4 (1859), p. 421; vgl. auch Schell, Theorie d. Bewegung 2, p. 352 ff.

157°) Vgl. Thomson u. Tait, Treatise (1) 1, p. 284; E. J. Routh, Dynamik 1, p. 335, 350, sowie die dort gegebene Litteratur; hierher gehört auch die der englischen Litteratur eigentümliche Betrachtung der Anfangsbewegungen (initial motions) z. B. bei Routh, Dynamik 1, p. 420.

1579) F. Klein und A. Sommerfeld, ‘Theorie des Kreisels, Leipzig 1897, p. 69 ff., 93, etc.

25. Druck und Oberflächenkräfte; verallgemeinerter Kraftbegriff. 59

statische Resultanten auftreten, welche zwischen starren masselosen Trennungsflächen nach den Gesetzen des Gleichgewichts auftreten. In dieser Weise ist namentlich durch Cauchy '*) die Vorstellung eines inneren Druckes bei kontinuierlicher Massenverteilung begründet; manche Äusserungen anderer Autoren deuten darauf hin, dass dieselbe noch keineswegs völlig entwickelt ist 1°).

Wir schliessen hieran noch einen kurzen Hinweis auf weitere Verallgemeinerungen des Kraftbegriffs. Dass die Mechanik geneigt scheint, nicht nur von bewegenden, sondern schliesslich ganz allge- mein von zustandsändernden Kräften zu handeln, wurde schon in Nr. 3 bemerkt. Aber auch die im Sinne der ersteren gefassten Gesetze werden mannigfach erweitert. Schon das Weber’sche Gesetz führt zu von den Beschleunigungen abhängigen Kräften, die 0. Neumann '®°*) durch die Unterscheidung eines emissiven und receptiven Potentials, d.h. einer zeitlichen Fortpflanzung der Fernewirkung den gewöhnlichen Voraussetzungen wieder unterordnete; die mannigfachen Spekulationen über die mit der Gravitationslehre in Zusammenhang stehenden Fern- kraftgesetze begrenzt derselbe passend durch die Forderung, stabile Gleichgewichtszustände elektrischer Massen hervorrufen zu können. Rein mathematischer Natur, aber für die Methodik der Dynamik wichtig, sind die umfangreichen seit 1896 fortgesetzten Untersuchungen von Koenigsberger‘®°) über die Analogieen, welche unter Voraussetzung von kinetischen Potentialen allgemeinster Art bei dem Gebrauch des Hamilton’schen Prinzips hervortreten.

158) Cauchy, Exere. de math. 1827 = Oeuvres (2) 7, p. 60; 1828 (Oeuvres (2) 8, p. 253 ff.); 1829 (Oeuvres (2) 9, p. 41); desgl. Poisson, Sur les &quations gen6rales de l’&quilibre .. des corps solides elastiques et fluides, J. &c. polyt. 20 (1831), p. 1; ganz abstrakt ist die Darstellung bei Kürchhoff, Mechanik, p. 110, der die Begriffsbestimmungen des inneren Druckes mittelst Green’s partieller Integration gewinnt.

159) Duhem, Le potentiel thermodynamique, Ann. €c. norm. (3) 10 (1893), p. 186, 213. Vgl. auch J. Larmor, Aether and matter, p. 270.

159°) ©. Neumann, Die Prinzipien der Elektrodynamik, Tübingen 1868; die Vorstellung einer zeitlichen Fortpflanzung tritt schon 1845 bei Gauss auf (Brief an Weber), Werke 5, p. 269. C. Neumann, Allgemeine Untersuchungen über das Newton’sche Potential, Leipzig 1896, p. 227; vgl. H. Seeliger, Über das Newton’sche Gravitationsgesetz, Münch. Ber. 26 (1896), p. 373.

159°) L. Koenigsberger, Die Prinzipien der Mechanik, Leipzig 1901. Hier wird p. 127 die in Fussn. 159° erwähnte Neumann’sche Vorstellung auf eine ganz andere Weise, nämlich durch Zuziehung verborgener Bewegungen, wieder den gewöhnlichen untergeordnet.

60 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

D) Die rein kinetischen Theorieen.

26. Die Elimination der Kraft in der Kinetik von W. Thomson (Lord Kelvin). Wir gehen endlich zu einigen neueren Fortbildungen der Mechanik über. Durch die Lagrange’schen Differentialgleichungen der Bewegung ') in allgemeinen Koordinaten (vgl. Nr. 37)

wird man veranlasst, die Q, als Kraftkomponente genommen nach der Koordinate g,, als generalisierte Kraft, zu bezeichnen, was auch in dem bei beliebigen Transformationen der g, in andere unabhängige Varia- bele r, invarianten Ausdruck für die Arbeit

| =Q.d4, seine Begründung findet; eine ähnliche Verallgemeinerung tritt ein in Bezug auf die generalisierten Impuedskoordinaten or 04,’ welche bei vielen Problemen eine besonders anschauliche Bedeutung besitzen !#').

Weit wichtiger erscheinen aber die Gedankengänge, welche auf die vollständige Elimination des Kraftbegriffs, als des einzigen, der von metaphysischen Ideen über das Wirken der Dinge aufeinander schon infolge unserer gewohnten Ausdrucksweise sich schwer los- löst, abzielen. e

Insbesondere hat W. Thomson sich mit Vorliebe immer aufs neue der Absicht zugewandt, durch bis ins einzelne ausgeführte Bilder und Modelle die allgemeine Möglichkeit einer rein kinetischen Dynamik zu erläutern, deren Erfolge auf dem speziellen Gebiet der kinetischen Theorie der Gase bereits erkannt waren.

Ein erster Ansatz dazu wurde von Thomson 1876 mit Hülfe der von Helmholtz 1858 entdeckten Eigenschaften der Wirbelbewegung '*?) bezüglich deren auf Band IV 16, 3b hier verwiesen werden möge auf das Verhalten der Wüärbelringe, als in gewissem Sinne unzer-

160) Es muss hier vorgreifend die Bekanntschaft mit den Lagrange’schen Gleichungen der Dynamik vorausgesetzt werden, welche in Nr. 87 herge- leitet werden.

161) Vgl. namentlich F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie d. Kreisels.

162) Helmholtz, Integrale der hydrodynamischen Gleichungen, J. f. Math. 55 (1858), p. 25; bei Cauchy (Oeuvres (1) 1, p. 39) schon 1815.

96. Die Elimination der Kraft. 27. Die kinetische Theorie der Kraft. 61

störbaren 1%) Gebilden in einer idealen Flüssigkeit, und den scheinbaren Kräften, welche dieselben aufeinander ausüben, gegründet; Thomson bezeichnet sie geradezu als die Atome des „Seienden“'%), Eine wirk- lich allgemeine Ausführung hat er indessen ebenso wenig von diesem kühnen Apergu gegeben !%), wie von der etwas später von ihm be- gründeten, durch seine Schüler weiter behandelten Theorie der Gyro- staten, welche geradezu die Kraftwirkungen der elastischen Materie zu erklären bestimmt sind. Ein solcher Gyrostat besteht in seiner einfachsten Form aus einem um eine Achse rotierenden Rotationskörper (Schwungrad). Nachdem Thomson zuerst das Gleichgewicht eines durch masselose starre Verbindungen von Gyrostaten angeordneten Systems dieser Art untersucht hatte !), dehnt er diese Vorstellung auch auf die elastischen Schwingungen eines Systems um seine Gleich- gewichtslage aus 1”),

27. Die kinetische Theorie der Kraft von J. J. Thomson. Von dieser auf die Theorie der Gyrostaten begründeten kinetischen Theorie der Kraft ist nur noch ein Schritt zu der ganz abstrakten und völlig neuen Wendung, welche J. J. Thomson eingeschlagen hat!®). Wenn nämlich bei den Gleichungen eines kräftelosen ma- teriellen Systems (Nr. 26)

163) Namentlich bleibt der Zusammenhang geschlossener Wirbelringe im Sinne der Analysis situs unveränderlich.

164) W. Thomson, On vortex atoms, Phil. Mag. (4) 34 (1867), p. 15; Edinb. Roy. Soc. Proc. 6 (1869), p. 44; Edinb. Roy. Soc. Trans. 25 (1869), p. 217. Letz- tere beginnt so: Diese Arbeit wurde unternommen, um zu zeigen, dass durch die Hypothese, der Raum sei erfüllt mit einer inkompressibelen Flüssigkeit, auf die keine äusseren Kräfte wirken, alle materiellen Phänomene erklärt werden können ; vgl. ferner Edinb. Roy. Soc. Proc. 7 (1872), p. 576, vgl. auch A. E. H. Love, On recent English researches in Vortex motion, Math. Ann. 30 (1887), p. 326.

165) The possibility of forming a theory of elastic solids and liquids may be anticipated Phil. Mag. (4) 34 (1867), p. 15; Maxwell bemerkt indes dazu (Eneyel. Brit., 9. ed. 3, p. 45): „The diffieulties of this method are enormous, but the glory of surmounting them would be unique“; vgl. auch: W. Thomson, On vortex: staties, Phil. Mag. (5) 10 (1880), p. 97; J. J. Thomson, On the motion of vortex rings, London 1883.

166) On oscillations and waves in an adynamic gyrostatic system, Edinb. Roy. Soc. Proc. 12 (1883).

167) Steps towards a kinetic theory of matter, Brit. Assoc. Rep. (Montreal 1884), p. 613, London 1885; desgl. On a gyrostatic adynamic constitution for ether (1889); Math. and Phys. Papers 3, p. 366; J. Larmor, On the propagation of a disturbance in a gyrostatically loaded medium, Lond. Math. Soc. Proc. 23 (1891), p. 127.

168) J. J. Thomson, Lond. Phil. Trans. 176 (1885), p. 307; On some appli-

62 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

d /& oT ® ae) 0, in der lebendigen Kraft 7 gewisse generalisierte Koordinaten q; nur durch ihre g; enthalten sind, und auch keine Produkte 4,9; vor-

kommen, falls die übrigen Koordinaten durch g; bezeichnet werden, so hat man aus 1) für s=i

d (oT oT @) (a) und für s=j oT 3 ar ==G;. ) rk:

Geht nun durch Elimination der 9,6%) vermöge (3) 7 in (7)

über, so ist d /e(T) e(T) 0 32 dt (G) Erreee (9);

wo rechter Hand vermöge (3) nun alles als Funktion der g, dar- gestellt werden kann. Fasst man die rechte Seite als Kräftefunktion U auf, so hat man die von J. J. Thomson ''®) namentlich im Sinne der allgemeinen dynamischen Theorie Maxwell’s ausgeführte Möglichkeit, mit Hülfe der kinosthenischen Koordinaten g, das Auftreten von Kräfte- funktionen rein kinetisch zu deuten und so die potentielle Energie auf kinetische Energie „ignorierter“ Massen zurückzuführen.

28. Die Mechanik von H. Hertz. Diese Auffassung ist von Hertz in seiner Mechanik zu dem Ideal einer völlig kräftelosen Dy- namik ausgebildet. Hertz kennt nur Systeme von materiellen Punkten, die durch Bedingungen verbunden sind, und deren Bewegung durch das Gauss’sche Prinzip des kleinsten Zwanges geregelt ist, welches er in einer an Newton’s lex prima erinnernden Ausdrucksweise als Grundgesetz der Bewegung in geradester Bahn‘) bezeichnet. Der

cations of dynamical principles to physical phenomena, London 1888; auch deutsch: Anwendungen der Dynamik auf Physik und Chemie, Leipzig 1890.

169) Dieser wichtige Schritt ist zuerst von E. J. Routh, Essay on stability of motion (1877), p. 61, gemacht. Diese Koordinaten g, heissen bei J. J. Thomson kinosthenische, bei Thomson u. Tait (Treatise (1) 1, p. 318) ignored coordinates; diese Vorgänge sind später von Helmholtz als verborgene Bewegungen bezeichnet (J. f. Math. 100 [1887], p. 147).

170) J. J. Thomson, Anwendungen (Fussn. 169) p. 16, 23—97.

171) Hertz, Mechanik, p. 162: Systema omne liberum perseverare in statu suo quiescendi vel movendi uniformiter in directissimam. Über Hertz, Mechanik vgl. Mach, Mechanik, 4. Aufl. p. 269; J. Larmor, Brit. Assoc. Rep., London 1900, p. 620,

928. Die Mechanik von H. Hertz. 63

materielle Punkt als Einzelobjekt ist bei dieser Auffassung eine in gewissem Sinne überflüssige Fiktion, sodass zugleich die rein mathe- matischen Beispiele der Bewegung einzelner Punkte, welche die ana- Iytische Mechanik der früheren Zeit mit Vorliebe pflegte und auch als Mittel "zur Fortbildung und Erweiterung der analytischen Theo- rieen nicht entbehren kann, aus den eigentlich mechanischen aus- scheiden.

Allerdings redet auch Hertz von Kräften, sie bestehen aber nun wirklich nur in den Beschleunigungswerten, welche jeder Teil eines Systems auf jeden anderen ausübt. Diese systematische Konstruktion der Kräfte auf Grund einer rein kinetischen Theorie '?), welche nur in ganz allgemeinen Zügen von J. J. Thomson skizziert war, im Ein- zelnen völlig ausgeführt zu haben, ist das eine Hauptverdienst der Hertz’schen Mechanik '"). Denn die Einführung des Grundgesetzes, auf welches er die Entwicklung seiner Dynamik zurückführt, ist schon vorher von J. J. Thomson in einer ganz ähnlichen auf die Vorstellung der brachistochronischen Bewegung in einer n-fachen Mannigfaltigkeit bezogenen Form ausgesprochen. Allerdings wird Hertz dabei ge- nötigt, jedes System als Teilsystem anderer aufzufassen, d. h. neben den sichtbaren Massen noch verborgene mit den ersten durch Be- dingungen gekoppelte anzunehmen. Eine weitere Ausführung dieser allgemeinen Ideen auf die Behandlung bestimmter Fragen liegt nicht vor, und die zerstreuten Bemerkungen, welche von anderen Seiten in dieser Richtung hinzugefügt sind !"®), lassen nieht erwarten, dass

172) Hertz, Mechanik, p. 207—235.

173) Das andere besteht in der ausserordentlich anschaulichen Form, in der Hertz die Geometrie der n-dimensionalen Mannigfaltigkeit für seine spe- ziellen Zwecke gedeutet hat, sowie in dem von ihm eingeführten konsequenten System von Begriffen. Charakteristisch ist dabei der Begriff der Grösse s der Verrückung von Massenteilchen m, aus der Lage mit den Koordinaten x,, in die Lage x}:

Ms®’= Em, (@8,— x)’; 3M=Zm,; sowie des Winkels (s6) von zwei Verrückungen eines Systems

Mso cos (80) = Zm, (&,— %;) Y;— Y)); welche den durch «,, x; y,, y; bezeichneten Koordinaten entsprechen. Übri- gens definiert schon Duhem im Commentaire 1892, p. 269, Kraft und Arbeit genau in dem Sinne von Hertz.

174) J. J. Thomson, Anwendungen, p.17; schon von Jacobi wurden 1847 die dynamischen Probleme als brachistochronische betrachtet. In anderer Weise zeigt R. Liowville, Sur les &quations de la dynamique, Paris C. R. 114 (1892), p-. 1171, wie jedes dynamische Problem im alten Sinne auf das der geodätischen Linien reduziert werden kann.

175) Nach Mach, Mechanik, p. 253, kann die gleichförmige Bewegung

64 IV ı. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

Hertz’s Gedankengang in der nächsten Zeit eine wesentliche Vervoll- kommnung nach dieser Richtung hin finden wird.

Eine besondere Schwierigkeit bereitet hier der Umstand, dass zu einer passend begrenzten Behandlung der Frage, wie einem gegebenen System andere verborgene Massen zu adjungieren sind, keinerlei Vor- schriften vorhanden sind, vielmehr unendlich viele Lösungen dieser Aufgabe sich angeben lassen !"%).

So hat sich die Mechanik, ausgehend von der bedingungslosen Fernewirkungstheorie, allmählich zur kräftelosen Dynamik von Lord Kelvin, J. J. Thomson und Hertz entwickelt. In der Mitte steht noch immer das System der klassischen Mechanik, das in der pädagogischen Litteratur wahrscheinlich auch zunächst den Vorrang behaupten wird, welches mit Kräften und Bedingungen operiert. Als Vertreter der bedingungslosen Mechanik kann man gegenwärtig in Deutschland Boltzmann und ©. Neumann, in Frankreich J. Boussinesqg ansehen; doch scheinen die gesteigerten Anforderungen der mathematischen Physik und die Eigenartigkeit ihrer Probleme allmählich dahin zu drängen, die Vorstellung reiner von der Entfernung abhängiger Fernkräfte als zu enge auch in der theoretischen Mechanik durch allgemeinere Bilder zu ersetzen.

III. Die speziellen Prinzipien der rationellen Mechanik.

A) Elementare Variations- oder Differentialprinzipe.

«. Die Statik.

29. Begriff des Gleichgewichts. Die elementare Statik suchte schon früh an den einfachen Maschinen zu ermitteln, wann an einem ruhenden materiellen System unter Einfluss gegebener Kräfte keine Bewegung hervorgerufen wird, den Fall des Gleichgewichts. Erst mit

eines materiellen Punktes im Kreise r durch Koppelung mit einer verborgenen Masse im Abstande 2r ersetzt werden; siehe auch A. Brill: Über die Mechanik von Hertz, Mitth. d. math. Vereins in Württemberg, Stuttgart 1899; desgl.: Über ein Beispiel des Herrm Boltzmann zur Mechanik von Hertz, Deutsche Math.-V. 8 (1900), p. 200.

176) So bemerkt Poincare (Electrieit6 et optique, preface p. XII), dass nach Maxwell alle physikalische Erklärung darauf beruht, die beiden Teile T und V der in irgendwelchen Parametern g bei einem dynamischen Problem (nach P. Stäckel’s Bezeichnung J. f. Math. 107 (1891), p. 319) ausgedrückten Energie durch ein System von 4n Grössen zu befriedigen, welche aus den n Massen und den 3n Koordinaten bestehen, wobei n beliebig gross sein kann.

29. Begriff des Gleichgewichts. 65

Varignon Y'”) beginnt aber die Zurückführung aller Gleichgewichtsprobleme auf die Zusammensetzung der Kräfte am einzelnen materiellen Punkte. Bei einem solchen handelt es sich indes nicht um die Frage der rela- tiven Ruhe gegen ein Koordinatensystem, sondern um den Fall, wo unter Einwirkung der Kräfte keine Änderung des Bewegungszustandes, d. h. keine Beschleunigung entsteht. Für die Statik allen reicht es allerdings aus, nur den Fall der relativen Ruhe gegen das Bezugs- system anzunehmen; für die Anwendungen derselben auf die Dynamik aber ist es erforderlich, den Begriff des Gleichgewichts in der an- gedeuteten Weise zu erweitern.

In Rücksicht auf diese Betrachtung ergiebt sich auch der Begriff des Gleichgewichts eines materiellen Systems, d. h. einer Vereinigung beliebig vieler materiellen Punkte, welche durch teils geometrische Bedingungen der Konfiguration, teils durch innere Kraftwirkungen mit einander verknüpft sind: unter der axiomatischen Annahme !"®), dass die Bedingungen ebenfalls durch Kräfte ersetzt werden können, wird Gleichgewicht bestehen, wenn die Beschleunigung eines jeden, jetzt als völlig frei zu betrachtenden Punktes Null ist. Selbstverständlich kann man diese Definition mit .Boltzmann‘"”) auch auf den Fall aus- dehnen, dass an einem in beschleunigter Bewegung befindlichen Systeme unter Einwirkung irgend einer Gruppe von Kräften Gleich- gewicht besteht, wenn keine Veränderung dieses Bewegungszustandes durch diese Gruppe hervorgerufen wird.

Trägt man indessen Bedenken, den Begriff des Gleichgewichtes von vornherein so zu erweitern, so muss man, insbesondere wegen der Anwendung auf das d’Alembert’sche Prinzip, folgendes Axiom (oder ein ähnliches) aussprechen:

Befindet sich ein materielles System A zur Zeit t in irgend einem Bewegungszustande, so kann man ihm stets ein zweites mit ihm im Momente it zusammenfallendes System B adjungieren, dessen sämtliche Punkte vermöge der nämlichen geometrischen Bedingungen mit den- selben Geschwindigkeiten während der Zeit £ bis 2 + dt sich bewegen,

177) P. Varignon, Preface im tome 1 der Nouvelle m&canique: „Enfin je m’appliquai ä& chercher l’&quilibre lui m&me dans sa source, ou pour mieux dire, dans sa gen6ration.“

178) Giebt man zu, dass jede Beschleunigung durch geeignete Kräfte auch gehindert werden könne, so lässt sich diese Annahme auch weiter verfolgen; vgl. A. L. Cauchy, Exerc. de math. 1826 (Oeuvres (2) 7, p. 11); freilich nur unter Zuhülfenahme eines weiteren Axioms.

179) Boltzmann, Mechanik, p. 233; vgl. auch Deutsche Math.-V. 6 (1898), p. 142.

Eneyklop. d. math. Wissensch. IV 1. 5

66 IV ı. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

wie A, und diesem ein drittes im Momente £ ebenso beschaffenes C, das während dieser Zeit in relativer Ruhe gegen das Koordinaten- system verharrt!’?®). Das System A ist dann und nur dann unter dem Einfluss der wirkenden Kräfte im Gleichgewicht, wenn dies bei dem System (€ unter dem Einfluss der bei A vorhandenen Reaktionen, die

durch die Verbindungen hervorgerufen werden, und der wirkenden Kräfte der Fall ist.

30. Das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten. Dass das Gleichgewicht nicht auf besonderen, nur auf jeden einzelnen Fall an- wendbaren Bedingungen beruht, ward bei den einfachen Maschinen schon von Stevin, Galilei und anderen erkannt'#®), bei Joh. Bernoulli '*') tritt ohne Beweis vermöge einer genialen Induktion die allgemeine Regel auf, welche unter dem Namen des Prinzips der virtuellen Ge- schwindigkeiten oder der virtuellen Verschiebungen (Verrückungen)

179°) Das System C, welches mit B im Momente t zusammenfällt und dessen Punkte während der Zeit £ bis &+ dt ruhen, was bei B nicht der Fall ist, kann vielleicht entbehrlich erscheinen. Die Einführung eines derartigen Axioms (dessen Fassung im Texte als ein vorläufiger Versuch betrachtet sein möge) wird indes nötig, weil eine übersichtliche Entwicklung der Gleich- gewichtsbedingungen nur zu gelingen scheint, wenn das betreffende System in (relativer) Ruhe gegen das Koordinatensystem oder frame of reference sich be- findet (wie dies nun bei C der Fall ist). Sobald dies nicht mehr zutrifft, sondern die Punkte des Systems sich in beliebigem Bewegungszustande befinden, lässt sich die Frage, wann eine in dem betreffenden Momente eingeführte neue Kraft- gruppe keine Änderung dieses Zustandes bewirkt, nicht mehr unmittelbar auf den früheren Fall zurückführen; vgl. Fussn. 208. r

180) Bei S. Stevin (Hypomnemata mathematica 4, lib. 3, p.172, Leiden 1608) heisst es: „Ut spatium agentis ad spatium patientis, sic potentia patientis ad potentiam patientis; Galilei (Opere 2, p. 183 ff‘): Quanto si guadagna di forza, tanto perdersi in velocitä (p. 172); erste Anfünge einer Regel schon bei @. Ubaldo (Cantor, Geschichte der Mathem. 2, p. 524), nach Cantor lassen sich schon in Ari- stoteles’ Mechanik solche Ideen indes erkennen (daselbst 1, p. 219). Whewell, Hist. of induct. sciences 2, p. 31, schreibt dem Tractatus de motu von Varro (1584) die erste bestimmte Fassung zu. Galilei hat das Prinzip schon im discorso in- torno alle cose che stanno in acqua (Opere 4, p. 3), dann in der scienza mec- canica (ed. Mersenne, Leiden 1634, Opere 2, p. 152) auf das Gleichgewicht von Flüssigkeiten angewandt; so auch schon B. Pascal, vgl. Mach, Mechanik, p. 52, 86, 96, sowie F. Montucla, Histoire 3, p. 609.

181) Varignon, Nouv. mee. 2, p. 174, Brief von Joh. Bernoulli v. 26. Jan. 1717: „En tout &quilibre de forces quelconques en quelque maniere qu’elles soient appliquees les unes sur les autres ou immediatement ou mediatement, la somme des “nergies affirmatives sera @gale a la somme des @nergies negatives prises affirmativement.“ Diese Energie ist Pp cos (pP), und p cos (pP) heisst dort die virtuelle Geschwindigkeit.

30. Das Prinzip d. virt. Geschwindigkeiten. 31. Der Beweis des Prinzipes. 67

bekannt ist. Aber erst Lagrange schuf daraus das analytische Grund- prinzip der Mechanik, die er damit zur analytischen erhob.

Wir betrachten zunächst nur Systeme, deren materielle Punkte durch Bedingungsgleichungen mit einander verbunden sind, und von irgend welchen gegebenen Kräften P ergriffen werden.

Ist P, die Kraft, welche auf den Punkt mit den Koordinaten %;,Y;, 2; wirkt, dessen unendlich kleine Verschiebungen Ös, die Pro- jektionen dx,, öy,, öz, haben, so ist zum Gleichgewicht notwendig und hinreichend, dass

SP, cos(P,ds)ös,; = I(X, 6%, + Y,öy, + Z,ds)) = 0

ist, falls die dw,, öy,, d2, zulässige virtuelle, fakultative '°) Verschie- bungen bedeuten, d.h. solche, die den Bedingungen der Beweglichkeit des Systems

(1) (0,0%; + 5,8%, + 0,82) 0

(kl, 2,6, #) genügen; kurz es muss die Summe der virtuellen Arbeiten '??) für alle zulässigen Verschiebungen verschwinden.

31. Der Beweis des Prinzips der virtuellen Geschwindigkeiten. Hier erhebt sich nun die Frage nach dem Beweise des Prinzipes, wobei es nach den Erörterungen in Nr. 29 genügt, denselben unter Voraussetzung relativer Ruhe gegen das Koordinatensystem zu führen. Giebt man zu, dass jedes System von Bedingungen ((1) Nr. 30) durch geeignete Reaktionskräfte mit den Komponenten Z,,H,, Z, ersetzt werden kann, so müssen für jeden Punkt die Gleichungen

182) So Gauss im Brief an Möbius 1837 (©. Neumann, Leipz. Ber. 31 (1879), p. 61).

183) Vgl. über diesen von @. Coriolis eingeführten Ausdruck: M&m. sur la maniere d’etablir les diff6rents principes de la m&canique, J. &c. polyt. 15 (1834), p. 95. In der Mechanik spricht man gegenwärtig noch fast allgemein von un- endlich kleinen Verschiebungen, als ob diese bestimmte sehr kleine Strecken bezeichnen könnten. Die ältere Auffassung suchte dies durch den Begriff der virtuellen Geschwindigkeiten, der den Fluxionen Newton’s entnommen ist, zu ver- meiden. Man kann die strengen Begriffe der Differentialrechnung in der Me- chanik (ebenso wie in der Geometrie) festhalten, wenn man zunächst von vir- tuellen endlichen Bewegungen ausgehend, die Geschwindigkeiten derselben einführt; natürlich muss dann auch die virtuelle Arbeit als eine Intensitäts-

änderung, also nicht als DXöx + Yöy + Zöz), sondern als 6x dy ö2 Aßatatzn)

gefasst werden. Im Texte schien es schon der Kürze wegen (aber auch aus anderen Gründen) geboten, die jetzt noch übliche Ausdrucksweise beizubehalten. 4%

68 IV ı. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

X +3 =0, A) Y+H=0, Z,+Z=0

bestehen. Multipliziert man dieselben mit den willkürlichen Variationen öx,, öy,, d2,, so folgt DI (Xöx + Yöy+ Zöe) + I(28x + Höy-+ Zdr) 0

oder (2) $AHIA—=0.

Verschwindet (2) bei allen Variationen, so erhält man (1) wieder: dann ist also sicher Gleichgewicht vorhanden. Statt dessen ist aber auch schon notwendig und hinreichend, wenn (2) bei allen zulässigen Verschiebungen verschwindet. Wäre dies nicht der Fall, so würde man an jedem der als völlig frei zu betrachtenden Punkte die ent- stehende Beschleunigung 9, durch eine geeignete Kraft m;p; auf- heben können, daher ist jetzt nach (2)

(8) dA + dA DIm,p; ds, cos (ö5,, 9) = 0,

welche Gleichung, da der letzte Teil für ein ds, von der Richtung des p, unter der Summe nur positive Glieder enthält, nach (2) er- fordert, dass alle 9, = 0 sind’).

Bis so weit beruht der Beweis auf rein logischer Basis, brauchbar aber wird das Princip erst dann, wenn man zeigt, dass dA bei allen zulässigen Verschiebungen für sich verschwindet. Dieser wesentliche Teil des Beweises, den Laplace'®) für unnötig gehalten zu haben scheint, erfordert ein genaueres Eingehen auf die “Natur der aus den Bedingungen entspringenden Reaktionen (Spannungen).

Betrachtet man das starre System als gebildet aus Punkten, die in unveränderlicher Entfernung durch entgegengesetzt gleiche in den Richtungen der Verbindungslinien von je zwei Punkten wirkende Kräfte gehalten werden, so ist diese Arbeit offenbar Null, dasselbe findet auch statt, wenn Punkte des Systems ausserdem auf völlig glatten Kurven oder Flächen '%°*) gezwungen sind zu bleiben, resp. Teile

184) Dieser Schluss schon bei Zaplace, Mec. c&l. 1, p. 46; s. auch Fourier, Fussn. 186; vgl. Poisson, M&canique, $ 336.

185) Mec. cel. 1, p. 43; L. Poinsot, Sur une certaine demonstration du prineipe des vitesses virtuelles, J. de math. 3 (1838), p. 244, macht darauf auf- merksam, dass mit dA 0 eo ipso auch dA = 0 bewiesen wäre. Für eine Mechanik, die Bedingungen ausschliesst, kommen die weiteren Überlegungen nicht in Betracht, so z. B. in Boltzmann’s Mechanik.

185°) Eine Kurve (Fläche) heisst völlig glatt, wenn durch dieselbe die Be-

32. Andere Beweise des Prinzipes der virtuellen Geschwindigkeiten. 69

solcher Systeme mit völlig glatten Oberflächen sich berühren ete. Ohne Zweifel kann man in der Schilderung solcher Verhältnisse weiter gehen; in allen derartigen Fällen lässt sich darn das Prinzip erweisen. Ein allgemeiner Beweis kann natürlich auf diesem Wege, den zuerst Fourier eingeschlagen hat '%), nicht erbracht werden, und man wird so genötigt, das Prinzip für den Fall ganz unbestimmt gelassener Bedingungsgleichungen als eine Regel anzusehen, deren Folgen that- sächlich mit der Erfahrung in Einklang sind.

32. Die Beweise von Lagrange, Poinsot und anderen. Andere Beweise suchen diese Mängel zum Teil zu beseitigen. Lagrange selbst hat zwei Beweise geliefert, die beide auf der axiomatischen Vorstellung unausdehnsamer Fäden '*), in denen überall dieselbe Spannung herrscht, dem Principe des poulies oder des Flaschenzugs beruhen.

In dem ersten Beweise '®®) von Lagrange werden die Kräfte als kommensurable, d. h. als ganzzahlige Vielfache mp einer Kraft angenommen !?).

Ördnet man nun jedem Punkte A, des Systems einen festen Punkt B, zu, indem man einen Faden von B, nach A, und zurück in m, maliger Wiederholung führt), sodann weiter in derselben Weise bei A,, B,,..., A,, B, verfährt, so kann man das ganze

weglichkeit in ihr ebenso wenig beschränkt wird, wie ihre Koordinaten durch die sie darstellenden Gleichungen; die Reaktionen sind dann stets normal zur Kurve (Fläche).

186) J. B. Fourier, J. €c. polyt., cah. 5 (1798), p. 20 (Oeuvres 2, p. 477, insbes. p. 489); daselbst auch der Flaschenzugbeweis von Lagrange (p. 115), so- wie ein Beweis von R. Prony (p. 191).

187) Ähnliche Gesichtspunkte entwickelt gleichzeitig, aber vor Lagrange J. B. Fourier, Oeuvres 2, p. 500, der auf L. N. M. Carnot (Essai sur les machines en general [1783]) verweist, mit der Bemerkung: Il est naturel de penser, que Jean Bernoulli connaissait quelque construction analogue.

188) Siehe Fussn. 187; sodann in der M&canique analytique von 1811 (Oeuvres completes 11, p. 23) mit der Bemerkung: Quant ä la nature du prineipe des vitesses virtuelles (das in der ed. von 1788 als Axiom benutzt war) il faut convenir, qu’il n’est pas assez @vident par lui m&me pour pouvoir ötre erige en prineipe primitif; ähnlich auch E. Mathieu, Dynamique analytique (1878), p. 2.

189) Die Beseitigung dieser Annahme soll dann nach den Huklidischen Methoden der Verhältnislehre erfolgen; aber diese Prozesse lassen sich streng genommen nur mit den idealen geometrischen Konstruktionen, mit einem idealen mechanischen System nur dann vornehmen, wenn man demselben in jeder Hin- sicht die Eigenschaften derselben beilegt.

190) Dazu hat man sich in jedem der Punkte A, B einen vollkommen glatten Ring (resp. eine Rolle) von beliebig kleiner Dimension zu denken, durch den der Faden geführt wird.

70 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

System der Kräfte durch eine einzige an dem freien Ende des Fadens wirkende Kraft, etwa ein Gewicht p, darstellen. Sicher wird im Gleichgewichtsfall dieses Gewicht nicht sinken, und bei einer virtuellen Verschiebung der Systempunkte wird die virtuelle Arbeit sämtlicher Kräfte gleich der mit p multiplizierten Gesamtverlängerung des Fadens. Hieraus folgt aber keineswegs, dass bei jeder zulässigen Verschiebung des Systems diese Arbeit Null sein müsse, weil'?'), „wenn diese Arbeit nicht Null wäre, die entsprechende Fadenverlängerung durch das Gewicht, das immer die Tendenz hat zu sinken, hervorgebracht werden würde“. Denn beim Gleichgewicht sinkt das Gewicht überhaupt nicht, und die nur in der Vorstellung bestehende virtuelle Verschiebung steht mit dieser Thatsache in keiner Verbindung. Man darf daher auch nicht an- nehmen, dass das Gewicht sinke: diese formal unzulässige Schluss- weise, auf der gleichwohl die bis in die neueste Zeit gerühmte Evi- denz des Lagrange’schen Flaschenzugbeweises beruht, hat schon Jacobi '°) gerügt; andere%) haben dagegen als Mangel dieses Schlussverfahrens bezeichnet, dass das Gewicht nur um eine unendlich kleine Grösse erster Ordnung dabei nicht sinken darf, sowie die auf der Einfüh- rung gespannter Fäden und Rollen beruhende Vorstellung.

Von diesen Mängeln ist Lagrange’s zweiter '%), weit weniger be- kannter, Beweis frei, der die aus den Bedingungen entspringenden Kräfte durch eine ähnliche Fadenkonstruktion ersetzt. Es genügt, die Idee desselben für Punkte P,,..., P,, zwischen denen eine Be- dingungsgleichung '”)

(1) (ar, Yır 25 La Ya, 223 ° 5 Dr Ir An) = 0 besteht, zu erläutern. Setzt man voraus, dass

VER HEN mn nn

i

191) M&c. anal. = Oeuvres completes 11, p. 24.

192) Jacobi, Heft von Scheibner, p. 17 ff., insbes. p. 21; man vgl. die fol- gende Fussnote über Fourier.

193) Siehe die Note von J. Bertrand, Mee. anal. 1, p. 24; Jacobi, Fussn. 192, p. 21; Mach, Mechanik, p. 64; Boltzmann, Mechanik, p. 133; E. J. Routh, 'Trea- tise on analytical statics, 2. ed., Cambridge 1896, 1 p. 182.

In Fourier’s Memoire sur la statique (Oeuvres 2, p. 500) wird dagegen ganz richtig gesagt: Wenn die Summe der Momente bei einer Verschiebung Null ist, kann durch die wirkenden Kräfte diese Verschiebung nicht entstehen, mag nun Gleichgewicht vorhanden sein oder nicht.

194) Lagrange, Theorie des fonctions, 2. &d., Paris 1813, p. 350.

195) Ohne wesentliche Änderung kann diese Gleichung durch die allge- meinere Nr. 30 (1) ersetzt werden; vgl. A. Voss, Über die Differentialgleichungen der Mechanik, Math. Ann. 25 (1885), p. 258.

32. Andere Beweise des Prinzipes der virtuellen Geschwindigkeiten. 71

ist, wo die m, wieder ganze positive Zahlen sind, so kann man

BE

rk: 2m,p cos a, ER

2y, == 2m,p cos ß; DENN 5;

PTR 2m,p cosy,;

setzen und dem Punkte P; die durch ihn gehende Richtung cos «,, cos ß,, cos y; zuordnen, welche einen um /, von P; entfernten festen Punkt Q,, dessen Koordinaten a«,, b,, c, sind, enthält. Führt man nun wie vorhin in m,maliger Wiederholung einen Faden von @, nach P, und zurück und so fort, bis man am letzten Punkte 9, anlangt, wo der Faden wieder befestigt wird, so bestehen nur noch diejenigen Bewegungs- möglichkeiten, bei denen 2m; + 2m;lg + + 2m,l, = sonst.

oder a D'2m, (cos @,; dx, + cos ß, dy, + cos y,dz,) = 0

1

5 df=0

ist. Macht man die, allerdings von Lagrange nicht besonders erwähnte Voraussetzung, dass der Einfluss der Bedingungsgleichungen nur von den ersten Differentialquotienten der Bedingungsgleichung (1) abhängt, oder dass Bedingungsgleichungen, welche dieselben zulässigen Verschiebungen gestatten, mechanisch äquivalent sind, so darf man dieselben hier durch die Bedingung der Unveränderlichkeit der Fadenlänge ersetzen, bei welcher die in dem Faden entstandene Spannung in der That bei jeder zulässigen Verschiebung keine Arbeit leistet. Dieser Beweis zeigt zugleich, dass der Einfluss jeder beliebigen Bedingungsgleichung durch das System der Kräfte

e eo er. Vet te) mit den Richtungscosinus cos«;, cos ß,, cosy; ersetzt werden kann.

Andere Beweise suchen die Lagrange’schen Voraussetzungen durch zum Teil weniger abstrakt scheinende zu ersetzen. Jedenfalls beruht das Gleichgewicht eines Bedingungen unterworfenen Systems darauf, dass vermöge derselben die Beschleunigungen in allen möglichen Be- wegungsrichtungen aufgehoben werden. So gelangt man zu der axwioma- tischen Voraussetzung, dass das Gleichgewicht nicht gestört wird, wenn man zu den bestehenden Bedingungen noch beliebig viel neue, den alten

72 IV ı. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

nicht widersprechende hinzufügt‘”). Man kann nun so viele hinzufügen, dass, wie bei einer idealen Maschine, die Verschiebung eines einzelnen Punktes die aller anderen eindeutig bestimmt, oder das System zwang- läufig wird; diese Verschiebung stellt dann eine ganz willkürliche virtuelle des ursprünglichen Systems vor. Diesen zuerst in dieser Allgemeinheit von Ampere betretenen Weg'?”) hat Duhamel zu einem besonders übersichtlichen Beweise benutzt; ähnliche Vorstellungen finden sich übrigens auch bei Poinsot'”), dessen Beweis fast un- geändert von Minding reproduziert ist 19).

Jedenfalls kann man unter den angegebenen Voraussetzungen zu einem Beweise des Prinzipes für ein System diskreter Punkte gelangen. Auch für Fäden mit kontinuierlicher Massenverteilung werden diese Beweise noch anwendbar sein, weil die Vorstellung von den inneren Spannungen, welche den äusseren Kräften Gleichgewicht halten, noch eine völlig bestimmte bleibt. Dagegen ist die darüber hinausgehende Anwendung, welche Lagrange von dem Prinzipe auf zwei- oder drei- dimensionale Systeme mit kontinuierlicher Massenverteilung (Flächen und elastische Systeme) macht, offenbar nicht mehr durch die Möglich- keit gestützt, die geometrische Konstruktion des Flaschenzuges oder irgend eine andere festzuhalten. Man wird auch hier zu der Forde- rung gedrängt, die über die früher erwähnten Fälle hönausreichende Gültigkeit des Prinzips als ein mit der Erfahrung in seinen Folgerungen übereinstimmendes Axiom anzusehen; insbesondere wird diese Auf- fassung durch die Überlegung notwendig, dass alle Beweise doch immer von der Voraussetzung diskreter Systeme mit einer endlichen Anzahl von Freiheitsgraden ausgehen, während der Satz selbst auch für Systeme mit unendlich vielen Graden der Beweglichkeit zur An-

196) So Poinsot, De l’equilibre et du mouvement des systemes, J. &c. polyt. cah. 12, an 12, p. 206; Poinsot wendet indes ein spezielleres Prinzip an: „un des premiers el&mens de la theorie generale de l’Equilibre est cet axiome, que si des forces se font actuellement &quilibre sur un systeme quelconque variable, l’&quilibre ne cessera point en supposant que la syst@me soit rendu tout & coup invariable.“ Vgl. auch C. Neumann, Über eine einfache Methode zur Begrün- dung des Prinzipes der virtuellen Geschwindigkeiten, Leipz. Ber. 38 (1886), p. 70.

197) A. M. Ampere, Demonstration generale du principe des vitesses vir- tuelles, J. &c. polyt. cah. 13 (1806), p. 247; Ch. Duhamel, Mecanique, 3. ed. 1862, deutsch von H. Eggers, Leipzig 1853, 1, p. 114, 119; dieser Beweis auch bei Th. Despeyrous, Mecanique 2, p. 305; vgl. auch F. Moigno, Legons de me6canique, Paris 1868, p. 281 ff.

198) Poinsot, Theorie generale de l’Equilibre, J. Ec. polyt. cah. 13 (1806), p- 208.

199) F. Minding, Handbuch 2 (1838), p. 165.

33. Zusammenfassung (betr. d. Pr. d. virt. Geschw.). 84. Fourier’s Prinzip. 73

wendung gebracht wird, und in dieser Form schon von Lagrange in seiner Herleitung der Gleichgewichtsbedingungen der Flüssigkeiten benutzt wurde.

33. Zusammenfassung. Die einzelnen Beweise erscheinen darum nicht wertlos. Denn woher stammt die Überzeugung von der un- beschränkten Gültigkeit des Prinzips? Zum Teil doch gewiss aus der unzähligemal geprüften Übereinstimmung mit der Erfahrung und der Möglichkeit, durch weitere Detaillierung der konstruktiven Be- weismethode die Frage auch bei allgemeineren Voraussetzungen er- ledigen zu können, sowie aus der Gleichförmigkeit der Resultate bei ganz verschiedenen Ansätzen !””®). Zum anderen Teil aber beruht diese Überzeugung wohl auf dem in Verbindung mit dem Prinzipe von der Erhaltung des Gleichgewichts bei Einführung neuer Ver- bindungen benutzten energetischen Gedanken, dass wenn die Kräfte jene zwangläufige Verschiebung mit einer gewissen Geschwindigkeit hervorbrächten, derselben eine Vermehrung der Energie ohne Arbeits- leistung entspräche, falls das virtuelle Moment der Kräfte Null ist. Auf diesen Standpunkt stellen sich auch Thomson und Tait bei ihrer Darlegung des principle of virtual velocities?).

34. Das Fourier’sche Prinzip; materielle Systeme allgemei- nerer Art. Die vorhergehenden Betrachtungen gehen überall von der ganz abstrakten Voraussetzung aus, dass die Bedingungen durch Glei- chungen (entweder explieite Gleichungen zwischen den Koordinaten oder totale Differentialgleichungen zwischen ihren Differentialen) ausgedrückt sind. Solche genügen der Forderung, dass neben jeder virtuellen Ver- schiebung auch die entgegengesetzte zulässig sei. Bereits Fourier ?') hat indessen ganz allgemein auch einseitige Bedingungen, welche durch Ungleichungen zwischen diesen Elementen ausgedrückt werden, in seiner Untersuchung herangezogen und dem Prinzipe der virtuellen Geschwindigkeit die Form gegeben, dass

199%) Eine kritische Übersicht über die Beweise des Prinzips der virtuellen Ge- schwindigkeiten fehlt bisher noch vollständig.

200) Thomson u. Tait, Treatise (1) 1, p. 265. Es'sei hier zugleich an Stevin’s berühmte Bemerkung über das Gleichgewicht der homogenen Kette auf der schiefen Ebene erinnert; fände es nicht statt, ce mouvement n’aurait aucun fin, ce qui est absurde; Werke (@d. A. Girard, Leiden 1634), 2, p. 448.

201) Fourier, Oeuvres 2, p. 488. Fourier definiert indes das Moment der virtuellen Arbeit als Fluxion, d.h. mit dem entgegengesetzten Zeichen, wie jetzt üblich, p. 479. Die von Lagrange allein betrachteten Bedingungen (allgemeiner die in Nr.30, 1), heissen auch wohl doppelseitige, conditions bilaterales, so P. Duhem im Commentaire.

74 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

D(Xöx + Yöy-+ Zd2) Z0

die notwendige und hinreichende Bedingung für das Gleichgewicht ist. Auf diesen von Lagrange nicht berücksichtigten Fall hat unabhängig von Fourier erst wieder Gauss ?°?), dann Ostrogradsky ?°°) hingewiesen.

Die von Fourier im Memoire sur la statique?®) erdachte Hebel- konstruktion ist von Ü. Neumann?®) in einer sehr anschaulichen Weise für diesen Fall zur Verwendung gekommen. Ein in sich zurücklaufender nicht ausdehnbarer Faden, der sich nur nach einer (positiven) Richtung hin in sich selbst verschieben kann, ist offenbar im Gleichgewicht, wenn die in der Richtung des Fadens wirkenden Kraftkomponenten X, der Bedingung genügen, dass bei allen vir- tuellen Verschiebungen ds

ös > x, <o0

ist, denn entweder ist dann IX null oder negativ. Denkt man sich nun das System einseitig zwangläufig gemacht, so kann man durch ein System von Hebelvorrichtungen bewirken, dass an Stelle jedes wirklichen Punktes P, des Systems, dessen virtuelle Verschiebung ös, ist, ein anderer P/ tritt, wobei nun alle ‚P}’ dieselbe Verschie- bungsgröfse d’s bei ungeänderter Richtung besitzen. Bezeichnet man die in Richtung der zwangläufigen Verschiebung von P, wirkende Komponente mit X,, die entsprechende, nach dem Hebelgesetz ıhr äquivalente bei P/ mit X, so ist

also SU 2X,.05,<0 die notwendige und hinreichende Bedingung. Im vorigen sind nur die traditionell eingeführten Fälle von Be- dingungen behandelt. An und für sich liegt kein Grund vor, nicht

202) Gauss, 1829, Werke 5, p. 27.

203) M. Ostrogradsky, Consid6rations gen6rales sur les momens, 1834, Petersb. Möm, de l’Acad. (6) 1 (1838), p. 129; daher heisst in Russland das Prinzip von Fourier auch wohl das von Ostrogradsky. In Frankreich ist Fourier’s Prinzip nicht so unbeachtet geblieben; A. A. Cournot entwickelt schon 1827 die Glei- chungen von Ostrogradsky; siehe dessen Extension du principe des vitesses vir- tuelles au cas les conditions de liaison du syst@me sont exprim6es par des inegalites, Bull. sciences math. de Ferussac, 8 (1827), p. 165.

204) Fourier, Oeuvres 2, p. 495.

205) C. Neumann, Über das Prinzip der virtuellen oder fakultativen Ver- rückungen, Leipz. Ber. 31 (1879), p. 53.

35. Die Gleichgewichtsbedingungen. 75

auch homogene quadratische, resp. höhere, Gleichungen zwischen den virtuellen Verschiebungen vorauszusetzen. Wir gehen darauf nicht ein, da abgesehen von speziellen einfachen Fällen Bedingungen dieser singulären Art bisher kaum allgemeiner untersucht sind.

Weit wesentlicher ist die folgende Erweiterung. Die Bedingungen für die Beweglichkeit eines Systems können im allgemeinen überhaupt nicht auf die Voraussetzung von Relationen zwischen den virtuellen Verschiebungen beschränkt werden. Dies tritt schon dann ein, wenn die Vorgänge der Reibung betrachtet werden sollen; in noch weiterem Umfange obwohl man hier auch von anderen Anschauungen aus- gehen kann wenn das System in einer von seinem ursprünglichen Zustande verschiedenen Deformation (strain) betrachtet wird, in wel- cher es unter Einwirkung gegebener (äusserer) Kräfte sich im Gleich- gewicht befindet. In allen diesen Fällen muss man selbstverständlich die Kräfte, welche den Einfluss der Reibung, des stress, ete. vertreten, den in Nr. 30 allein betrachteten Kräften P hinzufügen, wenn man das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten anwenden will.

Materielle Systeme von endlichem Freiheitsgrad, d. h. solche, deren virtuelle Verschiebungen durch eine endliche Zahl von unab- hängigen Parametern bestimmt sind, kann man nach Painlevd über- haupt als Systeme mit und ohne Reibung (frottement) charakterisieren. Denn welche Vorstellung man sich auch über die Natur der Reak- tionskräfte R bilden mag, die an den Punkten des Systems angreifen, man wird stets die Gruppe R auf eine einzige Art in zwei Gruppen R,, R, so zerlegen können, dass die virtuelle Arbeit der Reaktionen R bei allen zulässigen Verschiebungen gleich der der Gruppe AR, ist, und zugleich das Vektorensystem der R, einer virtuellen Verschiebung entspricht?05®). Die Gruppe R, stellt dann „die aus den Bedingungs- gleichungen entspringenden Reaktionen“, die Gruppe AR, die „Reibungs- widerstände“ vor.

35. Die Gleiehgewichtsbedingungen. Da die Gleichungen Nr. 30 (1) jedenfalls von einander unabhängig sein müssen, also nicht alle r-reihigen Determinanten der a,,, b;,, €;, verschwinden dürfen, erhält man durch Lagrange’s Methode der Multiplikatoren die Gleich- gewichtsbedingungen in der Form ”®)

205°) P. Painleve, Legons sur l’integration, p. 54 ff. Über ähnliche Zer- legungen vgl. auch J. König: Über eine neue Interpretation der Fundamental- gleichungen der Dynamik, Math. Ann. 31 (1888), p. 1.

206) So zuerst bei Lagrange in der Mec. anal. von 1788.

76 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

X,= PIENE A) = D2,b,,

= Zhcr: Sind dagegen Ungleichungen gegeben ®”), also etwa

(a6; + 5,8% + 6 82) = 8, k=1,2,...r), wo &<0, so erhält man jedenfalls wieder, wenn die Bedingungen den Fall &, = 0 einschliessen, die Gleichungen (1). Da nun aus ihnen folgt

S(&,d% + Yöy + 282) = Iı&,

so ergiebt sich, dass die sämtlichen Koeffizienten A, positiv sein müssen, wenn das Moment bei negativen Werten der willkürlichen beliebig kleinen &, nie positiv werden darf; ihre Vorzeichen bleiben eben nur dann willkürlich, wenn das zugehörige &, ausschliesslich auf den Wert Null beschränkt ist. Bedingungen, bei denen der Fall &, = 0 überhaupt nicht eingeschlossen ist, sind selbstverständlich fortzulassen.

Die rechten Seiten der Gleichungen (1) stellen die aus den Be- dingungen entspringenden Reaktionen vor; man sieht nun, wie jeder Bedingung eine bestimmte dem A, zugehörige Komponente dieser Art entspricht. Die Bedingungen für die gegebenen Kräfte X,, Y,, Z, selbst erhält man, wenn man die aus r der passend‘ auszuwählenden Gleichungen (1) berechneten Werte der A in die übrigen einsetzt.

ß. Die Dynamik.

36. Das d’Alembert’sche Prinzip””®), Hat man sich einmal über die Auffassung des Prinzips der virtuellen @eschwindigkeiten ge- einigt, so besteht kein weiteres Hindernis mehr, nach d’Alembert’s fundamentaler Betrachtung zu den allgemeinen Gleichungen der Dynamik zu gelangen ?').

207) So bei Oournot und Ostrogradsky, Fussn. 203; bei letzterem auch mit Beispielen (Seilpolygon, inkompressible Flüssigkeiten, ete.); ausser den gebräuch- lichen Lehrbüchern vgl. auch L. Henneberg, J. f. Math. 113 (1894), p. 179.

207%) Nach F. Montucla, Histoire 3, p. 44 u. 627 hat A. Fontaine schon 1739 ein ähnliches Prinzip ausgesprochen.

208) Nach der Ansicht vieler beruht das d’Alembert’'sche Prinzip auf einem neuen Axiom, insofern die Gleichungen des Gleichgewichts auf den Fall eines bereits in Bewegung begriffenen Systems übertragen werden, so z. B. Jacobi

36. Das d’Alembert’sche Prinzip. 77

Ein System materieller Punkte mit den Massen m, befinde sich zur Zeit t unter dem Einfluss der an m, angreifenden Kraftkompo- nenten X,, Y;, Z, in beliebigem Bewegungszustande; die Koordinaten seien %,, Y;, 2. Sind dieselben ausserdem beliebigen Bedingungs-

gleichungen =, h=9,..,=0

unterworfen, welche zunächst ? nicht enthalten mögen, so werden in- folge dieser Verbindungen die Beschleunigungen &,;%,, 2, im all- gemeinen so beschaffen sein, dass die

i

X, mi, Y, my, Z,— m;E;

0 17V

nicht verschwinden. Diese Kräfte werden also vermöge der Be- dingungen aufgehoben, also sind sie „in Rücksicht auf die letzteren“ im Gleichgewicht; wäre dies nicht der Fall, so würden sie dem Sy- steme ausser den vorausgesetzten Beschleunigungen &,, %,, 2; noch

[}

andere mitteilen gegen die Voraussetzung. In dieser Gestalt ist das d’Alembert'sche Prinzip?) eine rein logische Überlegung, welche

(Dynamik, ed. Olebsch, p. 63 ff.); ©. Neumann (Leipz.Ber.31 (1879), p. 61). Ich kann darin nur eine zu enge Begriffsfassung des Gleichgewichts sehen, sodass die hier vorhandene Schwierigkeit, vgl. Nr. 29, schon das Prinzip der virtuellen Ge- schwindigkeiten selbst trifft.

209) J. d’Alembert's (Trait€ de dynamique, Paris 1743) ursprüngliche Be- trachtung ist hiervon nicht wesentlich verschieden (vgl. Poisson, M&canique, $ 350). d’Alembert's eigene Worte lauten: Soient A, B,C,... les corps qui composent le systeme, et supposons qu’on leur ait imprime les mouvemens a, b,c,.., qu’ils soient forc&s, & cause de leur action mutuelle, de changer dans les mou- vemens «, ß,y,... I est clair qu’on peut regarder le mouvement a imprim6 au corps A comme compose du mouvement «, qu’il a pris, et d’un autre mouve- ment «; qu’on peut de möme regarder les mouvemens Db, c,... comme com- poses du mouvement ß, P’; y,y',..., d’oü il s’ensuit que le mouvement des corps A, B,C,.... entr’eux auroit &te le m&me, si au lieu de leur donner les impulsions a, b, c on leur eüt donn& ä la fois les doubles impulsions «, «’; ß, ß’,... Or par la supposition les corps A, B, C ont pris d’eux m&mes les mouvemens &,ß,y,...; donc les mouvemens «, ß’,y',... doivent ötre tels qu’ils ne de- rangent rien dans les mouvemens «, ß, y,..., c’est ä dire que si les corps n’avoient regu que les mouvemens «’, ß’, y',...; ces mouvemens auroient se detruire mutuellement et le systeme demeurer en repos. De la resulte le prin- eipe suivant... Decomposez les mouvemens a,b, e,... chacun en deux autres o,c; ß,ß’,... qui soient tels que si l’on n’eüt imprim& aux corps que les mouvemens «, ß, y,... ils eussent pu conserver les mouvemens sans se nuire reeiproquement; et que si on ne leur eüt imprime que les mouvemens «, ß’, Y,... le syst&me füt demeure en repos; il est clair, que «, ß, y,... soient les mouvemens que les corps prendront en vertu de leur action. Ce qu’il falloit trouver.

78 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

man nach ZLagrange nur mit dem Prinzip der virtuellen Geschwindig- keiten zu verbinden hat, um zur Grundformel der Dynamik SIX mä)dx + (Y— mi)öy + (Z— mi) dr] = 0

zu gelangen, welche man auch in der kurzen Fassung: die virtuelle Arbeit der verlorenen Kräfte muss verschwinden, ausdrücken kann.

Die fast überall gebrauchte Wendung „in Rücksicht auf die Be- dingungen“ muss freilich genau präzisiert werden. Eine vollständig klare Einsicht, welche sich auf die Grundlagen der Mechanik stützt, kann nur entstehen, wenn man jeden Punkt des Systems durch Zu- fügung der Reaktionen =,,H,,Z,; wieder in einen völlig freien ver- wandelt; diese letzteren sind es, welche an dem System sich nach der eben dargelegten Überlegung im Gleichgewicht halten. Dabei kann man nun auch an Stelle von Gleichungen, welche von t unabhängig sind, mit der Zeit veränderliche Bedingungen einführen, falls nur jene Änderung in stetiger Weise geschieht. Vermöge des Axioms Nr. 29 über die Ausdehnung der Gleichgewichtszustände auf bewegte Systeme nämlich ergiebt sich dann sofort, dass das Gleichgewicht nun auf die Grenzgestalt der Bedingungsgleichungen zur Zeit t oder, wie man ge- wöhnlich sagt, auf die virtuellen Verschiebungen unabhängig von der Zeit t zur Anwendung zu bringen ist. Bei den allgemeineren in Nr. 34 betrachteten materiellen Systemen sind natürlich die aus den anderweitigen Voraussetzungen entspringenden Reaktionen den Kräften

X, Y, Z hinzuzufügen.

37. Die Lagrange’schen Gleichungen. Die Einführung von Differentialgleichungen

(1) (ade; + bydy, + da) = O oder allgemeiner (2) (a,,d2, + bu,dy; + 6.42) + dt = 0

wo die Koeffizienten Funktionen der x, y,2,t sein können, an Stelle endlicher Bedingungsgleichungen ist ausführlich im Zusammenhange mit den Prinzipien der Mechanik zuerst von Voss?!) dargestellt.

Auch spätere Schriftsteller haben keine wesentliche Änderung an dem Aus- druck des Prinzips herbeigeführt. Ziemlich überflüssig erscheint die Termino- logie der verlorenen Kräfte, der forces d’inertie, der effets dynamiques (Ostro- gradsky); keineswegs klarer die Ausdrucksweise @. B. Airy's (E. J. Routh, Dy- namics 1, p. 52); wie an manchen anderen Stellen der Mechanik zeigt sich auch hier in der Litteratur eine Neigung zu stereotypen Ausdrucksweisen.

210) A. Voss, Math. Ann. 25 (1884), p. 258.

37. Die Lagrange’schen Gleichungen. 79

Derartige Fälle sind jedoch bei Problemen über rollende Bewegung schon weit früher vereinzelt aufgetreten und auch von anderen be- reits allgemein vorausgesetzt worden?!!). Hertz, welcher infolge einer zu speziellen Auffassung des Hamilton’schen Prinzips die Voraussetzung nicht integrabeler Differentialrelationen als wesentlich verschieden von dem Fall expliciter Bedingungsgleichungen ansah*'?), hat die Be- dingungen hiernach als nicht-holonome und holonome unterschieden ?'?).

Aus dem d’Alember’schen Prinzip erhält man nun durch La- grange's Multiplikatorenmethode die Gleichungen der Bewegung so- fort in der Gestalt?!)

mi; = X, + Dr (3) mn Y;, + DR ni;=Z+ BUERE

welche zuerst Lagrange gegeben hat, da d’Alembert nur in synthe- tischer Weise?!°) sein Prinzip zur Lösung einzelner Aufgaben be- nutzte. Dass übrigens die Gleichungen, welche das d’Alembert’sche Prinzip liefert, auch hinreichend zur vollständigen Bestimmung der x,y,2 sind, hat d’Alembert nicht für nötig gehalten zu beweisen. Dieser Beweis, der auf der Unabhängigkeit der Bedingungsgleichungen beruht, ist mit Bezug auf die Gleichungen (3) von Jacobi gegeben ?"°); bei Lagrange erscheint derselbe erst als Konsequenz aus der Einfüh- rung unabhängiger Koordinaten. Die Bestimmung der Reaktionskom- ponenten (der Summengrössen in den Gleichungen (3)) erfolgt übrigens dadurch, dass man in den Gleichungen (2) nach der Differentiation in Bezug auf die unabhängige Variabele t die Ausdrücke für die Be- schleunigungen aus (3) einträgt und aus den entstehenden für die A

211) So bei M. Ostrogradsky, Petersb. M&m. de l’Acad. (6) 1 (1858), p. 565; N.M. Ferrers, Quart. J. of math. 12 (1873), p. 1; auch F\ Minding, Dorpater Gra- tulationsschr. 1864 (vgl. A. Kneser, Zeitschr. f. Math. Phys. 45 (1900), literar. histor. Abt., p. 118).

212) Hertz, Mechanik, p. 23. Vgl. hierüber namentlich O. Hölder, Gött. Nachr. 1896, p. 122.

213) Hertz, Mechanik, p. 91. Der eigentümliche Unterschied zwischen holo- nomen und nichtholonomen Bedingungen ist p. 96 scharf präzisiert.

214) Bei expliciten Bedingungsgleichungen f, —= 0 sind natürlich die a,,, D;x» €; durch die Differentialquotienten der f, nach «,, %,, 2, zu ersetzen.

215) Die Gleichungen der Dynamik in Bezug auf drei rechtwinklige Axen in der heute üblichen Form sind erst von CO. Maclaurin (A complete treatise on fluxions, Edinburgh 1742) eingeführt.

216) Jacobi, Dynamik, ed. Olebsch, p. 133,

80 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

linearen Relationen die Werte derselben, welche alsdann Funktionen .

zweiten Grades der Geschwindigkeitskomponenten werden, berechnet. Man erhält daher bei Bedingungen immer Gleichungen, welche die zweiten Differentialquotienten durch Funktionen zweiten Grades der ersten ausdrücken. Durch Lagrange's Einführung unabhängiger Ko- ordinaten, zu der wir nunmehr übergehen, gelingt die Herstellung dieser Gleichungen auf eine viel übersichtlichere Weise.

Sind nur % Bedingungsgleichungen

h=%,hR=I..,h=0, 'in explieiter Form zwischen den 3% Koordinaten gegeben, so kann man auf unendlich viele Arten die letzteren als Funktionen von t und 3n k unabhängigen Parametern

9, 99.7, (r=3n—k) (Lagrange'sche oder allgemeine, generalisierte, Koordinaten *")) auf- fassen. Vermöge der jetzt bestehenden Identitäten

of, 0x, He ey, , of 2) = (a) 2 ( °q, are 02, 09, x erhält man aus (3)

Dim (a + ge + ige) = 9 Dam tl täm)-%

gesetzt wird. Setzt man ferner

falls

& ÖL,.,

ui gkte

. ey; . ey, (b) Lege °q, 4 21°

ı 02, 02,

4, = 0q, q, Tr Z n4 und

1 Ä R 2 (©) T-: mr +44 29),

so wird nach (b) init Ya, ern d oe - A so + >, m, (#5 dc et I 5q,dt Ir Fijgq,at

217) Nach Thomson und Tait, Treatise (1) 1, p. 286, generalized co-ordinates.

ren Sn

37. Die Lagrange’schen Gleichungen. 8

mithin wegen oT We a) da, - Im (a :dq, Ja + Yızzaı + age d/00, 208 @ 3)"

In diesen allgemeinen Grundgleichungen der Dynamik bedeutet 7, die lebendige Kraft oder kinetische Energie?'?*) des Systems, eine beständig positive ganze rationale Funktion zweiten Grades der allgemeinen Ge- schwindigkeiten q,, welche für den von Lagrange?'?) ausschliesslich behandelten Fall, wo die Bedingungsgleichungen von t unabhängig sind, eine homogene definite positive Form zweiten Grades der 9, ist.

Die Wichtigkeit dieser Gleichungen beruht darauf: dass nun- mehr als einzige Grössen, von denen die dynamischen Probleme ab- hängen, T und die Q, auftreten, wobei zugleich die Anzahl der Varia- belen auf die kleinste, resp. eine je nach der Form der Aufgabe ge- eignete kleinere Zahl zurückgeführt ist??).

Die Gesamtheit der Gleichungen (4) ist invariant bei beliebigen

218) In ausgeführter Gestalt lauten diese Gleichungen bei festen Verbin- dungen, d. h. solchen, die explicite von £ unabhängig sind,

2%, g; +D2%, G; FR u Q,:

da, da da;

SE ae irs 7) 4; 0g; 09, das Christoffel’sche Symbol bezeichnet.

218°) Die in Deutschland und Frankreich übliche Bezeichnung: lebendige Kraft, force vive, vgl. Fussn. 295, so wenig passend sie auch erscheinen mag, schien hier beibehalten werden zu müssen.

219) Erst durch J. Vieille, J. de math. 14 (1849), p. 201 wurden die Formeln unter der erweiterten Voraussetzung hergeleitet; in deutschen Lehrbüchern wird dieselbe nicht berücksichtigt, daher die ausführliche Darstellung im Texte.

220) Es ist in Deutschland, neuerdings auch in Italien üblich geworden, die Gleichungen (3) und (4) als Lagrange’sche Gleichungen erster und zweiter Art zu unterscheiden. Lagrange selbst machte diese Unterscheidung nicht und

wo

liess es überdies frei, auch nur eine teilweise Einführung unabhängiger Para-

i

meter vorzunehmen (M&canique, Oeuvres 11, p. 325 u. 336), ein Gedanke, den Routh später weiter ausgeführt hat (Stability of motion 1877, Dynamik 1, p. 375). ‚Jacobi (Heft von Scheibner, p. 166) spricht in seiner Vorlesung von 1847 aller- dings von einer ersten Form der Lagrange’schen Gleichungen; erst in der von Olebsch 1866 besorgten Ausgabe der Dynamik tritt diese Bezeichnung ge- druckt auf (Dynamik, p. 63 u. 141; auch im Inhaltsverzeichnis), die sich vielleicht ‚schon früher durch Jacobi’s und seiner Schüler Einfluss verbreitet hatte. An und für sich ist die Unterscheidung nicht unzweckmässig. Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1. 6

82 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

Transformationen der q in ebenso viel neue Variabele k vermöge der Gleichung

IE) a) a) - m)

Bei der Einführung der allgemeinen Koordinaten wird namentlich in rein theoretischen Werken die Bestimmung der Reaktionen dann oft weiter nicht mehr berücksichtigt; sie geschieht übrigens am ein- fachsten, indem man wieder zu den rechtwinkligen Koordinaten zurück- kehrt. Für die Anwendungen kann unter Umständen die Bestimmung dieser Kräfte ebenso wichtig sein, wie die Ermittelung der Bewegung selbst. Dies ist übrigens schon dann der Fall, wenn die Bedingungen von einseitigem Charakter sind, also die Grössen A in den Glei- chungen (3), vgl. Nr. 35, bestimmte Vorzeichen haben müssen, und der ganze Ansatz über eine Stelle hinaus, an der einige der A beim Durchgang durch Null ihr Zeichen wechseln, seine Gültigkeit verliert; man vergleiche die bekannten Beispiele der Bewegung des schweren Punktes im vertikalen Kreise, auf der Kugelfläche, die Bewegung des schweren Stabes, dessen Enden auf gegebenen Flächen oder Kurven bleiben, u. s. w.

38. Nicht-holonome Systeme. Die Transformation ist dagegen auf den Fall holonomer Bedingungen beschränkt. Um bei nicht-holo- nomen eine formale Transformation ausführen zu können, betrachtet Appell”°') an Stelle von 7 die Grösse

Ss-+ > m@+i +3),

welche bei der partiellen Differentiation nach den Grössen 9 die Gleichungen der Mechanik in der Form

08

°5, FE Q, liefert; es ist jedoch zu bemerken, dass gerade der Vorteil, welcher in der Einführung des nur von den ersten Differentialquotienten ab- hängigen 7 liegt, damit grösstenteils verloren geht. Die Gestalt der dynamischen Gleichungen im nicht-holonomen Falle ist übrigens folgende:

Hat man an Stelle der Variabeln &, y, 2 irgendwelche neue Para- meter q,...g, eingeführt, zwischen deren Variationen noch die I Be-

2,99; —=0

221) P. Appell, Paris C. R. 129 (1899), p. 317, 423, 459; J. f. Math. 121 (1900), p.1; J. de math. (5) 6 (1900), p. 5; ibid. (5) 7 (1901), p. 5.

dingungen

38. Lagrange’sche Gleichungen für nicht-holonome Systeme. 83

bestehen, so kann man sämtliche dx, öy,dz von k—1 unabhängigen Variationen dg, (=1,2,..., k—1) abhängig machen, so dass

04, = > a,,0g, öy, = 30,,0q, 04 Ne,,0g, wird. Die Gleichungen der Bewegung sind dann, wenn

DIX,U, ni Y;b,, es Zi6is Far Q,

gesetzt wird, = (a, +5,44 6,2) m; d ; j 5 ne DACH +5, + 6,2)m; —R,, ° da,, . db,, . de,, R, - Ina a era nn

ist. Aus den Gleichungen

wobei

folgt nun

aber R, ist selbst dann noch nicht gleich 5 wenn die im allge-

_ meinen von allen Variabelen q,,...,g, abhängenden Koeffizienten a,,, b;,, &, nur von den Variabelen q,,...,g,_, abhängig sind, was bei vielen Fragen, namentlich den einfachen Problemen rollender Bewe- _ gung von Körpern zutrifft. Dies ist nicht immer beachtet worden, ' vielmehr hat man wiederholt gerade in dem letzteren Falle 7 mit - Hülfe der Ausdrücke für die &,, /,, 2, von den scheinbar überzähligen Koordinaten g befreit, und auf den so entstehenden Ausdruck 7), den - 0. Neumann die nicht legitime Form der lebendigen Kraft nennt, die

_ Lagrange'schen Gleichungen angewandt, was natürlich zu unrichtigen _ Resultaten führt ?*!°).

N 221°) Vgl. darüber A. Vierkandt, Über gleitende und rollende Bewegung, - Monatsh. f. Math. Phys. 3 (1892), p. 31; J. Hadamard, Sur les mouvements de _ roulement, "Bordeaux, M&m. (4) 5 (1895); O. Hölder, Die Prinzipien von Hamilton und Maupertuis, Gött. Nachr. 1896, $ 11; D. J. Korteweg, Über eine ziem- lich verbreitete unrichtige Behandlung eines Problems der rollenden Bewegung, _ Nieuw Archief voor Wiskunde (2) 4 (1899); P. Appell, Les mouvements de rou- _ lement en dynamique, Sammlung Scientia, Phys. math. Nr. 4, Paris 1899,

a 6*

84 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

39. Das Prinzip des kleinsten Zwanges von Gauss. Dasselbe lautet in Gauss’ eigenen Worten®??): Die Bewegung eines Systems materieller, auf was immer für eine Art unter sich verknüpfter Punkte, deren Bewegungen zugleich an was immer für äussere Beschränkungen gebunden sind, geschieht in jedem Augenblick in möglich grösster Übereinstimmung mit der freien Bewegung oder unter möglich klein- stem Zwange, indem man als Maass des Zwanges, den das ganze System in jedem Zeitteilchen erleidet, die Summe der Produkte aus dem Quadrate der „Ablenkung jedes Punktes von seiner freien Be-

wegung“®??) in seine Masse betrachtet. Wird die Lage des Punktes m, zur Zeit 2£-+ 2dt mit

F „dt! + 22;dt + ur

dagegen die Lage, welche er vermöge der wirkenden Kräfte ein- nehmen würde, wenn er völlig frei wäre, durch

X; 2, + 2i,dt + —.dt?

(und entsprechend für die übrigen Koordinaten) bezeichnet, so ist der Zwang Z gegeben durch °*)

222) J. f. Math. 4 (1829) = Werke 5, p. 23.

223) Von E. Schering sind, Gött. Abh. 18 (1873), p. 3, 11, diese Worte so interpretiert worden, dass es sich dabei um eine ganz willkürliche freie Be- wegung handeln könne. Dem entgegen macht R. Lipschitz (J. f. Math. 82 (1877), p. 321) darauf aufmerksam, dass bei der Ablenkung im Gauss’schen Prinzip weder x noch &, sondern nur die Beschleunigungen & variiert werden dürfen.

224) Bei Lipschitz (J. f. Math. 82 (1877), p. 316) erscheint Z als Covariante bei beliebigen Transformationen der als unabhängig zu betrachtenden Variabeln x, y,2; vgl. auch A. Wassmuth, Ann. Phys. Chem. (2) 54 (1895), p. 164; siehe übrigens A. Voss, Bemerkungen über die Prinzipien der Mechanik, Münch. Ber. 1901, p. 167. Das Gauss’sche Prinzip kann auch als Prinzip der kleinsten Arbeit der verlorenen Kräfte formuliert werden: vgl. Rachmaninoff, Zeitschr. f. Math. Phys. 25 (1879), p. 206. Hiermit hängt auch das Principle of least resistance von Moseley (Rankine, A manual of applied mechanies, London 1864, ed. 3, p. 215) sowie das Menabrea-Castigliano’sche Minimumprinzip, L. F. Menabrea, Rom, Rend. dell’ Acc. dei Lincei (2) 2 (1869), p. 201, zusammen; siehe auch A. Casti- gliano, Theorie de l’&quilibre des syst&mes &lastiques et ses applications, Turin 1879, deutsch von E. Hauff, Wien 1886; A. F. B. Müller-Breslau, Die neueren Methoden der Festigkeitslehre, Leipzig 1886; sowie: Über die Elastieität der Defor- mationsarbeit, Civilingenieur (2) 32 (1886), p. 553, und das Referat von F' Kötter, Fortschritte d. Math. 18 (1886), p. 950; von anderen, namentlich O0. Mohr, Civil- ingenieur (2) 32 (1886), p. 395 wird indes die diesem Prinzipe gegebene Ausdrucks- weise bestritten. Vgl. endlich ©. Neumann, Das Ostwald’sche Axiom des Energieumsatzes, Leipz. Ber. 44 (1892), p. 185. .

le ee ee ee er

39. Das Prinzip von Gauss. 40. Bewegung bei Ungleichungen. 85

Z= DIR + Km’ + (Z— ma]. Wird nun irgend eine nach Gauss varlierte Lage durch 2, + 2,00 + (&, + dä) dt?

ausgedrückt, so muss in Rücksicht auf die Bedingungen, mögen die- selben nun holonome oder nicht-holonome sein,

(0,098; + 5495; + 6,04) 0 werden. Multipliziert man daher die Lagrange’schen Gleichungen (3) mit den dä,, di,, 02; und addiert, so ergiebt sich

1) SIR mi) + (— mi) + (Z,— mi) 92) = 0 und dies ist die Bedingung dafür, dass Z in Rücksicht auf alle variierten Lagen ein Minimum ist.

Das Prinzip von Gauss ist daher in diesem Falle völlig äqwiva- lent mit dem d’Alembert’schen, welches letztere nun auch in der Form (1) geschrieben werden kann°”), die ihm zuerst durch Gibbs erteilt wurde. Derselbe bemerkt zugleich, dass für den Fall von Bedingungsungleichungen diese Form des d’Alembert’schen Prinzips eine direkte Entscheidung über den wirklichen Verlauf der Be- wegungen gestatte??°).

Dass man umgekehrt aus dem Gauss’schen oder d’Alembert’schen Prinzip den ganzen Inhalt der Mechanik, insbesondere auch die Lehren der Statik (Satz vom Parallelogramm der Kräfte etc.) her- leiten kann, hat zuerst Ritter?) in seiner noch von Gauss selbst begutachteten Dissertation gezeigt; in etwas anderer Ausdrucksweise hat Hertz das Gauss’sche Prinzip als Grundgesetz seiner kräftelosen Dynamik ausgesprochen ?*®).

40. Die Differentialgleichungen der Bewegung bei Ungleichungs- bedingungen. Betrachtet man die Variationen, welche im Prinzip

225) Es kommt daher auf dasselbe hinaus, bestimmte Aufgaben dieser Art durch das Gauss’sche oder das d’Alembert’sche Prinzip zu lösen. Über Anwen- dungen des ersteren in diesem Sinne auf Beispiele der Statik und Dynamik vgl. K. Hollefreund, Schul-Programm Berlin 1897, Nr. 97.

226) J. W. Gibbs, On the fundamental formulae of dynamics, Amer. J. of math. 2 (1897), p. 49; vgl. auch Boltzmann, Mechanik, p. 230 u. 223.

227) A. Ritter, Über das Prinzip des kleinsten Zwanges, Diss. Göttingen 1853; C. @. Reuschle, Über das Prinzip des kleinsten Zwanges, Archiv f. Math. Phys. 6 (1845), p. 238; H. Scheffler, Über das Gauss’sche Grundgesetz d. Mechanik, Zeitschr. f. Math. Phys. 3 (1858), p. 197; A. Buckendahl, Über das Prinzip des kleinsten Zwanges, Diss. Göttingen 1873.

228) Hertz, Mechanik, p. 185.

86 IV ı. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

der virtuellen Geschwindigkeiten auftreten, als gleichbedeutend mit den Variationen der Beschleunigungen bei ungeänderten x, und %,, so kann man die Fowrier'sche Erweiterung des genannten Prinzips auch auf den Fall der beschleunigten Bewegung ausdehnen und erhält so die allgemeinste Form des Gauss’schen Prinzips**®)

1) ZI mi) + mi); + (Z— mE) <0. Schon Gauss bemerkte, dass sein Prinzip auch auf die Statik Anwendung findet. Man erreicht dies dadurch, dass man die &,, Y,, 2; gleich Null voraussetzt. Möbius”®) hat diesem Gedanken eine andere Wendung gegeben. Bezeichnet man die Koordinaten des auf jeder

Kraftrichtung um die Intensität der Kraft vom Angriffspunkte «,y;2, entfernten Punktes durch a,b;ce,, so ist

X=1,—ı, L=b—Y, Z=u—%,

}

also S(&dx, + Yı9y + Z,02,) I (a, 2), +6, wiy + (G 2)62,) <O die Bedingung für das Gleichgewicht, welche nun ausdrückt, dass

la a’ +b—W+eC— 2) in Rücksicht auf alle zulässigen Verschiebungen ein Minimum ist.

In Rücksicht auf die dynamischen Probleme erhebt sich hier nun die zuerst von Ostrogradsky ?°‘) aufgeworfene, aber nicht voll- ständig beantwortete Frage, inwieweit durch Gleichung (1) die Be- wegung überhaupt bestimmt wird. A. Mayer hat, dieselbe neuerdings wieder aufgenommen?) und unter Anwendung des Gauss’schen Prin- zips einen einfachen, allerdings auch nicht direkten Weg zur Lösung gezeigt, welcher geeignet ist, alle unbrauchbaren Lösungen mit Sicher-

229) In dieser Allgemeinheit leitet W. Schell (Mechanik 2, p. 502) den Satz her, doch ist dabei übersehen, dafs aus dem Vorzeichen einer Summe nicht auf die Vorzeichen der Summanden geschlossen werden kann. Auch in Boltzmann’s Darstellung (Mechanik, p. 217) wird dem Begriff der virtuellen Verschiebungen eine andere als die ursprüngliche Bedeutung gegeben. Diesen Bedenken gegen- über scheint es angemessen, das Gauss’sche Prinzip in seiner erweiterten Form als ein aus den früheren Prinzipien strenge nicht beweisbares Grundprinzip an- zusehen; so auch für den (im Texte nicht behandelten) Fall, wo die Bedingungs- gleichungen die x, y, 2; &, %, 2 ganz willkürlich enthalten.

230) Möbius, Statik 1, p. 330 ff., vgl. indes Euler, Berlin, M&m. de l’Acad. 1752, p. 246.

231) M. Ostrogradsky, Sur les deplacements instantandes, Petersb. M&m. de l’Acad. (6) 1 (1838), p. 565.

232) A. Mayer, Über die Aufstellung der Differentialgleichungen der Be- wegung reibungsloser Punktsysteme, Leipz. Ber. 51 (1899), p. 224 u. 245.

41. Das d’Alembert’sche Prinzip für Impulse. 87

heit auszuschliessen. Dass aber überhaupt eine bestimmte Lösung. vor- handen ist, hat Mayer nur in dem Falle von ein und zwei Bewegungs- freiheiten erwiesen; von Zermelo®®) ist indessen diese Lücke gerade auf dem Wege, den Jacobi?) schon in seinen Vorlesungen andeutet, nämlich durch Berufung auf die besondere Natur des hier vorliegenden Minimums®), welches die Existenz mehrerer Minima ausschliesst, vollständig ausgefüllt.

41. Das d’Alembert’sche Prinzip für Impulse. Integriert man die Gleichung Sm, %)8u, + —0 nach Multiplikation mit dt über einen beliebig kleinen Zeitraum 0 bis r, während dessen die ä,..., X,... stets von demselben Zeichen sind?®°),

ı

so kann man, falls in Rücksicht auf die Impulse T T T [Xd=P, [Yd=9Q, [z4=R,; 0 08: ö

gesetzt wird, nach dem ersten Mittelwertsatze der Differentialrechnung (Im; 65, + my, |, 6, + mi; I 62)= DI (P;82;+ 0,99, + R,92,) setzen; unter ö%,.. werden Mittelwerte der virtuellen Verschiebungen verstanden. Unter Voraussetzung eines gegen Null konvergierenden r,

bei der zugleich alle diese Mittelwerte in die Verschiebungen zur Zeit 0 übergehen, erhält man so die Gleichung

Si Im, (&; @) Pd + 0 zur Bestimmung der plötzlichen Geschwindigkeitsänderungen vermöge der Impulsvektoren P, Q, R. Man kann dieselbe auch direkt erhalten, wenn man die d’Alember’sche Überlegung anstatt auf die durch kon- tinuierliche Kräfte erzeugten Beschleunigungen auf die durch Impulse

erzeugten Geschwindigkeiten anwendet??”). Diese Betrachtung lässt sich auch auf den Fall anwenden, wo

233) E. Zermelo, Gött. Nachr. 1899, p. 306 benutzt übrigens an der ent- scheidenden Stelle eine wohl von D. Hilbert herrührende Betrachtung.

234) Jacobi, Heft v. Scheibner, p. 83 ff.

235) Schon A. Ritter behandelt in seiner Diss. (1853) diesen Fall, allerdings in nicht ganz strenger Darstellung, mit den Methoden der Mannigfaltigkeitslehre.

236) Dies ist hier als Voraussetzung eingeführt, obwohl eine von 0 bis r stetige Funktion, die eine bestimmte Zahl von Derivierten daselbst hat, für hin- reichend kleine positive # immer von konstantem Zeichen ist, auch wenn sie für t= 0 verschwindet, falls nur nicht alle diese Derivierten verschwinden.

237) So zuerst Lagrange in der M6canique 1, Oeuvres 11, p. 272; dann Duhamel, Note sur divers points de mecanique, J. ec. polyt. 15 (1832), p. 1.

88 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

die ‚Bedingungen des Systems plötzlich durch andere ersetzt werden. Treten etwa an Stelle der bisherigen Gleichungen

h=°; r=0,..,fh=0 vom Zeitpunkt 0 an die neuen 9, =0,..,9=0 ein, so erhält man auf ähnliche Weise m tt, wobei die Verschiebungen den 9=0 zu genügen haben?®). Selbst- verständlich lassen sich diese Formeln auch für allgemeine Koordinaten

q entwickeln?®®). Aus den Gleichungen Nr. 37, 4) folgt nämlich unter den vorhin angegebenen Voraussetzungen

()- ei), - [od=P,

Enthält nun 7 keine in den 9, linearen Glieder, so wird, falls zur

Zeit O alle 9 verschwinden oT _p 0

s wie schon in Nr. 24 bemerkt wurde.

B) Eigentliche Variations-(isoperimetrische)Prinzipe.

42. Das Hamilton’sche Prinzip. Die im vorstehenden behan- delten Prinzipe kann man in Rücksicht auf ihre gebräuchliche Form als elementare Variations- oder Differentialprinzipe bezeichnen; formal handelt es sich bei ihnen um einen Variationsausdruck. Sie bilden in ihrem direkten Zusammenhange mit den Vorstellungen über Kräfte und Be- schleunigungen die eigentliche Grundlage der Mechanik der materiellen Systeme. Von diesen unterscheiden wir die eigentlichen Variations- oder isoperimetrischen Prinzipe”"), deren Evidenz nicht mehr auf einer

238) Vgl. Ch. Sturm, Paris C. R. 13 (1841), p. 1046, auch Mecanique, p. 353, sowie die zusammenfassende Darstellung bei Routh (Dynamik 1, p. 335).

239) So schon Lagrange in der Me&canique 2, Oeuvres 12, p. 173, dann W. D. Niven, Mess. of math. 4 (1867); J. Routh, Dynamik 1, p. 361; P. Appell, J. de math. 12 (1896), p. 5. Über die Lagrange’schen Gleichungen für den Fall der Reibung vgl. P. Appell, Paris ©. R. 114 (1892), p. 331.

240) Übrigens sind diese Prinzipe, im weiteren Sinne genommen, keine wirklich isoperimetrischen mehr, da es sich um einen ganz andern Variations- begriff handelt; vgl. A. Voss, Über die Differentialgleichungen der Mechanik, Math. Ann. 25 (1885), p. 264.

AL 12 U 2 SU LU EL Li 1 ee

42. Das Hamilton’sche Prinzip. 89

unmittelbaren Verwendung mechanischer Begriffe, sondern erst auf dem Nachweis beruht, dass sich mit ihrer Hülfe ebenfalls die Glei- chungen der Dynamik ergeben“), Während die bei den Differential- prinzipen auftretenden Ausdrücke nur die Eigenschaft von Kovarianten (siehe Nr. 37 am Ende) besitzen, ergeben sich bei den eigentlichen Variationsprinzipen invariante Formen, die weil sie nur erste Diffe- rentialquotienten (unter den gewöhnlichen Annahmen über die Natur der Kräfte) enthalten, sich von hervorragendem Nutzen in Bezug auf Transformationen der Koordinaten erweisen. Dagegen findet insofern eine Beschränkung statt, als bei der analytischen Behandlung Be- dingungsgleichungen vorausgesetzt werden. Eine dritte Klasse, von der erst weiterhin, Nr. 45, die Rede sein wird, bilden die eigentlichen Integralprinzipe.

Wir betrachten nun zunächst unter der Voraussetzung, dass X,, Y,, Z, partielle Differentialquotienten einer Funktion A nach den Koordinaten z,,%;, 2, sind, welche auch ? enthalten kann, die Grösse

a >. Yy +Z;)6t

und bilden ihre Variation bei ungeändertem £. So wird 6A= | I(Xöx + Yöy+ 262) |, also wenn sämtliche öx,... bei i, verschwinden: 8A = D(Xdx + Yöy-+ Z92).) Bei beliebigem X, Y, Z definiere man statt dessen 6A= D(Xdx + Yöy-+ Zöz)

d.h. als virtuelle Arbeit”). Nimmt man nun auch die Variationen der x,... bei t, gleich Null an, so ergiebt sich für

h, öH—=6/Tdt+ [öAdt & = die folgende Form:

2 oT deT a (at n)t] to

241) Dadurch wird nicht ausgeschlossen, dass diese Prinzipe von einem anderen Standpunkte aus wieder als primäre angesehen werden können.

242) Dies ist der einzige Fall, wo unter den angegebenen Voraussetzungen die Variation der Arbeit zugleich die virtuelle Arbeit darstellt.

242*) Über den Begriff der Arbeit siehe Nr. 46.

90 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

Die Aussage oH —=0

ist demnach völlig äqwivalent mit den Differentialgleichungen der Me- chanik, sie heisst das Hamilton’sche Prinzip. Man wird durch dieselbe völlig unabhängig von der besonderen Form, in der die Koordinaten und die Bedingungen auftreten, und kann insbesondere bei holonomen Systemen mit den allgemeinen unabhängigen Koordinaten q,

su [OT + Z0,1)d1=0

setzen.

Wenn wieder, wie Hamilton”) annahm, X, Y, Z partielle Diffe- rentialquotienten einer Kräftefunktion U sind, so kann man das so- genannte Hamielton’sche Integral

H=/(T+ U) dt

einführen; das Prinzip verlangt nach wie vor, das ÖH —=( sei. Zu- gleich wird:

d /eT 0 = a U)

(6) aan

oder bei unabhängigen mn Koordinaten und holonomen

Systemen d (eT\ _d(T+DV) dt (lee q; oo PL

woraus weiter folgt: „' 20T 0 Day - THmD)tzHDa=0. Ist T+DU explieite unabhängig von £, so wird

243) W. R. Hamilton, Lond. Phil. Trans. 1834 ging zuerst vom Prinzip der kleinsten Wirkung aus, das im Text in der folgenden Nummer ausführlich be- sprochen wird. Erst auf p. 307 führte er das seinen Untersuchungen in Lond. Phil. Trans. 1835, p. 95 zu Grunde liegende Integral H ein, ohne übrigens den ihm eigentümlichen Variationsprozess, den man in Lagrange’s M&canique eigentlich schon vollständig vorgebildet sehen kann, besonders hervorzuheben. Jacobi hat (Dynamik, Werke, Suppl. p. 58) dasselbe als Hamilton’sches Integral, das Varia- tionsprinzip als Hamilton’sches Prinzip bezeichnet. In England scheint diese Bezeichnung nicht gebräuchlich; auch würde es weit angemessener sein, Hamil- ton’s eigentliche Entdeckung, das Prinzip der variierenden Wirkung, so zu be- zeichnen (Lond. Phil. Trans. 1835, p. 99); H heisst dabei die Prinzipalfumktion, U-+ T nach Routh (Dynamik 1, p. 375) die Lagrange’sche Funktion, bei Helm- holtz das kinetische Potential. Über den Ausdruck Kräftefunktion vgl. Fussn. 295.

42. Das Hamilton’sche Prinzip. 91

ar (T+ U) = const., also, wenn 7 eine homogene Funktion zweiten Grades der 9, ist, T— U= const.

Dieser wichtige Satz, der Unabhängigkeit der Bedingungen und der Kräftefunktionen von der Zeit voraussetzt, heisst das Prinzip der leben- digen Kraft**), von seiner Bedeutung wird in Nr. 45 ausführlich gehandelt.

Die an das Weber’sche Gesetz sich anschliessenden Untersuchungen haben veranlasst, auch solche Kräftefunktionen zu betrachten, welche von den Geschwindigkeiten und höheren Differentialquotienten der Koordinaten abhängig sind, d. h. solche Werte der X, Y, Z zu suchen, für die unter diesen erweiterten Umständen

D(Xdx +Ydy-+ Zdz)

das vollständige Differential einer einwertigen (vgl. übrigens Fussn. ?) Funktion wird. Diese durch Riemann *?) und ©. Neumann ”°) be- gonnene Untersuchung ist von Schering *”) in allgemeinster Weise ausgeführt worden; bei Kräftefunktionen dieser Art lässt sich dann auch eine Form des Hamilton’schen Prinzips angeben, bei der eine wirkliche Variation unter dem Integral stattfindet ?*°).

Bei den meisten Untersuchungen wird sich das Hamilton’sche Prinzip wegen seiner Einfachheit mit grossem Vorteile zugrunde legen lassen *°). Insbesondere kann man sich nun auch auf den Standpunkt stellen, dasselbe ohne vorherige deduktive Begründung mit Hülfe von nach gewissen Analogieen gebildeten Kräftefunktionen zur Ableitung der Gleichungen für Systeme, über deren wirkende Kräfte noch keine explicite Vorstellung vorliegt, zu verwenden”). So gewinnt man mittelst

244) Genaueres siehe Nr. 45.

245) B. Riemann, Schwere, Elektrizität und Magnetismus, herausg. v. K. Hattendorff, Hannover 1880.

246) ©. Neumann, Die Prinzipien der Elektrodynamik, Tübingen 1868 = Math. Ann. 17 (1880), p. 200; auch Math. Ann. 1 (1869), p. 317.

247) E. Schering, Hamilton-Jacobische Theorie der Kräfte, deren Maass von der Bewegung der Körper abhängt, Gött. Abh. 18 (1873), p.32; vgl. W. Voigt, Kompendium 1, p. 24; sowie L. Koenigsberger, Die Prinzipien der Mechanik, Leipzig 1901.

248) Ausser den genannten Arbeiten vgl. @. Holzmüller, Zeitschr. f. Math. Phys. 15 (1870), p. 69; C. Neumann, Allgemeine Untersuchungen über das Newton’sche Prinzip, Leipzig 1896, p. 227 ff.; E. Budde, Mechanik 1, p. 339 u. 372.

249) So für die Untersuchung der relativen Bewegung, vgl. z. B. ©. Neu- mann, Leipz. Ber. 51 (1899), p. 371.

250) Ausser den bekannten Arbeiten von W. Thomson (Edinb. Roy. Soc.

92 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

derselben die Grundgleichungen der Elastizität, der Hydrodynamik (vgl. Band IV 15), die Maxwell’schen Gleichungen der Elektrodynamik; man sehe die speziellen Untersuchungen.

Dass das Hamilton’sche Prinzip unter den angegebenen Voraus- setzungen völlig äquivalent mit dem d’Alembert’schen ist, geht aus der obigen Darstellung unmittelbar hervor. Allerdings muss man bei nicht-holonomen Bedingungen genau auf den virtuellen Charakter der Variationen achten. Indem Hertz dies nicht beachtete, kam er in seiner Mechanik 1894 zu der Anschauung, dass für Systeme dieser Art das Hamilton’sche Integral nicht zur Anwendung gebracht werden könne, obwohl Voss schon 1884 auf die Art hingewiesen hatte, wie dasselbe in Rücksicht auf die virtuellen Variationen zur Anwendung gebracht werden muss®?!).

43. Das Prinzip der kleinsten Aktion). Weit mehr Schwie- rigkeiten hat das richtige Verständnis des Prinzips der kleinsten Wir- kung, oder wie man eigentlich sagen sollte, der kleinsten Aktion, be- reitet, da es sich hier um einen Variationsbegriff handelt, der bei den eigentlichen isoperimetrischen Problemen nicht zur Anwendung kommt.

Bei einem System, dessen Anfangs- und Endlage, denen die Zeiten {, und £, zugehören, festgehalten werden, besteht eine Variation der

Trans. 1863, Math. and Phys. Papers 3, p. 386; Kirchhoff, Mechanik, p. 57, 118) vgl. man u. a.: A. Walther, Hamilton’s Methode und die Grundgleichungen der Elastizität, Diss. Berlin 1868; Boltzmann, Über das Prinzip v. Hamilton, J. f. Math. 73 (1871), p. 111, mit der Berücksichtigung von mehrfach zusammen- hängenden mit Flüssigkeit erfüllten Räumen; C. Neumann, Beiträge zur mathe- matischen Physik, Leipzig 1893, p. 193 ff.; desgl. Die elektrischen Kräfte 2, p. 347; W. Wien, Hydrodynamik, p. 47, Leipzig 1900; H.v. Helmholtz, Das Prinzip der kleinsten Wirkung in der Elektrodynamik, Berl. Ber. 1892, p. 459; desgl. Über die physikalische Bedeutung des Prinzips der kleinsten Wirkung, J. f. Math. 100 (1887), mit der Bemerkung p. 143: „Jedenfalls scheint mir die Allgemeingültig- keit des Prinzips so weit gesichert, dass es als ein heuristisches Prinzip und als Leitfaden für das Bestreben die Gesetze neuer Klassen von Erscheinungen zu formulieren, einen hohen Wert in Anspruch nehmen kann.“ So bezeichnet auch schon ©. Neumann (Ann. di mat. (2) 2 (1868), p. 2) das Prinzip als forma suprema et sacrosancta, nullis exceptionibus obvia.

251) A. Voss, Math. Ann. 25 (1885), p. 263; vgl. O. Hölder, Über die Prin- zipien von Hamilton und Maupertuis, Gött. Nachr. 1896.

252) Die mehr politisch-soziale Vorgeschichte dieses Prinzips, die sich an den Namen Maupertuis knüpft, ist im Texte nicht in Betracht gezogen; siehe ausser Montucla, Histoire 3, p. 645: A. Mayer, Zur Geschichte des Prinzips der kleinsten Aktion, Leipzig 1877; E. du Bois-Reymond, Maupertuis, Berl. Ber. 1892, p. 393; desgl. M. Cantor, Vorlesungen über Geschichte d. Mathematik 3, p. 579.

43. Das Prinzip der kleinsten Aktion. 95

wirklichen Bewegung darin, dass in der variierten Bahn etwa mit der Zeit i, beginnend jedem Punkt P der ursprünglichen ein Punkt P-+-öP zugeordnet wird. Dabei tritt nicht nur eine Variation der Koordinaten dx, dy, öz ein, sondern auch eine solche der Zeit, näm- lich der Unterschied der Zeiten in den Systemlagen P und P+6öP. Ist ferner (PP)=ds, (P+6P, P +68P,)=ds-+ öds, so ist dt-+-ödt die zur Durchlaufung des variierten Bahnelementes durch- ,

laufene Zeit, also ds +öds di + ddi

die variierte Geschwindigkeit, welche für einen Punkt des Systems willkürlich festgesetzt, allgemeiner willkürlich einer Bedingung unter- worfen werden kann. Man kann sie daher insbesondere so wählen, dass die Variation der totalen Energie

oT— I U Null ist, wobei unter ö’U der Ausdruck D(Xöxz + Yöy-+ Zöz) verstanden wird.

Aus der identischen Gleichung S(@Tast+ (7 + 8 U)dt

to

es m&) da + (Y— mi) dy + (Z— mi) d2] dt

folgt, wenn die Zeit nicht variiert wird, d. h. für öt= 0, wieder das Hamilton’sche Prinzip. Wird dagegen über öt mittelst der nach der obigen Bemerkung zulässigen Bedingung

oT=NU verfügt, so ergiebt sich

92 [Tat [IUX —mä)dr + ne)

Dies ist das Prinzip der kleinsten Wirkung, dessen vollkommene Ägqui- valenz mit dem d’Alembert'schen Prinzip bei dieser Ableitung evident ist. Es ist dies aber eine erweiterte Form desselben, welche weder bei den Kräften eine von ?t explieite freie Kräftefunktion noch bei den holonomen oder nicht-holonomen Bedingungen Unabhängigkeit von der Zeit voraussetzt, während allerdings die Variationen dx, öy, 62 ohne Rücksicht auf die Zeit zu behandeln sind, also im allgemeinen

94 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

einer Lagenänderung entsprechen, welche mit den Bedingungen der

wirklich erfolgenden Bewegung in gar keinem Zusammenhang steht ?°?). Das Prinzip der kleinsten Aktion lautet daher ?*):

Die Variation des Integrals

ist in Bezug auf alle virtuellen Variationen der wirklich erfolgenden Bahn des Systems, welche neben der Grenzbedingung der für das d’Alembertsche Prinzip erforderlichen Variationsbedingung genügen, und bei denen die Variation der totalen Energie in jedem Augenblicke Null ist, selbst gleich Null, und umgekehrt lässt sich aus dieser For- derung auch wieder das d’Alembert'sche Prinzip, d. h. überhaupt das System der Differentialgleichungen der Dynamik herleiten. Ist insbesondere eine Kräftefunktion U vorhanden, so wird ‘U=ÖU,

ist U ferner unabhängig von t und findet dies auch für die Be- dingungen statt, so hat man das Prinzip der kleinsten Aktion in der von Lagrange ausgesprochenen Form.

Bei der Einführung des allgemeinsten Variationsbegriffs, der ge- radezu seine bestimmte Gestalt erst durch die Absicht gewinnt, die Differentialgleichungen der Bewegung zu erhalten, wird indes die be- sondere Form des unter dem Integral aufzunehmenden Ausdruckes völlig gleichgültig. Man kann, wie Voss bemerkt, an Stelle desselben schliesslich eine ganz willkürliche Funktion der Koordinaten und Ge- schwindigkeiten setzen, obwohl die historischen Formen 7’ + U und 7 durch Einfachheit und Allgemeinheit selbstverständlich ausgezeichnet sind 255).

253) Diese virtuellen Bahnen sind hier also wie das übrigens immer im Charakter allgemeiner virtueller Verrückungen liegt im allgemeinen unmög- liche, was im direkten Gegensatze zum Ostwald’schen Prinzip des ausgezeichneten Falls steht, vgl. Fussn. 27.

254) So bei A. Mayer mit in "Bezug auf das Variationsproblem völlig korrekter Ausdrucksweise: „Gehorcht die Bewegung eines Systems .. dem Prin- zipe der lebendigen Kraft, cs sind die Positionen zur Zeit i, und zu einer un- bekannten Zeit t, gegeben, so fällt die Aufgabe, die Bewegung des Systems zu bestimmen, mit der zusammen, diejenigen Werte der Koordinaten und den Wert t, zu bestimmen, welche der Differentialgleichung

T=U-+h

genügen und welche Ö J Tdt = 0 machen“; Leipz. Ber. 38 (1886), p. 354.

255) A. Voss, Bean sen über die Prinzipe der Mechanik, Münch. Ber. 1901, p. 167.

44. Historisches über das Prinzip der kleinsten Aktion. 95

44. Historisches über das Prinzip der kleinsten Aktion. Euler hat das in ganz unklarer und unrichtiger Weise von Maupertwis?®) ausgösprochene Prinzip zuerst aus teleologischen Gesichtspunkten *°”) hergeleitet und insbesondere auf Centralkräfte?®) angewandt; erst Lagrange”°) bewies dasselbe allgemein unter der Voraussetzung einer Kräftefunktion und von der Zeit unabhängiger Bedingungen. Da aber Lagrange den von ihm benutzten Variationsprozess nicht genauer de- finiert hatte, entstanden bald Missverständnisse über die Möglichkeit, aus dem Lagrange'schen Integral die Differentialgleichungen der Be- wegung zu gewinnen. Insofern nämlich die Variation bei konstanter Energie ausgeführt wurde, während die Variation der Zeit nicht ex- plicite in Betracht gezogen wird, schienen die dx, dy, öz nicht mehr von einander unabhängig zu sein?®). Allerdings hat schon Rodrigues ?°*) in völlig zutreffender Weise im Lagrange'schen Integral auch die Zeit variiert und so mit Hilfe der Multiplikatorenmethode die Differen- tialgleichungen der Bewegung gewonnen; aber diese Arbeit ist un- beachtet geblieben.

Jacobi ?°), der ebenfalls von der Voraussetzung ausging, dass die

256) Moreau de Maupertwis (Fussn. 252) zuerst in den M&m. de l’Acad. de Paris 1740, dann in der Arbeit: Des lois de mouvement et de repos deduites d’un principe metaphysique, Berlin, M&m. de l’Acad. 1745, p. 276, insbes. 286.

257) Euler im additamentum II de motu projectorum p. 309 der „methodus inveniendi‘“, Lausannae 1744: Quoniam omnes naturae effectus sequuntur quandam maximi minimive legem, dubium est nullum, quin in lineis curvis, quas corpor& projecta describunt si a viribus quibuscungue sollieitantur, quaepiam maximi minimive proprietas locum habeat. |

258) Ibid., jedoch mit der Bemerkung: Tam late ergo hoc principium patet, ut solus motus a resistentia medii perturbantis excipiendus videatur.

259) Lagrange, Misc. Taur. 2 (1760/61), Application de la methode des maxima et minima ä la resolution de differents problömes de la dynamique, Oeuvres 1, p. 353. Das Prinzip der kleinsten Aktion nimmt übrigens in La- grange's M&canique eine nur nebensächliche Stelle ein, obwohl es Lagrange vielleicht ursprünglich näher gelegen hatte, dasselbe analog zum Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten in der Statik als ein (allerdings nicht ganz all- gemeines) Grundprinzip der Dynamik anzusehen. Später schenkte man ihm noch weniger Beachtung; Poisson sagt bei der Anwendung von Hamilton’s Prinzip der variierenden Wirkung, J. de math. 2 (1837), p. 333: „Ce principe de la moindre action, qui n’est qu’une rögle inutile aujourd’hui.“

260) Siehe A. Mayer, Leipz. Ber. 38 (1886), p. 343.

261) Olinde Rodrigues, Correspond. sur l’&c. polyt. 3, p. 159, Paris 1815.

262) Jacobi, Werke, Suppl. p. 44: „Das Prinzip wird in fast allen Lehr- büchern so dargestellt, dass es nach meiner Ansicht nicht zu verstehen ist. Es wird zwar gesagt, dieser Satz gelte nur, so lange der Satz der lebendigen Kraft gelte, aber es wird zu sagen vergessen, dass man durch den Satz der lebendigen

96 IV ı. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

Zeit nicht variiert werden solle, gab der Frage daher eine ganz neue Wendung, indem er mit Hülfe des Prinzips der lebendigen Kraft die Zeit vollständig unter dem Integral eliminierte Es entsteht so ein sozusagen neues Variationsprinzip, das man etwa als Jacobi’sches bezeichnen kann; bei ihm treten unter dem Integral nur noch die geometrischen Elemente der Bahn auf°®). Wird nun das Integral so variiert, dass die Koordinaten Variationen erhalten, die wegen der Unabhängigkeit der Bedingungen von der Zeit sämtlich auch mög- lichen Bahnänderungen entsprechen, so ergeben sich in der That die Gleichungen der Dynamik.

Man hat nämlich aus

T—- U=h, wenn zur Abkürzung 1 3 Da dg: da = 8 gesetzt wird, S dt = TE .

Dadurch wird J=-/Tat= [VSCH%;

und in der That liefert 11/U+R 104; U En 23-/IZ.V Dan dad +5 Vonjde h SZ Ina P)in-0,

wenn zur Abkürzung wieder dt=

ae DH eingeführt wird, die aus den Lagrange’'schen durch Elimination der Zeit entspringenden Gleichungen.

M. Ostrogradsky dagegen, der ebenfalls mit Nachdruck die unrich- tige Begründung des Prinzips hervorhob, gelangte zu der Ansicht, dass das Lagrange'sche Minimumprinzip bei richtiger Behandlung im Sinne

Kraft die Zeit aus obigem Integral eliminieren und alles auf Raumelemente redu- zieren müsse.“ Dabei ist aber gerade der Umstand nicht erwähnt, welcher dem damaligen Verständnis entgegen war. Dass die Variation des Integrals vermöge der Gleichungen der Bewegung verschwindet, wurde nie bezweifelt; es handelt sich nur um die Umkehrung des Satzes (Lagrange, Me. anal. 1, p. 211).

263) Das Jacobi’sche Prinzip ist daher von ganz speziellem Charakter; auch ist nur der Form nach eine neue Aussage darin enthalten. Siehe Fussn. 174.

No 10 537 2 222 ll Lu ll a we.

45. Das Prinzip der lebendigen Kraft. 97

des Hamilton’schen zu fassen sei?*). Erst Sloudsky ?%) betonte wieder, auf Rodrigues zurückgehend, dass das letztere vom Prinzip der kleinsten Aktion wesentlich verschieden sei; sodann gab A. Mayer ?%) im An- schluss an diese Arbeiten den wahren Sachverhalt, der übrigens in England durch Routh?°”) z. B. längst bekannt war. Helmholtz ”°®) lenkte von neuem das Interesse auf das Prinzip; erst Hölder hat alle Zweifel, welche dasselbe betrafen, völlig beseitigt und das Prinzip in seinem weitesten Umfange ausgesprochen ?*°).

Nach dem Prinzip der kleinsten Wirkung in seiner ursprünglichen Form ist Ö f Tdt=(, also die Maximum-Minimum-Bedingung für das Integral erfüllt. Die Untersuchung nach dem Vorzeichen der zweiten Variation °'°), d.h. den Nachweis, dass es sich hier in der That um ein Minimum für hinlänglich kleine Intervalle handelt, berühren wir hier nicht, da sie vorzugsweise dem rein mathematischen Gebiet an- gehört.

C) Eigentliche Integralprinzipe.

45. Das Prinzip der lebendigen Kraft. Aus den Fundamental- gleichungen der Dynamik Nr. 37, 3)

mi,— X, + Dı,a,,, ete.

264) M. Ostrogradsky, Equations differentielles dans le probl&me des isoperi- mötres, Pötersb. M&m. de l’Acad. (6) 4 (1850), p. 385; vgl. besonders p. 415 f.

265) Th. Sloudsky, Nouv. ann. de math. (2) 18 (1866), p. 198.

266) A. Mayer, Die beiden allgemeinen Sätze der Variationsrechnung, welche den beiden Formen des Prinzips der kleinsten Wirkung entsprechen, Leipz. Ber. 38 (1886), p. 343.

267) E.J. Routh (Dynamics of a system of rigid bodies, 4. ed. 2, p. 244) be- nutzt wie Rodrigues die Multiplikatormethode; ohne dieselbe leitet K. Ucker- mann, Diss. Marburg 1893, das Prinzip her.

268) H.v. Helmholtz, Das Prinzip d. kleinsten Aktion, Berl. Ber. 1887, p. 225. Gegen seine Darstellung sind manche Einwendungen zu machen, vgl. Hölder’s Arbeit, Fussn. 269.

269) O. Hölder, Über die Prinzipien von Hamilton u. Maupertuis, Gött. Nachr. 1896, p. 150. Man sehe ferner E. Mathieu, Dynamique analytique, 1877, p. 42; @G. Sabinine, Sur le principe de la moindre action, Ann. di mat. (2) 12 (1883), p: 237; Sur le minimum d’une integrale, ibid. 14 (1837), p. 13; Sur les consi- derations d’Ostrogradsky et de Jacobi relatives au principe de la moindre action, ibid. 15 (1888), p. 27; M. Rethy, Über das Prinzip der kleinsten Wirkung und das Hamilton’sche Prinzip, Math. Ann. 48 (1897), p. 514; A. Voss, Gött. Nachr. 1900.

270) Siehe J. A. Serret, Paris C. R. 72 (1871), p. 697 oder Bull. sciences math. 2 (1871), p. 97; desgl. @. Darboux, Legons sur la theorie generale des surfaces, Bd. 2, p. 480, Paris 1896; D. Bobylew, Petersb. Abh. d. Akad. 59 (1889); @. Kobb, Sur le principe de la moindre action, Toul. Ann. 5 (1891), p. 1—3,

Encyklop, d. math, Wissensch. IV 1. 7

98 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

und den Bedingungsgleichungen, daselbst 2) (a, T- b,%: mr 6,2) r Ah en 0

erhält man durch Multiplikation mit den &,, %,, 2, und Summation vermöge der Einführung der lebendigen Kraft oder kinetischen Energie T die Gleichung

aT h j ee al +Y4y+ 22, 1,6, in der unter den X,, Y,, Z, sämtliche Kräfte mit Ausnahme der aus den Bedingungsgleichungen hervorgehenden zu verstehen sind. Sind ins-

besondere die c, alle gleich Null, so folgt durch Integration: T— 1,3 (X,da, + Ydy, + 2,d)). fo

Dieser allgemeine Satz der lebendigen Kraft oder der kinetischen Energie?''): Die Zunahme der lebendigen Kraft oder kinetischen Energie ist gleich der von den sämtlichen Kräften in der zugehörigen Zeit ge- leisteten Arbeit, gilt daher bei allen auch nicht-holonomen Bedingungen, falls nur die c,—= 0 sind”); bei durch endliche Gleichungen vertre- tenen Bedingungen

n=0...=0

also jedenfalls dann, wenn dieselben von t explicite unabhängig sind. Denkt man sich die X,, Y,, Z, in die Bestandteile

=-X,+X,

Y-Y+Y,

2, +2

zerlegt, von denen die ersteren eine von der Zeit explieite unabhängige

Kräftefunktion U besitzen, so wird unter denselben Voraussetzungen

T—T— U— U+[I(X”da + Y’dy+ Z’dn), oder, wenn man an Stelle von U die Funktion

VY=--—-U einführt:

T+V=T, +9 +[I(X’dr + Y’ay+ 2"a2).

271) Einfacher erhält man diese Gleichung direkt aus dem d’Alembert- schen Prinzip unter der Voraussetzung, dass die wirklichen Bahnelemente dx,, dy,, dz, unter den virtuellen enthalten sind, wobei der holonome oder nicht holonome Charakter völlig gleichgültig ist.

272) So wohl zuerst bei A. Voss, Über die Differentialgleichungen der Mechanik, Math. Ann. 25 (1885), p. 266.

ER

45. Das Prinzip der lebendigen Kraft. 99

Ist insbesondere das Arbeitsintegral rechter Hand gleich Null, so er- hält man

T+V/=-T-+V.

Dieser letztere Satz, der wieder das Prinzip der Erhaltung der leben- digen Kraft oder der kinetischen Energie ausspricht, liefert für alle mechanischen Systeme mit einem Freiheitsgrad, bei denen nur konser- vative, d. h. aus einer von £ explieite unabhängigen Kräftefunktion entspringende, Kräfte wirken und bei den vorhin angegebenen Voraus- setzungen über die Bedingungen, die Lösung durch Quadraturen, und ist überhaupt das Fundamentaltheorem, an das sich die weitere Dis- kussion jedes mechanischen Problems zunächst anschliesst.

Weit wichtiger für .die gesamte mechanische Anschauung ist indessen die, wie es scheint, durch Helmholtz ?"®) zuerst eingeführte Umformung, welche die negative Kräftefunktion als potentielle, T als kinetische, T + V als totale Energie auffasst, womit der Satz von der lebendigen Kraft zum Energieprinzip, d. h. zur Lehre von der Erhal- tung der Energie hinüberleitet.

Die Betrachtung der Energie in rein mathematischer Hinsicht bietet Vorteile, welche besonders deutlich bei den Stabilitätsfragen hervortreten. Wir erwähnen hier nur die weitreichenden Verailge- meinerungen, welche Routh ?'*) in das Lagrange'sche, zuerst von Di- richlet?‘°) vollständig bewiesene, Stabilitätskriterium eingeführt hat.

Andererseits stehen hiermit in enger Verbindung alle die Ge- sichtspunkte, welche mit der Fortbildung der analytischen Geometrie zur mehr-dimensionalen Raumauffassung hervortreten. Vor allem sei hier an die Untersuchungen über das Linienelement?'®), das als Quadrat- wurzel aus dem Differential der (doppelten) kinetischen Energie auf- tritt, an die Theorie der quadratischen Formen im Problem der kleinen

273) Helmholtz, Erhaltung der Kraft, Ostwald, K.B. Nr.1, p.11; auch von Clausius wird die Auffassung, die im einzelnen vielleicht schon früher bestanden hat, in ihrer allgemeinen Form auf Helmholtz zurückgeführt (Ann. Phys. Chem. 150 (1873), p. 109).

274) Routh, Essay on stability of motion; Dynamik 2, p. 75f.

275) P. @. Lejeune- Dirichlet, Über die Stabilität des Gleichgewichts, J. f. Math. 32 (1846), p. 85; A. Ta Sur l’instabilit6 de l’&quilibre dans certains cas la Pondksn de forces n’est pas maximum, J. de math. (5) 3 (1897), p. 81; J. Hadamard, Sur certaines proprietes des Biselures en dynamique, ibid. p. 364.

276) Sie beginnen mit J. Liouville's Abhandlung: Expression remarquable de la quantit€ qui est un minimum en vertu du prineipe de la moindre action, J. de math. (2) 1 (1856), p. 297.

7%

100 IV i1. A.-Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

Schwingungen?"), an die Lehre von der Aqwivalenz der mechanischen Probleme?”®), sowie an die Vorstellungen der Gruppen- und Transfor- mationstheorie?"”) erinnert.

Von prinzipieller Wichtigkeit ist endlich das Auftreten der to- talen Energie E=T7+V in der Poisson-Hamilton'schen Transforma- tion der Lagrange'schen Gleichungen, Nr. 37, (4). Zerlegt man die Variabelen q, s=1,2,...,r in zwei Gruppen g, undv „ss =]1, 2... 0o—1,2,..,0; I 4l—r und seit

oT Een,

so folgt für ’—= (T) Ip, g,, , falls (7) der aus T durch die Sub- stitution der p, an Stelle der g,, entstehende Wert ist, sodass 7’ eine Funktion der 9,, Ps, Ya, F, wird,

Pr

a Tot On, ee si ar: 0m:

ap org 2 (37,) DE E

oder, wenn die Gruppen g, und g, zusammenfallen,

“2, 07 de 00, +%, dq, IT Te In dem besonderen Falle, wo 7 eine homogene quadratische Funktion der 4, ist (Nr. 37), wird 7’—= (T); setzt man nun auch oV Q, eu) q, voraus, so entsteht für E=(T)+V die kanonische Gestalt der Differentialgleichungen der Mechanik: dg, 0E =% op,’ dp, _ öE ni du .00

277) Siehe namentlich E. J. Routh, Dynamics of a system rigid bodies, vol. 1 u22

278) P. Stäckel, J. f. Math. 107 (1891), p. 319.

279) Ausser den Gesamtarbeiten von 5. Lie vgl. die Untersuchungen von P. Painleve, P. Stäckel u. a., sowie die Artikel 11—14 von Ba. IV.

46. Historische Bemerkungen über Arbeit, lebendige Kraft, Energie. 101

wodurch das ganze Problem nur von der Energiefunktion E ab- hängt ?"°®).

46. Historische Bemerkungen über Arbeit, lebendige Kraft, Energie. Der Satz der lebendigen Kraft findet sich in seiner ein- fachsten Form schon bei Galilei ?°°), dem bekannt war, dass die End- geschwindigkeit des auf der schiefen Ebene fallenden Körpers nur von der Höhe abhängt; in weit prinzipiellerer Form aber tritt das Prinzip der Erhaltung der lebendigen Kräfte bei Huygens ?**) als Axiom auf. Joh. Bernoulli **?) spricht bereits von der conservatio virium vi- varım, von der Fähigkeit der lebendigen Kraft, in verschiedenen Formen Arbeit zu leisten.

In seiner eigentlichen, der analytischen Mechanik angehörigen Form, findet sich der Satz aber zuerst bei Dan. Bernoulli, der ihn bereits für die Probleme der himmlischen Mechanik entwickelt ®®?); bei Lagrange ?*) entstand dann der Begriff der Potentialfunktion für dis- krete, bei Zaplace?®) für kontinuierliche Massen.

279%) Diese kanonische Form der Differentialgleichungen der Dynamik, in welche nach Ostrogradsky, Petersb. M&m. de l’Acad. (6) 4 (1850), p. 403, jedes isoperimetrische Problem gebracht werden kann, findet sich schon in einer un- veröffentlichten Arbeit von Cauchy in Turin, Mem. (1831); vergleiche A. Cayley, Brit. Assoc. Rep. 1862, London 1863, p. 184; über das Auftreten der kanonischen Gleichungen bei Lagrange, Poisson, Hamilton, Routh vgl. Artikel 11° von Bd. IV.

280) Vgl. Mach, Mechanik, p. 342. Ähnliche Betrachtungen bei P. Varignon, Proprietes communes aux chutes rectilignes dans le vuide, Paris, M&m. de l’Acad. 1720, p. 107 (Paris 1722).

281) Ch. Huygens im horologium oscillatorium, Paris 1673. Vgl. ausser Lagrange, Mecanique 1, p. 249, Mach, Mechanik, p. 180: „Wir hoffen dieses Prinzip (des Schwingungsmittelpunkts) als identisch mit dem Satze der leben- digen Kräfte hier in das richtige Licht gestellt zu haben.“ Zur genaueren Untersuchung vgl. die grundlegenden Arbeiten von Jacob Bernoulli, Demonstra- tion generale du centre de balancement, Paris, M&m. de l’Acad. 1703, p. 78; Opera, 2 Bde. Genevae 1744, Bd. 1, p. 930; Demonstration du prineipe de M. Huyghens, Paris, M&m. de l’Acad. 1704, p. 136; Opera 1, p. 947.

282) Joh. Bernoulli, Comm. Ac. Petrop. 2 (1729), p. 200, Theoremata selecta pro conservatione virium vivarım; desgl. Opera 3, p. 243 (aus den Acta erud. Lips. 1735), de vera notione virium vivarum, mit der merkwürdigen Bemerkung p. 246: „Hinc patet, vim vivam quae aptius vocatur facultas agendi esse aliquid reale et substantiale quod per se substitit et quantum in se est, non dependet ab alio.“

283) D. Bernoulli, Remarques sur le principe de la conservation des forces vives pris dans son sens general, Berlin, M&m. de l’Acad. 1748, p. 356; daselbst für das Problem der n Körper p. 363.

284) Lagrange, Berlin, M&m. de l’Acad. 1777, p. 155. Der Name Poten- tialfunktion stammt bekanntlich von @. Green (An essay of the application of

102 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

Aus der speziellen Formel mv? = 2ghm ist nun auch die ganze Lehre von der Energie entsprungen. Ursprünglich galt als Ausdruck für die lebendige Kraft die Grösse mv?. Ein ebenso primitiver Be- griff ist ferner der einer gewissen Leistung Ph, welche stattfindet, wenn ein Gewicht P die Niveauänderung h erfährt; er wurde all- mählich auf alle durch Gewichte ausdrückbare (zunächst konstante) Kräfte übertragen.

Diese Grösse wird bald als Effekt der Kraft, als puissance me&eca- nique?®), als moment d’activite?”), als effet dynamique, als quantite d’action ?®®) (Coulomb); von andern (Oh. Dupin?®°), Hachette?®), Prony ®°')) jedoch auch schon als Arbeit, travail, labour, bezeichnet.

Aber erst durch Poncelet’s Einfluss hat sich der von Ooriolis ?°?) vollkommen scharf definierte Begriff der Arbeit, work, travail, lavoro, einer veränderlichen Kraft bei beliebiger Bahn vollständig eingebürgert. Diese beiden französischen Forscher, deren Ideen sich vielfach berüh- ren, zum Teil auch wohl durch gegenseitige Beeinflussung sich modi- fiziert haben, wenden den Satz der lebendigen Kraft in voller Allge- meinheit auf die zwangläufige Bewegung der Maschinen an?”): so entsteht die Coriolis-Poncele’sche Formel

15 ı Da nn T—L—T,

wo die Grössen rechter Hand die Arbeiten der bewegenden Kräfte und der verschiedenen Widerstände resp. Stösse bezeichnen.

math. analysis, Nottingham 1828), ausser in den Math. Papers auch abgedruckt J. f. Math. 39, 44, 47 (1850/54); deutsch herausg. v. A. Wängerin, Ostwald, K.B. Nr. 61.

285) Laplace, Paris, M&m. de l’Acad. 1782, p. 119.

286) So z. B. schon J. Smeaton in Lond. Phil. Trans. 66 (1776), p. 450 als mechanical power.

287) Carnot, Principes fondamentaux.

288) So @. Monge und J. P. Hachette.

289) Oh. Dupin, Geometrie et mecanique des arts, 3 (1826), p. 477.

290) J. P. Hachette, Trait6 &l&mentaire des machines, 4. &d. 1828, p. 19.

291) R. Prony, Annales des mines 1826, p. 33; vgl. die Angaben von Poncelet im Cours de mecanique, $ 6.

292) G. Coriolis sagt in der Vorrede zur 1. &d. des Trait€ de la mecanique des corps solides et du calcul de l’effet des machines 1829, ed. 2 (1844): „Je designe par le nom de travail la quantit6 qu’on appelle assez communement puissance m&canique“ etc... Daselbst auch, sowie bei Poncelet der grund- legende Satz von der Arbeit der Resultanten.

293) Nach C.L. Navier, Details historiques sur l’emploi du prineipe des forces vives dans la theorie des machines (Ann. de chimie 9 (1818), p. 146), hat indessen schon L. N. Carnot in seinem Essai sur les machines en general (1783), mit dieser Ausdehnung begonnen.

46. Historische Bemerkungen über Arbeit, lebendige Kraft, Energie. 103

Erst von $. Carnot?”*) wurde diese Gleichung auch auf in da- maligem Sinne nicht mechanische Vorgänge, thermodynamische Probleme, angewandt, und damit der Grund zu der heutigen Lehre von der Energie gelegt, während namentlich durch Green’s Arbeiten und Hamilton’s allgemeinen Begriff der Kräftefunktion (force function) *°°) auch die mathematische Formulierung sich weiter entwickelte.

Die noch auf die rein mechanischen Vorgänge des Stosses von bewegten Massen ete. beschränkte Vorstellung von T’'h. Young 296), den Körpern Energie zuzuschreiben, vermöge deren sie Arbeit leisten können, die schon bei L. N. Carnot als force vive virtuelle (die jetzige potentielle Energie) neben der force vive zum Ausdruck gekommen war, bildet sich unter Ooriolis?””) und Poncelet?”®) zu dem Prinzipe de la transmission du travail, d. h. der Lehre von dem Umsatz der Arbeitsgrösse in den Maschinen, aus.

Unter R. Mayer’s”®) kühner und gänzlich origineller Gedanken-

294) Sadi Carnot, 1824; abgedruckt Ann. 6c. norm. (2) 1 (1872), p. 393,

295) W. R. Hamilton, On a general method in dynamics, Lond. Phil. Trans, 1834, p.249. Der Name Kräftefunktion ist durch Jacobi 1836, J. f. Math. 17 (1838). p. 97, eingeführt. Die prägnante Bezeichnung als Ergal durch Olausius, Ann. Phys. Chem. 150 (1873), p. 136, neuerdings wieder bei E. Budde, Mechanik 1, p. 430.

296) Th. Young, A course of lectures of natural philosophy, Bd. 1, p. 78; Bd. 2, p. 51; dort auch p. 79 die Bemerkung „The labour expended in produ- cing any motion is proportional not to the momentum, but to the energy, which is obtained.“ Energie bewegter Körper indes schon bei d’Alembert, Encyelo- pedie (4 Bde., 2. &d. Paris 1785) Bd. 2, p. 82, Art. Math&matiques.

297) Coriolis, Traite &d. 1844, p.39 u. 114. Von Coriolis rührt auch (aver- tissem. zur 6d. 1, „je me suis encore permis une legere innovation, en appelant force vive le produit du poids par la hauteur“) die jetzige Definition der lebendigen Kraft her, welche gerade diese Äquivalenz von Arbeit und lebendiger Kraft ausdrückt; diese scheinbar nur formale Änderung ist ebenso wichtig, wie die in Helmholtz’ Erhaltung der Kraft durch Umkehrung des Zeichens der Potentialfunktion ge- wonnene Erkenntnis, dass die totale Energie konstant ist. Erst sehr langsam ist der Ausdruck mv? aufgegeben; auch gegenwärtig besteht derselbe noch viel- fach, so z. B. W. Schell, Theorie d. Bewegung 2, p. 530; namentlich bei französ. Autoren, z.B. H. Resal, M&canique 2, p. 235; R. Liouville, Paris C. R. 114 (1892), p. 1171; P. Appell, J. de math. 12 (1896), p. 5; J. Boussinesq unterscheidet die 6nergie actuelle von der force vive de Leibmiz (Acta erudit, Lips., 1695); fast durchgängig noch in der englischen Litteratur, siehe die Bemerkung von Routh, Dynamik 1, p. 315.

298) J. V. Poncelet, Cours de me&canique, p. 17: „La somme des travaux el&mentaires developpes tant par les differentes forces qui produisent la modi- fieation du mouvement que par les forces d’inertie qui naissent de cette modi- ‘fication, est constamment &gale & zero.“

299) R. Mayer, Manuser. von 1841 für Ann., Phys. Chem. in: R. Mayer, kleinere Schriften u. Briefe, herausg. von J. Weyrauch, Stuttgart 1893.

104 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

entwicklung führt dies zu einer ganz allgemeinen Konzeption, vermöge der alle Erscheinungen unter dem einheitlichen Bilde mechanisch äquivalenter Arbeiten, die sich ineinander transformieren, aufgefasst werden. In mathematisch genauerer Form und unabhängig von R. Mayer wurden diese Ideen von Helmholtz”), der an Stelle der negativen Potentialfunktion die Vorstellung der Spannkraft V einführte®), in dem allgemeinen Gesetz der Erhaltung der Energie

= > m + V = const.

ausgesprochen und zugleich mit den weitgehendsten Anwendungen auf Thermodynamik, Elektrodynamik etc. bereichert.

Begrifflich wurden diese Ideen vor allem durch Rankine und W. Thomson weiter entwickelt, deren Terminologie schliesslich zu allgemeiner Geltung gekommen ist.

Nach Rankine?®?) steht aktuelle oder sensible Energie (vis viva Wärme, Licht, elektrische Bewegung etc. ..), bald darauf von W. Thomson dynamische oder kinetische Energie genannt, der potentiellen (latenten) Energie (Molekularkräfte, Gravitation, chemische Affinität, elektrische Ladung etc...) gegenüber; alle Erscheinungen beruhen in einer fort- währenden Transformation dieser beiden Energieformen ineinander, deren Gesamtgrösse sich erhält, und es ist die Aufgabe der physika- lischen Mechanik, die Gesetze zu finden, nach denen diese Verwand- lungen erfolgen. Über die Weiterbildung dieser Ideen durch Ostwald siehe Nr. 49.

47. Das Energieprinzip. Der Satz von der Erhaltung der Energie im alten Sinne, Nr. 42, ist ein rein dynamischer. Ganz anders steht es aber?) mit dem Energieprinzip der modernen Physik, dass als ein auf eine umfangreiche Induktion gegründetes Axiom anzusehen ist.

Die Energie eines materiellen Systems?’*) ist der in mechanischen

300) H.v. Helmholtz, Über die Erhaltung der Kraft, Berlin, 23. Juli 1847 = Wiss. Abh. 1, p. 12—75; auch Ostwald, K. B. Nr. 1.

301) Ostwald, K. B. Nr. 1, p. 12.

302) W. J. M. Rankine, On the general law of the transformation of energy, Glasgow, Phil. Soc. Proc. 3 (1853) = Papers 1881, p. 203; Outlines of the science of energeties; ibid. 1855 = Papers, p. 209 mit der Bemerkung: „Any kind of energy may be made by the means of performing any kind of work“, p. 218; desgl. W. Thomson, On the origin and transformations of motive power, 1856 == Papers 2, p. 182.

303) Vgl. z. B. P. Duhem, Trait& elementaire de mecanique chimique, Paris 1897, p. 25.

304) W. Thomson 1851 Phil. Mag. (4) 9 (1855), p. 523: „The total mechanical Energy of a body might be defined as the mechanical value of all the effect it

47. Das Energieprinzip. 105

Arbeitseinheiten gemessene Betrag aller Wirkungen, die „ausserhalb“ des Systems hervorgerufen werden, wenn dasselbe aus seinem Zustande ®®) auf irgend eine Weise in einen gewissen Normalzustand übergeht; dieser Betrag ist von der Art des Überganges völlig unabhängig.

Wir nehmen an, dass ein materielles System, an dessen Teilchen ausser den dynamischen Erscheinungen noch verschiedene Zustände, thermische, elastische, magnetische, chemische Affinitäten ... hervor- treten, hinsichtlich dieses Gesamtzustandes durch eine Reihe von Para- metern 9,, 9... 9, und den Geschwindigkeiten derselben 9,, 93 °'' @% definiert sei. Geht nun das System aus irgend einem Normalzustand Z, (95°, 95°) in irgend einen neuen Zustand Z (g,, 9) über, so wird ein gewisser Betrag mechanischer Arbeit?) A ausserhalb des Systems her- vorgerufen, wobei allerdings vorausgesetzt wird, dass es möglich sei, diese Wirkungen sämmtlich durch Äqwivalente mechanischer Arbeit zu messen. Würde nun die Arbeit auf einem ersten Wege W von Z, nach Z gleich A,, auf einem zweiten Wege W, gleich A, sein, und entspricht dem Wege W, von Z nach Z, die Arbeit A,, so hat man zwei geschlossene Wege

Ww+W, ud W-+W,,

denen die Arbeiten A, + A,, A, + A, entsprechen. Macht man nun die Voraussetzung der Unmöglichkeit des Perpetuum mobile, dass nämlich

die Arbeit auf einem geschlossenen Wege immer gleich Null ist?%), so folgt hieraus

A=4,, d. h. die totale Arbeit ist eine Funktion der Parameter, die nur vom Anfangs- und Endzustande abhängig ist, also

4i= F(g, ds | Q, 9°) ö

would produce in heat omitted and in resistances overcome, if it were cooled to the utmost. But... it is convenient, to choose a certain state as standard. Desgl. Quart. J. of math. 1 (1857), p. 57. Vgl. M. Planck, Energie, p. 99; G. Helm, Grundzüge d. math. Chemie, Leipzig 1894, p. 1; Planck, Vorlesungen über Thermodynamik, Leipzig 1897, p. 34 ff.

304°) Über die hier nach Planck gewählte Ausdrucksweise vgl. Planck, Prinzip der Erhaltung der Energie, p. 93.

. 305) Dasselbe wird von P. Duhem, Commentaire aux principes de la thermo- dynamique, J. de math. (4) 8 (1892), p. 290 als Oewvre bezeichnet.

306) Natürlich kommen hier, sobald es sich um allgemeine Mannigfaltig- keiten handelt, die Sätze der Analysis situs in Betracht, welche E. Betti, Sopra gli spazii d’un numero qualunque di dimensioni, Ann. di mat (2) 4 (1870/71), p. 140, desgl. E. Lemmi, Sur les cas d’exception du theor&me des forces vives, J. de math. (3) 2 (1876), p. 233 entwickeln. Vgl. Maxwell, Elektrizität und Magnetismus 1, p. 19.

106 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

Da ferner bei Einschaltung eines Zustandes Z (9, 9) auch A=F(,% BAR It F(,% |, 1) sein muss, so wird man allgemein haben A= 9) + Fa, 4) oder, wenn man bedenkt, dass 0=® (4, 9°) Er (4°, 9°) A=G(q, 4) ® (9, 9). Nimmt man nun an, dass ® in zwei Teile zerfällt, von denen der

eine nur die g, enthält, der andere eine homogene quadratische Funk- tion der 4, ist, deren Koeffizienten von den g, abhängen können,

so wird d=P/(4)+T(, 4),

—A=V/—-V,+7T—17I, wobei A durch ein gewöhnliches Arbeitsintegral oder durch eine Summe von in mechanischem Masse ausdrückbaren thermischen, elektrischen, chemischen, - - - Arbeiten auszudrücken sein wird. So wird denn

—dA=dV/ +4T®9) oder, wenn man die linke Seite, die kein vollständiges Differential in Bezug auf die g, zu sein braucht, durch

m k D Bd + 22.944 %

m+1 bezeichnet, (der erste Teil bezieht sich auf die meghanischen Kräfte, der zweite auf die mit geeigneten Aquivalentzahlen ausgedrückten anderen Beträge)

dV + ar D P.ag, = N 2900-0 1

m+1 der Ausdruck des allgemeinen Satzes von der Erhaltung der Energie, Definiert man nun

also ist

oP= I Pig, 09 = 30, E,84,

so kann man endlich als Grundformel für alle mechanischen Vorgänge das erweiterte Hamilton’sche Prinzip

seT—V+P+ Q)dt= 0

ansehen.

307) Diese zweckmässige Bezeichnung unvollständiger Differentiale ©. Neu- mann’s (Leipz. Ber. 46 (1894), p. 1) auch bei W. Voigt, Kompendium 1, p. 22.

u“, ER

ar

48. Das Virial und der zweite Hauptsatz der Thermodynamik. 107

Es ist im Vorigen versucht worden°®), mit Hülfe des Axioms von der Unmöglichkeit des perpetuum mobile die allgemeinen Ge- sichtspunkte der Energetik darzustellen. Diesen Weg hat Helmholtz?) bereits 1847 in seiner bekannten Abhandlung betreten, mit der Be- merkung, dass das Energieprinzip mit dem Satze von der Erhaltung der lebendigen Kraft zusammenfällt, wenn man alle Vorgänge auf reine Fernkräfte zurückführt °!9).

48. Das Virial und der zweite Hauptsatz der Thermodynamik. Aus den Gleichungen von Lagrange Nr. 37 erhält man durch Mul- tiplikation mit &, y,z und Summation für ein freies System (d. h. ein solches, in dem alle Bedingungen durch Kräfte ersetzt sind) und für r als es der Punkte vom Anfang der Koordinaten

(1) 11 Dmm—=T+5D(&Xe+Yy+ 22.

Nimmt man nun an, dass nach Ablauf der Zeit £, bis t die linke Seite ungeändert geblieben ist, so wird

T— T=V-V\V,, wenn man mit

V-—5 D(X2+Yy +22)

das Virial der Kräfte bezeichnet°!!). Dieser sehr spezielle Satz lässt

308) Man vgl. P. Duhem, Commentaire aux principes de la thermodynamique, J. de math. (4) 8, p. 269; 9, p. 293; 10, p. 207 (1892/94); desgl. Traite de mecanique chimique 1, p. 25; desgleichen in Betreff einer schärferen Anwendung des Per- petuum mobile-Axioms als bei Helmholtz, M. Planck, Energie, p. 140; L. Natanson, Über die Gesetze nicht umkehrbarer Vorgänge, Zeitschr. f. phys. Chemie 21 (1896), p- 193.

309) Dasselbe Argument benutzt übrigens schon 1837 @. Green in der Ab- handlung über die Arbeit der elastischen Kräfte: „Indeed if dp were not an exact differential a perpetual motion would be possible and we have every reason to think, that the forces of nature are so disposed, as to render this an natural impossibility“ (Green, Papers, p. 248).

310) In dieser, von Clausius, Ann. Phys. Chem. 91 (1854), p.604 bereits bestrit- tenen, von Planck (Energie, p. 137) als misslich bezeichneten, gegenwärtig wohl ziemlich allgemein aufgegebenen dogmatischen Weise formuliert z. B. H. Klein die „Deduktion des Satzes von der Erhaltung der Kraft“, Schul-Progr. Dresden 1889, Nr. 508.

311) R. Clausius, Ann. Phys. Chem. 141 (1870), p. 124; Jubelband 1874, p. 411; Y. Villarceau, Sur un nouveau principe de mecanique, Paris C. R. 75 (1872), p. 232, 377. Über das Virial in Jacobi’s Dynamik, p. 22, vgl R. Lipschitz, Bull. sciences math. 3 (1872), p. 349; in der Statik tritt das Virial schon 1837 bei Möbius als Sicherheitsfunktion auf (Statik 1, p. 230); später bei F. Schweins, J. f. Math. 38 (1849), p. 77 u. 47 (1854), p. 238, als Fliehmoment in Analogie zu den gewöhnlichen Momenten.

108 IV ı. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

sich nach Olausius verallgemeinern, wenn man (1) nach der Zeit integriert,

woraus, wenn die linke Seite in verhältnismässig engen Grenzen schwankt, bei hinreichend grossem t, t, für die Mittelwerte 7, Vm von T,V folgt

7, Vessgeze I p) d. h. die mittlere lebendige Kraft ist gleich dem (mittlern) Virial.

Das Virial rückt die Betrachtung mittlerer Zustände eines Systems in den Vordergrund, wie sie namentlich in der kinetischen Theorie der Gase und den sich anschliessenden Untersuchungen der Wahr- scheinlichkeitsrechnung über die periodische Wiederkehr gewisser Zu- stände zum Ausdruck kommen. Wir verfolgen dieselben hier nur so- weit, als sie mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik in seiner einfachsten Form in Verbindung stehen.

Setzt man bei allgemeinen Koordinaten 9,

T+U=H, so ist

t, (Mai 2 Hat +3 (0 4 öt) bo

ih oU u PIE lo

falls auch die Parameter der potentiellen Energie, welche beim Ha- milton’schen Integral nicht variiert werden, eine durch dc bezeichnete Änderung erfahren. Bezeichnet man das letzte Integral durch W, so wird für die Gesamtenergie T7— U=E bei von der Zeit unab-

hängigen Bedingungen E 7 oH o [ara = o [rat —| Eat 5: DAL: 5 th

wenn 7 eine homogene Funktion zweiten Grades der 9, ist. Ist nun das System in einer solchen Bewegung, dass zur Zeit £, und Z, die Punkte dieselben Lagen und Geschwindigkeiten annehmen ®"?), so wird

th ‚Ws

312) Die sehr speziellen Annahmen des Textes in erweiterter Form bei Clausius, Über die Zurückführung des zweiten Hauptsatzes der mechanischen Wärmetheorie auf allgemeine mechanische Prinzipien, Ann. Phys. Chem. 142 (1871), p. 433; Suppl. 7 (1876), p. 215; über einen neuen mechanischen Satz, Ann. Phys. Chem. 150 (1873), p. 106; über den Zusammenhang des zweiten Haupt- satzes.. mit dem Hamilton’schen Prinzip, Ann. Phys. Chem. 146 (1872), p. 585

ET

49. Die Lokalisierung der Energie. 109

sf2Tat—( —WOEHW, to

also, wenn man das Integral durch seinen Wert 2 T(t, tv) ersetzt: 25 [7 WI= (—WIEHMW. Insbesondere folgt für W = 0 seit a—ı)] JE y4R (t, = to) zu Tr

Mm

Wird daher eine Reihe von Bewegungszuständen durchlaufen, die einen vollkommenen Kreisprozess bilden, so dass schliesslich der ur- sprüngliche Bewegungszustand wieder entsteht, so wird

fe- e Tn ;

was dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik für vollkommene Kreisprozesse entspricht, wenn 7, durch die absolute Temperatur 7, öE durch die zugeführte Wärmemenge dQ ersetzt wird").

Für die Energie E und die Entropie $

N,

s-füR

gelten nun auch die beiden, dem Prinzip der virtuellen Geschwindig- keiten nachgebildeten Fundamentalsätze von Gibbs ”*):

Zum Gleichgewicht eines materiellen von äusseren Einflüssen ab- gesonderten Systems ist notwendig und hinreichend, dass für alle

_ möglichen Änderungen in seinem Zustande, die seine Energie un-

geändert lassen, die Änderung der Entropie 98<0, sowie dass bei ungeändertem 8 die Änderung der Energie öE>0 sei. Auf die weitere Fortbildung des Energie- und Entropiebegriffes, z. B. die Unterscheidung zwischen freier und gebundener Energie, kann hier nur hingewiesen werden; man sehe darüber Band V. |

49. Die Lokalisierung der Energie. Es liegt nahe, die Energie eines Systems als eine primitive Qualität desselben anzusehen, welche

vgl. auch C. Szily, Das dynamische Prinzip von Hamilton in der Thermodynamik, Ann. Phys. Chem. 149 (1873), p. 74.

313) Boltzmann, Über die mechanische Bedeutung des zweiten Hauptsatzes in der Wärmetheorie, Wien. Ber. 53 (1866), p. 195.

314) J. W. Gibbs, Thermodynamische Studien, p. 66.

110 IV ı. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

ausser den Raum- und Zeitgrössen allein den mechanischen Arbeits- wert des Systems ausdrückt. Die hierauf bezüglichen Ideen Rankine’s hat Ostwald°") zu einem System der Energetik entwickelt, dessen Auf- gabe darin besteht, die verschiedenen Formen der Energie nach ihren „Kapazitäts“- und „Intensitäts“-faktoren zu unterscheiden und zugleich die Grundregeln ihrer Umwandlungen anzugeben. Die Menge der Energie in einem unabhängigen System ist unveränderlich, und von allen Umwandlungen soll diejenige eintreten, die in dem grössten Umsatze an potentieller Energie in einer gegebenen Zeit besteht.

Diese Ideen, welche durch interessante, zum Teil allerdings auch mehr formale Analogieen eine Menge verschiedener Erscheinungen unter allgemeine Gesichtspunkte subsumieren, werden zwar gegenwär- tig von verschiedenen Seiten vielfach bestritten ®'®), erscheinen aber doch in ihrer Gesamtheit von nicht zu unterschätzendem induktiven Werte, und dürften noch manche weiteren Aufschlüsse über den inneren Zusammenhang der gegenwärtigen Naturerkenntnis gewähren”). Als einen Beleg hierfür wollen wir nur diejenige Vorstellung hervor- heben, welche sich auf die Wanderung der Energie bezieht.

In einem kontinuierlichen Medium, in dem irgendwelche Prozesse stattfinden, wird in jedem Augenblicke an jeder Stelle ein gewisses von %,4,2,t abhängiges®"*) Energiequantum vorhanden sein. Man kann en auch von einer Änderung der Energie in dem Sinne handeln, der den Euler’schen Differentialgleichungen der Hydrodyna-

315) W. Ostwald, Die Energie und ihre Wandlunges, Leipz. Antrittsrede 1888; Studien zur Energetik, Leipz. Ber. 43 (1891), p. 271; 44 (1892), p. 211; desgl. Lehrbuch der allgemeinen Chemie, Leipzig 1893, 2’, p. 1—839.

316) L. Boltzmann, Über d. Entwicklung der Methoden d. theoretischen Physik, Deutsche Math.-Ver. 8 (1900), p. 71, insb. p. 87; Ein Wort der Mathe- matik an die Energetik, Ann. Phys. Chem. (2) 57 (1896), p. 39; M. Planck, Gegen d. neuere Energetik, Ann. Phys. Chem. (2) 57 (1896), p. 72; L. Dressel, Zur Orientierung in der Energielehre, Natur und Offenbarung 39, Münster 1893; p. 321, 390, 449.

317) Vgl. ausser Ostwald, Lehrbuch der allgemeinen Chemie, der Mecanique chimique von Duhem, J. H. van’t Hoff’s Vorlesungen über theoretische und physikalische Chemie, Braunschweig 1898/99 (auch französisch von Corvisy, 3 Bde., Paris 1899/1900), auch die Energetik von Helm. Das in der deutschen Lattäratur hervortretende Bestreben (vgl. z. B. H Januschke, Das Prinzip d. Er- haltung d. Energie, Leipzig 1897), an Stelle der klaren Einsicht, welche die exakte Mechanik gewährt, eine summarische Behandlung möglichst vielseitiger Fragen durch Anwendung des Energiebegriffes treten zu lassen, scheint zur Zeit noch verfrüht.

318) Vgl. O. Lodge, On the identity of energy, Phil. Mag. (5) 19 (1886), p. 482,

49. Die Lokalisierung der Energie. 111

mik entspricht; so erhält man die Vorstellung von einer Strömung oder Wanderung der lokalisierten Energie, mit der noch die Lagrange’sche Auffassung der Flüssigkeitsbewegungen zu verbinden ist, welche nicht den Bewegungszustand an einer beliebigen Stelle, sondern die Bewegung jedes einzelnen Teilchens untersucht, wenn man auch die Bahnen dieser Strömung bestimmen will®!?). Derartige Vorstellungen sind übrigens nicht neu. Schon Coriolis??) vergleicht die kinetische Energie in einer Maschine mit einer Flüssigkeit, welche in derselben strömt und ähnliche Vorstellungen mögen sich auch sonst noch mehrfach finden; in bestimmterer Form sind sie aber erst in den letzten 25 Jahren aufgetreten.

In ganz allgemeiner Weise hat schon 1874 N. Umow °*') das Problem der Wanderung der Energie in den flüssigen und elastischen Medien entwickelt. In hervorragendem Masse aber lenkte sich die Aufmerksamkeit auf diese Anschauung erst, als Poynting®””) die Strömung der elektromagnetischen Energie auf Grund der Maxwell- schen Formeln als durch ganz einfache Gesetze geregelt darstellte.

Die Gleichung der Kontinuität für jedes stetige Medium, dessen mit der Dichtigkeit og verbreitete Masse als unveränderlich gedacht wird, lautet bekanntlich

0 deu |, Odov , dew

as ar ge Te) wo u,v, w die Geschwindigkeitskomponenten der Strömung sind. Umgekehrt kann man in jeder Gleichung

oE oU oV oW (1) EINS BTTARS TUST EN U, V,W als Strömungs- und U/E; V/E; W/E als Geschwindigkeits-

komponenten bezeichnen.

319) Diese Analogie hat sich bisher nur in einzelnen Fällen durchführen lassen.

320) Coriolis, Trait€ de me&canique, p. 117: Ce fluide pourrait en outre s’accumuler dans certains corps et y rester en reserve.. ce travail en röserve, que nous assimilons ä un fluide, est ce que nous avons appele la force vive; p. 171: On peut comparer la transmission du travail par la machine ä l’&coule- ment d’un fluide u. s. w.

321) N. Umow, Ableitung d. Bewegungsgleichungen der Energie in konti- nuierlichen Medien, Zeitschr. f. Math. Phys. 19 (1874), p. 419.

322) J. H. Poynting, On the transfer of Energy in the electromagnetic field, Lond. Phil. Trans. 175 (1884), p. 343; vgl. O. Heaviside, Electrician 14 (1885), p- 178, 306; desgl. On the forces, stresses and fluxes of energy in the electro- magnetic field, Lond. Phil. Trans. 183 (1892), p. 423; W. Wien, Über d. Begriff d. Lokalisierung d. Energie, Ann. Phys. Chem. (2) 45 (1892), p. 684.

112 Ivı. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

Aus den Bewegungsgleichungen des elastischen, bez. Mediums ausla, 2, , 08,., 9% Ge PS der Pol adar Pr nr FI ER oY oY, N, (2) ej=eY+ I = a + Rz ,

02, 02, g=elr FrL2 ie 2y ir Z

und den Euler’schen Gleichungen für

da dy dz

u dt’ ur 7) ee,

du ou ou ou ou dt ut BETT TU

dv 0% ev 0% 8V (8) antrat tt dw dw ow dw dw ee le 9

flüssigen

folgt ferner durch Multiplikation der Gleichungen (2) mit ©, y,2 d 04 oB oC a Ute tt t

wenn get tu A=Xu+ Y,v+ Zu, B=Xu+ 1 AR) Fu C=Xu+Yv+ Zu,

= endlich zur Abkürzung ® für den 0% ++ 2.50 + + Yn+Z en

T x, + re +Z,

gesetzt = Auch folgt nach (3) hieraus 1 a) 409 —g(Xu+ Yo + Zu)

[+ DB + + Str uz))+®

oder mit Hilfe der Gleichung der Kontinuität 2000) oe(Xu + Yv+ Zw)

BER,

49. Die Lokalisierung der Energie. 113

Nimmt man noch der Übersichtlichkeit halber konservative Kräfte X,Y,Z an, d. h. setzt man

Dr oV oV rag Y= dy’ A ET, so folgt aus (5) 10e) , ey ___0 @ (6) + EV——,(9uV +A+ ug)

(eur + C+2ug)+ ®.

Lässt sich nun unter Anwendung der Green’schen partiellen In- tegration zeigen, dafs ® der partielle Differentialquotient nach £ von der Dichtigkeit S der .Deformationsenergie ist?”?°), so erhält man aus (6)

DIE, oU By om

Alker tert sr HE oder, wenn man ausserdem annimmt, dass die potentielle Energie V nur von äusseren Kräften, nicht aber von den Fernewirkungen der Massen des Systemes auf einander herrührt, so dass nun

5 e®+eV/+S

als die dem Volumelemente zukommende Dichtigkeit E der totalen Energie angesehen werden kann,

0E oU oV oW ara Daher werden nun die Geschwindigkeitskomponenten der strömenden

Energie 1

|

(pur +A+zoug), (ee +B+5z evg), m(eur + C+z0ug).

1

>|

322%) Siehe Fussn. 309. W. Thomson hat übrigens schon 1857 (Quart. J. of math. 1 (1857), p. 57) unter Anwendung des zweiten Hauptsatzes der mecha- nischen Wärmetheorie gezeigt, dass die elastischen Kräfte jedenfalls dann eine Kräftefunktion besitzen, wenn die Temperatur des Mediums entweder konstant bleibt oder adiabatisch geändert wird, während darüber hinaus im allgemeinen nichts behauptet werden kann; vgl. Love, Elastieity 1, p. 117. Im Texte ist von thermodynamischen Einwirkungen überhaupt abgesehen, bez. konstante Temperatur vorausgesetzt worden; die erweiterte Frage scheint bisher nicht in Betracht gezogen zu sein.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1. 8

114 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

Bei einer reibungslosen Flüssigkeit tritt der Druck p an Stelle der X,, Y,, Z,, die A, B, C werden daher ebenfalls den «, v, w pPro- portional nd ar Sons geschieht in der Bewegungerichtung der Flüssigkeit???). Als nun Poynting ähnliche Formeln für die elektro- magnetische Energie entwickelte, ergab sich der ‚Poynting’sche Satz, dals im elektromagnetischem Felde die Energie mit einer gewissen Intensität senkrecht zur Ebene der Linien magnetischer und elektri- scher Kraft strömt?*); bei einem von einem Strom durchflossenen Leiter strömt dieselbe daher von aufsen in denselben ein, um dort als Wärme aufzutreten).

Allerdings besteht noch eine Schwierigkeit in Bezug auf den realen Sinn, den man diesen Vorstellungen unterlegen soll. Denn wie aus der obigen Darstellung hervorgeht, können zu den Komponenten noch beliebige Funktionen u,, v,, w, hinzugefügt werden, welche der

Gleichung ou

= en 4% em

genügen, d.h. een einer inkompressiblen Flüssig- keit sind. Es scheint‘ daher die ganze Ansicht nur den Wert einer Vorstellung zu haben, welche noch vielfacher Abänderung fähig ist, so lange man nicht im Stande ist, in vollkommen scharfer Weise einen wahren Energiestrom von den unzähligen fingierten zu unter- scheiden; wir lassen es dahingestellt, ob es zur Zeit möglich ist, eine solche Entscheidung, deren Möglichkeit von Heaviside und Föppl bestritten wird, zu treffen ??°). E

Die vorstehenden Betrachtungen beziehen nn auf kontinuierliche Massen. Neuerdings hat Volterra®?”) vermöge einer Ausdehnung der Maxwell’schen Gleichungen in mehreren Arbeiten diese Vorstellungen auf diskrete Massen, zwischen denen auch Fernewirkungen auftreten, ausgedehnt. Auch hier ergeben sich analoge Werte für die U, V, W,

323) Für Flüssigkeiten mit Reibung bei Umow, Fussn. 321; en Fussn.

322, p. 698. 324) Poynting, Fussn. 322, p. 349; über ähnliche Vorstellungen in der Mecha- nik A. Föppl, Technische Mechanik, p. 213 ff.

325) Nach @. Mie, Ein Beispiel zum Poynting’schen Theorem, Zeitschr. f. Phys. Chem. 34 (1900), p. 522 ist die Bewegungsrichtung des Energiestromes in unmittelbarer Nähe des Drahtes demselben nahezu parallel.

326) Vgl. Föppl, Einführung, p. 293; nach @. Mie, Entwurf einer allge- meinen Theorie der Energieübertragung, Wien. Ber. 107 (1898), p. 1113 ist die- selbe möglich.

327) V. Volterra, Sul flusso di energia meccanica, Torino, Atti dell’ Accad, 34 (1899), desgl. Nuovo Cimento (4) 10 (1899).

50. Energetische Begründung der Mechanik. 115

da der Einfluss der Unstetigkeitsflächen, an denen sprungweise Änderungen der Diehtigkeit und der Geschwindigkeiten stattfinden, herausfällt; es wird aber dabei erforderlich, der Energie auch negative Werte beizulegen, was sich mit den gebräuchlichen physikalischen Voraussetzungen schwer vereinigen lässt.

50. Energetische Begründung der Mechanik. Wir erwähnen noch die Bestrebungen, aus dem Energieprinzip zunächst in der einfachen Form

T+V/=e— die Differentialgleichungen der Bewegung zu gewinnen.

Wird bei einem völlig freien, nur konservativen Kräften unter-

worfenen System

Er 3 > m +94 29)

gesetzt, und setzt man voraus, dass die Beschleunigungen unabhängig von den Geschwindigkeiten und der Konstanten c sein sollen, so hat man

0- Dmitri + tn er 2]

Soll diese Gleichung für alle Werte der &,, Y,, 2, bestehen, so folgt in der That:

mÄö, +, etc.

Ein ähnlicher Schluss lässt sich aber schon dann nicht mehr machen, wenn Bedingungsgleichungen zwischen z&,%,2 bestehen, wie bereits R. Lipschitz°?®) bemerkte. Helm ??°) suchte daher den Variations- prozess zu Hülfe zu nehmen, indem er dem Energieprinzip die Form gab: Die Änderung der totalen Energie nach jeder möglichen Rich- tung ist gleich Null. Aber unter dieser Änderung kann man nur den Energiezuwachs verstehen, welcher einer Variation der Koordi- naten x,y,2 um dx, ödy,0dz entspricht. Dabei ist nun in der That

av Ar (Gt, ‚+ 7,98),

aber die Änderung der kinetischen Energie ist

328) Siehe Helmholtz, Über die Erhaltung der Kraft, Ostwald, K. B. Nr.1 p. 55, auch Wiss. Abh. 1 (1882), p. 12. 329) So J. Boussinesq, Recherches sur les principes de la me&canique, 1872; J. de math. (2) 18 (1873), p. 315; Lecons p. 24. Vgl. auch die Bemerkungen von 0. Neumann (Helm, Energetik, p. 229). 8*

116 IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

SmbtrH train rr 4)

Im (82 + jöy + 20%)

und keineswegs gleich I m(&öz + joy + 282),

welcher Ausdruck nur durch eine unzulässige, nicht für beide Teile der Energie gestattete Vertauschung der dx, dy, dz mit den dz, öy,6z erhalten werden kann ®®), Definiert man aber als mögliche Energie- änderung von vornherein diesen Ausdruck selbst, so hat man einen willkürlichen Formalismus, der nur zu dem ae ersonnen wird, die Äquivalenz des ee mit dem d’Alembert’schen be- haupten zu können.

Nach einer ganz anderen Richtung, nämlich auf die Begründung einer physikalischen Mechanik vom energetischen Standpunkt aus, zielen die wiederholt erwähnten Untersuchungen P. Duhem’s, der, unter sorgfältiger Hervorhebung der hypothetischen „Konventionen“, eine abstrakte Begründung der Mechanik materieller Systeme ins- besondere in Rücksicht auf den thermodynamischen Arbeitsbegriff zu geben sucht. Doch ist gegenwärtig noch nicht zu entscheiden, in welchem Maasse dieselben Einfluss auf die systematische Darstellung der Grundlagen der theoretischen Mechanik finden werden.

51. Schlussbemerkung. Die allgemeinen mathematischen Prinzi- pien der Mechanik erweisen sich so überall als Sätze und Methoden,

330) @. Helm, Zeitschr. f. Math. Phys. 35 (1890), p. 307; Energetik, p. 232; auch Ann. Phys. Chem. (2) 57 (1896), p. 646. Vgl. Boltzmann, ibid. p. 39.

331) Eine in ähnlicher Absicht von E. Padova, Sulle equazioni della dina- mica, Ist. Veneto (7) 5 (1893), p. 1641 ausgeführte Betrachtung scheint ebenfalls nicht einwandsfrei zu sein. Auf die im Texte besprochene Frage ist ausführ- licher eingegangen, weil dieselbe zu einer nicht völlig entschiedenen Diskussion zwischen Helm, Boltzmann u. Planck Veranlassung gegeben hat [Ann. Phys. Chem. (2) 57(1896)]. Ähnliche Gesichtspunkte sind übrigens auch von anderen Autoren aus- gesprochen; so formuliert Planck ein Superpositionsprinzip der Energie, durch welches freilich das Energieprinzip formal mit dem d’Alembert’schen in Überein- stimmung gebracht wird; während J. R. Schütz (Gött. Nachr. 1897, p. 110) ein „Prinzip der absoluten Energieerhaltung‘“ annehmen will, welches aber nur für einen materiellen Punkt das Verlangte leistet. Variiert man indessen auch die Zeit, so kann man leicht einen Variationsprozess definieren, bei dem die Varia- tion der totalen Energie in die d’Alembert’sche Grundformel übergeht; der ein- fache Charakter des Energiegesetzes geht dabei aber völlig verloren, und die Herleitung gelingt nur, wenn man das zu Beweisende schon rückwärts in die Definition hinein verlegt. Vgl. A. Voss, Bemerkungen über die Prinzipe der Mechanik, Münch. Ber. 1901, p. 170.

51. Schlussbemerkung. 117

welche in ihrer einfachsten Gestalt wohl auf den Grundanschauungen über den mechanischen, d.h. durch mathematische Begriffe ausgedrückten, Zusammenhang der Erscheinungen beruhen, aber in ihrer weiteren Aus- dehnung als induktive, heuristische Aussagen auftreten, deren Gültigkeit sich erst durch ihre Anwendungsfähigkeit erprobt. Ist sonach auch das Ideal eines rein deduktiven Lehrgebäudes, wie es der Mechanik des 18. Jahrhunderts vorschwebte, wie es Hertz in ganz abstrakter Weise zu geben unternahm, in Wirklichkeit bisher nicht erreicht, so bietet dafür der heutige Standpunkt der Theorie die Möglichkeit, dass die fortschreitende Erkenntnis der Thatsachen nicht durch will- kürliche, einem beschränkten Kreise von Thatsachen entnommene deduktive Prinzipien gehemmt wird. Dieser Standpunkt ist der schon von Galilei eingenommene, für die mathematische Naturbeschreibung charakteristische, welcher weder nach den unerkennbaren Ursachen fragt, noch von vornherein davon ausgeht, alle Erscheinungen dem Zwange einer oder einiger weniger fundamentalen physikalischen Hypothesen unterwerfen zu wollen, sondern unter der Voraussetzung, dass überhaupt ein zusammenhängendes widerspruchsloses Verständnis der Wirklichkeit möglich sei, zunächst die Formen aufsucht, welche zur Beschreibung der einfachsten Vorgänge ausreichen, und sich die Erweiterung und Korrektion derselben in dem Maasse vorbehält, als das Erfahrungsgebiet sich erweitert.

Namenverzeichnis®).

* Aime, 109. Basset, A., 93*.

Airy, @. B., 209. Beck, P., 12, 38, 65.

*d’ Alembert, J., 2, 5, 14, 19, 24, 29, 36, Beneke Preisaufgabe (Gutachten der 87, 39, 41; 77, 109, 111, 157°, 207°, Göttinger philos. Fakultät) 354, 57.

208, 209, 296, 331. Bentley, R., 49. Ampere, A. M., 61, 128, 197. *Bernoulli, D., 5, 19, 46; 108, 112, 146, * Andrade, J., 17, 23; 101,102,117,135, 283. 144. *Bernoulli, Jac., 5; 281. * Appell, P., 38; 34°, 60°, 133, 221, 221%, *Bernoulli, Joh., 5, 30, 46; 106, 181, 239, 297, 187, 282 Archimedes, 18. Bertrand, J., 24; 37°, 193. Aristoteles, 3; 7. Bessel, F., 126.

MeAulay, A., 93*. Betti, E., 306.

*, Ein * bedeutet, dass der betreffende Autor im Litteraturverzeichnis an- geführt ist; die fettgedruckten Zahlen beziehen sich auf die Nummern der Artikel, die übrigen auf die Fussnoten.

118

Bobylew, D., 270.

*Boltzmann, L., 19, 28, 29; 20, 30, 32, 39, 45, 57, 64, 80, 115, 128, 139, 175, 179, 185, 193, 229, 250, 313, 316, 330, 331.

Boscovich, R. @., 50.

*Bour, E., 19; 39, 106, 113, 124.

*Boussinesg, J., 28; 35, 297, 329.

Brassinne, E., 111.

Brill, A., 175.

Buckendahl, A., 227.

*Budde, E., 18; 21, 100, 145, 152, 248, 295.

Burkhardt, H., 19.

Cantor, @., 40.

*Cantor, M., 19; 2, 19, 180, 252.

*Oarnot, L. N. M., 24,46; 131, 187, 287, 293.

Carnot, S., 46; 294.

Castigliano, A., 224.

*Cauchy, A. L., 1, 5, 12,25; 42, 45, 52, 111, 158, 162, 178, 2798,

Cayley, A., 279®.

Christoffel, E. B., 218.

Clairaut, A. O., 5.

*Clausius, R., 48; 273, 295, 310, 311, 312.

Clebsch, A., 220.

*Olifford, W. K., 60%.

*Coriolis, G., 5, 46, 49; 70, 103, 124, 183, 292, 297, 320,

Coulomb, A., 46: 141.

Cournot, A. A., 203, 207.

Culmann, K., 5.

Darbouz, G., 19; 116, 118, 156, 157, 270.

Delegue, 111.

Descartes, R., 38.

*Despeyrous, Th., 39, 116, 197.

Dirichlet, P. @. L., 9; 275.

Dixon, E., 93*.

Dressel, L., 316.

Drude, P., 18.

*Dühring, E., 2.

*Duhamel, J. C. M., 13, 32, 50; 2, 64, 72, 124, 188, 146, 157, 197, 237.

Duhem, P., 46; 2, 13, 78, 97, 159, 173, 201, 303, 305, 308, 317.

Dupin, Ch, 289.

Dyck, W., 30.

IV 1. A.Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

*Buler, L., 5, 7, 18, 44; 22, 39, 64*, 67, 77, 128, 136, 153, 230, 257, 258.

Eötvös, R. v., 126.

Epstein, J., 15; 85.

Faraday, M., 12; 17.

Fechner, @. Th., 50.

Fermat, P. de, 28.

Ferrers, N. M., 211.

*Föppl, A., 49; 21, 39, 97, 324, 326.

Foncenex, D. de, 109.

Fontaine, A., 207%.

*Fourier, J. B., 5, 31, 34; 36, 184, 186, 187, 193, 201, 203, 204.

*F'rreycinet, Ch. de, 136, 145.

Friedländer, B. u. J., 90.

*Galilei, @., 5, 12, 20, 23, 30, 46; 2, 28, 48, 104, 118, 142, 154, 180.

Gauss, C. F., 2, 5, 7, 12, 23, 34, 39; 45, 51, 141, 145, 159%, 182, 202.

Gibbs, J. W., 39, 48; 226, 314.

Goedseels, E., 93*.

Gosiewsky, W., 26.

Gray, A., 98°.

*Green, @., 4, 5, 46; 20, 158, 283, 309.

Greenhill, @., A., 140.

Me. Gregor, J., 93*, 129, 147.

Hachette, J. P., 46; 288, 290.

Hadamard, J., 96, 221°, 275.

Hamilton, W. R., 2, 21, 37, 42, 46; 6, 122°, 243, 279%, 295,

Hankel, H., 8; 29.

*Heaviside, O., 49; 31, 109, 322.

Heger, R., 106.

*Helm, G., 50; 304, 317, 330, 331.

*Helmholtz, H. v., 5, 14, 26, 44, 45 46, 47; 15, 17, 20%, 25, 32, 162, 169, 248, 250, 268, 273, 297, 300, 308, 328.

Henneberg, L., 207.

Henke, R., 26.

Heun, K., 61*.

Herrmann, Jac., 60.

*Hertz, H., 1, 8, 12, 23, 28, 37, 89, 42; 1, 3, 20°, 20», 31, 56, 58, 61, 80, 88, 97, 128, 132, 149, 154%, 171, 172, 173, 212, 213, 228.

Hicks, M. W., 135.

ai u ee ee ee ee ee er

Namenverzeichnis.

Hilbert, D., 23; 130, 233.

Hobbes, Th., 39.

*Höfler, A., 66, 125, 136.

Hölder, O., 44; 26, 34°, 212, 221*, 250, 268, 269.

Hoff, J. H. van’t, 4, 317.

Hollefreund, K., 225.

Holzmüller, @., 248.

Hoppe, R., 71.

Huygens, Ch., 24, 46; 154, 281.

Imschenetzky, W. G., 111.

Jacobi, C., 109.

*Jacobi, 0. @. J., 2, 32, 37, 40, 44; 6, 122°, 136, 144, 174,192, 193, 208, 216, 220, 234, 243, 262, 263, 295.

Jannaud, 34%.

Januschke, H., 317.

Johannesson, P., 143.

*Kant, I., 3, 13; 61, 64*, 65, 69, 90, 131.

*Kirchhoff, @., 3, 5, 23; 17, 18, 39, 125, 134, 158, 250.

Klein, F., 9; 35*, 60®.

Klein u. Sommerfeld, 21, 152, 1574, 161.

*Klein, H., 310.

Kleinpeter, H., 20®.

Kneser, A., 211.

Kobb, G., 270.

König, J., 205*.

*Koenigsberger, L., 25; 159’, 247.

Kötter, F., 224.

Korteweg, D. J., 221°.

*Lagrange, J. L., 5, 12, 24, 30, 32, 36, 37, 43, 44, 46; 2, 39, 61,79, 186, 188, 194, 201, 206, 220, 237, 239, 243, 259, 262, 279°, 284.

Lame, @., 5.

Lampe, E., 93*.

Lambert, H., 106.

*Lange, L., 14,16; 59, 62, 67, 69, 90, 92. *Laplace, P. S., 12, 31, 46; 22, 39, 46, 50, 51, 62, 111, 145, 184, 185, 285. *Larmor, J., 20°, 50, 99, 159, 167, 171.

*Lasswitz, K., 10, 21.

Lecornu, L., 60®.

Leibniz, @. W., 34, 49, 297.

119

Lemmi, E., 306.

Liapounoff, A., 275.

Lie, S., 279.

*Liebmann, O., 15; 83.

Liouville, J., 276, 297.

Liouville, R., 174.

Lipschitz, R., 50; 223, 224, 311.

Locke, J., 15; 77, 84.

Lodge, O., 87, 93°, 318.

Lorentz, H. A., 99.

*Love, A. E. H., 39, 51, 80, 93*, 96, 97, 109, 139, 164, 3222.

*Mach, E., 8, 19, 28; 2, 12, 15, 18, 21, 25, 27, 28, 30, 41, 57, 90, 91, 97, 100, 107, 109, 114, 125, 137, 138, 154, 171, 175, 193, 280, 281.

Maclaurin, ©., 215.

*Maggi, G. A., 9; 35®, 139.

Mansion, P., 93*.

*Mathieu, E., 188, 269.

Maupertwis, M. de, 44; 252, 256.

Mayer, A., 40, 44; 232, 252, 254, 260, 266.

Mayer, R., 46; 17, 25, 299.

*Maxwell, J. C., 8, 5, 12, 14, 24, 27; 2, 8, 17, 20, 20°, 36, 55, 86, 90, 165, 176, 306.

Menabrea, L. F'., 224.

Mestschersky, J., 136. -

Michelson, A. A., 831.

Mie, @., 325, 326.

*Minding, F., 32; 71, 199, 211.

*Moebius, A. F., 40; 111, 122%, 122», 230, 311.

*Moigno, F'., 197,

Monge, @., 288.

* Montucla, J. F., 180, 207°.

Morin, A., 117,

Moseley, 224.

Muirhead, F., 16; 96, 147.

Müller-Breslau, H. B., 224.

Müller, F. A., 34.

Natanson, L., 308.

Natorp, P., 28.

Navier, C. L., 11, 12; 44, 293.

*Neumann, C., 13, 16, 25, 27, 34, 38, 42; 2, 18, 20, 39, 72—76, 104, 134,

120

"159%, 159», 182, 196, 205, 208, 224, 246, 248, 249, 250, 307, 329.

Neumann, F. E., 5.

*Newton, I., 5, 12, 13, 19, 20, 23; 21°, 28, 33, 37°, 62, 63, 64, 90, 105, 121, 122, 142, 183.

Niven, W. D., 239.

Ostrogradsky, M., 34, 40, 44; 203, 207, 211, 231, 264, 2798. Ostwald, W., 46, 49; 27, 315, 317.

Padova, E., 331.

*Painleve, P.,34; 35, 60®, 144, 146, 205%, 279.

Pascal, B., 180.

Pasquier, 93*.

*Pearson, K., 38, 42, 66.

* Petersen, J.

Petrini, H., 24; 11, 96, 151.

Petzoldt, J., 15, 26, 27, 28.

Pietzker, F., 37.

*Planck, M., 304, 304*, 308, 316, 331.

*Poincare, H., 9; 35°, 42, 43, 57, 144, 146, 176.

*Poinsot, L., 24, 32; 111, 157®, 185, 198.

Poisson, S. D., 5, 12, 19, 23, 45; 6, 22, 35, 36, 39, 54, 64, 77, 110, 145, 146, 157, 158, 184, 196, 259, 2798,

*Poncelet, J. V., 46; 17, 61*, 291, 292, 298.

Poselger, F. Th., 7.

Poske, F'., 143.

Poynting, J. H., 49; 322, 324.

Proell, R,, 61*.

Prony, R., 46; 186, 291.

Rachmaninoff, 224.

Rankine, W. J. M., 46, 49; 53, 302. Rausenberger, O., 61.

*Reech, F., 17; 37°, 39, 72, 101, 106, 144. *Resal, H., 39, 122”, 133, 297. Rethy, M., 269.

Reuschle, C. G., 227.

*Reymond, E. dw Bois-, 9, 50, 252. *Reymond, P. du Bois-.

*Riemann, B., 42; 245.

Ritter, A., 39; 145, 227, 235. Rodrigues, O., 44; 261, 267.

IV 1. A. Voss. Die Prinzipien der rationellen Mechanik.

*Rosenberger, F', 49.

*Routh, E. J., 44, 45; 157°, 169, 193, 209, 220, 238, 239, 243, 267, 274, 277, 2798, 297.

Sabinine, @., 269.

Scheffler, H., 227.

Scheibner, W., 192, 220, 234.

*Schell, W., 132, 157°, 229, 297.

Schering, E., 42; 223, 247.

*Schlömilch, O., 111.

Schönflies, A., 61*.

Schweins, F., 311.

Seeliger, H., 92, 159*.

Serret, J. A., 270.

Siacei, F., 117.

Sloudsky, 44; 265.

Smeaton, J., 286.

Sommerfeld, A., siehe Klein u. Sommer- feld.

Stäckel, P., 176, 278, 279.

Stern, M. A., 146.

Stevin, S., 19, 30; 180, 200.

*Stokes, G. G., 5; 20°.

*Streintz, H., 14, 16; 77, 89, 91, 124.

*Sturm, Ch., 238.

Szily, C., 312.

*Tait, P. @., 38, 95, 147.

Tannery, JI., 35°.

Thomson, J., 16; 94, 95.

*Thomson, J. J., 27, 28; 99, 165, 168, 169, 170, 174.

*Thomson, W. (Lord Kelvin), 5, 16, 26, 28, 46; 13, 20%, 55, 164, 165, 1867, 250, 302, 304.

*Thomson und Tait, 12, 24, 33; 33, 81, 93, 106, 127, 152, 155, 157°, 169, 200, 217, 3228.

Tilly, J., 93.

* Todhunter, I.

Transon, A., 122”.

Ubaldo, @., 180. Uckermann, K., 267. Umow, N., 49; 321, 323.

*Varignon, P., 5, 18, 19, 29; 14, 104, 105, 177, 181, 280.

Namenverzeichnis. 121 Varro, 180. Weber, L., 143. Venant, B. de St., 5. Weber, W., 12, 42; 47. Vieille, J., 219. Weierstrass, K., 40. Vicaire, E., 93*. Westphal, A. H. C., 109. Vierkandt, A., 221°. Weyrauch, J., 299. Villarceau, Y., 311. *Whewell, W., 2, 180, 250.

*Voigt, W., 36, 54, 131, 150, 247, 307. Wien, W., 98, 100, 322. *Volkmann, P., 15; 4, 15, 30, 51, 82, Wohlwil, E., 142.

100, 126, 136, 150. *Wundt, W., 10, 11, 18, 23, 24, 28, 83, Volterra, V., 49; 327. 143. Voss, A., 37, 42, 43; 195, 210, 240, 250,

251, 269, 272, 334. *Young, Th., 46; 2, 72, 104, 296. Walther, A., 250. Zermelo, E., 40; 233. Wassmuth, A., 224. * Ziwet, A. *Weber, H., 16. Zöllner, J. C. F., 49.

(Abgeschlossen im Juli 1901.)

B. MECHANIK DER PUNKTE UND STARREN SYSTEME.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1. 9

4

IV2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers. 125

IV2. GEOMETRISCHE GRUNDLEGUNG DER

MECHANIK EINES STARREN KÖRPERS.

Von H. E. TIMERDING

IN ELSFLETH (OLDENBURG).

Inhaltsübersicht.

Vorbemerkung.

I. Geometrische @rundbegriffe. 1. Der Vektor. 2. Addition und Subtraktion der Vektoren. 3. Plangrössen. 4. Skalare erster und zweiter Art. 5. Linienteile. 6. Ein Linienteil als Summe zweier anderen Linienteile. Poinsot’sche Paare. 7. Liniensummen. 8. Die Centralaxe einer Liniensumme.

9. 10.

11. 12. 13. 14. 15.

16. 17. 18. 19.

20. 21,

Das gegenseitige Moment zweier Liniensummen. Das vektorielle Moment einer Liniensumme für einen beliebigen Punkt und das Moebius’sche Nullsystem.

II. Die ersten Sätze der Kinematik des starren Körpers und die Ball’schen Schrauben.

Jede unendlich kleine Bewegung eine Schraubung.

Analogie der Schraubungen und Liniensummen.

Die Ball’schen Schrauben.

Schraubenkoordinaten, sowie allgemeinste lineare Transformation derselben.

Lineare Schraubensysteme und ihre Bedeutung in den Fällen beschränkter

Bewegungsfreiheit eines starren Körpers.

Schraubensysteme zweiter Stufe. Das Cylindroid.

Schraubensysteme dritter Stufe.

Schraubensysteme vierter und fünfter Stufe,

Homographische Schraubensysteme.

III. Die Grundzüge der elementaren Statik.

Der statische Kraftbegrif. Das Parallelogramm der Kräfte. Der starre Körper. Das Hebelgesetz.

9*

126 IV2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

22. Allgemeine Kräftesysteme. Ihre Reduktion auf zwei zu einander normale Kräfte.

23. Reduktion eines Kräftesystems auf eine Einzelkraft und ein Kräftepaar. Beziehung zur Schraubentheorie.

24. Vereinigung zweier Kräftesysteme.

25. Kräfte im Gleichgewicht.

26. Arbeit eines Kräftesystems bei einer unendlich kleinen Verrückung.

27. Unrichtige Auffassungen der Analogie zwischen Kräften und unendlich kleinen Drehungen.

28. Das Viral. IV. Astatik.

A. Geometrische Einleitung. 29. Ebenenkoordinaten. Polar- und Antipolarsysteme. 30. Konfokale Flächen zweiten Grades. 31. Der Reye’sche Axenkomplex.

B. Theorie der gebundenen Kräftesysteme und ihrer Drehung.

32. Systeme parallel gerichteter Kräfte.

33. Astatisches Gleichgewicht und astatische Äquivalenz.

34. Gebundene Kräftepaare.

35. Das vektorielle Moment eines gebundenen Kräftesystems für eine Ebene.

36. Das skalare Moment in Bezug auf eine Ebene.

37. Gebundene Komponenten eines Kräftesystems.

38. Die von den Ebenen gleichen Momentes umhüllte konfokale Flächenschar.

39. Die statischen Axen von F. Siacci für einen beliebigen Punkt. Der Min- ding’sche Satz.

40. Verallgemeinerung des Minding’schen Satzes durch @. Darboux.

41. Moebius’ Hauptaxen der Drehung.

42. Besondere Fälle astatischer Koordinaten.

Litteratur. l) Werke geometrischen Inhaltes.

H. Grassmann, Die lineale Ausdehnungslehre*), Leipzig 1844, 1878 Ges. Werke, ersten Bandes erster Teil 1!, Leipzig 1894. Ebenda ist auch die „geometrische Analyse“ abgedruckt.

_ Die lineale Ausdehnungslehre (Neubearbeitung) 1862 —= Ges. Werke, ersten Bandes zweiter Teil 1°, Leipzig 1896.

Sir W. R. Hamilton, Lectures on Quwaternions, London 1853.

Elements of Quaternions, 1. ed., London 1866; 2. ed. in 2 Bänden, London 1899, 1901. (Deutsch von P. Glan, Leipzig 1882/84.)

J. Plücker, Neue Geometrie des Raumes, gegründet auf die Betrachtung der ge- raden Linie als Raumelement, Leipzig 1868—69. (In2 Teilen, 2. Teil heraus- gegeben von F'. Klein.)

*, In der durch cursiven Druck hervorgehobenen Abkürzung ist das be- treffende Werk im folgenden citiert.

Litteratur. 127

E. Study, Geometrie der Dynamen, Leipzig, 1. Lfg. 1901. A. N. Whitehead, Universal Algebra, vol. 1, Cambridge 1898.

2) Lehrbücher der Statik und der Schraubentheorie.

P. Appell, Trait& de mecanique rationelle, t. 1, Paris 1893.

Sir R. S. Ball, The theory of screws. A study in the dynamics of a rigid body, Dublin 1876.

A treatise on the theory of screws, Cambridge 1900.

E. Budde, Allgemeine Mechanik der Punkte und starren Systeme, 2 Bde., Berlin 1890.

J. M. C. Duhamel, Cours de mecanique, 1. €d., Paris 1845.

H. Gravelius, Theoretische Mechanik starrer Systeme. Auf Grund der Methoden und Arbeiten von Sir R. $. Ball, Berlin 1889.

L. Henneberg, Statik der starren Körper, Darmstadt 1886.

F. Minding, Handbuch der theoretischen Mechanik, Berlin 1837.

A. F. Moebius, Lehrbuch der Statik, Leipzig 1837 = Werke, Bd. 3, Leipzig 1885.

F. N. M. Moigno, Legons de mecanique analytique, Paris 1868.

@. Monge, Trait6 el&mentaire de statique, 1. Ed., Paris 1786.

J. Petersen, Lehrbuch der Statik fester Körper, Kopenhagen 1882.

L. Poinsot, Ei&ments de statique, 1. €d., Paris 1804. Seitdem zahlreiche Auflagen. (Deutsch u. a. von J. H. Lambrecht, Giessen 1828.)

Theorie nouvelle de la rotation des corps, Paris 1834. (Deutsch von K. Schell- bach, Berlin 1851.)

R. de Prony, Legons de mecanique analytique, Paris 1815.

E. J. Routh, A treatise on analytical statics, 2 Bde., Cambridge, 2. Aufl. Bd. I 1896, Bd. II 1902.

W. Schell, Theorie der Bewegung und der Kräfte, 1. Aufl., Leipzig 1870; 2. Aufl. ebenda 1879—80.

J. Somoff, Theoretische Mechanik, übersetzt von A. Ziwet. 1. Bd.: Kinematik; 2. Bd.: Statik, Leipzig 1879.

S. Stevin, de Beghinselen der Weegkonst, Leyden 1586, vgl. auch Oeuvres mathe- matiques (Vol. 4: De la statique), Leyden 1636.

P. Varignon, Projet d’une nouvelle mecanique, Paris 1687.

3) Kürzere Referate über die Ball’sche Schraubentheorie.

Sir R. 8. Ball, A dynamical parable*), Nature 36 (1887), British Ass. Rep. 1887. Wiederabgedruckt im Anhange des Treatise on the theory of screws.

W. Fiedler, Geometrie und Geomechanik, Zürich, Vierteljahrsschrift der naturf. Gesellschaft 21 (1876).

J. B. Goebel, Die wichtigsten Sätze der neueren Statik, Diss. Zürich 1877.

0. Henrici, The theory of screws, Nature 62 (1890), p. 127.

D. Padeletti, Osservazioni sulla teoria delle dinami, Napoli, Rend. 21 (1882).

Man vgl. übrigens die Zusammenstellung der Litteratur in Ball’s Treatise.

*) Die Parabel besteht darin, dass die verschiedenen Methoden als Personen verkörpert auftreten. Hierbei wird der in England vielfach verbreiteten Ge- ringschätzung der alten analytischen Methoden in der komischen Figur des Mr. Cartesian Ausdruck verliehen.

128 IV2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

Vorbemerkung. Die folgende Darstellung hat den Zweck, die Grundlagen der Statik und Kinematik eines starren Körpers in ihrem organischen Zusammenhange mit der Geometrie zu entwickeln und so auf die Abschnitte, in denen die weitergehenden Resultate dieser Disziplinen enthalten sind, vorzubereiten. Es werden deswegen auch eine Reihe geometrischer Sätze anzuführen sein, die in den hier be- rührten Teilen der Mechanik Verwendung finden. Es geschieht dies jedoch nur in abgekürzter Form und mit derjenigen Einschränkung, die durch die Anwendung in der Mechanik bedingt ist; die ausführ- liche und systematische Darlegung dieser Sätze ist in Band III (Geometrie) zu suchen*). Ebenda ist auch die bezügliche Litteratur vollständig zusammengestellt. Im folgenden sind nur diejenigen Werke eitiert, welche beim Studium der Mechanik unmittelbar in Betracht kommen dürften. Ebenso betreffen die Litteraturangaben zur Statik und Kinematik nur die im gegenwärtigen Artikel berührten Fragen. Ausführlichere Nachweise sind in den Artikeln IV 3 (Schoenflies) und IV 5a (Henneberg) enthalten.

I. Geometrische Grundbegriffe.

l. Der Vektor. Ein Vektor (vgl. IV 14, Abraham) soll dadurch definiert sein, dass er die Lage eines Punktes P im Raume gegen einen anderen Punkt P, bestimmt!). Sind x, y, z die Koordinaten des Punktes P, &%,, Y%, 2, die Koordinaten des Punktes P,, so legen die drei Grössen

X=1—-, Y=y-w Z=°T—- 2%

die sogenannten Komponenten, den Vektor fest. Dieser erscheint gleich- sam als die Differenz?) der beiden Punkte P und P,. Er kann durch die der Länge, Richtung und dem Sinne nach gegebene Strecke, die von

*, Insbesondere wird im Text nur ganz beiläufig auf imaginäre Raum- elemente und die Verallgemeinerungen auf Nichteuklidische Geometrie einge- gangen, ebenso bleibt die Verwendung höherer komplexer Zahlen ausgeschlossen.

1) Hamilton, Lectures on Quaternions, London 1853, Introduction.

2) Hamilton, Lectures, sowie Grassmann, Die lineale Ausdehnungslehre (1844), Werke 1!, besonders aber die zweite Ausdehnungslehre (1862), Werke 1?.

Grassmann rechnet in Anlehnung an Moebius’ barycentrischen Kalkül direkt mit Punkten, indem er für einen beliebigen Punkt P den Ausdruck P=0-+xe + ye, + ze, ansetzt, wenn 0 den Koordinatenursprung, &, Y, 2 die Koordinaten von P und &, €, &% Einheiten bedeuten. Dann wird P—-P, =(«-x)ea +Yy—Y)& + (2— 20)e; ein Vektor oder, wie Grass- mann sagt, eine Strecke. Hamilton hat diesen symbolischen Ausdruck für den Vektor auch, nur schreibt er i, 5, k für e,, e,, @,-

1. Der Vektor. 2. Addition und Subtraktion der Vektoren. 129

seinem Anfangspunkte P, nach seinem Endpunkte P hinführt, voll- kommen dargestellt werden, und jede Gr‘ össe im Raume, der ausser einem zahlmässigen Betrage eine bestimmte Richtung und ein Sinn zukommt, kann, weil sie eine solche Darstellung zulässt, als ein Vektor betrachtet werden. Wenn man die einen Vektor darstellende Strecke parallel mit sich verschiebt, so bleiben die Komponenten X, Y, Z dieselben, der Vektor ändert sich also nicht. Jeder Vektor ist mithin ursprüng- lich ein freier Vektor, indem sein Anfangspunkt beliebig bleibt. Ist dieser Anfangspunkt aber im Raume festgelegt, so soll im folgenden von einem gebundenen Vektor gesprochen werden. Das Quadrat der Länge des Vektors, R—= X? + Y? +, ist die einzige Invariante®) des Vektors, indem jede Funktion seiner Komponenten, die von der Wahl des Koordinatensystems unabhängig ist, sich als Funktion dieser Grösse R? darstellen lassen muss.

Die Komponenten X, Y, Z selbst bleiben wohl bei einer Parallel- verschiebung des Koordinatenkreuzes ungeändert, bei Drehung desselben verändern sie sich aber wie die Punktkoordinaten, und bei Inversion, wenn die Punktkoordinaten ihr Vorzeichen wechseln, kehrt sich auch ihr Vorzeichen um. Drei Grössen, welche sich in dieser Weise. ver- halten, lassen sich andererseits immer als Komponenten eines (freien) Vektors interpretieren‘).

2. Addition und Subtraktion der Vektoren. Hieraus folgt, dass wenn X, Y, Z und X’, Y’, Z’ die Komponenten zweier Vektoren ® und ® sind,

X+X, Y+Y, Z+Z wieder die Komponenten eines Vektors werden; derselbe wird als Summe der beiden ersten Vek- toren bezeichnet. Analog sind

En JE a.

die Komponenten eines Vektors, welcher als die Differenz der beiden gegebenen Vektoren anzusehen Fig. 1.

ist. Stellt die Strecke von einem Punkte O nach

einem Punkte P den ersten Vektor ® dar, eine Strecke O.P’ den zweiten Vektor ®, so wird die Summe von ® und ® durch die Strecke OP”

3) Sowie im Texte durchgehends nur rechtwinklige Cartesische Koordinaten benutzt werden, bezieht sich der Ausdruck Invarianz daselbst immer nur auf den Wechsel solcher Koordinatensysteme.

4) Wegen dieser Art, geometrische Grössen durch ihr Verhalten bei Koordinatentransformation zu charakterisieren, vergl. F. Klein, Zeitschr. f. Math, u. Phys. 47 (1902), p. 237,

1350 IV2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg d. Mechanik e. starren Körpers.

dargestellt, wenn P” gegen P’ dieselbe Lage hat wie P gegen O und damit P” gegen P dieselbe Lage wie P’ gegen 0. OPP”P’ sind dann die Ecken eines Parallelogramms, PP” ist dessen eine Diago- nale, und die andere Diagonale P’P repräsentiert die Differenz 3 ® der beiden gegebenen Vektoren ® und 9’)

3. Plangrössen. Projiziert man das in Rede stehende Parallelo- gramm auf die drei Koordinatenebenen, so werden die Flächeninhalte dieser drei Projektionen

L=-YZ—-ZY, M=ZX—-XZ, N=-XYT-YX. Ihre Verhältnisse legen die Stellung der Ebene des Parallelogrammes fest, indem die Richtungscosinus einer Normalen der Ebene sich zu einander verhalten wie diese Grössen L, M, N. Die Quadratwurzel aus F?=1?+ M?’+ N? ist dem Flächeninhalte des Parallelogrammes gleich. Zu dem Parallelogramme gehört noch ein bestimmter durch die Vorzeichen der L, M, N gegebener Umlaufssinn, der geometrisch durch die Forderung fixiert werden kann, dass der erste Vektor ® vor dem zweiten Vektor 3’ durchlaufen werden soll.

Wir gelangen auf diese Weise zu einer dem Vektor analogen Grösse, die geometrisch durch ein Parallelogramm von bestimmtem Inhalte und bestimmtem Umlaufssinne in einer Ebene von bestimmter

Stellung veranschaulicht wird und hier mit einem

z von Grassmann herrührenden Ausdruck als eine

® Plangrösse®) bezeichnet werden soll und zwar als

3 eine freie Plangrösse, indem wir von einer ge- W bundenen Plangrösse sprechen, wenn das Parallelo-

Fig. 2. gramm einer völlig bestimmten Ebene angehören

soll. Letzteres ist beispielsweise der Fall, wenn ® und ® zwei gebundene Vektoren mit demselben Anfangspunkte sind. Die Projektionen L, M, N des Parallelogrammes auf die Koordinatenebenen sind die Komponenten der Plangrösse. Wird nun

5) Die Regeln für die Addition und Subtraktion der Vektoren hat wohl zuerst @. Bellavitis gegeben, Annali di Scienze del Regno Lombardo Veneto 5 (1835), p. 244. Er bezeichnet die Vektorengleichheit als Äquipollenz.

6) Grassmann gebraucht das Wort (Ausdehnungslehre von 1844) nur für den an eine bestimmte Ebene gebundenen Flächeninhalt, also für das, was im Text gebundene Plangrösse genannt ist. Für die freie Plangrösse hat er nur das Wort Parallelogramm. Statt Plangrösse sagte er später lieber Ebenen- grösse (Ausdehnungslehre von 1862). H. Grassmann d. J. bringt in seiner Ab- handlung: Schraubenbewegung und Nullsystem, Halle 1899, den Ausdruck: Blatt in Vorschlag. x

3. Plangrössen. 131

das Koordinatenkreuz um den Ursprung gedreht, so ist auf X, Y,Z_ und X’, Y’, Z’ dieselbe homogene, lineare Transformation anzuwenden wie auf die Punktkoordinaten selbst. Infolge der Bedingungen, denen die Koeffizienten einer solchen Transformation unterliegen, resultieren für. die L, M, N genau dieselben Transformationsformeln. Eine Parallelverschiebung des Koordinatensystems übt auf die Komponenten der Plangrösse keinen Einfluss aus. Aber auch durch Inversion werden diese Komponenten im Gegensatz zu den Komponenten eines Vektors nicht geändert. Zeigen andererseits drei Grössen bei Koor- dinatentransformation das angegebene Verhalten, so lassen sie sich immer als die Komponenten einer Plangrösse interpretieren.

Trägt man in einer zu der Ebenenstellung des Parallelogrammes senkrechten Richtung unter Zugrundelegung eines beliebigen Maass- stabes eine Strecke gleich dem Inhalte des Parallelogrammes ab, ordnet endlich den Sinn der Strecke in bestimmter Weise dem Um- laufssinne des Parallelogrammes zu, z. B. so, dass für einen in der Richtung der Strecke auf der Ebene des Parallelogrammes aufrecht stehenden Beobachter der Umlauf des Parallelo- k grammes im Sinne des Uhrzeigers erfolgt, dann hat man so der Plangrösse einen bestimmten Vektor zu- geordnet”), und man findet die Summe beliebig vieler Plangrössen, indem man zu ihnen allen den zugehörigen VRR Vektor sucht, diese Vektoren gemäss der Parallelo- Fig. 8. grammkonstruktion vereinigt und an die Stelle des resultierenden Vektors wieder die entsprechende Plangrösse setzt. Der so jeder Plangrösse zugeordnete Vektor heisst nach Grassmann deren Ergänzung. Die Zuordnung von Plangrössen und Vektoren bleibt bei beliebiger Verrückung des Koordinatensystems ungestört, durch Inversion aber wird sie aufgehoben; hat man eine Inversion angewandt, so muss man den Sinn jedes Vektors erst umkehren, damit er der Plangrösse, der er vorher zugeordnet war, aufs neue - entspreche.

7) Infolge Voranstellung einer solchen Verabredung gelangt Hamilton ' überhaupt nicht zu dem selbständigen Begriffe der Plangrösse, da er dieselbe ' sofort durch den zugehörigen Vektor ersetzt; er bleibt in dieser Hinsicht hinter Grassmann zurück. Erst J. Ol. Maxwell (Treatise on electricity and magnetism, London 1873, Einleitung, ausserdem Lond. Math. Soc. Proc. 3 (1871), p. 224 = Papers 2, p. 257) unterschied wieder die eigentlichen Vektoren als translato- rische von den Plangrössen als rotatorischen Vektoren. W. Voigt sagt statt _ translatorisch polar, statt rotatorisch axial (Kompendium d. theoretischen Physik,

_ Leipzig 1895). Vgl. die näheren Angaben in IV 14, 3 (Abraham).

1 za

132 IV2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

4. Skalare erster und zweiter Art. Bildet man aus den Kom- ponenten X, Y, Z und X’, Y’, Z’ zweier Vektoren ® und % den Ausdruck

XX+-YY+ZZ, so heisst dieser nach Grassmann das innere Produkt °) der beiden Vektoren und ist gleich dem Produkte aus deren Längen und dem Cosinus des Winkels, den ihre Richtungen einschliessen. Er ist somit eine simultane Invariante der beiden Vektoren und hat die Eigenschaft, bei Koordinatentransformation, die Inversion inbegriffen, völlig ungeändert zu bleiben. Eine Grösse, die von Bewegungen des Koordinatensystems unabhängig ist, wird heutzutage allgemein ein Skalar ”) genannt, und wenn sie ausserdem bei Inversion ungeändert bleibt, wie der vorliegende Ausdruck, kann man sie als einen Skalar erster Art bezeichnen (vgl. F. Klein, Fussn. 4, sowie IV 14,14 (Abraham)).

Vereinigt man nun in entsprechender Weise die Komponenten L, M, N einer Plangrösse mit den Komponenten X”, Y”, Z” eines Vektors ®” zu dem Ausdrucke

LX”+ MY’+ INT oder bildet man, was dasselbe ist, aus den Komponenten der drei Vektoren ®, 3, 3’ die Determinante

Renz: r | Di y’ z’\|

so stellt diese das Volumen des Parallelepipeds (Spates) dar, das die mit den Anfangspunkten an einander gerückten Vektoren ®, ®, ®” bestimmen. Dieser Ausdruck heisst nach Grassmann '°) das äussere Produkt der drei Vektoren. Er bleibt bei Verschiebung und Drehung des Koordinatensystems ungeändert, wechselt aber bei Inversion sein Vorzeichen und ist deshalb ein Skalar zweiter Art. Die Plangrösse mit den Komponenten L, M, N ist selbst als das äussere Produkt der zwei Vektoren ® und ®’ anzusehen.

5. Linienteile.. Grassmann hat nun weiter sogenannte Linien- teile‘) betrachtet, die durch sechs Grössen

8) Ausdehnungslehre (1844) und bes. Geometrische Analyse (Werke 1', p. 349 ff.).

9) Der Ausdruck rührt von Hamilton her. Zuerst Phil. Mag. (3) 25 (1843), dann in den Lectures on Quaternions (1853) und den nach des Verfassers Tode herausgegebenen Elements of Quaternions.

10) Ausdehnungslehre (1844), $ 33 ff.

11) Ausdehnungslehre von 1862. In der ersten Ausdehnungslehre (1844)

Ba a 1 A a a na, en

4. Skalare erster und zweiter Art. 5. Linienteile. 133

X=un—%, Y=eyu WW Z=A—% L=y%3 24%, M=A%— U, N = Yıla als ihre Koordinaten festgelegt werden und durch das Symbol [PQ] bezeichnet werden können, indem P der Punkt mit den Koordinaten %y, Ya, 2, Q der Punkt mit den Koordinaten x,, %,, 2, sein soll. Das Linienstück PQ kann dann in seiner geraden Linie noch beliebig verschoben, sonst aber nicht abgeändert werden, ohne dass die sechs Grössen X, Y,Z, L,M, N sich ändern. Die in Rede stehenden sechs Grössen charakterisieren sonach eine Strecke [|PQ] von bestimmter Länge und bestimmtem Sinne, auf einer bestimmten geraden Linie'?). Übrigens zerfallen die angeschriebenen Koordinaten in die Kompo- nenten X, Y, Z eines Vektors und die Komponenten Z, M, N einer an den Koordinatenursprung gebundenen Plangrösse. Wenn man das Koordinatenkreuz parallel verschiebt, erhält man die neuen Koor- dinaten des Linienteils X=-X, Y=-YJY Z=Z,

U=L-Zy,+Ya, M=M—X2z+Z%, N=N—-Yo+ Xy, WO &y, Yo, Zu die Koordinaten des neuen Ursprunges P, im alten Systeme bezeichnen. Bei Drehung des Koordinatenkreuzes transfor- mieren sich X, Y, Z und Z, M, N wie Punktkoordinaten. Bei In- version wechseln X, Y, Z ihr Vorzeichen, während L, M, N un- geändert bleiben. Die Grösse X?-+ Y?+ Z?, nämlich das Quadrat seiner Länge, ist die einzige Invariante des Linienteils, der Ausdruck LX-+ MY-+- NZ, welcher bei der Koordinatentransformation eben- falls formal ungeändert bleibt, ist von Hause aus identisch Null. Umgekehrt lassen sich sechs Grössen X, Y, Z, L, M, N, die bei Koordinatenverwandlung das angegebene Verhalten zeigen und für welche LX-+ MY- NZ verschwindet, immer als Koordinaten eines Linien- teils auffassen.

Die Verhältnisse der sechs Grössen X, Y, Z, L, M, N legen die gerade Linie, welcher der Linienteil angehört, eindeutig fest. Diese sechs Grössen, als blosse Verhältnisgrössen betrachtet, werden deshalb seit Plücker‘?) und Cayley '*) als Linienkoordinaten bezeichnet.

sagt Grassmann hierfür Liniengrösse. Vgl. insbesondere die $$ 197—205. In neuerer Zeit sind die Bezeichnungen „linienflüchtiger Vektor“ und „Stab“ vor- geschlagen worden (Budde, Mechanik 2, p. 555, bez. H. Grassmann d. J. in der in Fussn. 6 genannten Abhandlung). Letztere Bezeichnung wird auch von Study verwendet (Dynamen).

12) Vgl. J. Plücker, Fundamental views regarding mechanies, Lond. Phil. Trans. 156 (1866) = Ges. Abh. 1, Leipzig 1892, p. 546.

13) Man vgl. ausser den vorläufigen Mitteilungen Lond. Roy. Soc. Proc. 14

134 IV2. H.E. Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers,

6. Ein Linienteil als Summe zweier anderen Linienteile. Poinsot’sche Paare. Wenn die Linien Z! und 7’ zweier Linienteile sich schneiden, so genügen ihre Koordinaten X,... und X‘,... der Bedingung

XLU+-YM+ZN+LXY+MY +NZ=0.

Die Summen entsprechender Koordinaten X-+X’,... sind dann wieder die Koordinaten eines neuen Linienteils, der als die Summe der beiden gegebenen Linienteile anzusehen ist; die Linie dieses neuen Linien- teiles geht durch den Schnittpunkt der Linien Z und 7’ und liegt mit denselben in einer Ebene. Die beiden gegebenen Linienteile können durch zwei Strecken [PQ] und [PQ’] mit gemeinsamem An- fangspunkte P dargestellt werden, und ihre Summe wird dann durch die Strecke [PQ’] gegeben, wenn PQQ’Q' die Ecken eines Parallelo- grammes sind. Man nennt den so gefundenen Linienteil die Resul- tante der beiden gegebenen.

Wenn die Linien /, und /, zweier Linienteile [P,Q,] und [P,Q,] parallel sind, so ist die Summe derselben wieder ein Linienteil [PQ], dessen Linie den Linien /, und /, parallel in deren Verbindungsebene verläuft und ihren Abstand im umgekehrten Verhältnisse zu der Länge der zugehörigen Linienteile teilt. Die Länge von [PQ] ist gleich der Summe der Längen von [P,Q,] und [P,Q,]. Sind jedoch diese Längen gleich, der Sinn der Linienteile aber entgegengesetzt, so haben wir einen Ausnahmefall, indem der resultierende Linienteil in unend- liche Entfernung rückt, während seine Länge gleichzeitig unendlich klein wird. .'

Eine solche Grösse, die sich aus zwei entgegengesetzt gerichteten, gleich langen Linienteilen zusammensetzt, wollen wir hier im Hinblick auf ihre Bedeutung in der Statik des starren Körpers ein Poinsot’sches Paar'°) nennen. Sie ist nichts anderes als eine freie Plangrösse. Da nämlich X+X =0, Y+Y=0, Z+Z=0 sein soll, ist sie durch die drei Koordinaten = L+ LU, M=M+M, R=N+N vollständig charakterisiert, die sich bei Koordinatentransformation in der That wie die Komponenten einer Plangrösse verhalten. Die beiden

(1865), p. 53; Lond. Phil. Trans. 155 (1865), p. 725 = Ges. Abh. 1, besonders p. 525—541, vor allem seine Neue Geometrie des Raumes. Die Idee der Linien- koordinaten hat er schon 1846 in seinem System der Geometrie des Raumes (Düsseldorf) auseinandergesetzt.

14) Quart. J. of math. 3 (1860), p. 225; ibid. 5 (1862), p. 81 Collected Papers 4, p. 446, 490.

15) Poinsot, El&ments de statique, 1. &d., Paris 1804. Vgl. im Texte Nr. 25. Study (Dynamen) sagt „Stäbepaar“.

EEE

6. Ein Linienteil als Summe zweier Linienteile. 7. Liniensummen. 135

parallelen und gleichen Linienteile bilden ein Parallelogramm, welches die Plangrösse geometrisch repräsentiert, und hieraus ist klar, dass ein Poinsot’sches Paar vollkommen bestimmt ist durch die Stellung der Verbindungsebene der beiden Linienteile, das Moment des Paares, nämlich den Inhalt des von den Linienteilen gebildeten Parallelo- grammes, und den Sinn, in dem das Parallelogramm durchlaufen werden muss, wenn dieser Umlaufssinn in zwei Seiten mit der Richtung der beiden Linienteile zusammenfallen soll.

Nach dem Gesagten vereinigen sich auch beliebig viele Linien- teile in den beiden besonderen Fällen, dass entweder die Linien aller Linienteile durch einen Punkt gehen oder sie alle zu einander parallel sind oder in einer Ebene liegen, immer wieder zu einem Linienteile, wobei nur im letzteren Falle möglicherweise ein Poinsot’sches Paar als Resultante auftritt.

7. Liniensummen. Im allgemeinen Falle ist die Summe [PQ] + [P’W] zweier Linienteille [PQ] und [P’Q] nicht wieder ein Linienteil, sondern eine neue geometrische Grösse, die wir, um einen kurzen Ausdruck zu haben, als Liniensumme bezeichnen wollen '®). Durch die sechs Grössen

K&=-X+X, 9=-Y+Y, 3=-Z+Z, g—-L+L, M=-M+M, R=-N+N

ist diese Liniensumme rein formal definiert, indem vorläufig nur fest- gesetzt sein soll, dass aus zwei Paaren von Linienteilen dieselbe Liniensumme resultiert, wenn in jedem Paare entsprechende Koordi- naten der Linienteile dieselbe Summe ergeben. Die so definierten Koordinaten einer Liniensumme verhalten sich bei Koordinatentrans- formation wie die Koordinaten eines Linienteils.

Als Invarianten einer Liniensumme erweisen sich die Ausdrücke

HM ud LEH-MYHNE, und zwar ist der erste ein Skalar erster, der zweite ein Skalar zweiter Art. Der erste ist das Quadrat der Länge R des Vektors, der sich ergiebt, wenn man die Linienteile [PQ] und [P’Q’] wie freie Vektoren behandelt und zusammenfügt. Der zweite Ausdruck

16) Vielfach wird dafür das Wort Streckensystem gebraucht, so von Schell (Theorie der Bewegung und der Kräfte) und von H. Mohr in seinen zahlreichen Arbeiten (die meistens im Civilingenieur erschienen). E. Budde (Mechanik 2,p. 611) sagt Vektorensystem, indem er den Linienteil als linienflüchtigen Vektor be- zeichnet, oder spricht auch von einer heteraptischen Summe solcher linienflüch- tigen Vektoren, d.h. einer Summe, die von verschiedenen Linien hergenommen ist. Study sagt Stäbesumme.

136 IV2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

stellt sich in den Koordinaten der beiden komponierenden Linienteile folgendermassen dar:

XZU-+-YM+ZN-+-LX + MY-+NZ. Das ist nichts anderes als [PQ P’Q/], wenn man hierunter die vier- reihige, aus den Koordinaten der vier Punkte P, Q, P’, Q' gebildete Determinante

1 1 1 1

versteht, welche das sechsfache Volumen des von den vier Punkten ge- bildeten Tetraeders darstellt. So ergiebt sich ein zuerst von M. Chasles aufgestellter Satz’), der in unserer Terminologie folgendermassen lautet: Wie eine Liniensumme auch aus zwei Linienteilen zusammen- gesetzt werden mag, immer ist das Volumen des Tetraeders, das die zwei Linienteile bestimmen, dasselbe.

Die Gleichung 2X + MY + NZ 0 drückt die Bedingung dafür aus, dass die Liniensumme sich auf einen Linienteil reduziert; wir kommen dann wieder auf die Entwickelungen der vorigen Nummer zurück. Die’ Gleichung X’ + 9?-+ = 0 fällt, wenn man sich auf das reelle Gebiet beschränkt, in die drei Gleichungen <=0, J=0, 3—=0 auseinander, welche die Gleichung 2X + MY + NZ = 0 nach sich ziehen und ausdrücken, dass die Liniensumme sich auf ein Poinsot’sches Paar reduziert.

Wenn irgend sechs Grössen im Raume, &, J), 3, MN sich bei Parallelverschiebung des Koordinatenkreuzes so transformieren, dass %&, 9, 3 und die Verbindung 2LXH-MY-+HNEZ ungeändert bleiben, und wenn bei Drehung &, 9, 3 und &, M, N sich wie Punktkoordinaten transformieren, während bei Inversion 2, M, N un- geändert bleiben, &, 9), 3 ihr Zeichen wechseln, dann definieren diese sechs Grössen eine Liniensumme. Es liefert also insbesondere die Addition beliebig vieler Linienteile keine allgemeinere Grösse wie die Addition nur zweier Linienteile.

8. Die Centralaxe einer Liniensumme. Eine beliebige Linien- summe mit den Koordinaten &, 2), 3, %, M, N lässt sich zusammen- setzen aus einem Poinsot’schen Paare und einem Linienteile, der

17) Mitgeteilt von Gergonne in seinen Ann. de math. 18 (1828), p. 372. Man vgl. auch den Aufsatz von A. F\ Moebius, J. f. Math. 4 (1829), p. 19 = Werke 3, p. 499,

8. Die Centralaxe einer Liniensumme. 9. Moment zweier Liniensummen. 137

gegen die Ebenenstellung des Poinsot’schen Paares normal ist. Die Linie dieses Linienteils heisst dann die Centralaxe der Liniensumme'®). Die Komponenten des Poinsot’schen Paares haben in diesem Falle die Form k&, kV), k3, also werden die Koordinaten des resultieren- den Linienteils

&, 9, B; I— IK, M kY, N— kB,

und aus der notwendigen Bedingungsgleichung zwischen diesen Ko-

ordinaten KK FYM—AY) HEN K8) 0 ergiebt sich TR ERD Al u u Er sodass die Ausdrücke für die Koordinaten des Linienteils in &, 9, 8, L,M,N bis zum dritten Grade ansteigen. Da andererseits das Moment dieses Poinsot’schen Paares z_LEHMI AND ve+y+3°

ist, so wird auch k = Diese Grösse soll in Anlehnung an J. Plücker

weiterhin der Parameter der Liniensumme heissen. Reduziert sich die

- Liniensumme auf einen einzelnen Linienteil, so ist % = 0 und also

k=0. 5% und R können, ohne dass &, 9, 3 alle drei Null werden, nur für imaginäre Liniensummen gleichzeitig verschwinden. Für ein

Poinsot’sches Paar, d. h. wenn &,9, 3 = 0, werden % und NR eben-

falls gleich Null und von der Centralaxe ist dann nur die Richtung festgelegt.

Für die Zusammensetzung der Liniensumme aus zwei Linien-

| teilen kann die Linie des einen Linienteiles willkürlich angenommen _ werden, dann ist dadurch die Länge dieses Linienteiles und Linie und

_ Länge des anderen Linienteiles eindeutig bestimmt. Die gemeinsame - Normale der beiden Linien trifft die Centralaxe der Liniensumme unter

; rechtem Winkel, und wenn r,, r, die kürzesten Abstände der beiden

- Linien von der Oentralaxe bedeuten, p,, 9, die Winkel, unter denen sie _ dieselbe kreuzen, so ist nach M. Chasles'”) r, tang 9, = r, tang p, —= k.

9, Das gegenseitige Moment zweier Liniensummen. Sind

[PQ] + [P’Q] und [P,Q,]-+ [Pı’Q,\] zwei Liniensummen, deren

Koordinaten mit &... und &,... bezeichnet seien, dann ist der

Ausdruck

18) Vgl. Poinsot, J. €c. polyt. 13 (1806), p. 182. 19) Paris C, R, 16 (1843), p. 1420,

138 IV2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

KU LYM HEN HLEHHMAHNE,

eine simultane Invariante dieser beiden Liniensummen. Er heisst ihr gegenseitiges Moment’) und hat den Wert

IPQPRQl+LPQP’Q]I+LPYPRQ]+LPWYP/’Q. Er ist also gleich der sechsfachen Summe aus den mit dem richtigen Vorzeichen genommenen Volumina der vier Tetraeder, welche sich aus je einem Linienteil der ersten Liniensumme zusammen mit einem Linienteile der zweiten Liniensumme bilden lassen®!), und diese Vo- lumensumme bleibt sonach ungeändert, wie auch die beiden Linien- summen aus je zwei Linienteilen zusammengesetzt werden mögen.

Tritt an die Stelle einer der beiden Liniensummen ein Linienteil, so reduzieren sich die vier Tetraeder auf zwei, und wenn die Länge des Linienteils insbesondere 1 ist, so heisst die Summe der beiden Tetraedervolumina das Moment der Liniensumme für die gerade Linie g, welcher der Linienteil angehört??). Diese Definition lässt sich auf den Fall erweitern, dass die Liniensumme sich aus beliebig viel ge- gebenen Linienteilen zusammensetzen soll. Nennt man dann R, die Länge eines dieser Linienteile, @, den Winkel, unter dem seine Linie die Linie g kreuzt und d, den kürzesten Abstand der beiden Linien, so ist das Moment der Liniensumme für die gerade Linie g durch den Ausdruck

SI R,d, sin g,

dargestellt. Verschwindet dieses Moment für eine gerade Linie, so heisst die Gerade nach Moebius eine Nulllinie®®) der Liniensumme. Ist r ihr kürzester Abstand von der Üentralaxe, der Winkel, unter dem sie dieselbe kreuzt, so wird rtangp—=%k, und in dieser Linie liegt kein Linienteil, der mit einem Linienteile einer anderen geraden Linie zusammen die vorliegende Liniensumme ergiebt*). Sind X, Y, Z, L, M, N die Koordinaten einer Nulllinie, so muss

20) Vgl. die im Text folgenden Erörterungen über Liniengeometrie und die weiter unten folgende Fussnote 40.

21) Vgl. @. Battaglini, Napoli, Rend. 8 (1869).

22) Dieser Begriff ist, seiner statischen Bedeutung nach, schon sehr alt. Man findet ihn bei L. Euler (Nova Acta Petropolitana 7 (1791)) und ausführlich erörtert bei Prony (Legons de mecanique), Poisson (Trait6 de mecanique) und Moebius (Lehrbuch der Statik).

23) Lehrbuch der Statik 1, $ 84—88 Werke 3, p. 178 ff.

24) Man kann den Sachverhalt auch dahin ausdrücken, dass in unendlicher Nachbarschaft eine Linie liegt, von der ein Linienteil zusammen mit einem

10. Das vekt. Moment einer Liniensumme u. d. Moebius’sche Nullsystem. 139 SXLMYLNZLIL+YMHEN-=0

werden, wenn &%... die Koordinaten der Liniensumme sind. Die Null- linien bilden nach Plücker's Ausdruck einen linearen Komplex, indem ihre Koordinaten der vorstehenden linearen Gleichung genügen (deren Koeffizienten die Koordinaten der zugehörigen Liniensumme sind). Der lineare Komplex ist durch fünf seiner Strahlen eindeutig be- stimmt, und insbesondere lässt sich die Centralaxe aus diesen fünf Strahlen konstruieren. Hier kommen wir also in Kontakt mit den Grundbegriffen der Liniengeometrie, deren 'ausführlichere Darlegung nach Bd. III gehört.

Die historische Entwickelung ist geradezu die gewesen, dass eine Reihe von Beziehungen für die Liniengeometrie von J. Plücker, F. Klein u. a. vorab entwickelt waren, ehe sie die für die Mechanik der starren Körper typische Ausbildung erhielten. Wir werden hier- auf in den Anmerkungen noch wiederholt zurückkommen, und er- wähnen hier betreffs der liniengeometrischen Entwickelungen nur Folgendes:

Sind U=0 und U’= 0 die Gleichungen zweier linearen Strahlen- komplexe, so nennt man alle Komplexe von der Gleichungsform U+IU’=0 ein Komplexbüschel und die gemeinsamen Strahlen eine lineare Strahlenkongruenz;, die Strahlen dieser Kongruenz treffen zwei bestimmte gerade Linien, die aber auch konjugiert imaginär werden oder zusammenfallen können. Drei lineare Strahlenkomplexe (und damit alle Komplexe des durch sie bestimmten Komplexbündels) haben im allgemeinen die eine Regelschar einer quadratischen Regel- fläche mit einander gemein.

10. Das vektorielle Moment einer Liniensumme für einen beliebigen Punkt und das Moebius’sche Nullsystem. Ist |PQ] ein Linienteil, P, irgend ein Punkt des Raumes mit den Koordinaten &y, Yo, 20, 80 legen die beiden Vektoren P,P und P,® eine ge- bundene Plangrösse fest (vgl. Nr. 3), deren Komponenten durch die Grössen L’, M’, N’ (vgl. Nr.5) gegeben sind. Diese Plangrösse soll das vektorielle Moment des Linienteils für den Punkt P, heissen. Tritt nun an die Stelle des Linienteils eine Liniensumme, deren Koordinaten &, 9, 3, &, M, N seien, so fügen sich die vektoriellen Momente aller einzelnen Linienteile der Liniensumme zu dem vektoriellen

Linienteile auf der Nulllinie die vorgelegte Liniensumme ergiebt, nur dass diese beiden Linienteile unendlich gross werden. Encyklop. d, math. Wissensch. IV 1, 10

140 IV 2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

Momente dieser letzteren selbst zusammen, und man findet für die Komponenten dieses Momentes®)

2 Bu +9, M—Xu+ Bao, NY + &y-

So erscheint an jeden Punkt des Raumes eine Plangrösse, nämlich das vektorielle Moment der Liniensumme, gebunden. Diese Plan- grösse kann man für jeden einzelnen Punkt P zur Anschauung bringen, indem man in einer bestimmten, durch ihn gelegten Ebene x ein Flächenstück von bestimmtem Inhalte %$ markiert. Dieser seinem absoluten Werte nach zu nehmende Inhalt % ist dann das skalare Moment der Liniensumme für den Punkt P.

Jede durch diesen Punkt gehende gerade Linie, welche gleich- zeitig in der Ebene x liegt, hat die Eigenschaft, dass für sie das Moment der Liniensumme verschwindet. Moebius nennt deswegen die Ebene x die Nullebene des Punktes P und diesen den Nullpunkt von n. Die Beziehung zwischen Nullpunkt und Nullebene ist wechsel- weise eindeutig®®). Bewegt sich ein Punkt auf einer geraden Linie, so dreht sich seine Nullebene um eine andere gerade Linie, und die beiden Linien sind solche zwei Geraden (siehe oben Nr. 8) dass sich durch zwei ihnen angehörende Linienteile die zugehörige Liniensumme ersetzen lässt. Das Moment der Liniensumme wird unter allen durch einen Punkt P gehenden geraden Linien für diejenige Linie p, welche auf der Nullebene x dieses Punktes senkrecht steht, am grössten, und zwar gleich dem skalaren Momente % des Punktes P. Für irgend eine andere Linie durch P wird es gleich % cos o, wenn & der Winkel ist, den diese Linie mit der Linie p bildet. Trägt man also das Moment auf allen den Linien, die durch P gehen, von diesem Punkte aus als Längen auf, so erfüllen die Endpunkte der so gewonnenen Strecken eine Kugel vom Durchmesser %, welche in dem Punkte P dessen Null- ebene x berührt ?”).

25) Durch diese Komponenten definiert, spielt das Moment schon bei Prony eine grosse Rolle. Er nennt aber (Legons de mecanique 1, p. 200) P. 5. Laplace als den eigentlichen Urheber der Theorie, mit dessen Prinzip der invariablen Ebene sie in der That zusammenhängt (M6canique celeste 1, Paris 1799, ch. 5). Vgl. hierzu auch die Abhandlung von Poinsot: Sur le plan invariable du monde, die den späteren Auflagen seiner El&ments de statique angehängt ist.

26) Diese Punkt-Ebenenverwandtschaft ist schon vor Moebius von dem Italiener G@. Giorgini (Modena, Mem. della Soc. Ital. detta dei Quaranta 20 (1828), p- 243; vgl. auch ebenda 21 (1836), p. 1), ebenfalls von der Poinsot’schen Statik aus, gefunden worden.

27) Um den Nullpunkt P einer Ebene x für eine vorgelegte Liniensumme zu finden, hat E. Carvallo (Nouyv. ann. (3) 12 (1893), p. 454) das folgende Verfahren

nun

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10. Das vekt. Moment einer Liniensumme u. d. Moebius’sche Nullsystem. 141

Das Moebius’sche Nullsystem steht zu der Centralaxe der Linien- summe in einer einfachen Beziehung, die Moebius selbst gefunden hat. Ist nämlich r der Abstand des Nullpunktes von der Centralaxe, so geht die Nullebene durch die Linie dieses Abstandes hindurch und bildet mit der Centralaxe einen Winkel g, der aus der Gleichung

rtangp=k

zu bestimmen ist (wobei der Sinn, in welchem dieser Winkel positiv zu rechnen ist, vom Koordinatensysteme abhängt). Die Ebene, welche einem gegebenen Punkte als Nullebene zugeordnet ist, bleibt ihm also erstens zugeordnet, wenn man Punkt und Ebene um ein beliebiges Stück in der Richtung der Centralaxe verschiebt oder durch einen beliebigen Winkel um die Centralaxe dreht. Bewegt sich zweitens der Punkt auf einer Schraubenlinie, deren Axe die Centralaxe ist und deren Ganghöhe den für alle Lagen des Punktes konstanten Betrag 2x%k hat, so bleibt die Nullebene immer senkrecht zu der Bewegungsrichtung des Punktes gestellt. Auf solchen Schraubenlinien bewegen sich aber alle Punkte des Raumes bei einer bestimmten Schraubenbewegung um die Centralaxe, sodass diese Schraubung der Liniensumme in eindeutiger Weise zugeordnet ist, sofern man nicht nur von ihrer Geschwindigkeit, sondern auch von ihrem Sinne ab- sieht, indem die Bewegung auch immer in entgegengesetzter Rich- tung erfolgen kann. Betrachten wir von dieser Bewegung einen Teil, der in einer so kurzen Zeit dt erfolgt, dass die Wege aller Punkte von einer geraden Linie nur unmerklich abweichen, so wird die Länge dieses Weges für einen beliebigen Punkt P dem skalaren Momente der Liniensumme für diesen Punkt proportional, und die Richtung des Weges ist gleichzeitig zu der Ebene des vektoriellen Momentes normal. Das letztere wird also durch die Wegstrecke des Punktes genau so repräsentiert, wie oben die Plangrösse durch ihren ergänzenden Vektor”®).

angegeben: Man bringe in dem Schnittpunkte der Axe einer jeden Kraft mit der Ebene x eine Masse an, welche der Projektion der Kraft auf die zu der Ebene senkrechte Richtung proportional ist, dann ist der Schwerpunkt aller dieser Massen der Nullpunkt P.

28) Um dieses nachzuweisen, ist nur nötig, die Liniensumme in den Linien- teil auf der Centralaxe von der Länge R und das dazu normale Poinsot’sche Paar von dem Momente kR zu zerlegen. Dann zerfällt auch das vektorielle Moment der Liniensumme für einen beliebigen Punkt, der im Abstande r von der Centralaxe liegt, in zwei Teile. Der Vektor, welcher in der angegebenen Weise den ersten Teil repräsentiert, ist zu der Centralaxe normal und hat die Länge Rr, der Vektor, welcher dem anderen Teile entspricht, ist zu der Central-

10*

142 IV2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

In neuester Zeit hat E. Study (Dynamen, 1. Lieferung) eine syste- matische Neudarstellung des ganzen hier berührten Gebietes in seiner Bedeutung für die Mechanik begonnen, wobei er die Einzelfälle von dem jeweiligen allgemeinen Falle sehr viel sorgfältiger absondert und studiert, als es in dem vorliegenden, nur die grossen Züge wieder- gebenden Bericht geschieht. Es ist unmöglich gewesen die Study'schen Entwickelungen hier einzuarbeiten, zumal dieselben noch nicht voll- ständig vorliegen und der Verfasser eine von der sonst üblichen vielfach abweichende Terminologie gebraucht. Um so nachdrücklicher sei auf das Study'sche Werk an dieser Stelle hingewiesen; dieser Hinweis möge insbesondere auch für den nun folgenden Abschnitt II des vor- liegenden Referates mit gelten.

II. Die ersten Sätze der Kinematik des starren Körpers und die Ball’schen Schrauben.

11. Jede unendlich kleine Bewegung eine Schraubung. Durch die in Nr. 10 gegebenen Bemerkungen sind die vorhergehenden Ent- wickelungen mit der Kinematik in Verbindung gebracht, indem an die Stelle einer Liniensumme eine unendlich kleine Bewegung oder Ver- rückung des Raumes getreten ist. Die so gewonnene Bewegung ist eine Schraubung um die Centralaxe der Liniensumme. Sie ist indessen durch die Liniensumme nicht eindeutig bestimmt, vielmehr darf noch für irgend einen Punkt, wie schon gesagt, innerhalb der Grenzen des Unendlichkleinen die Grösse und der Sinn der Verschiebung, die er erleiden soll, willkürlich festgesetzt werden. Was. speziell den Sinn angeht, so kann man z. B. verabreden, dass, in der Richtung des in der Centralaxe liegenden Linienteiles gesehen, die in der Schraubung enthaltene Drehung in dem Sinne des Uhrzeigers erfolgen soll; es wird dann auch, in der Richtung der in der Schraubung enthaltenen Translation gesehen, der Sinn des zur Centralaxe normal gestellten Poinso’schen Paares mit dem Sinne des Uhrzeigers zusammenfallen.

In erster Linie interessiert die Frage, ob die Schraubenlinien, welche bei der in Frage stehenden Schraubung von den Punkten des Raumes durchlaufen werden, links oder rechts gewunden sind. Wir denken uns das rechtwinklige Koordinatensystem immer so gewählt, dass ein in der Richtung des positiven z aufrecht gestellter Beobachter,

axe parallel und hat die Länge kR. Der aus diesen beiden resultierende Vektor repräsentiert in der That das Bahnelement des Punktes bei einer Schraubung um die Centralaxe von der Ganghöhe Ark.

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11. Jede unendlich kleine Bewegung eine Schraubung. 143

wenn er in die Richtung des positiven x sieht, die positive Seite der y-Axe zur Rechten hat. Es gehören dann zu positivem k Links- schrauben, zu negativem k Rechtsschrauben. Bei der Linksschraube ist für einen längs der Axe aufrecht stehenden Beobachter mit einer Drehung von vorne nach rechts eine Verschiebung nach oben ver- knüpft und bei der Rechtsschraube eine Verschiebung nach unten.

Der noch fehlende Nachweis, dass jede unendlich kleine Be- wegung eines starren Körpers wirklich mit einer Schraubung überein- kommt®®), lässt sich am einfachsten führen, indem man die Formeln für eine solche Bewegung aufstellt. Ist O ein beliebiger Punkt des Körpers, der zum Koordinatenursprung gewählt wird, so muss sich die unendlich kleine Bewegung auf jeden Fall erreichen lassen durch eine unendlich kleine Parallelverschiebung und eine unendlich kleine Drehung des Körpers um eine durch O gehende Axe. Durch die Parallelverschiebung erleiden die Koordinaten aller Punkte dieselben Änderungen, die mit udt, vdt, wdt bezeichnet seien. Ist ferner odt der unendlich kleine Winkel der Drehung und sind p/e, g/e, r/o die Richtungscosinus der Drehungsaxe, so ds !=-pP+ d-+r, dann werden die Komponenten der Verrückung, die bei der unend- lich kleinen Bewegung ein beliebiger Punkt des Körpers, mit den Koordinaten &,, Yo, 2,, erleidet:

do, = (u —ry + 92) dt, dy = (V P2%y z v2) dt, de, = (W— 4%, + Pyo) A.

Soll nun die Bewegung zu einer Liniensumme mit den Koordinaten %Y, 8 U MN gehören, so muss die so definierte Verrückung in der angegebenen Weise auf das vektorielle Moment der Liniensumme bezogen sein. Vergleicht man daraufhin die angeschriebenen Glei- chungen für dx,, dy,, dz, mit den Ausdrücken für die Komponenten des vektoriellen Momentes (Nr.10), so sieht man, dass die verlangte Beziehung in der That erreicht wird, indem man unter Wegwerfung des Faktors dt setzt:

vu, M=ov, N=w, X=p, 9-14, der. Aus der gegebenen Betrachtung folgt zugleich, dass die beiden Schrau-

29) Diesen Satz gab zuerst @. Mozzi in einer kleinen Schrift: Discorso matematico sopra il rotamento momentaneo dei corpi, Napoli 1763. Der Beweis Mozzis ist aber nicht richtig. Mit ausreichender Begründung veröffentlichte A. Cauchy denselben Satz, ohne Mozzi’s Arbeit zu kennen, in seinen Exercices de mathematiques 2, Paris 1827, p. 87 = Oeuvres (2) 7, Paris 1889, p. 94.

144 IV2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

bungen, die auf diese Weise bei Benutzung desselben dt zwei ge- gebenen Liniensummen entsprechen, nach einander ausgeführt die Schraubung ergeben, welche der Summe dieser beiden Liniensummen zugeordnet ist. Einem einzelnen Linienteil entspricht eine Drehung. Unendlich kleine Bewegungen sind im Gegensatze zu endlichen immer vertauschbar; sie addieren sich wie die entsprechenden Liniensummen.

12. Analogie der Schraubungen und Liniensummen %), Nach dem (resagten muss sich jeder Satz des ersten Abschnittes über Liniensummen auf die Kinematik der unendlich kleinen Bewegungen eines starren Körpers übertragen lassen’). Wir geben nur die ein- fachsten Sätze, indem wir übrigens auf IV 3 (Schönflies) verweisen.

1) Wie jede Liniensumme aus zwei Linienteilen, so lässt sich jede Schraubung aus zwei einfachen Drehungen zusammensetzen. Die Axe u der einen Drehung kann beliebig angenommen werden, dann ist die konjugierte Rotationsaxe sowie von beiden Drehungen Grösse und Sinn bestimmt. Bei der resultierenden Schraubung er- fährt die Linie u eine blosse Drehung um die Linie v. Alle Punkte von «% verschieben sich also normal zu der konjugierten Rotationsaxe v, Die Linien dieser Verschiebungen erfüllen ein Paraboloid, und die Normalen desselben in den Punkten von u ein zweites Paraboloid; dieses wird von denjenigen normalen Sekanten der Linie u gebildet, welche die Linie v treffen. Der Scheitel des erstgenannten Para- boloids ist der Punkt, in dem die gemeinsame Normale der Schrau- bungsaxe und der Linie « die letztere trifft, und die Tangentialebene in diesem Scheitel ist der Schraubungsaxe parallel, während sie gleich- zeitig die Linie u selbst enthält.

2) Wie zwei Kräfte, die in zwei sich schneidenden oder in parallelen Linien wirken, zu einer resultierenden Kraft, setzen sich auch zwei Drehungen um sich schneidende Axen wieder zu einer Drehung zusammen, und ebenso zwei Drehungen um parallele Axen. Für un- endlich kleine Drehungen gilt sonach das Parallelogramm- und das Hebelgesetz, sobald man sich jede Drehung durch ein Stück ihrer Axe,

30) Die erste richtige Darstellung der Analogie, welche die Linienteile und unendlich kleine Drehungen in ihrer Zusammensetzung zeigen, gab Moebüus, J. f. Math. 18 (1838), p. 189 Werke 1, p. 545.

31) Die folgenden Sätze rühren zum grossen Teile von Chasles her (Paris C. R. 16 (1843), p. 1420). Man vgl. die zusammenfassenden Darstellungen von A. Mannheim, Geometrie cinematique, Paris 1894; A.Schoenflies, Geometrie der Bewegung, Leipzig 1886, und das Referat IV 3 von Schoenflies; @. Koenigs, Legons de cinematique, Paris 1897; endlich E. Study, Dynamen.

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12. Analogie der Schraubungen und Liniensummen. 145

das dem unendlich kleinen Drehungswinkel proportional ist, repräsentiert denkt. Zwei Drehungen um parallele Axen ergeben nur dann keine resultierende Drehung, wenn sie gleiche Grösse, aber entgegengesetzten Sinn haben. Dann vereinigen sie sich vielmehr zu einer Parallel- verschiebung oder Translation, deren Richtung senkrecht zu beiden Drehungsaxen ist, während ihre Grösse gleich dem Produkte aus dem Winkel der Drehungen und dem Abstande ihrer Axen wird. Fine Translation ist ein freier Vektor, und beliebig viele Translationen setzen sich nach den Regeln, die für die Addition der Vektoren gelten, immer wieder zu einer Translation zusammen.

3) Dem vektoriellen Momente einer Liniensumme für einen Punkt entspricht die Verrückung, die der Punkt bei der zugehörigen Schrau- bung erfährt. Dem Momente der Liniensumme für eine gerade Linie ist die Grösse der Verschiebung analog, die bei der Schraubung die Punkte der geraden Linie in der Richtung derselben erfahren. Diese Verschiebung ist für alle diese Punkte in der That gleich gross. Jeder Linie, für welche das Moment verschwindet, entspricht sonach eine Linie, deren sämtliche Punkte sich normal zu ihr verschieben’?). Der geraden Linie, für welche unter allen durch einen bestimmten Punkt gehenden Linien das Moment der Liniensumme am grössten wird, ist die Linie analog, in welcher sich der angenommene Punkt verschiebt; andererseits erfährt dieser Punkt unter allen Punkten einer solchen geraden Linie die kleinste Verschiebung. Alle diese Linien bilden einen speziellen quadratischen Komplex °®).

4) Die Linie p, in der sich ein Punkt P verschiebt, steht senkrecht zu der aus P auf die Centralaxe gefällten Normalen /, und ist r der Abstand des Punktes P von der Centralaxe, so wird

für den Winkel @, unter dem die Linie » die Centralaxe kreuzt, r

tangp =. Man findet dann auf demselben Lote 2 der Centralaxe

im Abstande "= kcotgp von der letzteren einen Punkt P’, der sich in einer zu der Linie p senkrechten Linie p’ verschiebt. Die beiden Linien p und p haben die Eigenschaft, dass sich die Schraubung durch zwei einfache Drehungen um sie ersetzen lässt. Legt man durch eine von ihnen, etwa p‘, und das Lot / der Central- axe eine Ebene x, so steht diese auf der anderen Linie p senkrecht.

32) O. Rodrigues, J. de math. 5 (1840), p. 380.

33) Den besonderen Charakter dieses Komplexes erörtert A. Schoenflies (Zeitschr. f. Math. u. Phys. 28 (1883), p. 229), siehe auch Study (Math. Ann. 39 (1891) p. 486 ff). Vgl. den folgenden Artikel IV 3 (Schoenflies).

146 IV 2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

und wird von derselben in ihrem Nullpunkte P getroffen. Die Linie p',, die in der Ebene x liegt, ist dieser Ebene in eindeutiger Weise zugeordnet, und in ihr wird die Ebene x von der unendlich benach- barten Ebene geschnitten, in die sie durch die Schraubung übergeht. p’ ist nach Ohasles’ Ausdruck die charakteristische Linie der Ebene x.

Diese sämtlichen Sätze lassen sich natürlich auch unabhängig von der Theorie der Liniensummen und ihrer Koordinaten rein kinematisch beweisen.

13. Die Ball’schen Schrauben. Um das den beiden Begriffen Liniensumme und Schraubung Gemeinsame und andererseits wieder das Unterscheidende auszudrücken, kann man beide unter der Be- zeichnung Schraubengrösse zusammenfassen und die Schraubung als Schraubengrösse erster Art von der Liniensumme als Schraubengrösse zweiter Art unterscheiden. Der Unterschied der beiden @rössenarten (2, 9, r, u, v, w) und (&, 9, 3, U, M, N) offenbart sich bei Koordinaten- transformation. Während ihre Koordinaten sich bei Parallelverschiebung und Drehung des Koordinatenkreuzes gleichartig verhalten, wechseln bei Inversion u, v, w ihr Zeichen, während p, q, r ungeändert bleiben, und wechseln bei der Liniensumme umgekehrt die drei ersten Koordi- naten &, 9), 3 ihr Vorzeichen, während £, M, N ungeändert bleiben #).

Die Schraubengrössen erster Art finden in der Kinematik des starren Körpers ihre unmittelbare Anwendung, wie wir gerade sehen. Aber die Schraubengrössen zweiter Art sind für die Mechanik des starren Körpers nicht minder wichtig, indem sie das allgemeinste an einem solchen Körper angreifende Kräftesystem darstellen. Sie sind dann nach einem Plücker’schen Ausdruck als Dyname zu be- zeichnen. Dies wird weiterhin (in dem der Statik gewidmeten Teile III des vorliegenden Referates) ausführlich zu behandeln sein; es sei aber schon hier erwähnt, um beiläufig darauf Bezug nehmen zu können.

Sir Robert Stawell Ball”) hat nun den Gedanken verfolgt, in der Gesamtheit aller Schraubenlinien mit gemeinsamer Axe und Ganghöhe, die sich durch das grob sinnliche Bild einer Wendeltreppe veran- schaulichen lässt und die er einfach Schraube (screw) nennt, den ge- meinsamen Träger für die Schraubungen und Dynamen®®) aufzu-

34) Der Ausdruck A’=&u +9 +3w+Lp+Mg+ Nr ist also ein Skalar erster Art. Diese Verhältnisse erörtert F. Klein, Zeitschr. f. Math. u. Phys. 47 (1902); vgl. auch die Ausführungen weiter unten in Nr. 28.

35) Die ersten Mitteilungen finden sich im Quart. J. of math. 10 (1870), p. 220; Dublin, Trans. 25 (1871), p. 137; Lond. Phil. Trans. 164 (1874), p. 15. Vgl. für alles Weitere die zusammenfassende Theory of screws, Cambridge 1900.

36) Schraubung ist bei Ball twist, Dyname wrench. Wrench und twist

13. Die Ball’schen Schrauben. 147

stellen, und daher rührt seine Definition der Schraube als einer geraden Linie (der Axe), mit der ein Parameter % (pitch)?”) ver- knüpft ist. Ist die Schraube gegeben, so gehören zu ihr unendlich viele Schraubungen, die sich völlig festlegen lassen, indem man den Winkel oder die Winkelgeschwindigkeit 0°) der in ihnen ent- haltenen Drehung um die Schraubenaxe, seiner Grösse und seinem Sinne nach, angiebt. Die Grösse oder Geschwindigkeit der Translation in der Richtung der Axe ist dann r= ke. Ebenso wird jede Linien- summe oder Dyname, die zu einer gegebenen Schraube gehört, völlig fixiert durch die Länge R des in der Axe gelegenen Linienteils, die man als Intensität der Liniensumme bezeichnen könnte; das Moment des dazu normalen Poinso’schen Paares wird dann F=KN.

Zu jeder Schraube findet sich ein linearer Strahlenkomplex, der von den Nulllinien der zu der Schraube gehörigen Liniensumme ge- bildet wird. Umgekehrt ist die Ball’sche Schraube durch diesen Linienkomplex völlig definiert. So steht die Schraubentheorie im un- mittelbarsten Zusammenhange mit der Liniengeometrie®); vor dieser hat ihre Vorstellungsweise nur den Vorzug einer grösseren Anpassung an den Ideenkreis der Mechanik und der in ihr gewöhnlich zur Ver- wendung kommenden Zweige der Mathematik. Zudem beschränkt sich Ball immer auf die sogenannten allgemeinen Fälle und auf die im Reellen unmittelbar hervortretenden Verhältnisse. Auch hierdurch wird seine Darstellung für manchen Leser leichter zugänglich, bedarf

verdeutscht Fiedler (Geometrie und Geomechanik) mit Winder und Windung; Schell gebraucht (Theorie d. Bewegung) statt Winder wieder die Bezeichnung Dyname. Study (Dynamen) verwendet die Bezeichnungen Motor und Impulsor. Der Ausdruck twist war in England auch sonst üblich, vgl. z. B. Thomson und Tait, Treatise on natural philosophy, 1. Aufl., Oxford 1867.

37) Bei italienischen Autoren passo. Fiedler verwendet dafür (Geometrie und Geomechanik) den Ausdruck Pfeil, Schell (Theorie d. Bewegung) sagt Pfeil, während er die Schraube auch einen Axenparameter nennt.

38) In dem Worte Drehung liegt ein Doppelsinn, indem man einmal nur die Anfangs- und Endlage des Körpers ins Auge fasst, das andere Mal auch die Zeit, in der die Bewegung erfolgt, berücksichtigt. Denselben Doppelsinn kann man auch dem Worte Schraubung lassen. Die Schraubungskoordinaten sollen aber, wo sie im Text vorkommen, ein- für allemal Geschwindigkeitskomponenten sein, und bedeutet also die Schraubung gelegentlich eine unendlich kleine Ver- rückung, so sollen dementsprechend die Komponenten derselben noch durch eine sehr kleine Zeit dt, die als Einheit festgesetzt werden kann, dividiert werden.

39) Dieser Zusammenhang ist der Hauptgegenstand des Buches von J. San- tschewsky, Theorie der Schrauben und ihre Anwendung in der Mechanik (russisch), Odessa 1889. Vgl. auch einen kleinen Aufsatz von K. Küpper, Monatshefte f. Math. 1 (1890), p. 95.

148 IV2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

dann aber freilich vom mathematischen Standpunkte noch der ge- naueren Durcharbeitung °°*).

Sind %k und %’ die Parameter zweier Schrauben, d der kür- zeste Abstand ihrer Axen, @ der Neigungswinkel derselben, sind ferner g und die Amplituden zweier zu diesen Schrauben gehören- den Schraubungen, deren Koordinaten mit «... und «... bezeichnet seien, so findet man

put trwW+up+og + wr = g0{(k + k’)cosp dsing).

Der eingeklammerte Faktor von 00°, der von den Amplituden unab- hängig ist, heisst nach Ball der virtuelle Koeffizient der beiden Schrauben). Wenn er verschwindet, heissen die beiden Schrauben bei ihm reziprok. Eine Schraube lässt sich so bestimmen, dass sie zu fünf gegebenen reziprok ist.

14. Schraubenkoordinaten und allgemeinste lineare Trans- formation derselben. Die sechs Grössen p, q, r, u, v, w lassen sich, sofern sie nicht ihren absoluten Werten, sondern bloss ihren Ver- hältnissen nach festgelegt sind, als Schraubenkoordinaten betrachten. Statt ihrer kann man aber irgend welche homogene, lineare Ver- bindungen von ihnen einführen. Liniengeometrisch wurde dies von F. Klein*‘) ausgeführt. Ball gelangt dazu direkt auf folgende Weise®?), Eine beliebige Schraubung 2 lässt sich ersetzen durch sechs Schrau- bungen, welche zu sechs gegebenen Schrauben @,, @, ..., @, ge- hören. Die Amplituden &,, &,..., &, dieser sechs Schraubungen nennt Ball dann die Komponenten der Schraubung:® nach den sechs gegebenen Schrauben. Führt man ausser den letzteren noch die zu je fünf von ihnen reziproken Schrauben n,, 9, -.., 7, ein und be- zeichnet mit [®,n,] den virtuellen Koeffizienten von ®, und n,, mit e

39*) Vgl. E. Study (Dynamen), sowie den bereits genannten Aufsatz von F' Klein, Zeitschr. f. Math. u. Phys. 47 (1902).

40) Die Formel des Textes als gegenseitiges Moment zweier linearer Strahlenkomplexe gab zuerst (1869) F. Klein, Math. Ann. 2 (1870), p. 366. Ver- schwindet derselbe, so nennt Klein die Komplexe in Involution (ebenda, p. 198). Involutorische lineare Komplexe entsprechen also reziproken Schrauben. Ins- besondere hat Klein dort sechs wechselseitig in Involution liegende Komplexe. Das entspricht dem später von Ball eingeführten korreziproken System von sechs Schrauben.

41) Math. Ann. 2 (1870), p. 198.

42) Es ist hier noch darauf hinzuweisen, dass Ball selbst zur Festlegung einer Schraube eigentlich nicht die Verhältnisse der Koordinaten benutzt, sondern statt dessen die Intensität der Schraubung = 1 nimmt (wobei natürlich eine Unbestimmtheit im Vorzeichen bleibt).

14. Schraubenkoordinaten u. allgemeinste lineare Transformation derselben. 149

die Amplitude der Schraubung 2, mit o ihre Schraube, so werden die sechs Komponenten:

= en) B=1,2,..5,0)

Die Verhältnisse derselben sind als die allgemeinen Koordinaten der zu der Schraubung 2 gehörenden Schraube ® anzusehen, ihre abso- luten Werte fixieren die Schraubung selbst*?). Die letztere lässt sich durch das Symbol bezeichnen, indem so ® zugleich eine Schraubung von der Amplitude 1 bedeutet, und wenn dann 8,’ die Koordinaten einer zweiten Schraubung mit der Amplitude o’ sind, so haben wir unter 0@ + _0'@ die Schraubung mit den Koordinaten &, + 8,’ zu verstehen. Die Amplitude o ist eine quadratische Form der sechs Koordinaten &,, welche im einzelnen Falle berechnet werden muss. Für den virtuellen Koeffizienten zweier Schrauben ® und @’ ergiebt sich dann ein Ausdruck von der Form

DTe, 0,68,

>

[00] = —,

wo |®,®,] den virtuellen Koeffizienten von ®

und ®, bezeichnet.

Besonders ausgezeichnet ist nun der Fall, wo die sechs Schrauben n„ mit den sechs Schrauben ©, zusammenfallen. Solche sechs Schrauben bilden nach Ball’s Ausdruck ein korreziprokes System. Der virtuelle Koeffizient [o,n,] wird dann dem doppelten Parameter k, der Schraube ®, gleich und man findet demnach für diese be- sonderen Schraubenkoordinaten:

Sind 8,’ wieder die Koordinaten einer zweiten Schraubung 0’@’, so ergiebt sich für den virtuellen Koeffizienten der beiden Schrauben o und o':

[4 1 [00] eh, 2 und hieraus für den Parameter %k,, einer Schraube o: 1 k, u oe? Sk, & 2

Eine Schraube reduziert sich auf eine gerade Linie (als Axe der Drehung, auf die sich die zugehörige Schraubung reduziert), wenn

für ihre Koordinaten 8, die quadratische Form D%.&% verschwindet;

43) Ball, Dublin, Trans. 25 (1874), p. 259; Theory of serews, chap. IV.

150 IV2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

sie ist eine Links- oder Rechtsschraube, je nach dem Vorzeichen des Wertes, den diese Form erhält“®).

15. Lineare Schraubensysteme und ihre Bedeutung in den Fällen beschränkter Bewegungsfreiheit eines starren Körpers. In der Ball’schen Schraubentheorie spielt die Betrachtung linearer Schraubensysteme eine bedeutende Rolle. Diese sind auf folgende Art zu definieren: Wenn w, ©",...,o®% (n<6) irgend welche Schraubungen von der Amplitude 1 sind, so bilden alle Schraubungen eW +o’o’+:-:+ 0m” ein lineares System n‘” Stufe; dasselbe lässt sich auch durch 6 n homogene lineare Gleichungen zwischen den Koordinaten der Schraubungen festlegen. Das zugehörige Schrauben- system von » 1 Dimensionen lässt sich ebenfalls als ein System n'" Stufe bezeichnen. Es ist durch » Schrauben eindeutig bestimmt, und wenn n + 1 Schrauben demselben linearen System n‘” Stufe an- gehören, so lassen sie sich stets als Träger (oder Bahnen) von eben- soviel Schraubungen ansehen, die zusammen die Lage des Körpers nicht ändern. Die Schrauben, welche zu sämtlichen Schrauben eines linearen Systemes n‘* Stufe reziprok sind, bilden selbst ein lineares System (6 n)” Stufe, welches das zu dem ersten reziproke System genannt wird.

Wenn nun ein Körper in seiner Bewegung irgend welchen Hem- mungen unterliegt, so müssen die Schraubungskoordinaten u, v, w, p, 9, r, welche mit dt multipliziert die in der sehr kurzen Zeit dt erfolgende Lagenänderung des Körpers angeben, für jeden Zeitpunkt i gewissen Bedingungsgleichungen genügen. Diese Bedingungen wird man im allgemeinen für jeden Zeitmoment als homogene lineare Gleichungen ansetzen können. Wenn man nämlich die Gleichungen, welche zufolge der Hemmungen zwischen irgend sechs, die Lage des Körpers in jedem Augenblicke festlegenden Grössen®°) bestehen, nach der Zeit differentiiert und beachtet, dass die Grössen u, v, w, p, q, r mit den Diffe- rentialquotienten jener sechs Grössen teils möglicherweise identisch, teils lineare Funktionen von ihnen sind, so sieht man, dass die in Rede stehenden partiellen Derivierten der Bedingungsgleichungen zufälligerweise verschwinden müssten, wenn die Hemmung in einem bestimmten Augenblicke nieht durch lineare Gleichungen zwischen den sechs Schraubungskoordinaten dargestellt werden sollte. Lässt

44) Vgl. wieder F. Klein, Math. Ann. 2 (1870), p 198.

45) Etwa den Koordinaten des Schwerpunktes und drei Euler’schen Win- keln 9, %, # zur Fixierung der Drehung, die der Körper um diesen Schwerpunkt erfahren hat.

E

15. Lineare Schraubensysteme etc. 16. Schraubensysteme zweiter Stufe. 151

man diese Ausnahmefälle, welche die Ball’sche Theorie nicht be- rücksichtigt, bei Seite, so gelangt man also zu der Theorie der linearen Schraubensysteme, indem man die Gesamtheit aller möglichen Be- wegungen betrachtet, welche der Körper bei verschiedenartiger Hem- mung seiner Bewegungsfreiheit in einem gegebenen Augenblicke aus- führen kann.

Die Beschreibung des linearen Schraubensystems n‘” Stufe ge- schieht bei Ball nun so, dass er unter den Axen aller Schrauben des Systems immer diejenigen zusammenfasst, deren zugehörige Schrauben den gleichen Parameter haben. Diese Axen bilden jedesmal ein lineares Strahlensystem, und die Axen sämtlicher Schrauben des Schrauben- systems setzen sich aus diesen unendlich vielen Strahlensystemen derart zusammen, dass sie ein quadratisches Strahlensystem der nächst höheren Stufe bilden. Die Theorie hat so einen wesentlich geometri- schen Charakter, ihre Sätze haben aber doch eine bestimmte kinema- tische Bedeutung und mögen insofern hier kurz berührt werden.

16. Schraubensysteme zweiter Stufe. Das Cylindroid. Hat ein Körper Freiheit zweiter Stufe, so kann sich ein beliebiger Punkt in ihm momentan in einer Ebene verschieben. Ist für einen solchen Punkt die Verschiebungsrichtung festgelegt, so ist sie es auch für jeden anderen Punkt. Nur für die Punkte zweier gewissen Linien « und v, die aber auch zusammenfallen oder konjugiert imaginär werden können, ist die Fortschreitungsrichtung von vornherein völlig bestimmt. Jede Bewegung, die der Körper ausführen kann, lässt sich aus zwei Ro- tationen um diese Linien zusammensetzen, sodass letztere konjugierte Rotationsaxen für jede der Bewegungen sind; dies ist die einfachste Definition der in Betracht kommenden zweifach unendlich vielen Be- wegungen. Im allgemeinen erfüllen die Linien, die mit einer ge- gebenen Linie 9 zusammen zwei konjugierte Rotationsaxen für eine der möglichen Bewegungen bilden, eine quadratische Regelfläche, die 9 enthält, so dass es unter diesen Bewegungen eine giebt, bei der g sich selbst konjugiert ist“). Die Ebene, in der sich ein beliebiger Punkt verschieben kann, steht senkrecht auf der Linie, die von diesem Punkte aus so gezogen wird, dass sie die beiden Linien « und » trifft. Diese Sätze sind von @. Schönemann gegeben worden").

Betrachten wir das zugehörige lineare Schraubensystem zweiter Stufe, das wir kurz als eine Schraubenschar bezeichnen wollen, so erfüllen die Axen der Schrauben einer solehen Schar eine besondere

46) Thevenet, These Paris 1886. Vgl. den Artikel IV 3 (Schoenflies). 47) Berl. Ber. 1855, p. 255 und J. f. Math. 90 (1880), p. 43.

152 IV2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e, starren Körpers. .

Regelfläche dritten Grades, welche nach A. Cayley als Oylindroid be- zeichnet wird®). Um die Gleichung desselben in ihrer einfachsten Form zu erhalten, hat man die gemeinsame Normale der Axen zweier Schrauben, welche die Schar bestimmen sollen, zur z-Axe zu wählen. Dann lassen sich auf eine einzige Art der Koordinatenursprung und die Richtungen der &- und y-Axe so annehmen, dass die Koordinaten einer beliebigen Schraubung des zu der Schraubenschar gehörigen Systems von Schraubungen den vier Gleichungen genügen)

uw p—=0, v—-d=0I, v0, r=(. Indem wir dann m—=Y, («— ß) setzen, wird die Gleichung des

Cylindroids (a + yf) = may; alle Oylindroide sind also einander ähnlich.

Die Koordinaten p und q der Schraubung können willkürlich ge- wählt werden; die anderen vier Koordinaten ergeben sich dann aus den obigen Gleichungen. Die Axen aller Schrauben der Schar treffen die z-Axe unter rechten Winkeln, und lassen sich durch die zwei Gleichungen

a er BRETT Berg darstellen, während der Parameter der zugehörigen Schraube PER.2 du ui 2 +

wird. Setzt man also 7 —= cotgo, so wird für den Schnittpunkt der

Schraubenaxe mit der z2-Axe z= msin2® und der Schraubenpara-

meter k=k,+ m cos2o,

wo k, der Abkürzung halber für 4(@«+ ß) gesetzt ist.

48) Dasselbe fand @. Battaglini (Napoli, Rend. 8 (1869), p. 87), indem er den Ort der Centralaxen aller Dynamen (Liniensummen) suchte, die sich aus zwei in gegebenen Linien wirkenden Kräften (Linienteilen) zusammensetzen. Diese Erzeugung des Cylindroids ist ersichtlich ein Spezialfall der im Texte gegebenen. Die letztere fällt übrigens mit der Betrachtung, die Plücker (Neue Geometrie des Raumes, p. 97) schon vor Battaglini auf das Cylindroid geführt hat, dem Wesen nach zusammen, nur ersetzt Plücker die Schrauben durch die zugehörigen linearen Strahlenkomplexe. Er bezeichnet das Cylindroid als Conoid und hat von ihm ein Modell konstruiert. Neuerdings ist ein Modell bei M. Schilling (Halle) er- schienen. Bei Ball tritt das Cylindroid zuerst in der Abhandlung Dublin, Trans. 25 (1871), p. 137 auf. Cayley hatte den Namen Cylindroid vorgeschlagen, weil er eine Art gefunden hatte, dasselbe mit Hülfe eines Cylinders zu kon- struieren.

49) Vgl. D. Padeletti, Napoli, Rend. 22 (1883).

ein

16. Schraubensysteme zweiter Stufe. Das Cylindroid. 153

Wenn « und ß entgegengesetztes Zeichen haben, ergeben sich zwei reelle Werte von © und damit zwei reelle Strahlen und v des Cylindroids, für welche % verschwindet und von denen bei allen Schraubungen der zugehörigen Schar der eine um den anderen

ohne Gleitung gedreht wir. Für = 0 undo z erhält % seinen

grössten und kleinsten Wert. Die zugehörigen Linien sind die x- und y-Axe und sonach die Axen zweier Schrauben der Schar, die auch sich gegenseitig (und nicht bloss die 2-Axe) unter rechtem Winkel schneiden. Sie sollen die Hauptaxen des Cylindroids heissen. Zu jeder Schraube der Schar gehört eine zweite mit demselben Parameter k. Die Axen dieser beiden Schrauben wollen wir kon- jugierte Linien des Cylindroids nennen. Sie kreuzen die Hauptaxen immer unter gleichen, aber in entgegengesetztem Sinne zunehmenden Winkeln und sind von ihnen nach oben und unten gleich weit entfernt. Zu jedem Cylindroid gehören (wegen der Willkürlichkeit von %,) einfach unendlich viele Schraubenscharen. Die Parameter der Schrauben irgend einer derselben gehen aber aus denen der Schrauben jeder anderen Schar alle durch Addition desselben Betrages hervor.

Die Gestali des Cylindroids ist aus den mitgeteilten Gleichungen ohne weiteres klar. Die z-Axe ist eine Doppellinie. Durch jeden Punkt derselben gehen zwei Strahlen der Regelfläche. Deren Ebene ist zur Ebene der Hauptaxen (z=0) parallel. Das ganze Cylindroid ist zwischen den beiden Parallelebenen zur Ebene z= 0, welche von ihr den Abstand m haben, enthalten. Jede dieser Ebenen enthält zwei zusammenfallende Strahlen des Cylindroids. In einer Ebene durch die Doppellinie, welche mit der y-Ebene den Winkel ® bildet, liegt nur ein Regelstrahl der Fläche, und zwar haben dessen sämtliche Punkte von der z-Ebene den Abstand z = m sin2o.

Ebenso leicht erkennt man die Verteilung der Parameter k auf die verschiedenen Erzeugenden des Oylindroids. Betrachtet man die Ebene durch die Doppellinie des Cylindroids als eine veränderliche Ebene, die sich um diese Doppellinie dreht und deren jedesmalige Lage durch den Winkel © festgelegt wird, trägt man ferner auf dem in ihr gelegenen Strahle der Regelfläche von der Doppellinie aus eine dem Parameter der zugehörigen Schraube gleiche Strecke ab, so genügen die Koordinaten k=k,+ mcos2o, z2=msin2» des Endpunktes P dieser Strecke in der veränderlichen Ebene der Gleichung (k k,)? + 2? = m? eines Kreises. Denkt man sich also, dass der Punkt P sich auf diesem Kreise bewegt und gleichzeitig seine Ebene sich mit halb so grosser Drehungsgeschwindigkeit um die Doppellinie dreht derart, dass wenn

154 IV2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

sie durch eine der beiden Hauptaxen geht, der Punkt P gleichzeitig in dieselbe Hauptaxe fällt, dann beschreibt das durch den Punkt P gehende Lot der Doppellinie das Cylindroid. Diese sehr elegante Konstruktion hat ©. 7. Lewis’®) angegeben. Zu jedem Punkte P

des Kreises in der veränderlichen

BER Ebene, die man nunmehr als Bild- 2 ebene?!) wieder fest lassen kann,

gehört so ein Strahl des Cylin-

ß droids, und der Abstand dieses se 7? oo Punktes von der z-Axe, die Ball 7 als die Parameteraxe der Bild- nt ebene bezeichnet, giebt gleich-

zeitig den Parameter der zu diesem Strahle gehörigen Schraube an. Der Abstand der aus zwei Punkten P, P, auf die Parameteraxe gefällten Lote misst die kürzeste Entfernung der beiden entsprechenden Linien des Cylindroids, während der Winkel, unter dem diese Linien sich kreuzen, ebenso gross ist wie der Peripheriewinkel über dem von den beiden Kreispunkten P, P, begrenzten Bogen.

Drei Schraubungen des zu der Schraubenschar gehörigen Systems zweiter Stufe ändern dann und nur dann die Lage des Körpers nicht, wenn ihre Amplituden sich verhalten wie die Sinus der Winkel, die jedesmal von den Axen der beiden anderen Schraubungen gebildet werden, oder was dasselbe ist, wie die Seiten des Dreiecks, welches die zugehörigen Punkte auf dem Bildkreise bestimmen. $o kann jede Schraubung des Systems von der Amplitude go zerlegt werden in zwei Schraubungen, die in zwei beliebigen Schrauben der Schrauben- schar stattfinden, und insbesondere in zwei Schraubungen von den Amplituden oe cos® und esin® in den Hauptschrauben (principal screws)52), die zu den Hauptaxen des Cylindroids gehören °°).

17. Schraubensysteme dritter Stufe”). Wenn ein Körper Freiheit dritter Stufe besitzt, so kann ein beliebiger Punkt in ihm, aber immer nur durch eine der augenblicklich möglichen Bewegungen, jede

50) Mess. of math. 9 (1879), p. 1.

51) Ball, Dublin, Proc. (2) 4 (1883), p. 29; Dublin, Cunningham Memoirs Nr. 4 (1886); Theory of screws, chap. V.

52) Ball, Theory of screws, p. 21.

53) Sehr zahlreiche Litteratur das Cylindroid betreffend ist von E. Wölffing und E. Lampe im Archiv d. Math. (3) 2 (1901), p. 288, 289 zusammengestellt.

54) Ball, Dublin, Trans. 25 (1871), p. 191; 29 (1888), p. 247; Theory of screws, chap. XIV, XV.

17. Schraubensysteme dritter Stufe. 155

beliebige unendlich benachbarte Lage einnehmen. Ist die Richtung, in der ein solcher Punkt sich bewegt, festgelegt, so ist sie es auch für jeden anderen Punkt des Körpers. Das zugrunde zu legende Car- tesische Koordinatensystem lässt sich nun insbesondere so annehmen, dass es in dem Systeme dritter Stufe drei Schraubungen giebt, welche die Koordinatenaxen zu Axen haben. Sind dann «, ß, y die Para- meter der zugehörigen Schrauben, so genügen die Koordinaten einer beliebigen Schraubung des Systems den drei Gleichungen

w—op—=0, v—Bg=I, w—yr=(0, hingegen die Koordinaten einer Schraubung des reziproken Schrauben- systems, das ebenfalls von der dritten Stufe ist, den drei Gleichungen

uteop=0, vH ßg=0, wv+tyr=0.

Die Axen aller Schrauben des ersten Systems, denen ein be- stimmter Parameter k zukommt, liegen auf einer quadratischen Regel- fläche und bilden deren eine Regelschar, während die andere Regel- schar von den Axen der Schrauben des zweiten Systems mit dem Parameter % gebildet wird. Diese Regelfläche hat die Gleichung:

ko) + AP NrHk—a)(k— B)(k— y)=0. Alle Flächen, die man aus ihr durch Veränderung des Parameters k gewinnt, sind konzentrisch, und die Richtungen ihrer Hauptaxen fallen zusammen. Besonders ausgezeichnet ist die Fläche, die zu dem Para- meter k = (0) gehört, deren Gleichung also lautet°)

+ Pre taßy—0. ball bezeichnet sie als die Parameterfläche (pitch quadric). Jeder Punkt dieser Fläche kann sich instantan bloss in einer Ebene ver- schieben, und die vorliegende Beschränkung der Bewegungsfreiheit im Unendlichkleinen lässt sich dementsprechend so herstellen, dass man irgend drei Punkte der Parameterfläche an bestimmte Ebenen oder Flächen bindet5%). Diese Ebenen oder Flächen stehen zu den Strahlen der zum reziproken Schraubensysteme gehörigen, auf der Parameter- fläche gelegenen Regelschar, welche durch die angenommenen drei Punkte gehen, senkrecht. Durch die drei Punkte und die drei Ebenen sind also umgekehrt sofort drei Regelstrahlen der Parameterfläche und damit diese selbst bestimmt. Der Parameter %; der einen Schraube des Schraubensystems dritter Stufe, deren Axe eine beliebig gegebene

55) Vgl. J. Plücker, Neue Geometrie des Raumes, p. 130. Die Fläche ist nichts anderes wie der Ort der Regelschar, welche die zu den Schrauben des Systems gehörigen linearen Strahlenkomplexe gemein haben.

56) A. Mannheim, J. &c. polyt. 43 (1870), p. 57.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1. 11

156 IV2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

Richtung hat, steht mit dem Halbmesser r der Parameterfläche, wel- cher die gleiche Richtung hat, in der Beziehung

ae, 2

Die Axen dreier zu einander reziproken Schrauben in dem Systeme sind drei konjugierten Durchmessern der Parameterfläche parallel, woraus in Verbindung mit der vorstehenden Gleichung folgt, dass die Summe der reziproken Werte ihrer Parameter konstant ist. Ins- besondere sind die Koordinatenaxen als Hauptaxen der Fläche die Axen dreier zu einander reziproken Schrauben des Systems mit den Parametern «, ß, y. Ball nennt sie die Hauptschrauben des Systems.

Vermöge der Gleichungen, welchen die Koordinaten der Schrauben des Systems genügen, lässt sich der Parameter einer beliebigen unter ihnen in der Form darstellen

u ’+p+rr .57) A

18. Schraubensysteme vierter und fünfter Stufe. Ein lineares Sehraubensystem vierter Stufe?®) ist immer zu einer Schraubenschar reziprok. Die Doppellinie des Cylindroids, welches zu der letzteren gehört, hat die Eigenschaft, dass der Körper bei seinen vier Graden der Freiheit beliebig um sie gedreht und in ihrer Richtung verschoben werden kann, und sie ist die einzige Linie von dieser Eigenschaft. Sie kann die Grundaxe des Systems vierter Stufe genannt werden. Die Axen aller Schraubungen, welche der Körper ausführen kann, bilden einen besonderen quadratischen Strahlenkomplex, den d’Emilio®) untersucht hat. Denselben gewinnt man aus dem Cylindroid, das zu der reziproken Schraubenschar gehört, indem man alle Linien zieht, welche je zwei konjugierte Strahlen dieses Cylindroids schnei-

57) Von den Axen der Schrauben des Systems liegen zwei in einer belie- bigen Ebene und gehen drei durch einen beliebigen Punkt. Lässt man eine Ebene sich um einen ihrer Punkte P drehen, so bewegt sich der Schnittpunkt der in ihr gelegenen beiden Schraubenaxen auf einer Steiner’schen Fläche vierter Ordnung. Dieselbe hat bekanntlich drei gerade Doppellinien, die sich in einem Punkte schneiden. Dieser Punkt ist der Punkt P, um den die Ebene gedreht wird, und die drei Doppellinien sind die Schraubenaxen, die durch ihn hin- durchgehen. Diese Sätze sind Ball von C. J. Joly mitgeteilt worden (s. Theory of screws, p. 182 Note). Die gemeinsame Normale der Axen irgend zweier Schrauben des Systems ist zu jeder Axe einer Schraube des Systems, welche sie trifft, normal. Sie selbst ist die Axe einer Schraube des reziproken Systems, und jede zu einer Schraube dieses Systems gehörige Axe lässt sich so erhalten.

58) Ball, Theory of screws, chap. XV.

59) Ist, Veneto Atti (6) 3 (1885), p. 1135,

18. Schraubensysteme vierter und fünfter Stufe. 157

den. Der quadratische Komplex besteht somit aus unendlich vielen linearen Kongruenzen. Die Schrauben, die zu den Linien einer dieser Kongruenzen gehören, haben alle gleichen Parameter, und der- selbe ist dem Parameter der beiden Schrauben der reziproken Schar, deren Axen die Leitlinien der Kongruenz sind, entgegengesetzt gleich ®). Die Grundaxe des Systems wird von doppelt unendlich vielen Linien des quadratischen Komplexes getroffen, durch jeden ihrer Punkte gehen einfach unendlich viele und diese liegen allemal in zwei Ebenen, welche die Grundaxe selbst beide enthalten. Wählt man die Axen der beiden Hauptschrauben der reziproken Schar, deren Parameter wieder « und ß seien, zur &- und y-Axe eines Cartesischen Koordinaten-

systems, so lässt sich das lineare Schraubensystem vierter Stufe durch die beiden Gleichungen

uwtaep=0, v+ßgq=0, und der quadratische Komplex der Schraubungen durch die Gleichung (e—- $)XY+LY— MZ=0

darstellen (wo X: Y:Z:L:M:N die Linienkoordinaten bezeichnen sollen. Die Komplexstrahlen, die in einer Ebene liegen, umhüllen eine Parabel: alle unendlich fernen Linien gehören zu dem Komplexe. Die Komplexstrahlen, die eine bestimmte Richtung haben, liegen auch in einer bestimmten Ebene.

Die Schrauben eines beliebigen linearen Systems fünfter Stufe 6!) sind alle zu einer bestimmten Schraube n reziprok. Jede gerade Linie des Raumes ist Axe einer Schraube 9 des Systems. Für den Parameter k dieser Schraube findet sich, wenn die gerade Linie die Axe der zu dem Systeme reziproken Schraube n unter dem Winkel kreuzt und von ihr den kürzesten Abstand d hat, wenn ferner k, der Parameter von n ist:

k=d-tangp k,. ®)

60) Während die durch einen beliebigen Punkt gehenden Strahlen eines quadratischen Komplexes im allgemeinen einen irreducibelen quadratischen Kegel erfüllen, zerfällt dieser Kegel für die Punkte einer bestimmten Fläche vierter Ordnung in zwei Ebenen. Diese Fläche nennt F. Klein die Singularitätenfläche des Komplexes. Für den vorliegenden besonderen Komplex zerfällt nun die Singularitätenfläche in das Cylindroid und die unendlich ferne Ebene.

61) Ball, Theory of screws, chap. XVII.

62) Lässt man die gerade Linie durch einen festen Punkt P gehen und trägt auf ihr von diesem Punkte aus eine Strecke = k, + k ab, so ist der geo- metrische Ort für den Endpunkt dieser Strecke eine Fläche vierter Ordnung. Die Gleichung derselben erhält man in der einfachsten Form, wenn man den.

Punkt P zum Koordinatenursprung wählt, die z-Axe parallel der Axe der 1 Bu

158 IV2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

Die Axen der Schrauben des Systems von bestimmtem Parameter k, die durch einen gegebenen Punkt P gehen, liegen in einer Ebene. Diese Ebene enthält die aus dem Punkte P auf die Axe der Schraube n gefällte Normale, und ist @ der Winkel, unter dem sie diese Axe schneidet, r der Abstand des Punktes P von derselben, so wird

ee

Thomson und Tait‘) haben einen Mechanismus angegeben, durch den man einem Körper auf die allgemeinste Weise Freiheit fünften Grades erteilen kann. Dieser Mechanismus besteht einfach in der Verbindung zweier Hooke’schen Sehlüssel und einer Schraubenspindel,

an der sich der Körper entlang schrauben lässt. .

19. Homographische Schraubensysteme. Die Bedürfnisse der Mechanik starrer Körper haben Ball veranlasst, die Geometrie der Schrauben als selbständiger Elemente eines höheren Raumes noch weiter zu studieren und insbesondere die projektive Geometrie dieses Raumes heranzuziehen“). Man kann sich davon auf folgende Weise Rechenschaft geben:

Sind @ und © zwei Schrauben, % und %k’ ihre Parameter, «’] ihr virtueller Koeffizient, so werde ein Winkel (00) durch die Gleichung eingeführt:

[oo] 66), 2ykk’ Ferner verstehe man unter dem Doppelverhältnis von vier Schrauben 1, 2, 3, 4 einer Schar den folgenden Ausdruck:

sin (12) - sin (34) ;

sin (13) - sin (24) Eine Schraubenschar heisse nun zu einer anderen projektiv, wenn die Schrauben beider eindeutig aufeinander derart bezogen sind, dass das Doppelverhältnis von vier Schrauben der einen Schar gleich

cos (0) =

Schraube n und die y-Axe so annimmt, dass sie diese Schraubenaxe, im Abstande A vom Ursprunge, trifft, und zwar lautet, weil dann d- tangp=hw/z wird, die Flächengleichung: (©? + y?+ 2?) 2?—= h?r®.

Ball bezeichnet diese Fläche wegen ihrer Ähnlichkeit mit den Schalen einer Kammmuschel als Pectenoid (Dublin, Trans. 25 (1871), p- 137). Die y-Axe ist eine Schneide der Fläche und längs ihr stossen die beiden Schalen zusammen.

63) Treatise on natural philosophy, Art. 201.

64) Ball, Dublin, Proc. (2) 3 (1881), p. 435; Theory of screws, chap. XIX.

65) Vgl. F. Klein, Math. Ann. 5 (1871), p. 271.

19. Homographische Schraubensysteme. 159

ist dem Doppelverhältnisse der vier entsprechenden Schrauben in der anderen Schar. Ebenso heissen zwei beliebige lineare Schrauben- systeme gleicher Dimension homographisch (kollinear) aufeinander be- zogen, wenn die Schrauben beider Systeme einander derart wechsel- weise eindeutig entsprechen, dass jeder Schar von Schrauben in dem einen Systeme eine zu ihr projektive Schar in dem anderen Systeme zugeordnet ist. Dann sind die Koordinaten der Schrauben des einen Systems homogene lineare Funktionen von den Koordinaten der Schrauben des anderen Systems, und hierdurch lässt sich umgekehrt die homographische Beziehung analytisch definieren.

Wenn man auf solche Weise die Gesamtheit aller Schrauben linear in sich transformiert, so giebt es im allgemeinen sechs Schrauben, die hierbei ungeändert bleiben, und die Transformation ist bestimmt, sobald zu irgend sieben Schrauben, die keinem linearen Systeme angehören, die entsprechenden Schrauben bekannt sind.

Ein quadratisches Schraubensystem fünfter Stufe werde nunmehr durch eine quadratische Gleichung 7= 0 zwischen den sechs Schrauben- koordinaten 8, dargestellt. Befriedigen dann die Koordinaten 9, und &, zweier Schrauben die bilineare Gleichung

oT 00, ud,

so nennt Ball dieselben polare Schrauben (polar serews). Zu allen so definierten Schrauben & giebt es eine reziproke Schraube 7. Bilden die Fundamentalschrauben der zugrunde gelegten Koordinaten ein korreziprokes System und sind k, ihre Parameter, so sind die Koordinaten n, der so definierten Schraube n durch die Gleichungen gegeben: EIN ER rn 00. wo H einen gemeinsamen, willkürlich bleibenden Faktor bezeichnet. Auf diese Weise erhält man eine besondere Art der homogra- phischen Beziehung, die Ball als chiastische Homographie bezeichnet. Dieselbe ist dadurch ausgezeichnet, dass wenn zwei Schrauben 7 und 7 den Schrauben 0 und #’ entsprechen und 7 zu ®’ reziprok ist, dann auch 7’ zu ® reziprok ist. Ist 7”, 6” ein drittes Paar ent- sprechender Schrauben, so lässt sich leicht die Formel beweisen:

[70] [7’0”] [ne] = [n9”] [70] [n’ 07], in der [769] den virtuellen Koeffizienten zweier Schrauben (9) und 0% bedeuten soll®). Danach verschwindet [70], wenn [70] = 0 ist.

66) Geht man nämlich von der im Text unmittelbar folgenden kanonischen

160 IV 2. H.E. Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

Durch besondere Wahl des Koordinatensystems lässt sich, ohne dass die Fundamentalschrauben aufhören alle zu einander reziprok zu sein, die quadratische Form 7 im allgemeinen auf die Gestalt bringen:

T=-)\ Kumı. Dann wird

und so sieht man, dass die sich selbst entsprechenden Schrauben im vorliegenden Falle der chiastischen Homographie ein korreziprokes System bilden. Ist die quadratische Form 7 definit, so müssen diese sich selbst entsprechenden Schrauben gemäss der allgemeinen Theorie der quadratischen Formen immer reell sein”).

IH. Die Grundzüge der elementaren Statik.

20. Der statische Kraftbegrif. Das Parallelogramm der Kräfte. Der statische Kraftbegriff (vgl. IV 1, Voss) stammt wesent- lich aus dem ursprünglichen Gefühle der Muskelanstrengung bei Überwindung eines Widerstandes. Indem man nun in der Statik den Zug der Hand oder überhaupt die durch den menschlichen Körper verrichtete Arbeit durch ein gehobenes Gewicht maass und illustrierte, schöpfte man fernerhin die in den einzelnen Beispielen zur Verwendung kommenden Kräfte immer aus der Schwere, da- durch dass man an den Körper geknüpfte Schnüre über Rollen führte und daran Gewichte hing, Dann ist Richtung und Grösse der vorausgesetzten Kraft sofort gegeben, indem die erstere durch die Richtung der Schnur zwischen Körper und Rolle angegeben

Form der Gleichungen für diese Homographie aus und schreibt dieselbe Formel noch einmal für ein zweites Paar entsprechender Schrauben n’ und 6:

so kann man aus den beiden Formeln die Identität herleiten:

IE 0,0, = 2H Ik, 2,0, = ah’ Ik, n„,. Dieser Gleichung lassen sich mit Hinzuziehung eines dritten Paares entsprechen- der Schrauben 7” und 0” zwei analoge an die Seite stellen und durch Multipli- kation dieser drei Gleichungen gewinnt man mit Rücksicht auf die Bedeutung der Ausdrücke Ik,n9o (vgl. Nr. 14) die angegebene Formel.

67) Diese Theorie kommt bei der Kinetik der starren Körper zur Ver- wendung. Vgl. den Artikel IV 6.

20. Der stat. Kraftbegriff. 21. Der starre Körper. 22. Allgem.Kräftesysteme. 161

und die letztere durch das angebrachte Gewicht gemessen wird. Der Punkt des Körpers, an dem die Schnur befestigt wird, ist der Angriffspunkt der Kraft. Das Gesetz vom Parallelogramm der Kräfte (IV 1, 19) erscheint bei diesem Ausgangspunkte als ein reines Ergebnis der Erfahrung, indem man es durch einen einfachen Me- chanismus nach Belieben prüfen kann. In diesem Sinne machte es Varignon®®) zur Grundlage der Statik, nachdem schon vor ihm Stevin ®) die Bedingung für das Gleichgewicht zwischen drei an dem- selben Punkte angreifenden Kräften dahin formuliert hatte, dass diese Kräfte in einer Ebene wirken und die darstellenden Strecken, indem man sie parallel verschiebt, sich zu einem Dreiecke schliessen lassen müssen.

21. Der starre Körper. Das Hebelgesetz. Systeme paralleler Kräfte. Der von Newton formulierte dynamische Kraftbegriff (vgl. IV 1, besonders Nr. 22f.) setzt mit Notwendigkeit die Abstraktion einer punktförmigen Masse voraus, der statische Kraftbegriff hingegen enthält nichts über die Natur des Körpers, auf den die Kraft wirkt, wesentlich ist für ihn nur die Existenz eines bestimmten Angriffs- punktes.. Man nennt nun einen Körper starr, sofern es gestattet ist, den Angriffspunkt irgend einer auf ihn wirkenden Kraft in der Kraft- riehtung beliebig zu verschieben. Aus der Verbindung dieses Axioms des starren Körpers mit dem Parallelogrammgesetze erwächst dann ein anderes, bis auf Archimedes zurückgehendes Gesetz, das sich ins- besondere auf gleichgerichtete Kräfte bezieht und das Hebelgesetz heisst. Zwei parallele Kräfte vereinigen sich im allgemeinen zu einer gleichgerichteten Resultanten, und das Hebelgesetz lehrt diese Resul- tante finden. Nur dann, wenn die beiden parallelen Kräfte gleiche Grösse und entgegengesetzten Sinn haben, liegt ein Ausnahmefall vor; wir kommen dann auf den schon in Nr. 8 besprochenen Fall eines Poinsot’schen Paares (couple, Kräftepaar) zurück.

22. Allgemeine Kräftesysteme. Ihre Reduktion auf zwei zu einander normale Kräfte. @G. Monge'®) hat zuerst die allgemeine

68) Projet d’une nouvelle mecanique, Paris 1687. Genau gleichzeitig gab I. Newton die kinetische Begründung des Parallelogrammgesetzes aus dem Parallelogramme der Bewegungen (Philosophiae naturalis principia mathematica, Axiomata, Cor. 1), und erschien eine Schrift von B. Lami, in der dasselbe Gesetz aufgestellt wurde. Man vgl. die Einleitung zu Lagrange’s Mecanique analytique = Oeuvres 11.

69) Vgl. das Citat in der Literaturübersicht.

70) Trait& el&mentaire de statique. Zuerst erschienen 1786, später wieder- holt aufgelegt.

162 IV2. H.E. Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e, starren Körpers.

Aufgabe behandelt, die Bedingungen für das Gleichgewicht eines Systems beliebig gerichteter Kräfte, die an einem starren Körper angreifen, aufzusuchen. Mit dieser Aufgabe steht die Lehre von der statischen Äquivalenz der Kräftesysteme an einem starren Körper (also der Dynamen, nach der Plücker’schen Bezeichnung) in engstem Zu- sammenhange, indem zwei Kräftesysteme dann äquivalent heissen, wenn das eine mit überall umgekehrter Kraftrichtung dem anderen hinzu- gefügt den Körper ins Gleichgewicht bringt.

Um nun ein gegebenes Kräftesystem auf ein äquivalentes, mög- lichst einfaches System zurückzuführen, ist von dem Axiome des starren Körpers, nach dem sich der Angrifispunkt jeder Kraft in deren Richtung beliebig verschieben lässt, auszugehen. Die Kraft am starren Körper ist damit ihrer geometrischen Bedeutung nach nichts anderes als ein Linienteil, und das Parallelogramm- und Hebelgesetz zeigen dann, dass zwei Kräftesysteme äquivalent sind, wenn die den einzelnen Kräften entsprechenden Linienteile beidemal dieselbe Summe ergeben. Daher kommt hier die oben (unter I) entwickelte Geometrie der Linienteile zur unmittelbaren Geltung. Es hat sich aber historisch die Zusammensetzung der Kräfte nicht auf der Geometrie der Linien- teile aufgebaut, sondern diese sich vielmehr umgekehrt aus der Statik entwickelt, wie schon oben an verschiedenen Stellen angedeutet wurde.

Um das Problem der Reduktion eines gegebenen Kräftesystems zu lösen, dachte sich Monge die Angriffspunkte aller Kräfte so ver- schoben, dafs sie in eine und dieselbe Ebene x fallen. Dann lässt sich jede Kraft in zwei Komponenten zerlegen, von denen die eine in der Ebene x wirkt, die andere senkrecht dazu gerichtet ist. Nun ist es eine einfache Folge aus dem Axiome des starren Körpers und dem Parallelogramme der Kräfte, dass sich die in der Ebene wirken- den Kräfte im allgemeinen zu einer resultierenden Kraft vereinigen, und gleiches gilt von den parallel, nämlich senkrecht zu der Ebene x gerichteten Kräften. So wird das ganze Kräftesystem auf zwei Kräfte zurückgeführt, deren Richtungen zu einander normal sind. Der be- liebig gewählten Ebene =, welcher die eine Kraft angehören soll, ist die Axe p’ dieser Kraft, nämlich die Linie, in der sie wirkt, in ein- deutiger Weise zugeordnet, und ebenso der Punkt P, in welcher die Ebene von der Axe p der zweiten, zu ihr senkrecht gerichteten Kraft geschnitten wird. Diese Zuordnung, die jeder Ebene x einen in ihr gelegenen Punkt P zuweist, ist keine andere als die des zur Dyname gehörigen Moebius’schen Nullsystems (Nr. 10), und die Linie p’ in der Ebene ist deren charakteristische Linie (Nr. 12, 4). So streifte Monge

a;

A I N 5 2 a

23. Reduktion eines Kräftesystems auf eine Einzelkraft und ein Kräftepaar. 163

sehr nahe an die Entdeekung dieser Beziehungen, ohne aber ganz bis zu ihnen vorzudringen.

23. Reduktion eines Kräftesystems auf eine Einzelkraft und ein Kräftepaar. Beziehungen zur Schraubentheorie. Wir bemerkten bereits, dass sich die Theorie der Linienteile ohne weiteres auf die Dynamen überträgt. Dies gilt insbesondere für die oben (Nr. 10) entwickelte Theorie des vektoriellen Momentes einer Liniensumme""). Poinsot"?) hat der hiermit bezeichneten mechanischen Theorie da- durch eine sehr elegante Form gegeben, dass er sie an die Be- trachtung der nach ihm benannten Kräftepaare knüpfte (vgl. oben Nr. 6 und Nr. 21). Sein Verfahren ist folgendes: Er fügt zu jeder Kraft eines gegebenen Systems zwei ebenso grosse und einander entgegengesetzt gerichtete Kräfte hinzu, die an einem festen Punkte O angreifen und sich somit in ihrer Wirkung aufheben. Die an 0 angreifenden, mit den gegebenen gleich gerichteten Kräfte vereinigt er dann als Kräfte an demselben Punkte zu einer Resultierenden, deren Komponenten nach drei durch den Punkt gehenden Axen gleich &, 9, 3 werden mögen. Die entgegengesetzt gerichteten Kräfte bilden mit den gegebenen Kräften lauter Kräftepaare. Diese Paare vereinigen sich wie Plangrössen (Nr. 3) zu einem resultierenden Paare, das mit der resultierenden Einzelkraft zusammen das gegebene Kräftesystem statisch ersetzt. Die Komponenten dieses Paares seien L,M,N. So gelangt man wieder zu den sechs Grössen X, 9,3, %, M,N, die im vorliegenden Referate als Koordinaten einer Dyname auftreten). Nur wenn sie alle verschwinden, ist der Körper im Gleich-

71) Dies vektorielle Moment hat die statische Bedeutung, dass, wenn es für einen Punkt verschwindet, der Körper im Gleichgewichte ist, sofern dieser Punkt festgehalten wird. Ebenso halten sich für einen Körper, der nur um eine bestimmte Axe drehbar ist, die vorhandenen Kräfte das Gleichgewicht, wenn die Summe ihrer Momente für diese Axe verschwindet. Auf Grund dieser Momente für eine gerade Linie hat @. Zeuthen (Tidsskr. for Math. (5) 4 (1887), p. 145) die Bedingungen für das Gleichgewicht leicht und elegant entwickelt.

72) El&ments de statique, 1804.

73) Statt der „rechtwinkligen‘“‘ Koordinaten lassen sich zur Festlegung einer Dyname auch tetraedrale Koordinaten verwenden, deren Einführung auf dem Satze von A. F. Moebius (J. f. Math. 18 (1838), p. 207 = Werke 1, p. 564) be- ruht, wonach sich ein beliebiges Kräftesystem durch sechs in den Kanten eines gegebenen Tetraeders wirkende Kräfte ersetzen lässt. Von denselben hat @. Battaglini in seinen Untersuchungen (Napoli, Rend. 8 (1869), p. 87; ibid. 9 (1870), p. 89; Giorn. di mat. 10 (1872), p. 133, 207) ausgiebigen Gebrauch ge- macht. S. auch @. Zeuthen, Math. Ann. 1 (1869), p. 432. H. Mohr im Civiling. (2) 34 (1888), p. 691, hat im Besonderen drei sich schneidende Kanten des

164 IV2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

gewichte. Die Centralaxe eines Kräftesystems (Nr. 8) ist nach Poinsot als die Wirkungslinie einer Kraft (#) definiert, welche in Ver- bindung mit einem zu ihrer Richtung senkrechten Kräftepaare (vom Momente %) dem Kräftesysteme statisch äquivalent ist.

Die Analogie der Liniensummen und Schraubungen führt ferner dazu, dem Kräftesysteme eine Schraubung um die Centralaxe von der Ganghöhe 27%5/R zuzuweisen, und die Sätze der Statik dement- sprechend auf die Kinematik der starren Körper zu übertragen (Nr. 12). Da die so resultierende Analogie aber bereits oben, nur in anderer Fassung, erörtert ist, sollen jetzt nur solche Dinge hervor- gehoben werden, die sich im Falle der Statik in eigenartiger Weise aussprechen. Die Dynamen sind wie die Liniensummen als Schrauben- grössen zweiter Art anzusehen, wenn Schraubungen als Schrauben- grössen erster Art bezeichnet werden. (Vgl. Nr. 13).

24. Vereinigung zweier Kräftesysteme. Zwei Kräftesysteme A, und A, werden zu einem dritten A zusammengesetzt, wie aus zwei Schraubungen eine dritte hervorgeht. Die Centralaxen der drei Dynamen liegen also auf dem zugehörigen Cylindroide, und sind @, @,, $3 die Winkel, unter denen sich dieselben kreuzen, R, R,, R, die resultierenden Einzelkräfte, die in ihnen wirken, dann wird (vgl. Nr. 16): Fig. 5. Re ap ea R R, R, Sind ferner k, k,, k, die Parameter der Schrauben, zu denen die drei Dynamen gehören, d der kürzeste Abstand der Centralaxen von A, und A,, so ergiebt sich für k folgender Ausdruck

k, R’+kR’+keR, R, = a ku = (k, + k,) cosp—dsingp

den virtuellen Koeffizienten der zu A, und A, gehörigen Schrauben bezeichnet. Die Abschnitte d, und d,, in welche die Centralaxe der resultierenden Dyname A den kürzesten Abstand d der Centralaxen von A, und A, teilt, sind

R: RR s d, = Zd+ (deos pP + (k, ky) sin Q),

A R,R | A d, = d+ "4° (dos p + (k,— k,) sing). Tetraeders zu einander normal und an Länge gleich angenommen. Alle diese

Systeme sind nur Spezialfälle der ganz allgemeinen Koordinaten einer Dyname, welche den allgemeinen Schraubenkoordinaten entsprechen.

24. Vereinigung zweier Kräftesysteme. 25. Kräfte im Gleichgewicht. 165

In diesen drei Sätzen hat man die von Ball gegebene Verall- gemeinerung des für den Fall zweier sich schneidenden Kräfte gelten- den gewöhnlichen Parallelogrammsatzes"*).

25. Kräfte im Gleichgewicht. .J. Sylvester”’) sagte von einer An- zahl gerader Linien, dass sie in Involution seien, wenn eine und da- mit jede von ihnen dem durch die übrigen bestimmten linearen Strahlensysteme angehört, und diesen Ausdruck übertrug @. Battaglini ”®) auf die Kräfte und Dynamen. Von »n Kräften f,,...,f, (n = 4, 5, 6), die in diesem Sinne eine Involution bilden, lassen sich immer die Koordinaten der einen aus den Koordinaten der anderen linear zu- sammensetzen, und die Intensitäten P, der Kräfte bestimmen sich, wie W. Spottiswoode””) zuerst angegeben hat, aus den linearen Gleichungen

SpW)=0, i=l,2-.n, i+j. J

Hierbei ist (ji) das Produkt aus dem kürzesten Abstande der Axen von f, und f; und dem Sinus des Winkels, unter dem dieselben sich kreuzen, nach Cayleys Ausdruck das Moment dieser Wirkungs- linien”®). Aus den obigen Gleichungen folgt, dass im Falle der In- volution die Determinante DEF. li) ZN „_|en ©... em) (nl) (n2)... 0 verschwinden muss, was schon Sylvester”) gefunden hatte. Bezeichnet man mit D,,, Dys, . . -, D,„ die Hauptunterdeterminanten von D, so ergiebt sich für die Verhältnisse der Intensitäten P;:

ı

und diese Verhältnisse sind allein bestimmt, so dass die Intensität einer Kraft willkürlich bleibt.

74) Die Sätze lassen sich auch in folgender Weise formulieren: Fügt man die drei Resultanten R, R,, R, zu einem Dreiecke zusammen, so sind die Winkel in diesem Dreiecke x 9, 9,, 95. In derselben Weise kommen in dem Dreiecke, dessen Seiten YkR, Yk, R,, Vk, R, sind, die in Nr. 19 für je zwei Schrauben eingeführten Winkel vor. Die verschiedenen möglichen Arten, wie sich das Parallelogrammgesetz für allgemeine Verrückungen oder Kräfte- systeme geometrisch erweitern lässt, hat Study (Dynamen) ausführlich behandelt.

75) Paris C. R. 52 (1861), p. 741, 815.

76) Napoli, Atti 4 (1869), Nr. 14; Napoli, Rend. 8 (1869), p. 166.

77) Paris C. R. 66 (1868), p. 97.

78) Paris C. R. 61 (1865), p. 829 = Collected Papers 5, p. 542.

79) Paris C. R. 52 (1861), p. 815. Dazu Chasles, ebenda, p. 745, 1042.

166 IV2. H.E. Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

Im Falle nur vier Kräfte vorhanden sind, ergiebt sich das schon von Moebius®®) gefundene Resultat

N RE A v (23) (84) (42): y (84) (41) (18): V (41) (12) (29: y (12) (23) 81), ve) + VE) + VW) = 0.

Hiernach ist der von Chasles herrührende Satz°!) leicht zu beweisen, dass, wenn man die vier Kräfte irgendwie in zwei Paare einteilt, die beiden Tetraeder, von denen die als Strecken dargestellten Kräfte eines Paares jedesmal zwei Gegenkanten bilden, einander inhaltsgleich sind, und dass die Axen der vier Kräfte derselben Regelschar einer Regelfläche zweiten Grades angehören).

26. Arbeit eines Kräftesystems bei einer unendlich kleinen Verrückung. Die Arbeit, welche bei einer unendlich kleinen Ver- rückung eines starren Körpers von einem auf denselben wirkenden Kräftesysteme geleistet wird, ist durch den Summenausdruck

dA= DI (Xda; + Yıdy, + Z,dz,) gegeben, in dem die Summation sich auf die Komponenten X,, Y,, Z; aller Kräfte des Systems und die Veränderungen d«,, dy;, dz, der Koordinaten z;,, %;, 2; ihrer Angriffspunkte zu erstrecken hat. Als Funktionen dieser Koordinaten werden die Differentiale gemäss Nr. 11 durch die Gleichungen

de=(u—ry+gz)dt, dy=(w—gz+ra)dt, dad=(w— gqx +pg)dz ausgedrückt. Sind dann noch &, 9%, 3, 2%, M, N die. Koordinaten des Kräftesystems, so findet man

dAA=(Ku +9 + Zw+tLp + Mg + Nr) dt.?)

Der rechts in der Klammer stehende Ausdruck muss, sofern Gleichgewicht bestehen soll, bei freier oder irgendwie beschränkter Beweglichkeit des Körpers für jede unendliche kleine Verrückung, welcher derselbe unterworfen werden kann, nach dem Prinzipe der virtuellen Geschwindigkeiten (vgl. IV 1,30, Voss) verschwinden. Hiermit

80) Lehrbuch der Statik, 1, $ 103.

81) Es ist dies derselbe Satz wie oben in Nr. 7, da irgend zwei der vier Kräfte dieselbe Liniensumme darstellen müssen wie die übrigen zwei, wenn man deren Richtungen umkehrt.

82) Für den Inhalt dieses ganzen Abschnittes vgl. R. Sturm, Ann. di mat. (2) 7 (1876), p. 217, und F. Zucchetti, Torino, Atti 12 (1876), p. 44.

83) Vgl. A. F. Moebius, Lehrbuch der Statik, 1, $ 181; F. Klein, Math. Ann. 4 (1871), p. 403.

26. Arbeit eines Kräftesystems bei einer unendlich kleinen Verrückung. 167

haben wir die einzig mögliche Art, allgemein auf dynamischem Wege (ohne auf die Massenverteilung in dem starren Körper einzu- gehen) den Kräftesystemen unendlich kleine Bewegungen zuzuordnen. Jedem Kräftesysteme werden nämlich diejenigen Verrückungen oder Schraubungen zugewiesen, bei welchen es keine Arbeit verrichtet. Die Koordinaten dieser Verrückungen genügen der linearen Glei- chung dA=0, und die Koeffizienten dieser Gleichung sind den Koordinaten des Kräftesystems gemäss der vorstehenden Gleichung proportional, so dass die Kräftesysteme und Schraubungen, wie F. Klein sich ausdrückt, in der Beziehung kontragredienter Grössen stehen. Der obige Ausdruck für die Arbeit kann geradezu zur De- finition der Koordinaten einer Dyname verwendet werden. Sind dann %°,Y, 3, r%,M, MW die Koordinaten einer zweiten Dyname, so wird die von den beiden Dynamen zusammen geleistete Arbeit K+Mu+d+NM)v+::--; sie sind also zusammengenommen einer Dyname mit den Koordinaten £<+&X, 9-+9,... statisch äquivalent. So leitet sich auch die Regel für die Zusammensetzung der Dynamen sofort aus dem Arbeitsausdrucke ab. Des weiteren ergiebt sich die Analogie zwischen den Dynamen und den unend- lich kleinen Verrückungen, wenn man bemerkt, dass die Gleichung dA=0 eine gegenseitige Beziehung zweier Schrauben aussagt, näm lich dass sie reziprok sind).

Ist nun die Beweglichkeit des Körpers gehemmt®), so dass zwischen den Koordinaten jeder Schraubung, die er ausführen kann, bestimmte lineare Bedingungsgleichungen bestehen, so ergiebt sich ein zugehöriges lineares System von Dynamen, welche die Eigenschaft haben, dass durch sie das Gleichgewicht des Körpers nicht gestört wird. Die Schrauben, die zu diesen Dynamen gehören, sind einfach zu den sämt- lichen Schrauben, welche den dem Körper freistehenden Schraubungen entsprechen, reziprok. Allgemeiner: Der in seiner Bewegung gehemmte Körper bewegt sich für gewöhnlich in jedem Augenblicke anders als wenn er frei wäre, und diese Änderung in der Bewegung wird durch eine Dyname bewirkt, welche die Hemmungen liefern. Da hierbei aber, wenn man von der Reibung absieht, keine Arbeit geschehen kann, so

84) Dass die Analogie von Kräften und Drehungen aus dem Prinzipe der virtuellen Geschwindigkeiten abgeleitet werden kann, hat schon 0. Rodrigues bemerkt (J. de math. 5 (1840), p. 436). Vgl. übrigens wieder F. Klein, Math. Ann. 4 (1871), p. 403.

85) Man vgl. ausser Ball’s Theory of screws die Darstellungen in Thomson und Tait’s Treatise on natural philosophy und J. Somoff’s Theoretischer Me- chanik (s. auch des letzteren Arbeit, Petersb. Bull. 18 (1873), col. 162).

168 IV2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

gehört die Schraube jeder durch die Hemmungen gelieferten Dyname dem soeben genannten reziproken Systeme an. Man hat damit eine schöne mechanische Bedeutung solcher reziproken Schraubensysteme.

27. Unrichtige Auffassungen der Analogie zwischen Kräften und unendlich kleinen Drehungen. Obwohl die einfache Thatsache, dass sich unendlich kleine Drehungen um einen festen Punkt genau so nach dem Parallelogrammgesetze zu einer neuen Drehung um denselben Punkt vereinigen, wie zwei an dem Punkte angreifende Kräfte zu einer neuen Kraft, zu keinem Kommentare Anlass geben kann, ist die Analogie zwischen Kräften und Drehungen doch fortwährenden Missverständnissen ausgesetzt gewesen. Die Quelle derselben liegt in der unwillkürlichen Annahme einer kausalen Verknüpfung. In Wahrheit liegen die Verhältnisse so, dass, wenn DH, MN die auf die Hauptträgheitsaxen bezogenen statischen Koordinaten eines auf einen freien starren Körper wirkenden Systems von Momentan- kräften sind, die Koordinaten p, q, r, u, v ‚w der instantanen Schraubung, die sie hervorrufen, sich aus den Gleichungen bestimmen

&= Mu, = Mv, 3= Mw, %—= Ma?y, = Ml’?g, 3= Mer,

wo M die Gesamtmasse des Körpers und a, b, c seine Hauptträg- heitsradien bezeichnen. Hieraus ist ersichtlich, dass eine im Schwer- punkte des starren Körpers (dem Ursprunge des zugrunde gelegten Koordinatensystems) angreifende Einzelkraft dem Körper lediglich eine Translationsbewegung in der Kraftrichtung erteilt, und ein auf den starren Körper wirkendes Kräftepaar ihn nur um seinen Schwerpunkt zu drehen strebt. Wenn man also Kräfte und Böwegung als Ur- sache und Wirkung verknüpft, so müsste der Einzelkraft (die aber an den Schwerpunkt des Körpers gebunden ist) eine Translation, dem Kräftepaare eine Rotation (aber nur um den Schwerpunkt des Körpers) entsprechend gesetzt werden, während die Analogie, von der wir hier handeln, gerade das Umgekehrte konstatiert. Die Analogie hat also mit der in Rede stehenden kausalen Verknüpfung, die als solche in die Kinetik gehört (s. IV 6), nichts zu thun. i

Plücker®®) begeht ebenso einen Fehler, wenn er die Analogie zwischen Kräften und Drehungen geometrisch kurzweg damit inter- pretiert, dass ja jede Kraft durch zwei Punkte auf ihrer Axe, deren Abstand im Verhältnisse zur Kraftintensität steht, festgelegt werde und analog eine Drehung sich durch zwei Ebenen fixieren lasse, von denen sie die eine in die andere überführen soll. Der Verbindungs-

86) Lond, Phil. Trans. 156 (1866), p. 361.

27. Analogie zwischen Kräften u. unendl. kleinen Drehungen. 28. Das Virial. 169

linie der beiden Punkte als Wirkungslinie der Kraft entspricht bei diesem Ansatze die Schnittlinie der beiden Ebenen als Axe der Drehung. Aber die Entfernung der beiden Punkte als Intensität der Kraft lässt sich mit dem Winkel zwischen den beiden Ebenen als Drehungswinkel nur dann unmittelbar in duale Beziehung bringen, wenn der letztere unendlich klein ist. Dies hervorzuheben hat Plücker unterlassen. Die metrische Unvollkommenheit der Dualität lässt sich bekanntlich nur da- durch beseitigen, dass man von der generellen, projektiven Maassbestim- mung ausgeht, die sich statt auf den imaginären Kugelkreis auf eine allgemeine Fläche zweiter Klasse gründet, oder, was auf dasselbe hinaus- kommt, den Euklidischen, (ebenen) Raum durch einen Raum von kon- stanter, positiver oder negativer, Krümmung ersetzt. Sollen dann aber Kräfte und Drehungen im Sinne der hier vorliegenden Entwickelungen behandelt werden können, so muss man das Maass für beide unend- lich klein annehmen. Die Kinematik und Statik starrer Körper, die sich auf diesen Grundlagen aufbaut, hat, nachdem F\. Klein®”) darauf hingewiesen, zuerst F. Lindemann®®) ausgeführt. An diese Arbeit hat sich später eine umfangreiche Litteratur®”) gereiht, und so ist der Plücker'sche Irrtum doch die Quelle vieler schöner Untersuchungen geworden®). Über diese Dinge wird in Bd. III ausführlich Bericht erstattet.

28. Das Virial. Betrachtet man jede Kraft eines Kräftesystems als an ihren Angriffspunkt gebunden, so lässt sich die Arbeit, welche das Kräftesystem bei einer unendlich kleinen Verrückung des starren Körpers leistet, als die Variation des Ausdruckes

n=2&%u+Yy+ Z,2)”) betrachten, wenn hierbei die Kräfte als unveränderlich der Grösse und

Richtung nach angesehen werden®'), oder auch als die Variation, des Ausdruckes

V= SR, +: —Yy+ ZZ —2),

87) Math. Ann. 4 (1871), p. 403.

88) Math. Ann. 7 (1874), p. 56.

89) Dieselbe findet man zusammengestellt in dem Anhange II zu Ball’s Theory of screws. Ein anderes hierauf bezügliches Litteraturverzeichnis findet man bei A. B. Kotelnikoff, Theorie der Vektoren, Kasan 1899 (russisch).

90) Man vgl. insbesondere wieder E. Study (Dynamen).

91) Vgl. J. L. Lagrange, Me&canique analytique, 1. Partie, Sect. III, $ V,

Nr. 21—27. In IV ı, 48 (Voss) erscheint dieser Ausdruck mit dem Faktor —$ versehen.

170 IV2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

in dem x, y, z die Koordinaten eines beliebigen im Raume festen Punktes P sind. Der Ausdruck Y heisst nach R. Olausius”?) das Virial des Kräftesystems für diesen Punkt P. Nennt man r, die Ab- stände des Punktes P von den Angriffspunkten der einzelnen Kräfte des Systems, R, deren Intensitäten, so wird | V= DRr,cos(R;r)).

Das Virial V ist somit von der Wahl des Koordinatensystems unab- hängig. Ist V das Virial für einen Punkt P mit den Koordinaten %, Y,2, so wird das Virial V’ für den Punkt P’ mit den Koordi- naten +8, y+9,2+-8, wenn &, 9, 3 die Komponenten der längs der Öentralaxe wirkenden resultierenden Einzelkraft bezeichnen :

et a Bun ae) Das Virial nimmt hiernach denselben Wert an für alle Punkte einer jeden Ebene, welche zu der Richtung der resultierenden Kraft, d. h. zu der Centralaxe normal ist, und verschwindet insbesondere für eine unter diesen Ebenen ®®). Den Schnittpunkt dieser Ebene mit der Central- axe hat Hamilton“) als das Centrum des Kräftesystems eingeführt. Sind &, 9, 3, % M, N die statischen Koordinaten des letzteren, R”=%#%°4+9°+ 32, so findet sich für die Koordinaten %g5 Yas %p dieses Öentrums

= NEHME NY,

Ru, NVYHNE—LB,

NEE ME,

wo V, wie oben das Virial für den Koordinatenursprung bezeichnet. Das Centrum fällt, wenn die Kräfte alle gleichgerichtet sind, mit deren Mittelpunkte (vgl. Nr. 22) zusammen. Aus den vorstehenden Glei- chungen ergiebt sich

+ V=8n—2)+Yu—-W+3A— 2): Das Virial ist also für alle Punkte des Raumes gleich dem Viriale der Einzelkraft, die man erhält, wenn man alle Kräfte des Systems

92) Paris C. R. 70 (1870), p. 1314 und später. Clausius verwertet den Begriff hauptsächlich für ein System materieller, der gegenseitigen Anziehung oder Abstossung unterworfener Punkte bei seinen Versuchen, den zweiten Haupt- satz der Thermodynamik aus mechanischen Grundvorstellungen abzuleiten. Vgl. IV 1, 48 (Voss).

93) Die hier in Betracht kommenden wesentlichen Eigenschaften des Vi- rials hat F. Schweins entwickelt, J. f. Math. 38 (1849), p. 77. Er gebraucht statt Virial den Ausdruck Fliehmoment.

94) Elements of Quaternions, 1862, Art. 416.

ee Es

28. Das Virial. 171

unter Beibehaltung ihrer Richtung an das Hamilton’sche Centrum ver- legt und dann zu einer Resultierenden vereinigt. Für alle Punkte einer Ebene, welche zu dieser Resultanten A normal ist und von ihrem Angriffspunkte, dem Hamilton’schen Centrum, den (nach der einen Seite positiv, nach der anderen negativ gerechneten) Abstand p hat, wird das Vrnial=N#R:p.

Das Hamilton’sche Centrum existiert nur dann, wenn R=#0. Wenn R= 0, wenn also das Kräftesystem sich auf ein Kräftepaar reduzieren lässt, wird es völlig unbestimmt. Dann aber wird das Virial konstant für alle Punkte des Raumes, und das Kräftesystem lässt sich immer so auf ein Kräftepaar mit festliegenden Angriffspunkten reduzieren, dass sein Virial mit dem Viriale dieses Kräftepaares zusammenfällt. Hierzu ist nur nötig, den Winkel @, den die Richtungen der Kräfte des Fig. 6. Paares mit der Verbindungsstrecke ihrer Angriffs- punkte, dem Arme des Paares, bilden, geeignet zu bestimmen. Ist r die Länge des Armes, R die Intensität der beiden Kräfte des Paares so wird das Virial

V=Rreoso.

Es wird also Null für ein orthogonales Kräftepaar (dessen Kräfte normal gegen den Arm gerichtet sind). Ersetzt man demnach ein vorgelegtes allgemeines Kräftesystem durch eine Einzelkraft, welche

in dem Hamilton’schen Centrum angreift, und ein orthogonales Kräfte-

paar in einer zu dieser Einzelkraft senkrechten Ebene, so wird auch das Virial dieses reduzierten Kräftesystems für alle Punkte des Raumes dasselbe, wie dasjenige des ursprünglichen Kräftesystems ®).

95) Die hiermit skizzierte Lehre vom Virial gehört begrifflich (weil dabei durchweg von gebundenen Kräften die Rede ist) mit den im folgenden Abschnitt zu besprechenden Untersuchungen über Astatik zusammen. Es verdient vielleicht erwähnt zu werden, dass die Kräftepaare im Sinne der im Text gegebenen Ent- wickelungen sich mit den Hamilton’schen Quaternionen in enge Beziehung bringen lassen. Ist nämlich X+ Li+ Mj + Nk eine Quaternion, so lassen sich L, M, N als die Komponenten und Kals das negative Virial V eines Kräftepaares deuten. Dies Kräftepaar ist insofern noch unbestimmt, als es beliebig parallel verschoben und in seiner Ebene gedreht werden darf (so dass Kräfte und Arm sich gleich- zeitig drehen). Auch darf die Länge des Armes beliebig verändert werden, wenn die Intensität der Kräfteim umgekehrten Verhältnisse geändert wird. Auf diese Weise erhält man sofort eine Deutung für die Addition zweier Quater- nionen. Man hat zu diesem Zwecke nur die zugehörigen zwei Kräftepaare so zu einem neuen Kräftepaare zusammenzusetzen, dass nicht bloss ihre Kompo- nenten, sondern auch ihre Viriale sich addieren. Um dies zu erreichen, hat man

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1. 12

123 WE: EEE Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e, starren Körpers.

IV. Astatik. A. Geometrische Einleitung.

Die folgenden drei Paragraphen enthalten eine Reihe sehr be- kannter geometrischer Sätze in einer solchen Form, wie sie nicht bloss in den folgenden Entwickelungen dieses Abschnittes, sondern auch in dem Artikel über die Geometrie der Massen zur Verwendung kommen. Ausführlicher sind sie in Band IH behandelt; dort findet man auch die zugehörigen litterarischen Nachweise.

29. Ebenenkoordinaten. Polar- und Antipolarsysteme. Ist Ux+Vy+ Wz=T die Gleichung einer Ebene, so heissen RW oder vielmehr ihre Verhältnisse U: V:W:T, homogene Ebenen- koordinaten. Soll die Ebene eine Fläche zweiten Grades berühren, so müssen diese Koordinaten einer homogenen Gleichung zweiten Grades ®=0 genügen. Ist die Gleichung der Fläche in Punkt- koordinaten insbesondere auf die Hauptaxen bezogen, so dass sie die Form hat

x? z? an at; t7>=b dann wird die Gleichung in Ebenenkoordinaten AU” + BR? -++0W=N.

Jede Fläche zweiten Grades begründet als „Ordnungsfläche“ ein Polarsystem. In demselben ist, falls die Gleichung der Fläche die vor- stehende einfache Form hat, einer Ebene mit den Koordinaten 7, W,T als Pol der Punkt zugeordnet, dessen Koordinaten folgende sind:

U r W

sie auf einen gemeinsamen Arm zu bringen, den man in der Schnittlinie ihrer Ebenen oder parallel dazu annehmen muss, und dann die jedesmal in demselben Endpunkte des gemeinsamen Armes angreifenden Kräfte nach dem Parallelo- grammgesetze zusammenzufügen. Überhaupt liefert die Anwendung der Quater- nionen das Virial eines gebundenen Kräftesystems für einen beliebigen Punkt zusammen mit dessen vektoriellem Momente inbezug auf denselben Punkt. Sind nämlich r, die Vektoren von einem beliebigen Punkte P nach den An- griffspunkten der einzelnen, als Vektoren aufgefassten Kräfte f; des Systems, so wird von der (Quaternion g = Dri, der skalare Teil $q das negative Virial, der vektorielle Teil Ygq das vektorielle Moment für diesen Punkt P. Diesen Gedanken hat besonders K. Heun verfolgt. Man vergleiche dessen neueste Arbeit in der Zeitschr. f. Math. u. Phys. 47 (1902): Das Verhalten des Virials und des Momentes eines stationären Kräftesystems bei der Bewegung des starren Körpers,

29. Ebenenkoordinaten ete. 30. Konfokale Flächen 2. Grades. 173

Die gegebene Ebene selbst ist die Polare dieses Poles. Dieser Ebene ist eine andere Ebene mit den Koordinaten U’, V’, W', T’ „konjugiert“ in dem Polarsysteme, wenn AUU+BVV’ -0WW'=TT; es geht dann jede der beiden Ebenen durch den Pol der anderen. Die Tangentialebenen der Ordnungsfläche haben die Eigenschaft, dass sie sich selbst konjugiert sind. Wenn A, B, ( negativ, a?, B*, ec, sind, so wird die „Ordnungsfläche“ des Polarsystemes imaginär und das letztere wird als Antipolarsystem des Ellipsoides U? +0V?+°W’—=T’?

bezeichnet, indem der Pol einer Ebene für dieses Ellipsoid und ihr Antipol (d. h. ihr Pol in dem gegebenen Polarsysteme) symmetrisch gegen das Centrum der Fläche liegen. Hierdurch hat man für das Polarsystem einer imaginären Fläche ein anschauliches Substrat.

Die Gleichung AU? + BV?+(0W°=0 stellt einen unendlich

fernen Kegelschnitt dar, indem sie für die Tangentialebenen des von O auslaufenden Kegels = u . + = —=( und alle dazu parallelen Ebenen erfüllt ist; die Hauptaxen des Kegels fallen ersichtlich in die Koordinatenaxen. Eine Gleichung AU?+ BV?’= T” hingegen liefert einen Kegelschnitt in der z-Ebene, dessen Hauptaxen mit der x- und y-Axe zusammmenfallen.

Zwei Ebenen mit den Koordinaten U, V, W, T und U’, V’, W', T’ sind zu einander normal, wenn UU+VV+WW=0 ist. Man kann diese Relation als besonderen Fall der polaren Zu- ordnung auffassen. Die Ordnungsfläche ist in den imaginären Kegel- schnitt U? + V?+ W?= 0 der unendlich fernen Ebene ausgeartet.

Durch diesen Kegelschnitt gehen alle Kugeln des Raumes hindurch, und er heisst deshalb der imaginäre Kugelkreis.

30. Konfokale Flächen zweiten Grades. Die sämtlichen Flächen zweiten Grades, deren Gleichungen in Ebenenkoordinaten sich mit Hülfe eines variabelen Parameters A in der Form schreiben lassen

0 (+ 7°+ WM), wo ®=0 die Gleichung einer bestimmten Fläche ist, bilden eine (lineare) Schar, welche, für 4—= ®, den imaginären Kugelkreis ent- hält. Die Flächen einer solchen Schar heissen konfokal.

a) Ist die Fläche ® = 0 eine Mittelpunktsfläche, so kann man sie auf ihre Hauptaxen beziehen. Die Flächengleichung in Ebenen-

12”

174 IV2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

koordinaten ist dann von der Form AU? + BV? +0#—-T—0. Daher lauten die Gleichungen der konfokalen Flächen in Punkt-

koordinaten x? Yy°? 2? teuren

Diese konfokalen Flächen sind konzentrische Mittelpunktsflächen und haben die Hauptaxen der Riehtung nach gemein.

Für 4= A reduziert sich die Fläche der konfokalen Schar auf einen Kegelschnitt (B— A)V? + (C— A)W°— T? der x-Ebene. Die Gleichungen dieses Kegelschnittes in Punktkoordinaten sind

—=(, 5 are ey =], 1.4 > B=> C, so ist dieser Kegelschnitt imaginär, dagegen werden unter dieser Annahme die den Werten A=B und A=( ent-

sprechenden Kegelschnitte in den anderen beiden Koordinatenebenen: 2 2?

x es ee

reell, und zwar der erste eine Hyperbel, der zweite eine Ellipse. Jeder dieser beiden Kegelschnitte geht durch die Brennpunkte des anderen hindurch. Sie heissen die Fokalkurven der konfokalen Flächen- schar.

Gehen wir von dem Werte 4—=— oo aus und lassen 4 be- ständig nach der positiven Seite hin fortschreiten,-'so ist die Fläche erst ein anfänglich sehr grosses, dann aber immer kleiner werdendes Ellipsoid, das sich für 4= C auf das doppelt überdeckte Innere der Fokalellipse in der z-Ebene reduziert. Wächst 4 weiter, so wird das Äussere dieser selben Ellipse zu einem einschaligen Hyperboloid, dessen Höhendimensionen mehr und mehr zunehmen, bis es sich schliesslich der Breite nach abplattet und sich für 4—= B auf das Äussere der Hyperbel in der y-Ebene reduziert (d. h. denjenigen Teil der Ebene y= 0, der von den Tangenten der Hyperbel überdeckt ist). Das Innere derselben Hyperbel wird dann bei weiter wachsendem 4 zu einem zweischaligen Hyperboloide auseinandergezogen, dessen beide Schalen sich mehr und mehr nähern, bis sie für 4—= A die x-Ebene von beiden Seiten her völlig überdecken. Für 4> A wird die Fläche imaginär.

b) Ist die Fläche ®—=0 ein Paraboloid und nimmt man dem- entsprechend ihre Gleichung von der Form AU?+ BV?+ CW°

en

30. Konfokale Flächen zweiten Grades. 175

2UT=0, so werden die Gleichungen der Flächen der konfokalen Schar:

(A— N)U?+(B— A)V?’+(C— A)W’=2UT. Es sind also lauter Paraboloide, welche die Symmetrieebenen gemein haben. Ihre Gleichungen in Punktkoordinaten lauten

ta =A4-4-M.

Die reellen Fokalkurven sind Parabeln in den Ebenen y=(0 und z=0, deren Axe in die Ebene = 0 fällt und deren jede durch den Brennpunkt der anderen geht.

e) It ®=0 die Gleichung einer unendlich fernen Kurve, die wir der Einfachheit halber in der Form AU’+ BV’?+CW?’=0 gegeben denken wollen, so reduzieren sich alle Flächen der konfokalen Schar auf unendlich ferne Kurven:

(A— U+(B—- )V?’+(0— AW’=0,

und diese werden: aus einem beliebigen Punkte des Raumes durch konfokale Kegel projiziert, welche die Fokalstrahlen gemein haben ®*). Diese Fokalstrahlen laufen nach dem einen Paare reeller Punkte hin, welches in der Schar der unendlich fernen Kegelschnitte enthalten ist und für A>B>(C durch die Gleichung dargestellt ist (A— Bb) U? —(B— C)W?=0. Entsprechendes ist: immer der Fall, wenn ® eine homogene quadratische Funktion von U, V, W allein ist.

Durch einen beliebigen Punkt P,, mit den Koordinaten &,, Yo, 20» gehen drei reelle Flächen der konfokalen Schar a), von denen eine ein Ellipsoid, die zweite ein einschaliges und die dritte ein zweischaliges Hyperboloid ist. Die drei Parameter A,, A,, A,, zu denen diese Flächen gehören, sind die stets reellen Wurzeln der kubischen Gleichung für 4A:

Ko Yo RR yet: ar ee

schneiden sich in ihm rechtwinklig, die Tangentialebenen zweier von ihnen in diesem Punkte schneiden sich also in einer Normalen der dritten Fläche, und es werden daher die Richtungscosinus dieser Schnittgeraden den drei Grössen

96) Unter den Fokalstrahlen eines Kegels versteht man zwei Strahlen f, f’ von folgender Eigenschaft: Ist g ein beliebiger Strahl des Kegels, so ist die Summe der Winkel fg und f’g für alle Strahlen des Kegels dieselbe. Ferner: Die Ebenen, die g mit f und f’ verbinden, bilden mit der Tangentialebene des Kegels in g gleiche Winkel.

176 IV2. H.E. Timerding. Geometr, Grundleg. d. Mechanik e, starren Körpers.

LE SER Ss ra 1 X A—4,’ ner ers

proportional (wenn die dritte Fläche zu dem Parameter A, gehört). Die Koordinaten der Tangentialebenen, die sich aus dem be-

liebigen Punkte P, an die zu dem Parameter 4 gehörige Fläche legen lassen, genügen der Gleichung

A-NUV+B- NP +(C- MW U+yP tm.

Diese Tangentialebenen umhüllen, wenn man 4 variieren lässt, eine Schar konfokaler Kegel. Die gemeinsamen Symmetrieebenen derselben sind die Tangentialebenen der drei durch den Punkt P, gehenden Flächen der konfokalen Schar, und die beiden reellen Fokalaxen der Kegel, die in einer dieser Symmetrieebenen liegen, gehören als Erzeugende der Regelfläche (d. h. dem einschaligen Hyperboloide) an, die sich unter jenen drei Flächen befindet. Diese Fokalaxen haben die besondere Eigenschaft, dass, wenn man durch eine von ihnen irgend zwei zu einander normale Ebenen legt, diese bezüglich aller Flächen der konfokalen Schar konjugiert sind.

Die Tangentialkegel, welche sich aus einem Punkte einer der beiden reellen Fokalkurven an die konfokalen Flächen legen lassen, sind sämtlich koaxiale Rotationskegel. Unter ihnen befindet sich auch der Kegel, welche die zweite reelle Fokalkurve enthält. Jede dieser beiden Kurven wird also aus den Punkten der anderen durch lauter Rotationskegel projiziert.

31. Der Reye’sche Axenkomplex. Bildet man für die Grössen &or Yor 20, X, Y, Z des vorigen Paragraphen die Ausdrücke

L=yZ2—aY M=4,X— 22, N=uY—yX,

so ergiebt sich L:M:N— (4 ZIUnE —A(B— 4): (C— 4,)

und hieraus RER Hu. ZN B=0 0-4 "uam

oder

XL+YM+ZN=0, AXL+BYM-+CZN=0.

Nun sind X, Y, Z,L, M, N, als Linienkoordinaten aufgefasst, die Koordinaten der Normalen im Punkte P, für die eine der durch diesen Punkt gehenden konfokalen Flächen (A= 4A,). Der quadra- tische Linienkomplex, welcher dementsprechend durch das Nebenein- anderbestehen der vorstehenden beiden Gleichungen dargestellt wird,

31. Der Reye’sche Axenkomplex. 32. Systeme parallel gerichteter Kräfte. 177

heisst der Reye’sche Axenkomplex”). Nach dem Gesagten wird er gebildet von den Normalen der Schar konfokaler Flächen. Er lässt sich aber auch leicht mit Hülfe einer einzigen Fläche der Schar festlegen. Fällt man nämlich aus jedem Punkte auf seine Polarebene bezüglich dieser Fläche die Normale, so bilden alle diese Normalen den Axenkomplex. Man kann auch so sagen: Die Pole einer Ebene be- züglich aller Flächen der konfokalen Schar erfüllen eine gerade Linie, die zu der Ebene normal ist, und alle Linien, die man so erhält, indem man sich die Ebene frei im Raume bewegen lässt, bilden den zu der Flächenschar gehörigen Axenkomplex.

B. Theorie der gebundenen Kräftesysteme und ihrer Drehung.

32. Systeme parallel gerichteter Kräfte. Neben der entwickelten Theorie der Statik, welche die Kräfte als in ihrer Wirkungslinie ver- schiebbar ansieht, existiert eine andere Theorie, in welcher jede Kraft an ihren Angriffspunkt gebunden bleibt. Seit lange bekannt ist diese Betrachtungsweise für den besonderen Fall eines Systems parallel ge- richteter Kräfte. Die auf ein System starr verbundener Massenpunkte wirkende Schwere erzeugt ein solches System paralleler Kräfte, deren Angriffspunkte fixiert sind. Dieses System ist, wie auch das Massen- system bewegt wird, immer einer Einzelkraft äquivalent, deren Grösse durch das Gesamtgewicht des Massensystems gegeben ist und dessen Angriffspunkt in dem Massensystem festliegt und als Schwerpunkt bezeichnet wird. Die hierin liegenden Regeln für die Zusammensetzung einer beliebigen Anzahl parallel gerichteter Kräfte hat zuerst Varignon®) aus dem Hebelgesetz in der heute allgemein üblichen Form abgeleitet. Wenn nur die Summe der vorgegebenen Kräfte nicht Null ist, lässt sich eine resultierende Kraft an einem bestimmten Punkte, dem Mittelpunkte der Parallelkräfte, so anbringen, dass sie die ge- gebenen Kräfte auch dann noch ersetzt, wenn der Körper mitsamt den Angriffspunkten der Kräfte eine beliebige Verrückung erleidet. Um

die Koordinaten x, y, z dieses Mittelpunktes in irgend einem Cartesi-

schen Koordinatensysteme zu ermitteln, seien &,, Y,;, 2, die Koordinaten für die Angriffspunkte der einzelnen parallelen Kräfte, R, ihre Inten- sitäten, sei ferner R= I R,, die Summe über alle Kräfte des Systems erstreckt, so wird bei gleicher Bedeutung des Summenzeichens Rr= Ro, Ry=ZRy, Rz = IR,2; ' 97) Der Name rührt daher, dass der Komplex auch als Gesamtheit der Hauptaxen aller ebenen Schnitte einer Fläche zweiten Grades auftritt (Th. Reye,

Geometrie der Lage 2, 1. Aufl, Hannover 1868, sowie Ann. di mat. (2) 2 (1869), p. 1). 98) Paris, Hist. de l’Acad., Annde 1714.

178 IV2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

33. Astatisches Gleichgewicht und astatische Äquivalenz. Man sagt von einem starren Körper, er sei in astatischem Gleichgewichte, wenn dies Gleichgewicht nicht gestört wird durch irgendwelche Ver- rückung, welche der Körper erleidet, während die auf ihn wirkenden Kräfte unverändert in derselben Intensität und Richtung an den gleichen Punkten des Körpers angreifen. Da gemäss diesen Fest- setzungen das Gleichgewicht durch eine Parallelverschiebung des Körpers von vorneherein nicht gestört werden kann, genügt es für das astatische Gleichgewicht, wenn dasselbe bei der Drehung des Körpers um einen Punkt erhalten bleibt. Statt den Körper zu drehen, kann man auch, was die Betrachtung vereinfacht, die Kräfte um ihre Angriffspunkte gedreht denken so, dass die Winkel, die sie mit ein- ander bilden, alle ungeändert bleiben. Spricht man der Kürze halber von einem gebundenen Kräftesystem, wenn die Angriffspunkte der Kräfte im Körper festliegen und nicht in der Kraftrichtung ver- schoben werden dürfen, so nennt man zwei gebundene Kräftesysteme dann astatisch äquivalent, wenn das eine, mit überall umgekehrter Kraftrichtung dem anderen hinzugefügt, den Körper in astatisches Gleichgewicht bringt. Sind nun X,, Y;, Z, die Komponenten der einzelnen Kräfte eines Systems, «;, Y,, 2; die Koordinaten ihrer An- griffspunkte und bildet man die zwölf Grössen:

4, = IR, 4, = 32, %, As DE Y%, Ass = IX, 2; (1) 4=Z3Y, A=-23Y0, A=2YIy, A—-23,a, A; = 32, ». Ay = Zn, Ass = >Z PR > 2,2,

f

so sind zwei gebundene Kräftesysteme dann und nur dann astatisch äquivalent, wenn sie in diesen zwölf Grössen übereinstimmen und für das astatische Gleichgewicht ist notwendig und hinreichend, dass diese zwölf Grössen verschwinden. Wir können dieselben die asta- tischen Koordinaten eines Kräftesystems nennen °”).

99) Sie sind schon von F. Minding eingeführt worden, auf den diese ganze Disziplin zurückgeht. Man vgl. seine zusammenfassende Darstellung in seinem Handbuch der theoretischen Mechanik (Berlin 1837, als 2. Teil des Hand- buches der Differential- und Integralrechnung), p. 78 ff. Ferner M. Steichen, J. f. Math. 38 (1849), p. 277 und die Darstellungen in A. F. Moebius’ Lehrbuch der Statik (1837) I, Kap. 8 u. 9; O.J. Broch, Lehrbuch der Mechanik, Berlin 1854, p. 82ff., 134 ff.; F. Moigno, Legons de mecanique analytique, Statique 1868, p. 206 ff. Die letzteren beiden Autoren bringen auch Anwendungen auf die Theorie des Magnetismus. Eine Weiterbearbeitung der Theorie bei J. Somoff, Theoretische Mechanik 2 (1879) und endlich in sehr origineller und ergiebiger Weise bei G. Darboux, M&moire sur l’&quilibre astatique (Bordeaux, M&m. (2) 2 (1877), sowie als besondere Schrift, Paris 1877; man vgl. auch die Note V in der von

sr ar ee A

33. Astat. Gleichgewicht. 34. GebundeneKräftepaare. 35. Das vekt.Moment. 179

Die früheren statischen Koordinaten X, 9, 3, UM, N ergeben sich aus denselben in der folgenden einfachen Weise: Es ist

KA, Y—=4,, 54, Ag Ay, MA, As, N Ag Ay. Andererseits liegt der Zusammenhang der astatischen Koordinaten mit

der Schwerpunktstheorie paralleler Kräfte (Nr. 32), sowie mit dem Virial beliebiger Kräfte (Nr. 28) auf der Hand.

34. Gebundene Kräftepaare!”). Ein gebundenes Kräftepaar ist ein System von zwei parallelen, gleich grossen und entgegengesetzt gerichteten Kräften, die an bestimmte Angriffspunkte gebunden sind. Die Verbindungsstrecke dieser Angriffspunkte, als Vektor aufgefasst, heisst der (astatische) Arm des Paares. Sind a,b, c die Projektionen desselben auf die Koordinatenaxen, r seine Länge, X, Y, Z die Kom- ponenten der Kräfte des Paares, R ihre Intensität, so werden die

astatischen Koordinaten des Paares 0: 20:25,X26 DR DER A

0; Za, Z0, 20.

Sie bleiben ungeändert, wenn R in beliebigem Verhältnisse ver- grössert und r gleichzeitig im umgekehrten Verhältnisse verkleinert wird, oder wenn Arm und Kräfte des Paares zusammen in beliebiger Richtung um eine beliebige Strecke parallel verschoben werden. Das gebundene Kräftepaar lässt sich auffassen als eine unendlich kleine Einzelkraft, deren Angriffspunkt in bestimmter Richtung (der Rich- tung des Armes) unendlich weit entfernt ist. Wenn von dem ge- bundenen Kräftepaare die Kräfte in die Richtung des Armes fallen, so lassen sich, indem man die «-Axe in den Arm legt, alle Koordi- naten bis auf die eine A,, = Rr zum Verschwinden bringen. Jedes System von Parallelkräften mit verschwindender Summe ist einem gebundenen Kräftepaare äquivalent.

35. Das vektorielle Moment eines gebundenen Kräftesystems für eine Ebene. Monge'”') hat dem Momente einer Kraft für einen Punkt das Moment einer Kraft für eine Ebene gegenübergestellt, indem er hierunter das Produkt aus der Intensität R der Kraft und dem Abstande p ihres Angriffspunktes von der Ebene verstanden

Darboux besorgten Ausgabe von R. Despeyrous, Cours de M&canique, t.1, Paris 1884). Man sehe weiter die auf Darboux’s Arbeit fussenden Abschnitte über Astatik in Schell's Theorie der Bewegung und Routh’s Analytical statics, vol. 2.

100) Routh, Analytical statics, vol. 2, Astatics, p. 307 ff.

101) Traite el&mentaire de statique, Paris 1786,

180 IV2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

wissen wollte. Dieses Moment ist aber in Wirklichkeit nur der ab- solute Betrag eines vektoriellen Momentes, dessen Komponenten man findet, indem man die Komponenten X, Y, Z der Kraft einzeln mit dem Abstande » multipliziert. Um nun das Moment eines Kräfte- systems für eine Ebene zu definieren, füge man die vektoriellen Mo- mente der einzelnen Kräfte des Systems für diese Ebene nach den Regeln, die für die Addition der Vektoren gelten, zusammen. Der resultierende Vektor repräsentiert dann das Moment des Kräftesystems, dessen Komponenten sonach durch die Summen = = I’X,p,, H=23 Y,p,, Z - 32»,

gegeben sind. Insbesondere sind die Komponenten des Momentes für die x-Ebene A,,, Ay, Ay, u. s. f.; für die unendlich ferne Ebene und nur für diese sind sie unendlich gross und ihre Verhältnisse —4A,:4,:4,. Für die Ebene, die durch die Gleichung

Uxs+Vy+Wz=T

dargestellt ist, erhält man die Komponenten Z, H, Z des vektoriellen Momentes aus den Gleichungen:

yD® u + Ww’.2=4A,U+ Au TAT A,T, 2) 1 VP HR FTWH—-AU+ GIF AW—- AT,

++ W.Zz= AU 44/44 W —- AT. Das Moment verschwindet, indem seine drei Komponenten verschwin- den, im allgemeinen nur für eine Ebene. Diese Ebene ist von Min-

ding‘) und Moebius !%) als Centralebene des Kräftesystems bezeichnet worden.

36. Das skalare Moment in Bezug auf eine Ebene. Von dem vektoriellen Momente, mit den Komponenten =, H, Z, geht man zu dem skalaren Momente über, indem man den Ausdruck bildet

M=-y=:!+ HM 2. Denkt man sich nun die Kräfte des Systems um ihre Angriffspunkte, alle in der gleichen Weise, gedreht, so treten an die Stelle der Kom- ponenten X, Y, Z einer von ihnen die neuen Komponenten X=0,X+0,Y+03Z, Y=-o,X+0,Y+0Z, Z=0,X+ 07 + 03Z,

102) J. f. Math. 14 (1835), p. 289. 103) J. f. Math. 16 (1835), p. 1 = Werke 3, p. 523; auch im Lehrbuch der

Statik Bd. 1.

ER

a ee ee ee ee

36. Das skalare Moment. 37. Gebundene Komponenten e. Kräftesystems. 181

wobei die «;; die Cosinus der Winkel zwischen dem gedrehten und dem ursprünglichen Axenkreuz bezeichnen und identisch

XL? LP N? 127

wird. Dann transformieren sich gleichzeitig Z,H, Z u Z,H, Z in der folgenden Weise

Z=0o,= +0 N4+03Z, H=o,=2+0»H+ 03Z,

=,=2+0N+a,Z, und es wird auch =Z?+H?+ Z?’=2°’+ HH + 27. Das skalare Moment M bleibt also bei der Drehung der Kräfte um ihre Angriffspunkte ungeändert, oder, was dasselbe heisst, es besitzt unveränderlichen Wert für eine Ebene, die im Körper fest ist, wie

auch dieser letztere gegen das auf ihn wirkende Kräftesystem bewegt werden mag.

37. Gebundene Komponenten eines Kräftesystems. R.de Prony''*) unternahm die Untersuchung eines allgemeinen Kräftesystems in der Weise, dass er dieselbe auf die Betrachtung parallel gerichteter Kräfte zurückführte.e Er dachte sich nämlich jede Kraft des Systems in drei Kräfte mit demselben Angriffspunkte zerlegt, die in drei be- stimmten zu einander normalen Richtungen wirken. So wird das vorgelegte Kräftesystem durch drei Systeme paralleler Kräfte ersetzt. Jedes derselben liefert eine einzige resultierende Kraft mit einem be- stimmten Angriffspunkt, so dass das gegebene System schliesslich auf drei Kräfte zurückgeführt ist, die in drei zu einander normal aber sonst beliebig angenommenen Richtungen wirken. Lässt man diese Richtungen mit den Richtungen der Koordinatenaxen zusammenfallen, so werden die Intensitäten dieser gebundenen Komponenten des ge- gebenen Kräftesystems:

A,, A, 4,;, und ihre Angriffspunkte haben die Koordinaten !®) :

104) Gestalt und Umfang seiner ersten Vorlesungen lassen sich sehr gut erkennen aus dem Buche von L. B. Franceur, Trait6 de mecanique &lementaire d’apres les methodes de R. de Prony, Paris 1801. Später veröffentlichte R. de Prony selbst seine Legons de me&canique, Paris 1815.

105) Vgl. @. Darboux, Bordeaux, M&m. (2) 2 (1877).

182 IV2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

{ 4A 4A 4A eg eg Im A A (3) ea Gags a, 4, A, Se ee Go 2,

womit die 12 astatischen Koordinaten eines Kräftesystems eine ein- fache geometrische Deutung finden.

Diese drei Angriffspunkte liegen in der Centralebene. Die Komponenten aller Kräfte des Systems nach irgend einer Richtung haben also stets einen Mittelpunkt, der in der Centralebene liegt. Die Koordinaten dieses Mittelpunktes werden, wenn «, ß, y die Cosinus der Winkel sind, welche die angenommene Richtung mit den Koordi- natenaxen bildet:

z— Aut FAuß + Ar

Aa+ AP +47’

Er Ag + AP + Ass r

9 hat ApHAr ge A), +AsP + As?,

A4A,a+ 4P + 4,y Eliminiert man aus diesen Gleichungen «, ß, 7, so findet man die Gleichung der Centralebene

Gleichzeitig ergiebt sich aber, dass, wie man auch das gegebene Kräftesystem auf drei gebundene Komponenten nach drei zu einander normalen Richtungen reduzieren mag, die Angriffspunkte dieser Kom- ponenten immer in der Centralebene die Ecken eines Dreieckes bilden, welches ein Poldreieck in einem bestimmten Antipolarsystem ist!%®). Der reelle Mittelpunkt der zugehörigen imaginären Ordnungskurve ist der Minding’sche Centralpunkt‘) (der hiernach von dem in Nr. 28

106) @. Darboux, Bordeaux, M&m. (2) 2 (1877).

107) Zuerst J. f. Math. 14 (1835), p. 289. Von diesem Centralpunkte wieder verschieden ist der von A. F. Moebius so benannte Punkt (J. f. Math. 16 (1837), 'p. 1 = Werke 3, p. 523). Die in die Centralebene fallenden Komponenten der Kräfte des vorgelegten Systems, d. h. ihre Projektionen auf diese Ebene, lassen sich nach zwei in derselben gegebenen Richtungen aufs neue in Komponenten zerlegen. Dann liegen die Mittelpunkte dieser Systeme paralleler Komponenten,

1 a a ee ee

37. Gebundene Komponenten eines Kräftesystems. 183

erwähnten Hamilton’schen Centralpunkt durchaus verschieden ist). Seine Koordinaten &,, Y,, 2, erhält man, indem man in den Formeln (4) &:ß:y= A,:4A,: A, voraussetzt und zwar findet man so

= A,’x, + 4’ + Ay”, AA ? (6) ee u Er ein Ay A A Fre Aa Tr Aasr u’

AH AHA >

wo die &,, %, %3,... durch die Formeln (3) gegeben sind. Bringt man für jede Reduktion des vorgelegten Kräftesystems auf drei zu einander normale, gebundene Komponenten in den Angriffspunkten der letzteren Massen an, welche den Quadraten der in ihnen angreifenden Kompo- nenten proportional sind, so fällt der Schwerpunkt dieser drei Massen in den Minding’schen Centralpunkt.

Insbesondere lässt sich jedes gebundene Kräftesystem ersetzen durch eine Einzelkraft, die in einem bestimmten Punkte der Central- ebene angreift und normal gegen dieselbe gerichtet ist, und zwei Kräfte, die in der Centralebene normal gegen einander wirken. Es lässt sich ferner ein beliebiges, gebundenes Kräftesystem ersetzen durch eine Einzelkraft, die im Centralpunkte angreift, und zwei Kräftepaare, deren Arme zu einander senkrecht sind und deren Kräfte gegen die Einzelkraft normal wirken, während gleichzeitig die Kräfte des einen Paares senkrecht gegen die Kräfte des andern Paares gerichtet sind. Daraus erkennt man, dass durch eine bestimmte gemeinsame Drehung aller Kräfte die Kräfte der beiden Paare in die Richtungen ihrer Arme gebracht werden können, wobei gleichzeitig die Einzelkraft normal zu diesen beiden Armen gerichtet ist. Man kann also (vgl. Nr. 34) durch passende Wahl des Koordinatensystems und Drehung des Kräfte- systems alle astatischen Koordinaten des Systems bis auf die folgen- den drei zum Verschwinden bringen:

Au=P, A=Q, A=R.

Wird das Kräftesystem unter Festhaltung des ausgezeichneten Ko- ordinatensystem& wieder in die ursprüngliche Lage zurückgedreht, so müssen sich dann für die astatischen Koordinaten nach den in Nr. 36 angeschriebenen Formeln die Werte ergeben:

wie auch ihre Richtungen gegeben seien, immer auf einer bestimmten geraden Linie, der „Centrallinie“‘. Auf ihr ist der Mittelpunkt aller nach ihrer Richtung genommenen Komponenten enthalten, und diesen Punkt nennt Moebius den Centralpunkt. Derselbe ist jedoch nicht, wie der Minding’sche Centralpunkt, im Körper fest,

184 IV®. HE. Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

5 R; &ıP, 49, 0; BR; 0,P, 9%, 0; 0; R; tu P, 3 9, 0.

Soll in dieser Lage das Kräftesystem einer Einzelkraft statisch äqui- valent sein, so ist die Bedingung hierfür:

2) = &, P.

38. Die von den Ebenen gleichen Momentes umhüllte kon- fokale Flächenschar. Alle Ebenen, für welche das skalare Moment eines gegebenen Kräftesystems einen konstanten Wert M hat, um- hüllen gemäss den Formeln (2) eine Fläche zweiten Grades, deren Gleichung in Ebenenkoordinaten lautet:

(7) Ay U+A, Fr Aus W—A, T)’+(4,, U+A, V+A, W— 4, T)* +(4A,U+ A3aV/ +4, W— A, T’= M’(O?TV’+ w°?).

Lässt man hier M im Gebiete des Reellen variieren, so erhält man auf diese Weise die sämtlichen reellen Flächen einer konfokalen Schar . Wird die Lage des Koordinatensystems insbesondere so gewählt und das Kräftesystem so gedreht, dass nur A,,, Ass, A, von Null ver- schieden sind, so wird die vorige Gleichung von der Form

(M? P9) U? + (M? QY)V? + MW? R?T oder in Punktkoordinaten

2 2 2 tg tn

Die Axen dieses besonderen Koordinatensystems sind also die ge- meinsamen Hauptaxen der konfokalen Flächen. Der gemeinsame Mittelpunkt derselben ist der Minding’sche Centralpunkt, die z-Ebene ist die Müönding’'sche Centralebene. Die imaginäre Fokalkurve in der- selben, deren Gleichung lautet:

2 2 1 Btatam0,

wird von den Ebenen des Momentes M—= 0 umhüllt, unter denen aber nur die Centralebene selbst reell ist. Diese Fokalkurve ist die Ordnungskurve des in der Centralebene gefundenen Antipolarsystems (Nr. 37).

Unter den durch einen festen Punkt P, gehenden Ebenen um-

108) Die Verknüpfung der Astatik mit der Theorie der Trägheitsmomente, die ebenfalls auf eine Schar konfokaler Flächen führt, ist der Gegenstand eines Aufsatzes von D. Padeletti, Napoli, Rend. 22 (1883), p. 29. Vgl. auch E. Routh, Analytical statics, vol. 2, Astatics, Art. 33 ff.

38. Ebenen gleichen Momentes. 39. Die statischen Axen von F. Siacci. 185

hüllen dem Gesagten zufolge die Ebenen gleichen Momentes je einen Kegel aus einer konfokalen Kegelschar. Errichtet man auf jeder der Ebenen im Punkte P, das Lot und trägt auf diesem den reziproken Wert des zugehörigen Momentes als Strecke auf, so erfüllen die End- punkte dieser Strecken ein Ellipsoid, dessen Hauptaxen mit den ge- meinsamen Hauptaxen der konfokalen Kegel zusammenfallen und welches von Darboux als das Centralellipsoid des Punktes P, ein- geführt worden ist!%). Wird P, zum Koordinatenursprunge gewählt, so hat sein Oentralellipsoid die Gleichung:

(Aut+A,34+ Ars2)’+(Agı®+ AgsYy +Ags2)>+ (Az, 2 +Agg3y+ Ags 1.

Die Hauptaxen der Öentralellipsoide aller Punkte des Raumes bilden den Reye’schen Axenkomplex der Schar konfokaler Flächen, die von den Ebenen gleichen Momentes umhüllt werden.

Die Ebenen, die durch eine beliebige gerade Linie g gehen, zeigen paarweise gleiches Moment. Diese Ebenenpaare bilden eine Involution, und für die Doppelebene dieser Involution wird das Mo- ment am grössten und am kleinsten unter allen Ebenen, welche die Linie g enthalten. Wenn die Linie g zu dem Axenkomplexe der kon- fokalen Flächen gehört, sind die Doppelebenen zu einander normal und halbieren die Winkel aller Ebenenpaare gleichen Momentes; es sind die Paare der Tangentialebenen, welche durch die Gerade an die verschiedenen Flächen der konfokalen Schar gehen.

In einem Büschel paralleler Ebenen giebt es immer eine Ebene, für welche das Moment ein Minimum wird, und zwar geht diese Ebene durch den Mittelpunkt der parallelen Kräfte hindurch, welche die normal zu den parallelen Ebenen genommenen Komponenten der Kräfte des vorgelegten Systemes bilden.

39. Die statischen Axen von F. Siacei (für einen beliebigen Punkt). Der Minding’sche Satz. Ein gegebenes Kräftesystem lässt sich astatisch ersetzen durch eine Einzelkraft, deren Angriffspunkt O beliebig bleibt und deren Komponenten stets = A,, A,, A, werden, verbunden mit drei Kräftepaaren, deren Arme irgend drei durch O gehenden und zu einander normalen Axen angehören. Das vektorielle Moment jedes dieser Kräftepaare für diejenige Ebene, welche die Arme der beiden übrigen enthält, ist natürlich dem vektoriellen Momente des vorgelegten Kräftesystemes für dieselbe Ebene gleichzusetzen. Fallen die Arme der drei Kräftepaare in die Koordinatenaxen, so werden die astatischen Koordinaten dieser Paare

109) Bordeaux, M&m. (2) 2 (1877).

186 IV2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers,

0; Au, 0, 0; 0; 4A,,0,0; 1 4..0.000 8

Legt man die drei Arme insbesondere in die Hauptaxen des Centralellipsoides für den Punkt O, so werden die Kräfterichtungen der drei Kräftepaare zu einander normal. Der Körper lässt sich, wie man hieraus sieht, im allgemeinen durch Drehung um einen be- liebig angenommenen Punkt O in eine solche Lage bringen, dass das auf ihn wirkende Kräftesystem in statischer Hinsicht einer in O an- greifenden Einzelkraft äquivalent wird. Ist eine solche Lage ge- funden, so ergeben sich drei andere, indem man den Körper um jede der Hauptaxen des Centralellipsoides für den Punkt O eine halbe Umdrehung ausführen lässt. Die Axen der vier Rotationen um den Punkt O, durch die man den Körper aus der ursprünglichen in diese vier Lagen bringt, heissen nach F. Siacei 0) die statischen Axen dieses Punktes. Die Ebene durch irgend zwei von ihnen ist zu der Ebene durch die zwei übrigen normal.

In den Linien der vier Kräfte, welchen das Kräftesystem in den vier Lagen statisch äquivalent wird, schneiden sich zwei Kegel der konfokalen Kegelschar, welche zu dem Punkte O gehört, und zwar projizieren diese Kegel die beiden reellen Fokalkurven der im Körper festen konfokalen Flächenschar. Werden nämlich die gemeinsamen Symmetrieebenen der konfokalen Flächen wieder als Koordinatenebenen gewählt, so sind die Koordinaten y, 2 des Punktes, in dem die Wirkungs- linie einer der vier Einzelkräfte die z-Ebene trifft, aus den beiden Gleichungen zu bestimmen (vgl. Nr. 37 Ende):

2% a, P=a,Ry a, P=a,Re.

Aus diesen Gleichungen lassen sich mit Hülfe der beiden Relationen

Pe 2 a AR WG: 2, 9=uyP, 0, + ©, 9

alle darin vorkommenden «,, eliminieren, und man findet, dass y und 2 der Gleichung der einen Fokalkurve y? 0% ei pr Q°? Pa: R3 genügen. Ebenso genügen die Koordinaten x, z des Schnittpunktes mit der y-Ebene der Gleichung der anderen reellen Fokalkurve

110) Torino, Atti 17 (1882), p. 241. Vgl. dazu C. Segre, Modena, Mem. (3) 6 (1884).

RR ER IERERIEN

40. Verallgem. d. Minding’schen Satzes. 41. Moebius’ Hauptaxen d. Drehung. 187

Für jeden Punkt O auf einer dieser Fokalkurven wird das Central- ellipsoid eine Rotationsfläche, deren Axe die Fokalkurve in dem Punkte O berührt und somit einer Symmetrieebene der konfokalen Flächenschar angehört. Hat man das Kräftesystem um irgend eine Axe so gedreht, dass es sich statisch auf eine Einzelkraft reduziert, deren Axe dann beide Fokalkurven schneidet, so kann man das Kräftesystem noch einer weiteren Drehung um die Fokalkurven- tangente in einem dieser Schnittpunkte unterwerfen, es bleibt dann immer noch einer Einzelkraft äquivalent, und diese Einzelkraft dreht sich mit dem Kräftesysteme um die Tangente der Fokalkurve, indem ihre Linie stets auch die andere Fokalkurve trifft. Dies ist der Minding’sche Satz!!}).

40. Verallgemeinerung des Minding’schen Satzes durch G. Dar- boux"'?). Im Vorstehenden sind die besonderen Lagen des drehbaren Kräftesystems betrachtet, in denen es sich auf eine Einzelkraft re- duziert. Für eine beliebige Lage dagegen hat es eine Üentralaxe, und wenn man seine Kräfte auf alle die dreifach unendlich vielen möglichen Arten einer gemeinsamen Drehung um ihre Angriffspunkte unterwirft, so bewegt sich hierbei, wie @. Darboux gefunden hat, die Centralaxe in einem quadratischen Linienkomplexe, der sich dadurch definieren lässt, dass sich in seinen Linien immer zwei zu einander normale Ebenen schneiden, von denen jede eine der beiden Fokal- kurven berührt"!?). Zu diesen Linien gehören natürlich auch die- jenigen, welche beide Fokalkurven treffen, d. h. die Axe jeder Einzelkraft, auf welche sich das Kräftesystem reduzieren lässt.

41. Moebius’ Hauptaxen der Drehung. Jede Fokalaxe (vgl. Nr. 31 Ende) der konfokalen Flächenschar gehört einer Regelfläche aus dieser Schar an und hat die besondere Eigentümlichkeit, dass das skalare Moment des gegebenen Kräftesystems für alle durch sie hindurchgehenden Ebenen dasselbe ist. Es lassen sich, wie A. F. Moebius gefunden hat!!3), immer in zwei Punkten auf ihr solche Kräfte an- bringen, dass das Kräftesystem diesen beiden Kräften in der ursprüng- lichen Lage und jeder anderen Lage, die aus dieser durch Drehung um die Fokalaxe hervorgeht, statisch äquivalent wird. Moebius nennt die Fokalaxen deswegen die Hauptaxen der Drehung für das Kräfte- system.

111) J. f. Math. 15 (1835), p. 27. Vgl. auch @. Plarr, Edinb. Roy. Soc. Proc. 11 (1883), p. 528. 112) @. Darboux, Bordeaux, M&m. (2) 2 (1877). 113) Lehrbuch der Statik 1, $ 1371. Eneyklop, d. math. Wissensch. IV 1. 13

188 IV2. H.E.Timerding. Geometr. Grundleg. d. Mechanik e. starren Körpers.

42. Besondere Fälle astatischer Koordinaten. Wenn ein gebun- denes Kräftesystem der invarianten Bedingung genügt, dass die drei astatischen Koordinaten A,, A,, A, verschwinden, so lässt es sich immer auf drei gebundene Kräftepaare astatisch reduzieren, deren Arme den Axen eines beliebig gewählten Cartesischen Koordinaten- systems angehören. Das Moment M eines solchen Kräftesystems ist für eine Ebene, deren Normalen Richtungscosinus haben, die sich wie U:V:W verhalten, durch die Gleichung gegeben:

M’(U’+V’+WI)— (A, U +4: +A3W)’+ (A, U +A3V +4, WW)? + (A, +43 / +4, WR.

Es ist also dasselbe für parallele Ebenen, wird aber für keine reelle, im Endlichen gelegene Ebene Null, und unbestimmt für die unendlich ferne Ebene. Die konfokale Flächenschar reduziert sich auf eine Schar unendlich ferner Kegelschnitte, die aus jedem Raumpunkte durch konfokale Kegel projiziert werden. In den gemeinsamen Haupt- axen dieser Kegel liegen die Arme von drei Kräftepaaren, welche zusammen das vorliegende Kräftesystem astatisch ersetzen und deren Kräfterichtungen zu einander normal sind!'). Der Körper lässt sich sonach im allgemeinen auf vier verschiedene Arten ins Gleichgewicht bringen, und es ergiebt sich so der Satz''°), dass, wenn ein starrer Körper in einer Lage im Gleichgewichte ist, er es mindestens (von Parallelverschiebungen abgesehen) noch in drei anderen Lagen ist.

Insbesondere kann der Fall eintreten, dass ein Körper im Gleich- gewichte bleibt, wenn man ihn um eine gerade Linie beliebig dreht. Diese Linie heisst dann nach Moebius eine Axe des Gleichgewichtes '°). Damit eine solche existiert (womit dann auch jede Linie von der- selben Richtung eine Axe des Gleichgewichtes, wird) ist erforderlich und hinreichend, dass die Schar der soeben untersuchten konfokalen Kegel für einen und damit für jeden endlichen Punkt sich auf eine Schar koaxialer Rotationskegel reduziert. Die Bedingung hierfür ist durch das Verschwinden der Determinante

114) Es ist dies die früher (in Nr. 37) gegebene Reduktion, nur dass hier die resultierende Einzelkraft in Wegfall kommt.

115) A. F. Moebius hatte (Lehrbuch der Statik 1, $ 134) den Satz auf- gestellt, dass wenn ein Körper in vier Lagen im Gleichgewicht sei, er es auch in jeder beliebigen fünften Lage sein müsse. Dieser Satz bedarf also, wie @. Dar- boux bemerkt hat, der wesentlichen Einschränkung, dass die vier Lagen nicht vier zusammengehörige Lagen des Gleichgewichtes sein dürfen.

116) Lehrbuch der Statik 1, Kap. 8.

42. Besondere Fälle astatischer Koordinaten. 189

| (Ass + As) Ars Ays | | Ayı (Ay + Au) Ay | | Azı Az (Aut Ass) |

gegeben, indem man in der ursprünglichen Lage Gleichgewicht und damit A,, = A,, voraussetzt. Die Richtungscosinus «, ß, y der Axen des Gleichgewichtes bestimmen sich dann aus den Gleichungen:

(Ag + Ag)a + Asß + Aur =9, Ay, (Ag + Aı)B + Asr=I0,

Aya+ Agß— (Aut As)y —0. Verschwindet im Falle A, =0, A,=0, A,=0 die Determinante

| Ay Ar As A= | Az Ag As, Ay Ay As

so giebt es eine Schar paralleler Ebenen, für welche das Moment M des Kräftesystems = 0 wird. Diese Ebenen sind dann zu der ge- meinsamen, inneren Hauptaxe der Scharen konfokaler Kegel für die einzelnen Raumpunkte normal.

Verschwindet endlich die Determinante A mit allen Unterdetermi- nanten, so wird das Kräftesystem einem gebundenen Kräftepaar astatisch äquivalent. Das Moment M desselben für eine beliebige Ebene ist gleich dem Produkte aus der Intensität seiner Kräfte und der Pro- - jektion seines Armes auf die zur Ebene senkrechte Richtung. Es - verschwindet also insbesondere für alle Ebenen, die zu dem Arme - parallel sind. Die Schar der konfokalen Kegel wird für jeden Punkt _ eine Schar von Rotationskegeln, deren gemeinsame Axe dem Arme des Kräftepaares parallel ist. In der That kann man den unter der - Einwirkung des Kräftepaares stehenden Körper durch Drehung um _ eine beliebige, zur Ebene des Paares senkrechte Axe ins Gleich- _ gewicht bringen, und dieses Gleichgewicht bleibt allemal erhalten, _ wenn man den Körper irgendwie um eine zum Arme des Paares

- parallele Axe dreht!!”),

Sy "a el u

& 117) Wenn A,, A,, 4, #0 sind, aber A verschwindet, so giebt es ein Ebenenbüschel, und wenn A mit allen Unterdeterminanten verschwindet, ein Ebenenbündel, für welches das Moment 0 ist. Wird im letzteren Falle

Ay :Ayı 2 Ayı Arsi Age: Ass Arsi Ays: Ass = Ay: Ay: An, so ist der Scheitel des Ebenenbündels Mittelpunkt des Kräftesystems, indem

| a _ dieses sich für alle Lagen durch eine in diesem Mittelpunkte angreifende Kraft = . ersetzen lässt.

(Abgeschlossen im Februar 1902.) 13*

190 IV 3. A. Schoenflies und M. Grübler. Kinematik.

IV3. KINEMATIK.

Von A. SCHOENFLIES In KÖNIGSBERG I/PR.

Mır EINEM ZUSATZE*) von M. GRÜBLER ın DRESDEN.

Inhaltsübersicht.

A. Endliche Bewegungen.

1. Die einfachsten Typen der Bewegungen und Umlegungen.

2. Zusammensetzung von Bewegungen und Umlegungen.

3. Der Dualismus in der Bewegung.

4. Mehrere incidente Lagen derselben Ebene oder desselben Bündels. 5. Mehrere Lagen desselben räumlichen Systems.

. Analytische Darstellung der Bewegungen.

B. Stetige Bewegungen.

?. Geschwindigkeit und Beschleunigungen eines Punktes. 8. Die stetige Bewegung einer Ebene in sich. 9. Metrische Relationen und Konstruktionen. 10. Geschwindigkeit und Beschleunigungen der ebenen Bewegung. 11. Spezielle ebene Bewegungen. 12. Das Kurbelgetriebe. 13. Angenäherte Kurvenführung mittelst des Kubleseihes, 14. Die stetige Bewegung um einen festen Punkt. 15. Geschwindigkeit und Beschleunigungen der Bewegung um einen Punkt. 16. Polhodie und Herpolhodie. 17. Die Axenflächen der allgemeinsten Bewegung. 18. Geometrische Eigenschaften der räumlichen Bewegung. 19. Geschwindigkeit und Beschleunigungen der räumlichen Bewegung. 20. Bewegung bei Freiheit zweiter und höherer Stufe. 21. Besondere räumliche Bewegungen. 22. Flächeninhaltsätze.

C. Die Mechanismen. 23. Mehrere in einander bewegliche Ebenen. 24. Die durch Gelenkketten herstellbaren Verwandtschaften. 25. Die Untersuchungen von Kempe und die übergeschlossenen Ketten. 26. Relative Bewegung. 27. Zahnräder und verwandte Mechanismen. 28. Allgemeine Theorie der kinematischen Ketten.

*) Dieser Zusatz umfasst die Nummern 28—80.

Litteratur 191

29. Ebene kinematische Ketten. 30. Räumliche kinematische Ketten.

D. Anhang. 31. Kinematik veränderlicher Systeme.

Litteratur *).

Lehrbücher **).

J. B. Belanger, Traite de cinematique, Paris 1864.

D. Bobylew, Analytische Mechanik, Teil 1, Kinematik, St. Petersburg 1885 (russisch).

E. Bour, Cours de me&canique et de machines, Paris 1865.

L. Bwrmester, Lehrbuch der Kinematik, Leipzig 1888.

W. K. Clifford, Elements of dynamic, part. 1, London 1878; part. 2, London 1887.

F. Grashof, Theoretische Maschinenlehre, Bd. 2, Berlin 1883.

@. Königs, Legons de cinematique, Paris 1897.

Oh. Laboulaye, Traite de cinematique, Paris 1849.

A. Mannheim, Principes et developpements de geometrie cinematique, Paris 1894.

Th. Olivier, Theorie g6ometrique des engrenages, Paris 1842.

J. Petersen, Kinematik, Kopenhagen 1884.

H. Poincare, Oinematique et mechanismes, Paris 1899.

H. Resal, Trait de cinematique pure, Paris 1862.

F. Reuleaux, Theoretische Kinematik, Bd. 1, Braunschweig 1875.

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J. Somoff, Theoretische Mechanik, übersetzt von A. Ziwet, Bd. 1: Kinematik, Leipzig 1878.

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‘H. Weiss, Grundsätze der Kinematik, Leipzig 1900 (im eecheinen),

R. Willis, Principles of mechanism, London 1841.

Monographieen und grundlegende Abhandlungen.

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*) In der durch den Druck hervorgehobenen Abkürzung ist das betreffende Werk im Texte citiert. * Man vgl. auch die Abschnitte über Kinematik in den in IV 1 (Voss) und IV 2 (Timerding) genannten Lehrbüchern. ***, Das M&moire stammt aus dem Jahre 1829.

192 IV 3. A. Schoenflies und M. Grübler. Kinematik.

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A. Endliche Bewegungen.

l. Die einfachsten Typen der Bewegungen und Umlegungen. Die Kinematik betrachtet die Bewegungsgesetze unabhängig vom Begriff der Kraft und jeder sonstigen dynamischen Vorstellung. Ihre methodische Abspaltung von der allgemeinen Mechanik geht auf A. M. Ampere!) zurück ?).

1) Essai sur la philosophie des sciences, Paris 1834, p. 48; auszugsweise mitgeteilt von F. Reuleaux, Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ing. 34 (1890), p. 244. Vgl. auch A. Transon, L’Institut 38 (1870), p. 117. Ampere hoffte, dass das Studium der Bewegungen und Geschwindigkeiten in erster Linie für die Theorie der Mecha-

1. Die einfachsten Typen der Bewegungen und Umlegungen. 193

Die einfachsten Bewegungen sind die Schiebung oder Gleitung (Translation), die Drehung (Rotation) und die Schraubung (Torsion)?), d. h. diejenige Bewegung, bei der eine Drehung um eine Axe und eine Gleitung längs dieser Axe gleichzeitig und gleichförmig aus- geführt werden®). Andrerseits kann auch jede Ortsveränderung eines Raumgebildes durch eine dieser drei Bewegungen vermittelt werden. Dass jede Ortsveränderung eines Körpers, von dem ein Punkt O fest ist, durch Drehung um eine durch O gehende Axe a ausführbar ist, entdeckte L. Euler®). Bewegt sich eine Ebene 6 in sich, so lässt sich gleichfalls jede Lagenveränderung durch Drehung um einen ihrer Punkte (Drehungscentrum O) ausführen; die Drehung wird zur Gleitung, falls O ins Unendliche fällt. Diesen Satz gab zuerst M. Chasles ®); man verdankt ihm auch den allgemeineren Satz, dass die allgemeinste Ortsveränderung eines Körpers 2 stets durch eine gewisse Schraubung A(e, r) um eine bestimmte Axe bewirkt werden kann. Die Schraubung wird zur Drehung oder Gleitung, je nachdem die Gleitungskompo- nente z oder der Drehungswinkel « gleich Null ist. Der Falla=x hat durch Untersuchungen von H. Wiener theoretische Bedeutung er- langt (Nr. 2); ihm entspricht eine Umwendung oder Umschraubung, je nachdem r = 0 ist oder nicht.

Es ist zweckmässig, mit der Theorie der Bewegungen die Theorie derjenigen Raumtransformationen zu verbinden, die den Raum in ein

nismen nutzbringend sein würde. J. V. Poncelet hat alsbald in Vorlesungen, die er 1838 hielt, eine dementsprechende Theorie der Maschinen aufzustellen begonnen.

2) Der Teil der Kinematik, der auch von dem zeitlichen Verlauf der Be- wegung abstrahiert und nur die Lagen ins Auge fasst, die das bewegliche Ge- bilde der Reihe nach einnimmt, wird als Geometrie der Bewegung bezeichnet. Er ist durch M. Chasles geschaffen worden, sein weiterer Ausbau knüpft sich vorwiegend an den Namen von A. Mannheim. Für Mannheim war übrigens die kinematische Ableitung von Sätzen und Resultaten zur Theorie der Kurven und Flächen das eigentliche Ziel der Untersuchung. Auch @. Darboux und seine Schüler haben die Kinematik für diesen Teil der Geometrie mit vielem

‘Erfolg benutzt (Legons sur la theorie generale des surfaces, 4 Bde., Paris 1887 1896). In der gleichen Richtung bewegen sich die Lezioni di geometria in- trinseca von E. Cesäro, Napoli 1896 (deutsch von @. Kowalewski unter dem Titel: Vorlesungen über natürliche Geometrie, Leipzig 1901).

3) Eine Drehung um die Axe «a vom Winkel « werde durch X(«) be- zeichnet; eine Schraubung um a vom Winkel & und der Gleitung r durch Ye, r).

4) Es sind dies zugleich die Bewegungen, deren Bahnen durch sie in sich übergehen.

5) Petersburg, Novi Comm. 20 (1776), p. 202. Statt der Bewegung um O kann man auch die Bewegung einer Kugelfläche in sich betrachten; für sie ist der Schnitt mit « das bezügliche Drehungscentrum.

6) Bull. des scienc. de Ferussac 14 (1830), p. 321 resp. 324.

194 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

ihm spiegelbildlich gleiches Gebilde Z überführen, und die man neuer- dings als Umlegungen bezeichnet”); auch Chasles®) hat sich bereits mit ihnen beschäftigt. Genau genommen kommen Umlegungen nur für dreidimensionale Gebilde in Betracht; man muss sie aber auch inner- halb einer Ebene 6 ins Auge fassen, wenn man verlangt, dass die Ebene aus ihrer Lage niemals heraustritt.

Für den bezüglichen Übergang von 6 in ö existieren zwei ein- fachste Typen von Umlegungen. Es kann 6 in 6 durch Spiegelung an einer Geraden 9 oder durch Spiegelung an g in Verbindung mit einer Gleitung längs g übergehen.

Für den Übergang von & in & sind vier verschiedene einfachste Typen vorhanden. Er kann bewirkt werden durch Spiegelung an einem Punkt O (Inversion), durch Spiegelung an einer Ebene &, durch Spiegelung an einer Ebene & und Drehung um eine zu & normale Axe°) (Drehspiegelung), endlich durch Spiegelung an & und Gleitung längs & Die drei ersten Typen sind zugleich diejenigen, die in Frage kommen, wenn ein Punkt von 2 fest bleibt, wie zuerst E. Hessel‘’) erkannt hat.

Die vorstehenden elementaren Sätze besitzen eine tiefere Quelle in der allgemeinen Theorie incidenter projektiver Ebenen und Räume (III A 5, Schoenflies). Von den drei Doppelpunkten kollinearer Ebenen fallen nämlich, wenn die Ebenen kongruent sind, zwei in die imaginären Kreispunkte, und der dritte in das Drehungscentrum; bei allen Be- wegungen von 6 in sich bleiben daher die Kreispunkte fest. Ferner haben zwei kongruente Räume den Kugelkreis und auf ihm zwei Punkte entsprechend gemein; die Ebenen durch sie und die Schrauben- axe liefern zwei Ebenen des gemeinsamen Tetraeders, während die andern zwei in die doppeltzählende unendlich ferne Ebene fallen. Diese Thatsachen zeigen zugleich die Bedeutung, die die imaginären Kreispunkte und der Kugelkreis für die in der Kinematik auftretenden Kurven und Flächen besitzen, und diesen vielfach einen speziellen Charakter aufprägen !!).

7) Vgl. z. B. E. Study in Math. Ann. 39 (1891), p. 441.

8) Paris C. R. 51 (1861), p. 126.

9) Ist der Drehungswinkel =, so ergiebt sich eine Inversion; jede durch O gehende Axe kann als Drehungsaxe gewählt werden.

10) Vgl. den Artikel über Krystallographie in Bd. 5? von @Gehler’s physi- kalischem Wörterbuch, Leipzig 1830, sowie den bez. Artikel in Bd. V der Ency- klopädie.

11) Diesen speziellen Charakter hat zuerst A. Manmheim hervorgehoben, Surfaces trajectoires, p. 59.

2. Zusammensetzung von Bewegungen und Umlegungen. 195

2. Zusammensetzung von Bewegungen und Umlegungen. Wenn ein Raumgebilde zuerst eine Bewegung oder Umlegung X und dann eine zweite ® erfährt, so kann der Übergang aus der Anfangslage in die Endlage immer auf eine der in Nr. 1 genannten typischen Weisen bewirkt werden. Diese resultierende Operation & ist immer und nur dann eine Bewegung, wenn sowohl W als ® Bewegungen resp. Umlegungen sind. Wird zuerst ® und dann W ausgeführt, so ist die resultierende Operation &, im allgemeinen von & verschieden; ist © = @,, so heissen A und B vertauschbar'?). Diese Bezeichnung hängt damit zusammen, dass man auf Bewegungen und Umlegungen den formalen Begriff der Multiplikation anwenden kann. Man schreibt AB—= E und nennt E das Produkt von A und B; für diesen Pro- duktbegriff besteht das associative, aber im allgemeinen nicht das kom- mutative Gesetz'?).

Gleitungen sind Vektoren; ihre Zusammensetzung bestimmt sich daher durch ihre Addition (IV 2, Timerding). Um für zwei Rotationen°) Ye) und B(ß), deren Axen a und b sich in O schneiden, die resultierende Drehung C&(y) zu bestimmen, konstruiert man die Axe c durch O so, dass X cab="e und Xcba=",ß ist, und hat X acb—=Y, (n—y). Dies findet den einfachsten Ausdruck in der folgenden von W. R. Hamilton“) stammenden Formulierung: Drehungen, die nach einander um die Axen a,b, c um resp. die doppelten Winkel des von ihnen gebildeten Dreikants erfolgen, führen den Raum in seine Anfangslage zurück.

Sind die Axen a und b parallel, so ist auch c ihnen parallel, und es ist „= «+ ß; die Lage von a, b, c ist ebenfalls nach dem Hamilton’schen Satz bestimmt. Ist dabei «+ß=0, so bilden X und B ein Drehungspaar, und die resultierende Bewegung; ist eine Gleitung r, deren Richtung zu a und b senkrecht ist"). Man kann daher jede Drehung durch eine Drehung vom gleichen Winkel um eine parallele Axe und eine zur Axe senkrechte Gleitung ersetzen. Hieraus folgt weiter, dass jede Schraubung durch irgend eine Gleitung und eine Drehung vom gleichen Winkel um eine zur Schraubenaxe parallele

12) Bei den einfachen Operationen von Nr. 1 sind die Komponenten stets vertauschbar. ;

13) Für eine ausführliche Darlegung vgl. z. B. H. Wiener, Leipz. Ber. 42 (1890), p. 249 ff., sowie A. Schoenflies, Krystallsysteme und Krystallstruktur, Leipzig 1891, p. 31 ff.

14) Lectures on quaternions, Dublin 1853, $ 217 u. 344; vgl. auch A. F. Möbius, Leipz. Ber. 11 (1859), p. 138.

15) Ist AB Abstand von a und b, so istr=2AB sin ", «.

196 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

Axe ersetzbar ist, sodass hier ähnliche Sätze und Formeln Platz greifen, wie bei den unendlich kleinen Bewegungen (IV 2); nur dass hier die Folge der Bewegungen im allgemeinen nicht vertausch- bar ist!P),

Die Zusammensetzung zweier Schraubungen findet den einfachsten Ausdruck durch einen Satz, der demjenigen Hamilton’s analog ist. Sind a, b, c irgend drei windschiefe Geraden, «, v, w ihre gemeinsamen Lote und trifft z. B. u die Geraden b und e in U, und U,, so lautet er: Werden um a, b, c der Reihe nach Schraubungen X,®,C aus- geführt, sodass

«= 2(v0), B=2wu), y=%uo), r=2V,W,. 7,=2W,D,, ,=2U,V,

ist, so kommt durch diese Schraubungen & wieder in seine Anfangs- lage zurück. Dieser Satz wurde seinem Inhalt nach zuerst von G. Halphen ‘') aufgestellt. Um für ihn sowie für den Satz Hamilton’s die einfachste Quelle aufzudecken, muss ich einer neueren Unter- suchungsrichtung Erwähnung thun, deren methodische Ausnützung für die vorliegenden Fragen auf H. Wiener‘) zurückgeht, und die darauf hinausläuft, als Elementaroperationen solche der Periode 2 zu verwenden, d. h. diejenigen, deren zweimalige Ausführung den Raum wieder in seine Anfangslage zurückführt.

Bewegungen dieser Art giebt es nur eine, nämlich die Um- wendung; Umlegungen giebt es zwei, die Spiegelung an einem Punkt und an einer Ebene. Jede dieser Operationen ist also durch einen Punkt resp. eine Gerade oder Ebene unmittelbar definiert!*). Eine beliebige Bewegung oder Umlegung lässt sich als Produkt aus zweien dieser Operationen darstellen; insbesondere kann eine Schraubung als Produkt.von zwei Umwendungen aufgefasst werden (Nr. 5). Dieser Umstand ist es, auf dem die methodische Zweckmässigkeit des Wiener- schen Gedankens beruht. Bewegungen und Umlegungen ordnen sich damit in die Klasse derjenigen Verwandtschaften ein, die als Produkt

16) Diese Sätze und die zugehörigen Formeln dürften von O. Rodrigues stammen; vgl. Deplacement d’un syst&me solide, $ 10 ff.

17) Nouv. ann. (3) 1 (1882), p. 296. Vgl. auch W. Burnside, Mess. of math. (2) 19 (1889), p. 104, der einen auf nicht-euklidische Bewegungen übertragbaren Beweis und die aus ihm folgende Konstruktion der resultierenden Schraubung gab. Für diese Konstruktion vgl. auch H. Wiener, Leipz. Ber. 42 (1890), p. 76.

18) Leipz. Ber. 42 (1890), p. 245 ff.; 43 (1891), p. 424, 644.

19) H. Wiener bezeichnet deshalb die Umwendung auch als Spiegelung an einer Geraden (a. a. O. p. 431).

2. Zusammensetzung von Bewegungen und Umlegungen. 197

zweier involutorischen Verwandischaften darstellbar sind, und gestatten die Übertragung der bezüglichen allgemeinen Begriffe und Sätze a,

Für die Zusammensetzung der Spiegelungen und Umwendungen bestehen folgende Sätze: Sind 3 und 3, Spiegelungen an den Punkten M und M,, so ist S3, eine Gleitung r und es ist = 2MM,;; sind © und ©, Spiegelungen an e und &,, so ist ©&, eine Drehung A(«) um die Gerade a = (ee,) und es ist «= 2(ss,); sind U und ® Um- wendungen um « und v, so ist U eine Schraubung A(«, r) um den kürzesten Abstand von u und v, es ist e—=2(u,v) und r=2UV, wo U und V die Schnittpunkte von v und v mit a sind. Hiernach ergiebt sich der Satz von Halphen unmittelbar aus der evidenten Identität

DB-WU-UV =1, ebenso fliesst der Satz von Hamilton direkt aus der Formel

5, z 5,5: 6, Fan 15

wenn &©,, ©,, ©, Spiegelungen an den Ebenen der dreiseitigen Ecke a, b, ce sind").

Man kann fragen, auf wie mannigfache Art eine Bewegung oder Umlegung durch andere Operationen, insbesondere durch involuto- rische ersetzbar ist. Für einen speziellen Fall haben zuerst ©. Mos- hammer und H. Wiener diese Frage gestellt und beantwortet ??). All- gemeiner hat E. Study?°) diese Probleme behandelt. So ist z. B. eine Umlegung auf 00° Arten durch drei Spiegelungen ersetzbar, eine Be- wegung im allgemeinen auf 00° Arten durch zwei Umwendungen, auf 00° Arten durch zwei Drehungen, auf 00% Arten durch vier Spiege- lungen an Ebenen u. s. w. u. s. w.

Die Sätze über Zusammensetzung von Umlegungen ergeben sich

20) Vgl. H. Wiener, Leipz. Ber. 43 (1891), p. 658.

21) Wird diese Formel auf parallele Axen angewandt, so führt sie zu dem Satz von CO. Stephanos, dass drei incidente Lagen o,, o,, o, aus einer Ebene 6 durch Spiegelung an drei Geraden g’, g’, g” erhalten werden können (Bull. Soc. philom. (7) 6 (1881), p. 13). Dieser Satz bildete den Ausgangspunkt von Halphen; sein eigener Satz ist dessen Verallgemeinerung auf den Raum.

22) Wien. Ber. 73? (1876), p. 143 und Leipz. Ber. 42 (1890), p. 85. Der spezielle Fall betrifft die Überführung einer Geraden g in g,. Es giebt oo° Schraubungen, die es leisten; sie bilden eine auf einer Geraden w senkrechte lineare Kongruenz. Soll ein Punkt P nach P, gelangen, so sind dazu oo! Schraubungen tauglich, die ein Cylindroid bilden, u. s. w.; vgl. IV 2, 16.

23) Math. Ann. 39 (1891), p. 487 ff. Für Bewegungen besonderer Art modi- fizieren sich die obigen Sätze.

198 IV 3.: A. Schoenflies und M. Grübler. Kinematik.

aus den vorstehenden durch Reduktion der Umlegungen in ihre Be- standteile **).

3. Der Dualismus in der Bewegung. Dem relativen Charakter der Bewegungsbegriffe entsprechend kann man die Bewegung von & gegen 3’ auch als Bewegung von X’ gegen 2 auffassen; es hängt dies nur davon ab, ob man sich selbst während des Bewegungs- vorganges in 2 oder &” befindlich denkt. Die eine Bewegung wird als Umkehrung der andern bezeichnet.

Es ist M. Chasles ®), der zuerst darauf hinwies, dass wenn der Punkt A von 6 in 6’ die Kurve a’ beschreibt, bei der umgekehrten Bewegung von 0’ in 6 die Kurve a’ stets durch A geht. Allerdings kam es Ohasles mehr auf die technische Seite dieses „Dualismus“ an; für die Theorie haben ihn besonders S. Aronhold ”) und später A. Schoenflies ?°) verwertet.

Die eben erwähnte Beziehung gilt auch in der Weise, dass wenn ein Punkt A von 6 n-mal auf eine Kurve cd’ fällt, bei der um- gekehrten Bewegung c’ n-mal durch A geht. Hieraus folgt: 1) Sind die Bahnkurven einer ebenen Bewegung von der Ordnung n, so sind die Enveloppen der Geraden der anderen Bewegung von der ne Klasse; 2) hat für die eine Bewegung die Bahn von A einen Wende- punkt, so ist A für die umgekehrte Bewegung Spitze der zur Wende- tangente gehörigen Enveloppe. Analoge Beziehungen bestehen für die räumliche Bewegung. Fällt A n-mal in die Ebene «‘, so geht bei der umgekehrten Bewegung « n-mal durch A und es folgt: 1) Sind für die eine Bewegung die von den Punkten, Geraden und Ebenen erzeugten Gebilde algebraisch, so sind sie es auch für die andere Bewegung; 2) der Grad der von den Geraden erzeugten Regelflächen ist für beide Bewegungen der gleiche; 3) die Ordnung der Bahnkurven der einen Bewegung ist gleich der Klasse der ab- wickelbaren Flächen der andern; sind die Kurven eben, so sind die genannten Flächen Kegelflächen ?”).

Die Bahnkurven und Bahnflächen beider Bewegungen sind im

24) E. Study, Math. Ann. 39 (1891), p. 487; H. Wiener, Leipz. Ber. 43 (1891), p- A31ff., sowie A. Schoenflies, Krystallsysteme und Krystallstruktur, p. 49 ff. u. 341 ff.

25) Apergu historique sur l’origine et le developpement des me6thodes en geometrie, Paris 1875, p. 408.

26) Kinematische Geometrie, p. 134 ff. u. Paris C. R. 101 (1885), p. 150.

27) @. Darboux, Paris C. R. 92 (1881), p. 119. Analoge Sätze bestehen bei Freiheit zweiter Stufe (Nr. 20).

8. Der Dualismus in der Bewegung. 4. Mehrere Lagen derselben Ebene. 199

allgemeinen verschiedener Natur”). Für jede Bewegung von 6 in 0’ gilt aber der Satz, dass wenn ein Punkt A von 6 in 6’ einen Kreis um A’ beschreibt, auch A’ in 6 einen Kreis beschreibt, dessen Mittel- punkt wieder A ist. Ebenso wenn ein Punkt A von & auf einer Kugel von &’ bleibt, so bleibt das Centrum A’ dieser Kugel in & auf einer Kugel um A. Dieselbe Reciprocität besteht, wenn A in n Lagen auf einem Kreis oder einer Kugel um 4’ liegt; es liegt dann auch A in n Lagen auf dem Kreis oder der Kugel um A”. Diese Thatsache ist von wesentlicher Tragweite?®) (Nr. 4 u. 5).

In jeder Lage sind die Geschwindigkeiten desselben Punktes für die direkte und umgekehrte Bewegung entgegengesetzt gleich. Für die Beschleunigungen gilt dies im allgemeinen nicht; für die Tangential- beschleunigung der ebenen Bewegung (Nr. 10) gilt es aber, da ja die Punkte H und H’ für beide Bewegungen zusammenfallen !*).

4. Mehrere ineidente Lagen derselben Ebene oder desselben Bündels. Zwei Lagen o, und 6, derselben Ebene 6 bedingen ein Drehungscentrum O (Nr. 1), ferner gehört zu je zwei Punkten A, und A, ihre Sehne A,A,, deren Mittelpunkt A, und ihr Mittellot a”, endlich gehören zu den Geraden g, und 9, die beiden Winkel- halbierenden g, und 9. Die Punkte A, bilden im allgemeinen ein zu 6 ähnliches System o„, die Lote a” gehen sämtlich durch O, und von den Geraden g, und g, gehen die einen sämtlich durch O, während die andern ein zu 6 ähnliches System liefern). Die Gesamtheit der Sehnen A,A, steht zu 6 in einer Verwandtschaft zweiten Grades. Geht 6, durch Gleitung oder Umwendung in 6, über, so treten Aus- nahmen ein®!). Die hier erwähnten Verwandtschaften sind die Quelle für eine grosse Reihe einzelner Sätze, die meist schon von M. Chasles ausgesprochen worden sind °?).

Drei Lagen o,, 6,, 6, bedingen drei Drehungscentren O,,, Oj5, Oss

28) Sie können auch völlig gleich sein, so z. B. für Gleitung, Drehung und Schraubung (Nr. 1). Vgl. auch Nr. 21.

29) Wenn bei der Bewegung um einen festen Punkt ein Punkt A auf einer Kugelfläche einen grössten Kreis beschreibt, so geht bei derselben Be- wegung auch ein Kreis dieser Kugel durch einen festen Punkt.

30) Chasles, Deplacement fini, p. 855. Die Winkelhalbierenden hat zuerst E. Study betrachtet, Math. Ann. 39 (1891), p. 448. Sind T, und T, die Ähn- lichkeitstransformationen, die A, resp. A, in A,, überführen, so gehen g, und 9; durch T, und T, in g, resp. g, über.

31) Vgl. E. Study, Math. Ann. 39 (1891), p. 447.

32) Construction des normales. Vgl. eine Berichtigung bei V. Retali, Bologna Mem. (5) 2 (1892), p. 585.

200 IV 3. A. Schoenflies und M. Grübler. Kinematik.

und ausserdem ein System 6’, gebildet von den Schnittpunkten A’ der auf A,A, und A,A, errichteten Lote a” und a,”. Das System 6’ der Punkte A’ steht mit jedem System 6, in einer quadratischen Ver- wandtschaft B,®.°°) Hauptpunkte sind in 0’ die Punkte O,,; überdies entsprechen die imaginären Kreispunkte sich selbst, wodurch der ein besonderer Charakter aufgeprägt ist. Da A’ Centrum des um A,, As, A, beschriebenen Kreises ist, so ist (Nr. 3) A Mittelpunkt des bezüglichen Kreises durch A,', A,', Ay; es haben daher die durch verbundenen Systeme 6 und 6’ wechselseitige kinematische Bedeutung®*). Die im folgenden für die eine Bewegung aufgeführten Sätze gelten daher auch für die andere.

Aus der Natur der folgt, dass der unendlich fernen Ge- raden g’, von 6’ in 6 ein durch die Hauptpunkte gehender Kreis w, entspricht; er geht auch durch den Höhenschnittpunkt des Haupt- dreiecks von 6’,”) und ist zugleich Ort solcher Punkte W, für die W,, W,, W, auf einer Geraden liegen; alle diese Geraden W, W, W, gehen durch einen und denselben Punkt V”.

Tritt zu den Lagen 6,, 6,, 6, eine vierte Lage 6, hinzu, so kann man nach Punkten K fragen, für die K,, Ks, K,, K, demselben Kreise angehören. Sie bilden®®) eine durch die imaginären Kreis- punkte und die Hauptpunkte gehende Fokalkurve k,; gemäss der Natur der ®@ entspricht ihr in 6’ eine Kurve %,', die für 6’ die gleiche kinematische Bedeutung besitzt. Auf k, giebt es insbesondere einen Punkt U, für den U,, T,, U,, U, in eine Gerade fallen; es ist der von den O,, verschiedene Schnittpunkt von w, mit k,. C. Roden- berg?) hat die vorstehenden Sätze auf beliebig viele Lagen verall- gemeinert. Er betrachtet irgend eine Kurve c’‘, die durch m Punkte bestimmt ist, und bestimmt solche Punkte Z von 6, die n m +1 oder mehr Lagen auf einer solchen Kurve enthalten sind.

Für zwei, drei und mehr Lagen eines Bündels (Nr. 2) resp. einer Kugelfläche, die sich in sich bewegt, gelten ähnliche Sätze. Die in sich dualistische Natur des Bündels, die in der Polarität zwischen den Strahlen und den zu ihnen senkrechten Ebenen besteht, bewirkt,

33) Vgl. L. Burmester, Civiling. (2) 22 (1877), p. 598.

34) A. Schoenflies, Geometrie der Bewegung, p. 12 ff.

35) L. Geisenheimer, Zeitschr. f. Math. 24 (1879), p. 137.

36) L. Burmester, Civiling. (2) 22 (1876), p. 598 ff. u. 23 (1877), p. 227 u. 319. Die vier Lagen bestimmen 6 Pole O,,. Deren Lagenbeziehungen erörtert Burmester, Kinematik, p. 616 ff. Die %,’ ist Brennpunktskurve der aus den O,, gebildeten Vierecke.

37) Gött. Nachr. 1888, p. 176.

5. Mehrere Lagen desselben räumlichen Systems. 201

dass es zu zwei Strahlen /, und /, zwei Halbierungslinien giebt, und damit zwei Normalebenen, und diese sind mit den Ebenen und Strahlen, die zu zwei Ebenen &, und &, des Bündels gehören, durch eine ausnahmslose Dualität verbunden®®). Dem Kreis w, der Ebene entsprechen jedoch im Bündel zwei verschiedene Kegelflächen. Es giebt einen Kegel K,, der mit Bezug auf die im Bündel ebenfalls vorhandene Verwandtschaft 3@® der zu a senkrechten Ebene ent- spricht. Dieser Kegel ist aber nicht mehr Ort der Strahlen /, für die l,, %;, I, in je eine Ebene fallen; diese Strahlen bilden vielmehr einen Kegel dritter Ordnung K,, und ebenso umhüllen die Ebenen x, deren

Lagen x,, x, x, durch eine Gerade gehen, einen Kegel der dritten Klasse ®®).

5. Mehrere Lagen desselben räumlichen Systems. Den geome- trischen Eigenschaften zweier kongruenten Räume &, und 2, hat M. Chasles *°) eine eingehende und erfolgreiche Untersuchung gewidmet, und über sie eine beinahe erstaunliche Fülle einzelner Sätze auf- gestellt.

Sind A, und A, zwei entsprechende Punkte von &, und 2,, so sei wieder A,A, ihre Sehne, A, deren Mitte und « die in A, auf A,A, konstruierte Normalebene. Bei allgemeiner Lage von &, und 2%, ist dann das System 3, affın zu &, und 2, und 2” reciprok zu ihnen; der fundamentale Satz, der die Theorie beherrscht, findet darin seinen Ausdruck, dass &, und 2%” zusammen ein Nullsystem bilden, dessen Hauptaxe mit der Schraubenaxe zusammenfällt®'). E. Study hat auch hier wieder die zu zwei Ebenen &, und &, gehörigen Winkel- halbierenden ins Auge gefasst und gezeigt, dass die einen von ihnen ein zu 2 reciprokes System &, bilden *?).

38) Ausführlich bei Z. Study, Math. Ann. 39 (1891), p. 501.

39) A. Schoenflies, Geometrie der Bewegung, p. 47 ff.

40) Deplacement fini. Eine ausführliche Ableitung dieser Sätze gab Ch. Brisse, J. de math. (2) 20 (1874), p. 220; (3) 1 (1875), p.149; ihre analytische Darstellung @. Battaglini, Napoli Rend. 9 (1870), p. 142. Eine Darstellung mittelst vektorieller Methode gab J. Lüroth, Zeitschr. f. Math. 43 (1898), p. 243.

41) Z,, kann also die durch das Nullsystem bestimmte infinitesimale Be- wegung (Nr. 18) so ausführen, dass die Bahntangente von A, in die Sehne 4,4, fällt.

42) Math. Ann. 39 (1891), p. 463. Er führt auch wieder die Transforma- tionen 7, 7, ®W ein, die resp. A in A,, A in a” und A, in «” überführen, und erörtert ihre Beziehungen zu X. Ebenso behandelt er eingehend die Ausnahme- fälle. Wichtig ist, dass im Falle der Umwendung oder Umschraubung immer ein Ausnahmefall vorliegt.

202 IV 3. A. Schoenflies und M. Grübler. Kinematik.

Die Systeme &, und 2%, bedingen ferner den von den Ver- bindungslinien entsprechender Punkte gebildeten tetraedralen Kom- plex &,.*) Da zwei Doppelpunkte von &, und &, in zwei Kreispunkte fallen, und zwei Doppelebenen in &„,, so sind die Komplexkegelschnitte Parabeln, die Komplexkegel orthogonal*), die ÖOrdnungskurven kubische Kreise; analog spezialisieren sich die durch zwei Ebenen &, und &, bestimmten Kongruenzen und abwickelbaren Flächen ®).

Drei Systemlagen &,, &,, &, bedingen zu jedem Punkt A eine Gerade a’ als Schnittlinie der Normalebenen «” und «} und damit einen tetraedralen Komplex &}, dessen Fundamentalpunkte im allgemeinen sämtlich imaginär sind. Ausgezeichnet in & ist die Kurve :, der- jenigen Punkte J, für die J,, ),, J, in eine Gerade fallen. Endlich bedingen vier Lagen von & ein System &’, gebildet aus den Schnitt- punkten der Ebenen «’, « und «3; zwischen 2” und jedem &, be- steht eine kubische Verwandtschaft B,®. Da A’ Mittelpunkt der durch A,, A,, A,, A, gelegten Kugel ist, so ist A auch Mittelpunkt der entsprechenden Kugel für die umgekehrte Bewegung (Nr. 3). Ausgezeichnet für die Verwandtschaft ist in & zunächst die Fundamentalkwrve k,, deren Punkte K in den vier Lagen X,, K,, K,, K, auf einem Kreise liegen, ferner eine Fläche F,, die der e, von &’ entspricht, und deren Punkte in vier Lagen auf einer Ebene bleiben, sowie endlich eine Fläche F,, der Punkte H, für die H,, H,, H,, H,, H, auf einer Kugel liegen; die Centren bilden die Fläche F\’ von &’.*%) Auch diese Betrachtungen hat ©. Rodenberg ?") auf beliebig viele Lagen und beliebige Flächen verallgemeinert.

Für zwei Lagen &, und &, und die zugehörige Schraubung X(e, r) bestehen metrische Relationen, die meist schon von ÜOhasles gefunden wurden. Die einfacheren lauten”):

Die Projektion der Sehne A, A, auf a hat den konstanten Wert r,

43) Über den tetraedralen Komplex vgl. Th. Reye, Geometrie der Lage, 3. Aufl. Leipzig 1886, III, $ 1.

44) Orthogonal ist ein Kegel, wenn seine Kreisschnitte auf einer Er- zeugenden senkrecht stehen.

45) Schoenflies, Geometrie der Bewegung, p. 109 ff. Für die von e, und & bestimmte Kongruenz vgl. auch @. Halphen, Bull. Soc. math. de France 1 (1875), p. 114.

46) Diese und weitere Sätze gab A. Schoenflies, J. f. Math. 98 (1889), p. 265, doch finden sich dort einige Irrtümer, die in der Geometrie der Be- wegung berichtigt sind; vgl. p. 138 ff. Vgl. noch Bull. sciences math. (2) 12 (1888), p-. 18.

47) Für die grosse Fülle der bezüglichen Formeln vgl. noch O. Rodrigues, Deplacement d’un syst&me solide, $ 14ff. und D. Chelini, Moti geometrici, $ 4 u. 6.

nu e in

6. Analytische Darstellung endlicher Bewegungen. 203

ebenso sind für alle Punkte von g, die Projektionen ihrer Sehne auf 9, konstant. Das gemeinsame Lot von g, und g” schneidet a senk- recht, und für die Abstände r, r,, r” der Geraden g, g,„ und g” von a besteht die Gleichung

ri: = tg (ga) :tg (ga) : tg (g’a). Sind ferner B(ß) und C(y) zwei Rotationen, sodass BE —X(«, r) ist, und ist d kürzester Abstand zwischen b und c, so ist

m?’

Ent ee st 5 5sin. =dsin. sin. ysin (be),

cos > cos ß cos y sin ß sin y sin (be).*®)

Sind insbesondere ® und & Umwendungen, so ist

d, sin. sin (bo)

T ;= und es fällt « mit d zusammen.

Wichtig ist noch die Konstruktion der Schraubenaxe, wenn 2, und 2, durch A,,B,,C, und A,, B,, ©, gegeben sind. Chasles *°) hat bereits zwei Konstruktionen gegeben. Zieht man durch O 0A, OB’, 00’ gleich und parallel zu A,A,, B,B,, C,C,, so ista_ LA’ BC". Werden alsdann noch A,B,C, und A,B,C, auf die Ebene A’B’C’ projiziert, so geht a durch das Drehungscentrum dieser Projektionen. Dies ist die erste Konstruktion von Chasles. Die zweite operiert mit den Geraden a, b, c des Dreiecks ABC, konstruiert a,, b,, €, und a’, b’, und die bezüglichen gemeinsamen Lote u, v, w; alsdann ist a wieder das gemeinsame Lot von u, v, w.®) Die Konstruktionen vereinfachen sich bei besonderer Lage oder Wahl von A,, B,, ©, und A,, B,, 0,.°') Eine gedanklich neue Konstruktion hat R. Mehmke°?) gegeben; sie beruht darauf, dass & und &, affine Systeme sind.

6. Analytische Darstellung endlicher Bewegungen. Die Dar- stellung endlicher Bewegungen durch Parameter knüpft an L. Euler °°)

48) Diese Formel gilt auch für Axen, die sich schneiden (Nr. 2).

49) Paris C. R. 52 (1861), p. 487. Eine Vereinfachung des zweiten Teils giebt @. R. Dahlander, Stockh. Öfv. 1867, p. 601.

50) Die Geraden u, v, w sind auch so definierbar, dass die Umwendungen U, 8, W die Geraden a,, b,, c, mit Vertauschung des Sinnes in a,, b,, c, über- führen. In dieser Form erscheint die Konstruktion bei H. Wiener, Leipz. Ber. 42 (1890), p. 77.

51) ©. Moshammer, Wien. Ber. 73° (1876), p. 157 wählt A, B,C auf der Schnittlinie von e, und 2,.

52) Civiling. (2) 29 (1883), p. 207.

53) Formulae, p. 193 ff. Vgl. auch A. J. Lexell, Petersburg Abh. 20 (1776), p. 239.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1. 14

204 IV 8. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

an. Er ging davon aus, dass wenn ein Körper Z sich um einen Punkt O dreht, seine Lage durch die Formeln der gewöhnlichen Koordinatentransformation bestimmbar ist, d. h. durch die Winkel &%, ß;, Y, die ein in & festes Axenkreuz 7 (2, y,2) mit einem im Raume festen Axenkreuz 7’(x’,y,z’) bildet. Da nun diese Winkel, resp. ihre 9 Cosinus nur drei unabhängigen Parametern äquivalent sind, so entsteht die Aufgabe, die 9 Cosinus durch drei Parameter eindeutig darzustellen *).

Es sei A(®) diejenige Drehung, vermöge deren 7’ in T über- geht. Alsdann zerlegt Euler A in drei Drehungen von den Winkeln 9, d, 9, von denen die erste um die z-Axe stattfindet, die zweite um die Schnittlinie ! der (zy)- und (x’y')-Ebene, und die dritte um die z-Axe; und zwar führt die erste die x-Axe in I über, die zweite z in 7’, die dritte 1 in @. Die sich so für die 9 Cosinus er- gebenden Ausdrücke in @, %, # sind jedoch sehr unsymmetrisch.

Symmetrische Ausdrücke erhielt Zuler dadurch, dass er als Parameter den Drehungswinkel ® und die Richtungswinkel «, ß, y der Drehungsaxe a einführte®). Die Darstellung vereinfacht sich, wenn man homogene Parameter wählt, nämlich @ r}

. o@ . © @ cs«e, B=sin.cosß, C=sin—cosy, D= cos ®.

A = sin . - Sr

sodass 4?+ B?+(0?-+ D’=1 ist, alsdann sind die 9 Cosinus 0,5, 6; aus der Tabelle

D+4—B!—_C% 2(AB—CD), 2(AC+BD), 2(AB+CD), D—-2+B—-0, 2(BC—AD), 2(AC— BD), 2(BC+AD), D—-4—-B+0:

zu entnehmen. Diese Formeln sind im Anschluss an Euler noch vielfach be- handelt worden). Einen wesentlichen Fortschritt verdankt man erst

54) Eine Abbildung aller Drehungen um einen Punkt auf die Punkte des Raumes giebt O. Stephanos, Math. Ann. 22 (1883), p. 331.

55) Formulae, p. 212 ff.

56) Man schrieb sie lange Zeit G@. Monge zu; erst C. @. J. Jacobi wies wieder auf Euler als ihren Autor hin. Ableitungen gaben J. F. Encke und M. Reiss, Corresp. math. de Quetelet 7 (1832), p. 273 u. 11 (1839), p. 119. Ein- fache Darstellungen finden sich z. B. bei @. Königs, Cindmatique, p. 198 u. 340, sowie bei F. Klein und A. Sommerfeld, Über die Theorie des Kreisels, Leipzig 1897, p. 15ff., wo sich insbesondere die Zusammensetzungsformeln unmittelbar ergeben.

a ne ee ee

6. Analytische Darstellung endlicher Bewegungen. 205

O. Rodrigues°”), der die Parameter A”, B’, 0”, D’ der Drehung 4” bestimmt hat, die aus zwei Drehungen X und W resultiert; es ist’®) A4’=AD’+BOC’—CB+DA, B=—ACU’+BD-+C04A+DP,

C”"=4ABR—BA+CD+DEC, D’=DD— AA BB— cc".

Man verdankt Rodrigues°”) auch eine Parameterdarstellung der allgemeinsten Ortsveränderung. Er ersetzt die Schraubung durch die Translationskomponenten r,, r,, , des Anfangspunktes und die zu- gehörige Rotation XA(@), und wählt r,, r,, , nebst den Quotienten der zu dieser Rotation gehörigen Grössen A, B, C, D als Parameter. Die Gleichungen, die seinen Formeln zu Grunde liegen, sind Rela- tionen zwischen den Koordinaten der Punkte A,, A,, A,„. Setzt

man noch 4:B:C0:D=el:m:n:l,

X=1,—n,+ms, Y=-1,—Iv,+n, Z=r,—mr,+ IT, so erhalten sie die Form u —n=Xtny,— Min, Y—-y=lY tion na, 3 41 =Z+ ma. Wan; aus ihnen erhält man schliesslich ny— m2 21,xc + u

.-4-rH+t ir? ,

ik ne —2lytmu »y—-y=7r+ 13 mce—liIy— 2lz+nu

3 4, =TH+ i713

wo

3 =R®+m+n, Z2u=Iice+my-+nz gesetzt ist”).

57) Rodrigues, Deplacement d’un syst&me solide. 58) Diese Formeln enthalten das Multiplikationstheorem der Quaternionen. ' Über deren Beziehung zu den Drehungen vgl. IV 13 (Stäckel).

59) Diese Formeln hat Rodrigues auch so abgleitet, dass er in &, und Z, drei Paare entsprechender Punkte annimmt. Die Gleichungen der Schraubenaxe X+py—nz Y+mz:— px Z+tne my m = n a p werden illusorisch, wenn «= ist. Diesen Fall behandelt Ph. J. Stieltjes, Arch

Neerl. 19 (1884), p. 372.

14*

206 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

Eine umfassendere Behandlung hat die analytische Darstellung der Bewegungen des Raumes durch E. Study‘®) erfahren. Sie geht davon aus, dass sich gemäss den obigen Formeln die homogenen Para- meter der Drehung W’ aus denen von A und W bilinear zusammen- setzen. In Verallgemeinerung hiervon stellt sich Study die Aufgabe, auch die Bewegungen des Raumes durch eine möglichst geringe Zahl s homogener Parameter mit bilinearer Zusammensetzung aus- zudrücken. Der kleinste an sich mögliche Wert würde s 7 sein; er ist jedoch nicht brauchbar. Dagegen kann man die Bewegungen durch 8 homogene Parameter so darstellen, dass die zwischen ihnen notwendig bestehende Relation die einfache Form

+ sh + sh + Ph; = 0

besitzt. Unter den unendlich vielen Arten, auf die man infolge dieser Relation die Parameter wählen kann, ist die einfachste diejenige, die im wesentlichen mit der von Rodrigues übereinstimmt, sodass die 0; den A, B, C, D proportional sind und

lee; [0) Be X FR er Ps __ Z ee A

#097) Ten &, &, 2 & 2 0

ist. Die Zusammensetzungsformeln der «,, &, &, «, sind damit die nämlichen, wie diejenigen der A, B, C, D, während diejenigen der ß;

ı

komplizierter sind®'). Dieselben Parameter genügen übrigens auch zur Darstellung der Umlegungen. Study hat auch die für die Orts- veränderung charakteristischen Komplexe und Verwandtschaften (Nr. 5) mittelst der Parameter «,, ß, dargestellt. Ein einfaches Beispiel liefern die obigen Rodrigues’schen Formeln, die die Koordinaten von A,, A, und A,, durch einander ausdrücken ®?).

60) Math. Ann. 39 (1891), p. 514 ff. Auch die Beziehungen zu den ver- wandten Gebieten der höheren Zahlsysteme und der Transformationsgruppen werden eingehend erörtert. Vgl. auch Study, Geometrie der Dynamen, Leipzig 1901, p. 174 ff., sowie sein Referat über komplexe Zahlen in IA3 (Nr. 12).

61) Die bezüglichen Formeln stellen in gleicher Weise das Multiplikations- theorem der Biquaternionen von W. K. Clifford dar (Math. Papers, London 1882, - p. 181), wie die früheren Formeln das Multiplikationstheorem der Quaternionen.

62) R. Marcolongo definiert die Schraubung durch die sechs Koordinaten ihrer Axe und die Grösse der zugehörigen Verschiebung und Drehung, und hat für Schraubungen, die aus beliebig vielen andern zusammengesetzt sind, die Koordi- naten und die anderen Stücke rechnerisch bestimmt, Ann. di mat. (2) 26 (1897), p- 101. Vgl. auch eine Darstellung von @. Plarr mittelst des Quaternionen- kalküls, Edinb. Roy. Soc. Proc. 12 (1882), p. 151.

7. Geschwindigkeit und Beschleunigungen eines Punktes. 207

B. Stetige Bewegungen.

{. Geschwindigkeit und Beschleunigungen eines Punktes. Die Begriffe der Geschwindigkeit und Beschleunigungen eines Punktes knüpfen sich in ihrer unmittelbaren Bedeutung an geradlinige Bewegungen. Ist s der in der Zeit t durchlaufene Weg, so stellen die Differential- quotienten

ds ds 2) __ Ws (n) a be U NEE, Duransy- EN RL ER. = aomti die Geschwindigkeit, resp. die erste, zweite, ... n‘® Beschleunigung

dar®). Alle diese Grössen sind Vektoren °‘). Darauf beruht die Mög- lichkeit, Geschwindigkeit und Beschleunigungen für beliebige Be- wegungen eines Punktes A in der Weise zu definieren, dass man sie aus Komponenten zusammensetzt, die sich auf geradlinige Bewegungen beziehen, nämlich auf die der Projektionen A,, A,, A, längs den Koordinatenaxen®). Wird also

& er, a FE 5 dt!

gesetzt, so ist v die Summe der Vektoren v,, v,, v,, ebenso @ die Summe von 9,, P,, P,, und analog für jedes 9”. Analog kann man v und die 9" in Komponenten beliebiger Richtungen zerlegen ®%). Wird v von einem festen Punkt M als Vektor MV konstruiert, so ist p mit der Geschwindigkeit des Punktes V identisch. Die von V beschriebene Kurve, die W. R. Hamilton®”) eingeführt hat, heisst

63) Die g®%,..., 9" hat H. Resal methodisch eingeführt, Cinematique, p. 269 ff. und p. 311. Vgl. auch A. Transon, J. de math. 10 (1845), p. 320.

64) Über Vektoren und Vektorrechnung vgl. IV 2 (Timerding) und IV 14 (Abraham), sowie IIB3 (Burkhardt). Im vorliegenden Artikel kommt die Vektorrechnung ausser für Geschwindigkeiten und Beschleunigungen eines Punktes besonders auch für unendlich kleine Drehungen um Axen, die von einem festen Punkte auslaufen, in Betracht (Nr. 15). Vgl. übrigens Fussn. 73.

65) Dies findet z. B. bei der Analyse harmonischer Bewegungen und ihrer Ersetzung durch einfache Schwingungen Anwendung. Vgl. z. B. die ausführ- liche Darstellung dieser und ähnlicher Bewegungen bei W. K. Clifford, Dynamic.

66) Die Zerlegung von v in Komponenten längs r, und r, hat Roberval zur Konstruktion der Tangente einer Ellipse benutzt. Analoge Zerlegungen lassen sich auch bei andern mechanisch definierten Kurven zu dem gleichen Zweck ausführen, so z. B. bei den Fokalkurven, dem Cartesischen Oval und den Cassinischen Kurven; vgl. etwa Burmester, Kinematik, p. 67 ff. Die Formeln für p und haben H. Resal (Cin&matique, p. 55) und neuerdings E. Weyr zur Konstruktion von e resp. r benutzt, Prag. Ber. 1895, p. 28. Bei Resal (a. a. O. p. 275ff.) finden sich auch Konstruktionen der Krümmungsradien der Evoluten.

67) Elements of quaternions, p. 100 u. 718, London 1866, 2. Ausgabe

208 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

Hodograph der Geschwindigkeit. Ist MF der Vektor, der p dar- stellt, so heisst die von F' beschriebene Kurve Hodograph der Be- schleunigung; ihre Tangente liefert die Beschleunigung 9% u. s. w. Die Geschwindigkeit v fällt in die Tangente der Bahn. Die Be- schleunigung 9 kann eine beliebige Richtung haben; ihre wichtigste Zerlegung ist die in die Tangentialbeschleunigung 9, und die Normalbeschleunigung 9,, die in die Hauptnormale fällt; ist o der Krümmungsradius, so ist dv v? a FE a = Die Beschleunigung 9@ hat zuerst H. Resal %®) längs Tangente, Haupt- normale und Binormale zerlegt; es ist

d?v v’ pp ee 2 a) SR ER ar Ns = 2 u »

wo r der Radius der zweiten Krümmung ist.

Zur Ableitung der bezüglichen allgemeinen Gesetze bedient man sich zweckmässig der Vektorrechnung (Methode der geometrischen Addition). So verfuhr schon A. F. Möbius °), der aus der Taylor- schen Reihe für die Sehne s des in der Zeit r durchlaufenen Kurven- bogens die Formel ableitete”°)

ZN u! 3 IN s=vr+ gr 1% T + +R..

Die methodische Einführung der Vektorrechnung in die Kinematik geht auf B. de St. Venant”*) und H. Resal”®) zurück. Resal hat mit dem inneren Produkt zweier Vektoren”®) zu operierön begonnen und

1899/1901. Eine Ausdehnung des Hodographen auf zwei bewegte Punkte giebt A. Laisant, Jornal de sciencias math. e astr. 10 (1891), p. 97. Vgl. auch O. Gerlach, Diss. Rostock 1889.

68) Cin&matique, p. 271. In richtiger Form finden sich die Formeln zuerst bei J. Somoff, Accelerations, p.11. Vgl. auch D. Padeletti, Giorn. di mat. 13 (1875), p. 115 u. 129; @. Bardelli, Ist. Lomb. Rend. (2) 11 (1878), p. 219; G. Gautero, Rom. Acc. dei Lincei Rend. (3) 4 (1880), p. 106.

69) J. f. Math. 36 (1846), p. 91.

70) Die Grösse p dieser Formel wird auch Deviation genannt. Das Zeichen + drückt die geometrische Addition aus.

71) Paris ©. R. 21 (1845), p. 620.

72) Cin&matique, p. 25 u. 64.

73) Als inneres oder geometrisches Produkt der Vektoren u und » bezeichnet man das Produkt aus ihren Längen und dem Cosinus des eingeschlossenen

; N Winkels, also die Grösse uv cos (uv). Dasselbe wird im Texte fernerhin durch bezeichnet werden.

en

7. Geschwindigkeit und Beschleunigungen eines Punktes. 209

de St. Venant hat den Begriff der geometrischen resp. vektoriellen Ableitung eingeführt, worunter die Geschwindigkeit zu verstehen ist, die dem Endpunkte eines von einem festen Punkt ausgehenden beweg- lichen Vektors zugehört; es ist also As Dv, p®) tee; Dpy, E, ge+D 5 Dp",

wo D das Zeichen der geometrischen Ableitung sein soll. Für Summe und inneres Produkt gelten die Regeln des gewöhnlichen Differen- zierens; hierzu kommt noch der Satz, dass wenn Anfangspunkt und Endpunkt des Vektors sich ändern, seine Ableitung gleich der Diffe- renz der Geschwindigkeiten beider Punkte ist”*). Mit diesen Methoden hat J. Somoff folgende allgemeine Formeln aufgestellt”), die die Zer- legung von 9”) in 9”), 9” und 9”) leisten,

dor» K er RR gr) ! dt oe ’h (n—1) Pr v a Bu pr) Fri + 7 pr ra : gr ) dp =D 5 ee a area 2 Gl

A. Guiraudet”®) und nach ihm @. Lame’”)haben v und g nach den Normalen eines orthogonalen Flächensystems zerlegt; für beliebiges y und beliebige krummlinige Koordinaten hat J. Somoff '*) derartige Formeln aufgestellt. In analoger Weise lassen sich beliebige kine- matische Vektorgrössen resp. Parameter behandeln; auch Formeln dieser Art hat J. Somoff abgeleitet (vgl. auch IV 14, Abraham). Als eine ein- fache Vektorgrösse ist noch die Flächen- oder Sektorgeschwindigkeit ”?) besonders zu nennen, ebenso die bezüglichen Beschleunigungen. Sie knüpfen an den Sektor an, den der von einem festen Punkt M zum beweglichen Punkt A laufende Radius r beschreibt; es ist

A BL,

Dee

74) Vgl. besonders J. Somoff, Accelerations und Kinematik, Kap. II—IV.

75) Accelerations, p. 11 u. 60. Eine analytische Ableitung giebt J. C. Bou- quet, Ann. &c. norm. (2) 3 (1874), p. 147.

76) These Paris 1856.

77) Lecons sur les coordonnees curvilignes, Paris 1859, p. 149 u. 165.

78) Accelerations und Kinematik, Kap. IX—XI. Für orthogonale Koordi- naten vgl. auch Ph. Gilbert, Accelerations 18, p. 207. Den Fall sphärischer Koordinaten behandelt A. Laisant, Nouv. ann. (2) 17 (1878), p. 496; vgl. auch Th. Preston, Dublin Proc. (2) 8 (1897), p. 469.

79) Sie ist gleich dem halben Moment von v bezüglich O; vgl. IV 2 (Timerding).

210 IV 3. A. Schoenflies und M. Grübler. Kinematik.

und es bestehen für die Komponenten nach den Axen die Gleichungen

tl de >) Bea Fajıın

EC a VE dt 0 dt

Man kann Geschwindigkeiten und Beschleunigungen auch so definieren, dass man die Gerade oder Ebene als bewegtes Element betrachtet, ohne auf ihre einzelnen Punkte zurückzugehen. Unter-

suchungen dieser Art hat J. F. Wittenbauer ®°) angestellt.

8. Die stetige Bewegung einer Ebene in sich®'). Die Sätze für die stetige Bewegung ergeben sich aus den Resultaten von Nr. 4 durch Grenzübergang; historisch sind sie teilweise die früheren gewesen ®?).

Die Existenz des momentanen Drehungscentrums (Drehungspols), in das der Punkt O bei stetiger Bewegung übergeht, hat Joh. Ber- noulli 8) entdeckt; jede Bewegung von 6 in sich ist also eine mo- mentame Rotation®). Dies führt zu folgenden in dieser Form von M. Chasles ®) gefundenen Sätzen: 1) Die momentanen Normalen aller Bahnkurven gehen durch 0. 2) Auch die Normalen der Enveloppen aller Geraden und Kurven in ihren momentanen Berührungspunkten gehen durch O. 3) Jede Bewegung von 6 in 0’ besteht im Abrollen einer Kurve p von einer Kurve p’. Diese Kurven heissen Polkurven.

Die Verwandtschaft der Punkte A, A’ (Nr. 5) geht in eine Ver- wandtschaft ®, zwischen den Punkten von 6 und 6’ über, so dass jeder der beiden Punkte Krümmungsmittelpunkt der Bahn des andern ist). Die drei Hauptpunkte rücken in den Pol O zusammen, die drei Hauptgeraden in die Tangente t der Polbahnen. Alle «,', die den

80) Kinematik des Strahles, Graz 1883 und Zeitschr. f. Math. 30 (1885), p. 216.

81) Die Fälle nicht differenzierbarer Kurven resp. Bewegungen (MBia, v. Mangoldt) bleiben ausgeschlossen. Vgl. IV 1 (Voss).

82) Die meisten der folgenden Sätze sind geometrisch gefunden worden. Eine analytische Ableitung findet sich bei E. Cosserat, Toul. M&m. (9) 5 (1893), p. 511.- Vgl. auch H. Duport, Nouv. ann. (3) 18 (1899), p. 5.

83) De centro spontaneo rotationis, Opera 4, Lausannae 1742, p. 265.

84) Fällt O ins Unendliche, so besteht die Bewegung in einer momentanen Translation. Ist dies dauernd der Fall, so beschreiben alle Punkte kongruente Kurven. Die Bewegung ist dann durch die Bahnkurve eines Punktes bestimmt. Diese Fälle bleiben hier ausgeschlossen.

85) Construction des normales. Dass beim Abrollen zweier Kurven alle Normalen durch den Berührungspunkt gehen, erkannte bereits R. Descartes, Oeuvres 7 (1638), p. 88.

86) Die Bahnkurven selbst sind im allgemeinen verschieden.

8. Die stetige Bewegung einer Ebene in sich. 971

Geraden von 6 in 0’ entsprechen, oskulieren sich und die Polbahnen- tangente in O0.°°) Der der Geraden g,, entsprechende Kreis w, (Wende- kreis) wird Ort der Punkte, die momentan Wendepunkte ihrer Bahnen beschreiben; alle Wendetangenten gehen durch einen Punkt V (Wende- pol), den zweiten Schnittpunkt von. w, mit der Normale » der Pol- bahnen®®). Der Wendekreis der umgekehrten Bewegung heisst als Kreis von 6 der Rückkehrkreis r,; er ist Ort der momentanen Spitzen der von den Geraden von o umhüllten Enveloppen®®). Ist c irgend eine Kurve von 6 und c’ ihre Enveloppe, so sind auch deren Krümmungsmittelpunkte entsprechende Punkte A, A’ von ®,. Der Wendekreis enthält daher auch das Krümmungscentrum jeder Kurve c, deren Hüllbahn im Berührungspunkt einen Wendepunkt hat, ins- besondere also derer, die eine Gerade umhüllen.

Die Fokalkurve k, geht in den Ort der Punkte mit stationärem Krümmungskreis über”); sie hat in O einen Doppelpunkt und berührt in ihm die Tangente ? und die Normale » der Polbahnen. Diese Kurve ist zuerst von L. Burmester °®) und bald darauf auch von H. Leaute°') bemerkt worden, und da sie für die allgemeine Theorie, wie besonders für die Theorie des Kurbelgetriebes (Nr. 12). wichtige Bedeutung hat, so ist sie Gegenstand vieler Untersuchungen gewesen”). Auf ihr giebt es vier Punkte B, (Burmester’sche Punkte), deren Bahnen einen fünfpunktig berührenden Krümmungskreis besitzen°®); ihr Schnitt U mit w, ist der eine Punkt von 6, dem im allgemeinen eine vier- punktig berührende Bahntangente zukommt und der daher im all-

87) G. Rivals zeigte (J. €c. polyt. 35 (1853), p. 112), dass die Krümmungs- centra einer Geraden g auf einem c,’ liegen; A. Mannheim (J. &e. polyt. 37 (1858), p. 179) und Ph. Gilbert, Brux. Me&m. cour. 30 (1857) fanden, dass c, die Tan- gente t berührt; erst bei E. Dewulf (Paris C. R. 92 (1881), p. 1091 und Ann. &e. norm. (3) 3 (1885), p. 408) findet sich das Oskulieren aller c, und die Einführung der ®,, die für endliche Lagen bereits vorher L. Burmester (Fussn. 33) abgeleitet hatte. Besondere Eigenschaften der c,' geben Mannheim (a. a. O.) und Ch. Sipeckel, Nouv. ann. (3) 11 (1892), p. 268.

88) Der Wendekreis erscheint zuerst bei de la Hire, Roulettes, p. 348. Vgl. auch A. Transon, J. de math. 10 (1840), p. 154, sowie besonders S. Aronhold, Kinematische Geometrie, p. 153.

89) Grouard, L’Institut 37 (1870), p. 88. Die zuletzt genannten Geraden gehen in jeder Lage durch den Wendepol der umgekehrten Bewegung.

90) Da k, und k,’ einander in ®, entsprechen, so ist k,’ Ort dieser Krüm- mungscentra.

91) Paris C. R. 87 (1878), p. 151, sowie J. &c. polyt. 46 (1879), p. 167.

92) ©. Rodenberg, Zeitschr. f. Math. 36 (1891), p. 271; L. Allievi, Biella piana, p. 37 ff.; R. Müller, Zeitschr. f. Math. 37 (1892), p. 129 u. 417; M. Grübler, ebda. 37 (1892), p. 35; L. Burmester, Kinematik, p. 616 ff.

219 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

gemeinen ein Undulationspunkt seiner Bahn ist. Er ist zugleich Schnitt der Kurve mit der Fokalaxe der Kurve %,’ der umgekehrten Bewegung”), und wird, da R. Ball%) zuerst auf ihn hinwies, Ball- scher Punkt genannt. Die der Gesamtbewegung entsprechenden Ball- schen Punkte bilden die Ball’sche Kurve b, die mit der Polkurve pv zusammen die Enveloppe der Wendekreise darstellt”). Fällt einer der Punkte B, in U, so hat U eine fünfpunktig berührende Bahn- tangente. Solche Punkte fallen in eine Spitze der Ball’schen Kurve ); R. Müller") hat die Krümmung der ersten und höheren Evoluten der Hüllbahnen in Betracht gezogen. Für jede Evolutenart existieren zwei Kreise, die den Kreisen w, und r, analog sind. Ist nämlich c eine Kurve von 6, deren Enveloppe eine Gerade ist, so gehen die momentanen Normalen ihrer n‘”" Evoluten durch einen Punkt V,, den n‘" Wendepol, und die Krümmungsmittelpunkte der (n— 28 Evoluten erfüllen einen Kreis w,, der V,_,V, zum Durchmesser hat und n‘* Wendekreis heisst. Ist umgekehrt g eine Gerade von e, so geht die Normale der n'® Evolute ihrer Enveloppe durch einen Punkt #,, den n‘" Rückkehrpol, und die Krümmungsmittelpunkte der (rn 1)‘ Evoluten erfüllen den (n 1) Rückkehrkreis, dessen Durch- messer P,_, #, ist. Besondere Lagen dieser Punkte bedingen Punkte, deren Bahnen mit ihren Tangenten eine höhere Berührung haben. Im allgemeinen beschreibt der Pol als Systempunkt O eine Spitze seiner Bahnkurve, während die anderen Bahnen Singularitäten nicht aufweisen®®). Auf eine Ausnahme wies zuerst A. Schoenflies®) hin; ist e= oe’ und berühren sich die Polbahnen von innen,. so hat die Bahn- kurve eines beliebigen Punktes eine Spitze; die Punkte der Tangente {

93) ©. Rodenberg, Zeitschr. f. Math. 36 (1891), p. 270. Vgl. Fussn. 114.

94) Dublin Proc. (2) 1 (1871), p. 243.

95) Die Bahntangente von U fällt mit der Tangente der Enveloppe der w, zusammen. L. Allievi, Biella piana, p. 44.

96) R. Müller, Zeitschr. f. Math. 43 (1898), p. 37. Falls von den vier Punkten B, drei in gerader Linie liegen, fällt der vierte in U.

97) Gelenkviereck, p. 43 ff. u. Zeitschr. f. Math. 42 (1897), p. 247; die ersten Evoluten ebda. 36 (1891), p. 193 u. 257. Dort wird auch die Verwandtschaft zwischen o und den Krümmungscentren der Evoluten untersucht. Vgl. auch 4A. Pellet, Paris C. R. 120 (1895), p. 1204.

98) Die Tangente der Spitze schneidet die Polkurven senkrecht. Eine Aus- nahme tritt ein, wenn z. B. eine logarithmische Spirale von einem Kreise ab- rollt; die Bahnkurve des asymptotischen Punktes hat keine Spitze und dem Winkel, unter dem sie den Kreis schneidet, kann durch Wahl des Radius jeder Wert gegeben werden.

99) Geometrie der Bewegung, p. 46.

In Bu. u Hi Zu ae Sad ce

9. Metrische und konstruktive Fragen. 213

beschreiben Spitzen höherer Art. Eine allgemeinere Erörterung dieser Fragen verdankt man R. Mehmke und L. Allievi. Allievi %) hat die Singularitäten der Bahnkurven besonders in den Fällen diskutiert, dass die Kurven w, resp. k, zerfallen. Mehmke'') stellt die Koordinaten der Bahnkurven durch Reihen dar, die nach den Potenzen des Drehungs- winkels fortschreiten; er fand insbesondere, dass auch bei singu- lärem Charakter der Polkurven und Bahnkurven immer eine die Krümmungsverhältnisse definierende ®, vorhanden ist und ein dem Wendekreis analoger Kreis, dessen Bahnen eine noch höhere Singu- larität zukommt.

Mehmke hat diese Betrachtungen auch auf den Fall ausgedehnt, dass der Pol ins Unendliche rückt!%). Er und R. Müller haben end- lich auch die Singularitäten der Polbahnen selbst in Untersuchung gezogen !?).

9. Metrische und konstruktive Fragen. Die ebene Bewegung von 6 ist meist so bestimmt, dass zwei Bahnkurven oder allgemeiner zwei Paare entsprechender Hüllbahnen gegeben sind!%). Durch die Hüllbahnenpaare resp. ihre Krümmungsmittelpunkte A, A’ und B, B’ ist der Pol O und die quadratische Verwandtschaft ®, bestimmt. Für die metrischen und konstruktiven Abhängigkeiten besteht eine schon von L. Euler‘) gekannte, später von F. Savary !) wiedergefundene und neuerdings erweiterte Formel (1), sowie eine auf E. E. Bobillier !”) zurückgehende Konstruktion. Die methodische Darstellung, Begrün-

100) Biella piana, p. 3 ff.

101) Zeitschr. f. Math. 35 (1890), p. 1 u. 65. Die ®, kann ausarten. Dann giebt es nur für die Punkte der Ausnahmelinien eine endliche Krümmung. Potenz- reihen, deren Koeffizienten aus den v,, vr Par Pyr- (Nr. 10) gebildet sind, giebt Königs, Cindmatique, p. 154.

102) Zeitschr. f. Math. 35 (1890), p. 23. Alle Punkte beschreiben Singu- laritäten gleicher Art, bis auf eine Gerade, deren Punkte Bahnen mit höherer Singularität besitzen.

103) Zeitschr. f. Math. 35 (1890), p. 21 und Gelenkviereck, p. 59.

104) Die Bahnkurven und die Hüllkurvenpaare bilden ein einfaches Bei- spiel für $. Lie’s Theorie der Berührungstransformationen. Wenn man nämlich jedem Punkt von o seine in 0’ liegende Bahnkurve zuordnet, so bestimmt diese Zu- ordnung eine Berührungstransformation. Dabei entspricht einer Kurve p von 6 die Enveloppe der Bahnkurven aller ihrer Punkte, und dies ist zugleich die Hüllbahn von 9, d. h. also die Enveloppe aller Lagen von 9. Vgl. $. Lie und @. Scheffers, Geometrie d. Berührungstransformationen 1, Leipzig 1896, p. 66.

105) Petersburg Novi Comm. 21 (1765), p. 207.

106) Vgl. eine Bemerkung von Chasles, J. de math. 10 (1845), p. 204, sowie

Haton de la Goupilliere, Trait& des mecanismes, Paris 1864, p. 107.

107) Cours de geometrie 12. Aufl. (1870), p. 232.

214 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

dung und Weiterbildung dieser Fragen gab jedoch erst $. Arenhold!®), indem er die bezüglichen Sätze als Folgen allgemeiner projektiver Thatsachen aufzufassen lehrte. Er knüpft daran an, dass auf jeder durch O gehenden Geraden (Normalstrahl) 7 die entsprechenden Punkte von ®, zwei projektive Punktreihen bilden, deren Fluchtpunkte auf «, und », liegen. Hieraus ergiebt sich, wenn s der Bogen der Polbahn ist, als voller Ausdruck der Euler-Savary'schen Formel die Gleichung !®)

1 1 1 1 1 ds 17 () (04 + 04) eos(in) = FE a ee er

Der Bobillier’schen Konstruktion der Poltangente t aus den Paaren A, A und B, BP liegt der Satz zugrunde, dass (Fig. 1) AB’ und BA’ sich auf einer festen Axe c (Kollinea- tionsaxe) schneiden, falls die Paare A, 4’ resp. B, B’ auf zwei festen Normalstrahlen /, und 1, liegen; es ist überdies I (t1,)=<(],e) 9), { woraus noch eine Reihe weiterer konstruktiver

% Resultate fliesst 11). d Für die Konstruktion der Krümmungs- y: radien der Polbahnen muss man die Evoluten Fig. 1. der Hüllbahnen (Nr. 8) oder die Kurve k, be-

nutzen; diese Gebilde bedingen sich ebenfalls

gegenseitig. Eine entsprechende Formel hat M. Grübler *!?) aufgestellt.

R. Müller “'?) hat mittelst der höheren Wendepole und Wendekreise

(Nr. 9) Formeln und Konstruktionen angegeben, um die Krümmung der ersten und höheren Evoluten der Hüllbahnen zu bestimmen.

Eine Darstellung der Erzeugungsweisen der k, mit besonderer

Rücksicht auf ihre kinematischen Eigenschaften hat R. Müller '4) ge-

108) Kinematische Geometrie, p. 142 ff.

109) A. Mannheim, J. €c. polyt. 37 (1858), p. 179; über 9, © und u vgl. Nr. 10 u. 26.

110) Vgl. auch E. Habich, Nouv. ann. (3) 1 (1882), p. 460.

111) Da die ®, und die Wendekreise sich gegenseitig bedingen, so lässt sich, falls die w, gegeben sind, zu A der Punkt A’ konstruieren und um- gekehrt. Hierfür existieren mehrere Konstruktionen, die einfachste gab M. Grübler, Zeitschr. f. Math. 29 (1884), p. 310. Vgl. auch Ph. Gilbert, Brux. Ann. Soc. scientif. 2B 81 (1878).

112) Zeitschr. f. Math. 34 (1889), p. 309.

113) Zeitschr. f. Math. 36 (1891), p. 193, 257 und Gelenkviereck, p. 48 ff.

114) Zeitschr. f. Math. 40 (1895), p. 351. Die %k, ist Erzeugnis eines Büschels von Berührungskreisen und eines Strahlbüschels, dessen Strahlen durch die Kreiscentren gehen. Der Büschelscheitel heisst Fokalcentrum, die Gerade der Kreiscentra heisst Fokalaxe.

a

9. Metrische und konstruktive Fragen. 215

geben. Das Fokalcentrum ist konstruierbar, sobald auf zwei Normal- strahlen je ein Punkt K von k, gegeben ist!!°). Kennt man für ein Hüllkurvenpaar die eigene Krümmung, sowie auch die ihrer Evoluten, so ist das bezügliche Paar X, K’ konstruierbar; die entsprechenden Formeln hat M. Grübler ”') mitgeteilt.

Auch die Gleichung der Kurve lässt sich auf eine einfache Form bringen. Für den Fall des Kurbelgetriebes ist sie von ©. Rodenberg ""°), für den allgemeinen Fall von M. Grübler”') gegeben worden. Die in die Gleichung eingehenden Parameter drücken sich am einfachsten durch die Krümmungsradien o, go’ der Polbahnen und den Durch- messer ö des Wendekreises aus!!®). Setzt man

KOpRee) RACE. U PILATES DER ONE ELBA Rum Ro... a wir so sind die Gleichungen von k, resp. hy’ 1 1 1 1 1 1

one ge r2 RATTE

Die auf drei verschiedene Arten mögliche Ausartung von %, tritt ein, falls eine oder mehrere der Parameter R, R’, $ unendlich werden 7). Insbesondere degeneriert sie in g, und eine gleichseitige Hyperbel, wenn (0 ins Unendliche fällt; dann werden alle Parameter unendlich, doch so, dass R?:S$°?—= k endlich bleibt "?).

Endlich ist noch die biquadratische Gleichung zu erwähnen, von der die vier Punkte B, abhängen. Für sie bestehen die Relationen

R Ir: wa te, te te =; tg = dgpr + ceigpr, RR typ, tea tgp tg gg dgypr-ceigpr,

wo 9r und gr die Winkel der von O nach den Fokalcentren F' resp. F’ von k, und k, gehenden Strahlen mit der Poltangente sind!!?).

115) C. Rodenberg, Zeitschr. f. Math. 36 (1891), p. 267 und 37 (1892), p. 145.

116) Vgl. M. Grübler, Zeitschr. f. Math. 24 (1889), sowie auch L. Allevi, Biella piana, p. 35.

117) Es kann %k, degenerieren, ohne das k,’ es thut. Falls k, in it, n und 9, zerfällt, so k,’ in & und w,’. Jeder Punkt von w,’ beschreibt einen Un- dulationspunkt. Vgl. besonders ©. Rodenberg und L. Allievi (Fussn. 113 u. 115).

118) L. Allievi, Biella piana, p. 100ff. Der Krümmungsradius ge eines Punktes A ist durch ey = X k bestimmt, wo y das Lot von A auf £ ist.

119) R. Müller, Zeitschr. f. Math. 37 (1892), p. 214 und L. Allievi, Biella piana, p. 42, 56, 60. Dort finden sich noch weitere Formeln zwischen R, RK’, 5 und P, Pr XESp. Ppr-

216 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

10. Geschwindigkeit und Beschleunigungen der ebenen Be- wegung. Dreht sich eine Ebene 6 in sich um einen festen Punkt und ist $ der Drehungswinkel, so stellen die Differentialguotienten d?

© Pre =

dd , __da

BEER Se er Fi, a,

die momentane Winkelgeschwindigkeit, sowie die erste, zweite, ...n Wiinkelbeschleunigung dar. Dieser Begriff ist für die Betrachtung der v und @ der einzelnen Punkte von Wichtigkeit.

Die Sätze von Nr. 8 ergeben für den momentanen Geschwindig- keitszustand !?°) der ebenen Bewegung das Resultat, dass der Momentan- pol O der Punkt v—=0 ist; sind « und ß die Koordinaten von 0, so gilt für Axen «, y, die in o fest sind, und für jeden Punkt A(z, y)

= —-au—-ß, y-ol@-a) Ist P Berührungspunkt einer Geraden g mit ihrer Enveloppe, so fällt seine Geschwindigkeit v, in 9; für jeden andern Punkt A von g hat die Projektion von v auf g den Wert »,. Vergleichende Betrachtungen über den Beschleunigungszustand von 6 hat zuerst J. A. Ohr. Bresse'?!) angestellt. Er fand, dass die Punkte 9,=0 und 9,=0 je einen durch O gehenden Kreis bilden (Fig. 2), von denen der

G erste kein anderer ist, als der Wendekreis,

e während der zweite ihn in O senkrecht schneidet N) und den Durchmesser uw: @’ hat'*®). Ihr Schnitt-

Fig. 2. punkt @, für den @ = 0 ist, ‚heisst Beschleuni-

gungscentrum'?). Seine weitere Bedeutung ist die, dass p auf Kreisen um @ konstant und dem Abstand @ A=r pro- portional ist und in allen Punkten einer durch @ gehenden Geraden mit ihr denselben Winkel bildet. W. Schell”) hat bemerkt, dass auch ein Punkt A= 0 vorhanden ist, nämlich der Schnittpunkt 4 der Polbahntangente ti mit dem Kreis 9,—= 0. Er heisst Mittelpunkt

120) Jeder Satz von Nr. 9 über die Bahntangenten ist auch ein Satz für die Geschwindigkeitsrichtungen.

121) J. &c. polyt. 35 (1853), p. 89; vgl. auch R. Dahlander, Stockh. Öfv. 25 (1868), p. 79; T. Rittershaus, Civiling. (2) 24 (1878), p. 1.

122) Für jeden Kreis des zugehörigen Büschels ist <(v, 9) = const.; L. Bwrmester, Civiling. (2) 24 (1878), p. 157. Über diese Kreise vgl. auch J. de Vries, Monatsh. f. Math. 8 (1897), p. 138.

123) Kurven, die @ beschreibt, betrachtet L. Lecornu, Nouv. ann. (3) 10 (1891), p. 5. Ist o konstant, so fällt @ in V.

124) Zeitschr. f. Math. 19 (1874), p. 185. Es ist OH-% = ou (Fussn. 109).

ee ee

10. Geschwindigkeit und Beschleunigungen der ebenen Bewegung. 217

der Winkelbeschleunigung; auf Kreisen um ihn ist A konstant und ebenfalls dem Abstand r = A@G proportional. Es zerfällt daher p in die senkrechten Komponenten ®®r und Ar, woraus sich noch weitere Zerlegungen von g in einfache geometrisch definierbare Kom- ponenten ergeben !?).

Die vorstehenden Sätze können dahin verallgemeinert werden, dass auch für jedes 9”) ein Punkt 99 —= 0 existiert, sodass auf Kreisen um ihn konstant ist, und in allen Punkten einer durch ihn gehenden Geraden gleichgerichtet ?®), er heisst Beschleunigungspol n“" Ordnung. Es folgt hieraus, dass für 9 die gleiche Zerlegung in einfache Komponenten möglich ist, wie für @ selbst. Formeln, die dies unmittelbar in Evidenz setzen, hat Ph. Gilbert?) gegeben; es ist, wenn ©) die n' Beschleunigung von O ist,

PD WDR, LEINEN),

resp. falls «, und ß, die Koordinaten von @" sind,

pe—=p@— a) —4,y—B), M—g@—e)+2,W—B,)

und zwar hängen ©"), sowie p, und g, von «, ß, ©, w und deren Ableitungen durch einfache Rekursionsformeln ab. Sie vereinfachen sich wesentlich, falls man & konstant annimmt, was für das Studium der rein geometrischen Beziehungen gestattet ist.

Die geometrische Quelle der Sätze über die 9”) bildet die folgende, methodisch zuerst von L. Burmester '?) benutzte Thatsache. Wird von A aus das zugehörige v, p,... als Vektor abgetragen, so bilden die Endpunkte ein System 6,, resp. 6,,..., das mit o ähnlich ist. Es giebt daher für 6 und o,, für o und 6, u. s. w. je einen Doppel- punkt, der resp. der Punktvo=0, 9=(,... ist; ebenso folgen daraus die weiteren Sätze. Diese Systeme dienen auch dazu, die v und beliebiger Punkte aus denen einzelner Punkte zu konstruieren. Man kann sich hierzu eines Kunstgriffes bedienen, dessen methodische An-

125) Vgl. z. B. Schell, Theorie der Bewegung, p.452 ff. Dort werden auch die Punkte g, = const. und g, = const. betrachtet; ebenso bei L. Burmester, Civiling. (2) 24 (1878), p. 147.

126) Diese Sätze gab zuerst A. Groward, L’Institut 37 (1870), p. 172.

127) Accelerations 18, p. 214ff. Vgl. auch Rom. Acc. Pontific. dei Nuov. Lincei 3 (1889), p. 213. Gilbert bestimmt auch die Lage u. s. w. der Punkte und giebt geometrische Anwendungen.

128) Civiling. (2) 24 (1878), p. 147. Vgl. auch R. Mehmke, Civiling. (2) 29 (1883), p. 487. Nach Mehmke gilt der Satz auch, wenn man alle von demselben Punkte aus abträgt.

218 IV 3. A. Schoenflies und M.@Grübler. Kinematik.

wendung auf J. Schadwill 1?) zurückgeht. Wird auf OA eine Strecke LA=v konstruiert (lotrechte Geschwindigkeit), so bilden die Punkte L ein zu 6 ähnliches und ähnlich liegendes System o,, was die Kon- struktion von v wesentlich erleichtert. In anderer Weise hat H. Mohr '%) von den Beziehungen zwischen 6, und 6, Gebrauch gemacht. Er trägt für jeden Punkt A von einem beliebigen Punkte M aus seine Ge- schwindigkeit als Vektor MA, auf, so hat das so entstehende zu 6 ähnliche System 6, die Eigenschaft, dass A,B, 1 AB ist; weiter wird dann noch die Beschleunigung des Punktes A als die Ge- schwindigkeit von A, in Bezug auf das ähnlich veränderliche System 6, betrachtet und von einem Punkte N aus analog konstruiert; man erhält ein zu o,, also auch zu 6 ähnliches System. Diese Konstruk- tion ist in manchen Fällen von grösserem Vorteil als die obige.

ll. Spezielle Bewegungen in der Ebene. Allgemeine Glei- chungen, die die Abhängigkeit zwischen den Polkurven und den Bahn- kurven resp. Hüllkurven ausdrücken, hat bereits J. Lagrange '?') ge- geben; in allgemeinster, auf kinematischer Grundlage ruhender Form S. Aronhold *??) und A. Cayley '??). Von speziellen Bewegungen inter- essieren am meisten diejenigen, bei denen Punkte auf Geraden oder Kreisen bleiben oder Geraden durch feste Punkte gehen, insbeson- dere die des Ellipsographen und der Conchoidenbewegung (vgl. auch Nr. 12).

Die Ellipsographenbewegung ist so definiert, dass zwei Punkte A und B auf Geraden laufen!”*); die Polkurven sind Kreise; der eine Kreis rollt von innen von einem Kreis mit doppeltem Radius ab und stellt zugleich den unveränderlichen Wendekreis dar, sodass alle seine Punkte gerade Linien beschreiben. Die Bahnkurven sind Ellipsen, die der umgekehrten Bewegung sind Pascal’sche Kurven, insbesondere auch Cardioiden. Die Conchoidenbewegung ist so definiert, dass eine Gerade g durch einen festen Punkt @’ geht, während ein Punkt A

129) Gliedervierseit, p. 407.

130) Civiling. (2) 33 (1887), p. 631.

131) Berlin Nouv. M&m. 1779, p.133. Vgl. auch N. Nicolaides, Theorie du mouvement d’une figure plane dans son plan, Paris 1863, und die Vorlesungen über natürliche Geometrie von E. Cesäro (vgl. Fussn. 2).

132) Mitgeteilt von KR. Sellentin, Zeitschr. f. Math. 28 (1883), p. 116.

133) Quart. J. of math. 16 (1879), p. 1; vgl. auch H. de la Goupilliere, Paris C. R. 85 (1877), p. 895 und 86 (1878), p. 527.

134) Diese Erzeugung der Ellipse war schon im Altertum bekannt; vgl. M.Chasles, Apergu historique sur l’origine et le developpement des methodes en geometrie, 2. &d., Paris 1875, p. 89 Anm. Modelle bei W. Dyck, Katalog, p. 341 ff.

11. Spezielle Bewegungen in der Ebene. 219

von g eine Gerade resp. einen Kreis beschreibt'?). Die Polkurven sind c,, die Bahnkurven sind Kurven c, mit zwei Doppelpunkten, deren Verbindungslinie durch @’ geht!**).

Ist eine Kurve kinematisch definierbar, so lassen sich Konstruk- tionen ihrer Krümmungsmittelpunkte und derjenigen ihrer Evoluten aus der allgemeinen Theorie ableiten. In dieser Hinsicht sind ins- besondere die zahlreichen Arbeiten von A. Mannheim "?") zu erwähnen. Von allgemeinerem Interesse ist die kinematische Definition und Dis- kussion der Evolventen, der Fusspunktkurven und der Brennlinien. Für die Evolventen stellen die Grundkurve und deren Tangente die Polkurven dar. Die Diskussion der Fusspunktkurven und Brenn- linien ruht auf folgenden Sätzen"): Rollt die Kurve c von der ihr kongruenten Kurve c’ in symmetrischer Weise ab, so giebt es für die Fusspunktkurve f eines Punktes M’ in Bezug auf c’ immer eine Bahnkurve, die mit f im Verhältnis 2:1 ähnlich und ähnlich liegend ist, und die Evolute dieser Kurve ist die durch Reflexion entstehende Brennlinie von M’ für c.

Einen wichtigen Sonderfall stellen die cyklischen Kurven dar, die durch das Abrollen von Kreisen definiert sind"). Die Formel (1) von Nr. 9 zeigt, dass die momentane ®, sich nicht ändert, falls man die Polkurven momentan durch andere mit denselben Krümmungs- radien ersetzt; insbesondere also auch durch Kreise. Wie also die Bewegung von 6 in 0’ in erster Annäherung eine Rotation um O ist, so ist sie in zweiter Annäherung eine cyklische Bewegung. Diese That- sache hat sich auch historisch geltend gemacht; die allgemeine Theorie ist aus der Übertragung der für eyklische Bewegung gewonnenen Resultate erwachsen !#°).

Da bei der cyklischen Bewegung der Durchmesser ö von w, eine konstante Länge hat (Nr. 9), so fällt der Ball’sche Punkt U in den Wendepol und die Enveloppe der Wendekreise spaltet sich in die Polkurve und einen zu ihr konzentrischen Kreis. Dieser Kreisring

135) Im ersten Fall entstehen gewöhnliche, im zweiten Kreisconchoiden.

136) Vgl. 8. Roberts, Lond. Math. Soc. Proc. 7 (1876), p. 216.

137) Sie sind sämtlich in der Geometrie eindmatique enthalten.

138) Die Sätze stammen von L. A. J. Quetelet, Brux. Nouv. mem. 3 (1826) und 5 (1829). Für die kinematische Behandlung vgl. A. Mannheim, G&ometrie einematique, p. 36 u. 66, sowie O. Kessler, Zeitschr. f. Math. 23 (1878), mi:

139) Die Geraden umhüllen Parallelkurven zu ceyklischen Kurven. Vgl. auch Fussnote 313.

140) A. Transon, J. de math. 10 (1845), p. 154; R. Henning, J. f. Math. 65 (1866), p. 58. Auch bei A. Mannheim bildet dieser Gedanke die Grundlage. Vgl. auch Resal, Cin&matique, p. 178.

Eneyklop. d. math. Wissensch. IV 1, 15

220 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

bildet die Region der Punkte, deren Bahnen Wendepunkte besitzen. Von allgemeinen Eigenschaften erwähne ich noch die doppelte Er- zeugung dieser Kurven, deren Nachweis sich am einfachsten in Nr. 23 ergeben wird.

S. Roberts“) hat allgemein Ordnung, Klasse und Singularitäten der Bahnkurven, Polkurven und Enveloppen bestimmt, falls diese Zahlen für die Bahnkurven von A und B gegeben sind“); auch wird, falls die Bahnkurven von A und B durch die Kreispunkte gehen, deren Vielfachheit für beliebige Bahnkurven ermittelt. Sind m, n, u, v ihre Ordnung resp. Klasse, so ist z. B. die Bahnkurve eines beliebigen Punktes von der Ordnung 2mn und der Klasse 2(mn + mv nu). Die Methode beruht auf dem Chasles’schen Korrespondenzprinzip. Chasles “) hat später Ordnung und Klasse auch für solche Fälle bestimmt, in denen die Enveloppen zweier Geraden, oder eine Enveloppe und eine Bahnkurve die Bewegung bestimmen. Dieselbe Aufgabe hat auch $. Roberts‘) bald darauf behandelt.

12. Das Kurbelgetriebe. Die Bewegung des Kurbelgetriebes ist dadurch bestimmt, dass zwei Punkte A und B auf zwei Kreisen um A’ resp. B’ laufen. Die Gerade AB heisst Koppel. Die Bewegung ist in sich dualistisch (Nr. 3); noch allgemeiner lässt sich jede der vier Seiten des Vierecks AA’B’B als festes System betrachten !#).

Technisch interessiert zunächst die Frage, ob die Punkte A und B den ganzen Kreis durchlaufen können oder nicht; das Kurbel- getriebe ist dementsprechend durchschlagend oder schwingend. Hier- über besteht folgender Satz: Ist eine Ecke durchschlagend, so existiert immer noch eine zweite der gleichen Art; beide Ecken gehören der kleinsten Seite an. Die notwendige und hinreichende Bedingung hier- für lautet, dass die Summe der kleinsten und grössten Seite höchstens gleich der Summe der beiden andern Seiten ist!#). Sind beide Summen einander gleich, so ergeben sich Vierecke mit drei und vier durch-

141) Lond. Math. Soc. Proc. 3 (1871), p. 268 und 7 (1876), p. 216. Spezielle Fälle behandelt F. Dingeldey, Diss. Leipzig 1885.

142) A. Cayley untersucht, wann für A und B Umkehrpunkte oder isolierte Lagen auftreten, Cambr. Phil. Soc. Trans. 15 (1894), p. 391, und macht hiervon Anwendung auf das Kurbelgetriebe (Nr. 12).

143) Paris 0. R. 80 (1875), p. 346 und 82 (1876), p. 431. Er bestimmt be- sonders die Vielfachheit von g,„ als Tangente.

144) Das Viereck heisst auch @liedervierseit oder Gelenkviereck (Nr. 24). Für Modelle vgl. z. B. W. Dyck, Katalog, p. 348.

145) F. Grashof, Maschinenlehre 2, p. 117; die Darstellung bei F. Reuleaus, Kinematik 1, p. 282 ist nicht exakt,

12. Das Kurbelgetriebe. 221

schlagenden Ecken '#). Das erste hat zwei Paare gleicher anstossen- der Seiten, das zweite hat gleiche Gegenseiten, ist also entweder ein Parallelogramm oder ein Antiparallelogramm.

Dem Kurbelgetriebe kommt in derselben Weise eine theoretische Bedeutung zu, wie den cyklischen Kurven. Die momentane ®, einer beliebigen Bewegung ändert sich nämlich nicht, wenn man die Bahn- . kurven zweier Punkte A und B momentan durch Kreise um A’ und B' ersetzt. Jede Bewegung kann also in zweiter Annäherung durch eine Kurbelbewegung ersetzt werden). Dies geht aber noch weiter. Sie lässt sich sogar in dritter und vierter Annäherung als Kurbel- bewegung auffassen; man hat dazu statt der beliebigen Punkte A und B irgend zwei Punkte der Kurve k, oder aber zwei der vier Burmester’schen Punkte zu wählen.

A. Cayley“®) zeigte, dass die Bahnkurve (Koppelkurve, Dreistab- kurve) eine c, ist, die die imaginären Kreispunkte als dreifache Punkte und sonst im allgemeinen noch drei ein- fache Doppelpunkte besitzt. Für ein durch- schlagendes Kurbelgetriebe kann sogar noch ein weiterer Doppelpunkt auftreten (Nr. 23). S. Roberts“) bewies, dass sie drei Brennpunkte®°) besitzt, von denen zwei in A’ und 5b’ fallen, während ein dritter P’ so liegt, dass (Fig. 3) die Drei- ecke ABP und A’BP’ ähnlich sind. Der um A’B’P’ umschriebene Kreis enthält zugleich die im allgemeinen vorhandenen drei Doppelpunkte der Kurve. S$. Roberts hat auch die Polkurven bestimmt. Das wichtigste von ihm ge- fundene Resultat ist die dreifache Erzeugung der Koppelkurve. Es

146) @. Darboux hat diese Fragen mit der Theorie der c, in Verbindung gebracht (Bull. sciences math. (2) 3 (1879), p. 100). Er bildet alle Vierecke mit denselben Seiten a, b, c, d, die also einen variablen Winkel enthalten, auf die Punkte einer c, ab und untersucht, ob sie einteilig ist oder nicht. @. Königs benutzt dazu eine c,, Cindmatique, p. 253.

147) Bei $. Aronhold, Kinematische Geometrie, p. 138 und bei J. Schadwill, Gliedervierseit, p. 378 bildet das Kurbelviereck unter dem Namen Polviereck die Grundlage der Theorie. Es wird so definiert, dass um die vier Ecken (Pole) Drehungen stattfinden können, deren Summe Null ist. Vgl. auch L. Burmester, Kinematik, p. 49.

148) Lond. Math. Soc. Proc. 4 (1872), p. 105; vgl. auch W. Johnson, Mess. of math. 5 (1875), p. 50.

149) Lond. Math. Soc. Proc. 7 (1875), p. 14.

150) d. h. Schnittpunkte von Tangenten in den Kreispunkten.

15*

222 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

ist nämlich die Bahnkurve von P auf drei Arten mittelst eines Ge- lenkvierecks erzeugbar, und zwar so, dass irgend eine Seite des Dreiecks A’B’P’ an die Stelle von A/B als feste Seite eines Ge- lenkvierecks, nämlich 4’A,B, P’ resp. B’B,A,P’ tritt, das die Bahn von P liefert‘). Dieser Satz hat inzwischen eine grosse Reihe von Beweisen erfahren. Einfache Ableitungen stammen von A. Oayley >?) und W. Clifford”). Sie beruhen darauf, dass wenn man durch einen Punkt innerhalb eines Dreiecks Parallelen zu den Seiten zieht, bei allen gelenkigen Umformungen (Nr. 24) der Figur das Dreieck der Eckpunkte sich ähnlich bleibt, also fest, wenn zwei Punkte fest bleiben ‘®®). Ein zweiter Satz, der hierher gehört, ist der folgende. Wird die Koppel AB gegen einen der Arme AA’ oder BB’ ver- tauscht, so sind die Bahnkurven des so entstehenden Kurbelgetriebes denen des ursprünglichen ähnlich.

Für das Kurbelgetriebe lassen sich auch die Punkte B, (Nr. 8) konstruieren. Da nämlich A und B zu ihnen gehören, so reduziert sich die biquadratische Gleichung (Nr. 9) auf eine quadratische u Man kennt auch die Singularitäten der von den Punkten der Pol- kurve beschriebenen Bahnen und die Singularitäten, die einer mög- lichen Verzweigungslage (Nr. 23) des Gelenkvierecks entsprechen. R. Müller °°) hat bewiesen, dass der Ort aller Doppelpunkte für jede Lage von 6 eine Fokalkurve c, ist.

Spezialfall des Kurbelgetriebes ist ausser den drei oben er- wähnten auch der, dass die Diagonalen auf einander senkrecht stehen. Kommt diese Eigenschaft einem Viereck zu, so kommt sie nämlich allen Vierecken zu, die durch gelenkige Änderung aus ihm hervor- gehen ®®”). Besonders erwähnenswert ist der Fall des Antiparallelo- gramms (Fig. 8, p. 253). Die Polkurven, die zu seinen Seiten ge- hören, sind symmetrisch gelegene und kongruente Ellipsen für die kleineren Seiten AB und OD und analoge Hyperbeln für die grösseren AD und BC. Die Bahnkurven sind daher (Nr. 11) Fusspunktkurven von Kegelschnitten '?®). Dies letzte trifft auch für das Viereck mit

151) Die drei Gelenkvierecke und ihre Verbindungen mit P sind in der Figur durch verschiedene Zeichnung unterschieden.

152) Lond. Math. Soc. Proc. 7 (1876), p. 142,166 u. 9 (1878), p.27. Andere Beweise gaben H. Hart, Mess. of math. (2) 12 (1883), p. 32 und @. Pastore, Torino Atti 26 (1890), p. 84.

153) So bei J. Kleiber, Zeitschr. f. Math. 36 (1891), p. 296. Vgl. Fussn. 348.

154) R. Müller, Zeitschr. f. Math. 37 (1892), p. 213; Alliewvi, Biella piana, p. 61.

155) Zeitschr. f. Math. 36 (1891), p. 11 u. 65; es giebt für jede Lage im allgemeinen zwölf Punkte mit Schnabelspitzen,

En...

13. Angenäherte Kurvenführung mittelst des Kurbelgetriebes. 223

zwei Paaren gleicher anstossender Seiten zu; die Polkurven sind in diesem Falle Pascal’sche Kurven "®).

Noch andere Spezialfälle ergeben sich, wenn man einen der Kreise oder beide als gerade Linien wählt. Der erste liefert den technisch wichtigen der Schubkurbel, der zweite den Ellipsographen. Die umgekehrte Bewegung des ersten Falles, bei der ein Punkt auf einem Kreise läuft, während eine Gerade durch einen Punkt geht, liefert Kreisconchoiden "?”).

Für praktische Zwecke ist die Kenntnis der Werte von v und für die Punkte des Kurbelgetriebes wesentlich, da von ihnen die In- anspruchnahme des Materials u. s. w. abhängt?°'®). Ihre Konstruktion mittelst der Sätze über 6, 6, und 6, (Nr. 10) gab H. Mohr '°®). Diese Konstruktion lässt jedoch im Stich, falls die Pole O und @ (Nr.10) zeichnerisch nicht erreichbar sind. Eine Konstruktion, die von diesem Mangel frei ist, lieferte 7. Rittershaus '°°). Die erste graphische Bestimmung im Fall der Schubkurbel gab bereits J. Schadwill \°°).

13. Angenäherte Kurvenführungen mittelst des Kurbelgetriebes. Ein wichtiges Problem der Technik verlangt, unter den Kurven des Kurbelgetriebes solche zu finden, die einer vorgegebenen Kurve auf möglichst langer Strecke nahekommen. Für die Praxis handelt es sich in erster Linie um angenäherte Geradführungen. Eine solche hat bereits James Watt‘%) angegeben. Wird das Parallelogramm ABOD in der Reihenfolge ACBD als Gelenkviereck benutzt und wird die Diagonale AC festgehalten, so zeichnet die Mitte M von BD die bezügliche Kurve. Eine andere angenäherte Geradführung mittelst des Kurbelgetriebes gab O0. Evans '?).

156) Der Satz stammt von J. J. Sylvester; einen Beweis giebt A. Mannheim in Lond. Math. Soc. Proc. 6 (1874), p. 35. Die Bahnkurven entstehen aus den allgemeinen durch Abspaltung eines Kreises.

157) Eine Zusammenstellung der durch das Kurbelgetriebe erzeugbaren Bahnkurven giebt L. Burmester, Kinematik, p. 300 ff. Vgl. auch E. M. Blake, Amer. Math. Soc. Trans. 1 (1900), p. 421.

157%) Kritische Erörterungen giebt A. Oiappi, Annali della Soc. degli ingegn. ed archit. italiani 15 (1900), p. 25.

158) Civiling. (2) 25 (1879), p. 613. Vgl. auch W. End, Techn. Blätter 22 (1890), p. 83 und W. J. Vaes, Delft J. Ec. polyt. 8 (1897), p. 115.

159) Civiling. (2) 25 (1897), p. 461.

160) Gliedervierseit, p. 446. Vgl. auch J. Taubeles, Civiling. (2) 32 (1886), p. 635; Kirsch, Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ing. 34 (1890), p. 1320.

161) Specification Nr. 1432 vom 28. April 1784. Vgl. auch J. P. Muirhead, Mechanical inventions of James Watt, Bd. 3, London 1854, p. 88.

162) Abhandl. d. kgl. techn. Deputat. f. Gewerbe 1 (1826), p. 225. Die Ge- radführung beruht darauf, die Koppelbewegung angenähert als die des Ellipso-

224 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

Das allgemeinere Problem wurde zuerst von P.L. Tschebyscheff behandelt. Er ging von der analytischen Frage aus, in einer Funk- tion f(x) resp. in einer Reihenentwickelung die Parameter so zu bestimmen, dass innerhalb eines gewissen Intervalls ihre Abweichung von einer gegebenen Funktion möglichst gering ist 163), Diese Methode hat Tschebyscheff zunächst auf das Watt’sche Parallelogramm, später auf ein beliebiges Kurbelgetriebe angewandt. Es bieten sich von vornherein zwei verschiedene Wege dar. Man kann die Bedingung stellen, dass die Bahnkurve eine von möglichst hoher Ordnung be- rührende Tangente besitzt; als Resultat ergiebt sich, dass diese Be- rührung höchstens sechspunktig sein kann. Man gelangt zu brauch- baren Annäherungen auch dann, wenn die Bahnkurve mehrere neben einander liegende einfache Wendepunkte besitzt. Diesem Fall ent- spricht die Watt’sche Kurve, die drei benachbarte Wendepunkte besitzt. Tschebyscheff erkannte auch bereits, dass diese Annäherung wesentlich besser ist, als die durch eine sechspunktig berührende Tangente 1%),

R. Müller '%) und L. Allievi'%) haben die Theorie der angenäherten Geradführung in der Weise behandelt, dass sie von der Kurve ka resp. den Punkten U und B, (Nr. 8) ausgegangen sind. Man kann an die quadratische Gleichung für die Punkte B, anknüpfen und die in sie eingehenden Parameter so bestimmen, dass einer dieser Punkte in U fällt. Man gelangt so zu Bedingungen für eine fünfpunktige Geradführung; sie geht in eine sechspunktige über, wenn man die Kurve eine zur Kurven- normale symmetrische Form annehmen lässt. Soll der beschreibende Punkt U insbesondere auf AB liegen, so bestimmen in dieser Lage (Fig. 4) die drei beweglichen Seiten a, b, c des Vierecks

4 >, Fig. 4.

graphen zu betrachten; die Bahn der Mitte von AB ist angenähert ein Kreis, was für besondere Vierecke eine brauchbare Gerade liefert. Vgl. auch @. Pastore, Torino Atti 27 (1890), p. 47.

163) Petersburg, Me&m. sav. etrang. 7 (1853), p. 537 und Petersb. Bull. 4 (1861), p. 433. Eine einfache Ableitung giebt A.de St. Germain, J. de math. (3) 6 (1880), p.19.

164) Einen zweiten Mechanismus dieser Art, bei dem jedoch der beschrei- bende Punkt M nicht auf AB liegt, hat Tschebyscheff in der Beilage zu Petersb. Mem. de l’Acad. 60 (1888) angegeben. Vgl. auch A. Wassilief und N. De- lawnay, P. L. Tschebyscheff, Leipzig 1900, p. 60. Diese Geradführung ist tech- nisch der andern vorzuziehen.

165) Zeitschr. f. Math. 37 (1892), p. 213 u. 38 (1893), p. 130; Gelenkviereck, p. 60 ff. und Zeitschr. f. Math. 46 (1901), p. 330. In dieser Arbeit werden die gestaltlichen Verhältnisse der bezüglichen Koppelkurven näher erörtert.

166) Biella piana, p. 133 ff.

13. Angenäherte Kurvenführungen mittelst des Kurbelgetriebes. 225

ein gleichseitiges Dreieck '). Für diese Seiten und die feste Seite AB —=d bestehen zwei in a, b, c symmetrische Gleichungen '®), sodass es noch oo? Vierecke dieser Art giebt; und wenn AB und darauf U gegeben ist, so giebt es immer noch zwei Vierecke, die eine sechspunktige Geradführung von U bewirken '®). Dagegen bedeutet es keine Besonderheit des Vierecks, wenn der Ball’sche Punkt U eine fünfpunktig berührende Tangente hat.

Um von den Punkten mit vier-, fünf- und sechspunktiger Gerad- führung zu solehen Bahnkurven überzugehen, die mehrere konsekutive Wendepunkte enthalten, hat man an die Kurve b anzuknüpfen, deren Punkte eine vierpunktig berührende Tangente besitzen. Sie scheidet die Ebene in zwei Gebiete, sodass in dem einen die Punkte in der Nähe von b Bahnen mit zwei benachbarten Wendepunkten besitzen"). Hat b eine Spitze, so giebt es in deren Nähe Punkte mit drei benach- barten Wendepunkten, und wenn ein Punkt mit sechspunktig be- rührender Tangente existiert, so liegen in seiner Nähe sogar Punkte mit vier benachbarten Wendepunkten. Es resultieren hieraus die Fragen, wie die Ebene 6 durch die Kurve 5b in Gebiete zerlegt wird, welche Singularitäten den Bahnkurven dieser Gebiete zugehören, und wie die Kurve b und die andern ausgezeichneten Kurven von den Konstanten des Vierecks abhängen. Auch dies haben Allievi'"') und Müller ‘'") untersucht. Allievi betrachtet besonders die Fälle, in denen k, zerfällt, und konstruiert die bezüglichen Vierecke methodisch in der Weise, dass er die Punkte A und B auf alle möglichen Arten auf die Bestandteile der Kurve k, verteilt, und für jedes Viereck die Singularitäten der Bahnkurven untersucht‘). Er hat in dieser Weise auch solche Punkte bestimmt, deren Bahn mit möglichst guter An- näherung einen Kreis darstellt; eine Aufgabe, die auch T'schebyscheff '"*) in seinen früheren Untersuchungen in Angriff genommen hatte. Auch

167) Vgl. auch Gött. Nachr. 1897, p. 3.

168) Die Eigenschaft der sechspunktigen Geradführung bleibt also be- stehen, wenn man a, b, c beliebig vertauscht, in Übereinstimmung mit der drei- fachen Erzeugbarkeit jeder Koppelkurve. Für die bezüglichen Relationen vgl. auch Tschebyscheff, Bull. sciences math. (2) 5 (1881), p. 216 u. Bull. Soc. math. de France 12 (1884), p. 179.

169) Die oben erwähnte Tschebyscheff’sche Geradführung entspricht dem Fall, dass U in die Mitte von AB fällt; es ist AA=4AB und AB=3AB.

170) Für die eyklische Bewegung ist dies der oben genannte Kreisring.

171) Biella piana, p. 56ff. u. Zeitschr. f. Math. 43 (1898), p. 36.

172) Für die der fünfpunktigen und sechspunktigen Geradführung ent- sprechenden Relationen vgl. Biella piana, p. 73 u. 138.

173) Bull. Soc. math. de France 12 (1884), p. 179.

226 IV 3. A. Schoenflies und M. Grübler. Kinematik.

H. Leaute“*) hat solche Punkte auf der Geraden AB bestimmt. H. Leaute'"®) hat die T'schebyscheff’schen Methoden auch auf das all- gemeinere Problem ausgedehnt, beliebig gegebene Kurven durch Bahn- kurven des Kurbelgetriebes zu approximieren !"),

14. Die stetige Bewegung um einen festen Punkt. Die geo- metrischen Eigenschaften der stetigen Bewegung eines Körpers um einen festen Punkt O ergeben sich aus den analogen in Nr. 4 auf- gestellten Sätzen durch Grenzübergang. Auch hier war die Existenz einer Axe o, um die bei stetiger Bewegung der Körper $ eine momentane Rotation ausführt, von J. d Alembert "") über 25 Jahre früher gefunden worden, als von L. Euler) der entsprechende Satz für diskrete Lagen. Aber erst fast 100 Jahre nach d’Alembert reifte ‘die Erkenntnis, dass jede stetige Bewegung um einen festen Punkt durch das Ab- rollen zweier Kegel charakterisiert ist!’®), analog wie die ebene Be- wegung durch das Abrollen zweier Kurven. Es ist L. Poinsot '"°), der sie vermittelt hat.

Die allgemeine Übertragung der Sätze und Formeln, die auf der Existenz der quadratischen Verwandtschaft ®, beruhen, verdankt man S. Aronhold '®). Wenn man im Durchdringungspunkt 0’ der Axe 0 mit einer um gelegten Kugel eine Tangentialebene 6 legt und diejenige Momentanbewegung innerhalb dieser Ebene ins Auge fasst, deren Polkurven die Schnittlinien mit den Polkegeln sind, so paart die zugehörige ebene Verwandtschaft ®, der Punkte A, A’ von o die Strahlen a, a’ des Bündels und ihre Durchdringungspunkte A,, A, mit der Kugel in der Weise, dass « Krümmungsaxe, der sphärischen Bahn von A, ist, ebenso a Krümmungsaxe der Bahn von A, für die umgekehrte Bewegung'®'). Um also von den metrischen Relationen der ebenen Bewegung zu denen der Kugel zu gelangen, hat man nur die vom Pol 0’ aus gerechneten Strecken von o durch die Zrigonome-

174) J. ec. polyt. 53 (1883), p. 59.

175) J. &c. polyt. 46 (1879), p. 205 u. Paris ©. R. 96 (1883), p. 639 u. 1356.

176) Er behandelt a. a. O. auch die Aufgabe, eine Kurve ec irgendwie durch Kreise und Ellipsen zu approximieren.

177) Recherches sur la pröcession des equinoxes, Paris 1749, p. 3.

178) Wie in Nr. 8 wird von nicht differenzierbaren Bewegungen ab- gesehen.

179) Rotation, $ 8.

180) Vgl. die Dissertationen in Fussn. 185, 186, 187. Die weiteren im folgen- den aufgeführten Sätze gab Schoenflies, Geometrie der Bewegung, p. 47 ff.

181) Dies gilt ebenso für jedes Paar zusammengehöriger sphärischer Hüll- kurven; vgl. Nr. 8.

14. Die stetige Bewegung um einen festen Punkt. 2927

trischen Tangenten der bezüglichen Bogen auf der Kugelfläche zu ersetzen !??).

Die Wendekreise von 6 liefern beim Übergang zum Bündel orthogonale‘?) Kegel K,, auf die sich jedoch nicht alle Eigenschaften übertragen, die den Wendekreisen zukommen (Nr. 4) '#). Insbesondere bilden die Strahlen von S, die momentan Wendestrahlen ihrer Bahn- kegel sind, eine Kegelfläche HM, und die auf den Strahlen von A, senkrechten Ebenen sind die momentanen Rückkehrebenen der von ihnen umhüllten Flächen. Endlich existieren zwei den Kurven Ä#, und %k, analoge Kegel K, und K, solcher Strahlen, deren Bahn- kegel eine stationäre Krümmungsaxe besitzen; sie durchdringen die Kugel in sphärischen Kurven gleicher Eigenschaft. Die Beziehungen zwischen k, und %k,' übertragen sich auf diese Kegel vollständig '*).,

Von speziellen Bewegungen ist wesentlich nur diejenige des sphärischen Kurbelgetriebes kinematisch untersucht worden'*°). Sie ist so definiert, dass zwei Punkte eines grössten Kreises sich auf Kreisen bewegen. Eingehender betrachtet sind freilich nur die Fälle des sphärischen Antiparallelogramms ‘*) und des sphärischen Ellipso- graphen '®”); für sie sind die Polkegel, Wendekegel u. s. w. rechnerisch bestimmt worden. Der sphärische Ellipsograph stellt übrigens die- jenige Bewegung dar, die das Oardanische Gelenk (Nr. 27) kinematisch

charakterisiert; ein auf der Kugel liegender Quadrant läuft mit seinen

- Endpunkten auf zwei grössten Kreisen. Das Abrollen einer um einen

- Punkt O ihrer Axe drehbaren Rotationsfläche ® von einer Geraden

_ behandelt V. Nobile'8). Ist & eine F,, so ist der Axenkegel von $’ ein K,. |

Ä 15. Geschwindigkeit und Beschleunigungen bei der Bewegung um einen Punkt. Da die momentane Winkelgeschwindigkeit & (Nr. 10) um die Momentanaxe o ein Vektor ist (IV 2, 12 und IV 14, 3), so kann man sie nach beliebigen durch O0 gehenden Axen zerlegen.

182) Das Analogon der Euler-Savary’schen Gleichung gab schon L. Poinsot, Rotation, $ 9.

183) Die Kriüimmungsaxen ihrer Punkte fallen in eine zu 0 senkrechte Ebene.

184) Für die Strahlen, die (Nr. 8) dem Ball’schen Punkt und den Bur- mester’schen Punkten entsprechen, vgl. Schoenflies, Geometrie der Bewegung, p- 67 ff.

185) F. Masi, Bologna Mem. (4) 1 (1882), p. 349; F. Buka, Diss. Göttingen 1876.

186) R. Sellentin, Diss. Jena 1881.

187) O. Marbach, Diss. Jena 1880.

188) Nouv. ann. (3) 18 (1899), p. 218.

228 IV 3. A. Schoenflies und M.@Grübler. Kinematik.

Sind 9,9,” ihre Komponenten nach den in $ festen Axen x, y, 2, und setzt man d d dr

=, =5 u so wird dadurch wiederum ein Vektor A definiert, den man die momentane Winkelbeschleunigung nennt. In derselben Weise stellen die n‘® Differentialquotienten von p, q, r die Komponenten der nt Winkelbeschleunigung A” dar. Die durch diese Vektoren definierten Geraden /, 1 werden als Axen der bezüglichen Winkelbeschleunigung bezeichnet. Wird in jedem Augenblick ® als Vektor OU konstruiert, so stellt analog zu Nr. 11 die Geschwindigkeit des Endpunktes U den Vektor A dar, und wenn A als Vektor OL gezeichnet wird, so ist ı® die Geschwindigkeit von L; d. h. es ist (Nr. 10)

i=Do, d—=DA,..., Ant) Dim.

Da die Bewegung von S bestimmt ist, falls die drei Euler’schen Winkel 9, %, # als Funktionen der Zeit bekannt sind, so existieren zunächst Gleichungen, die p, q, r sowie alle durch diese Winkel und ihre Ableitungen ausdrücken '®). Wichtiger sind die Formeln, die von 9, q, r als gegebenen Funktionen der Zeit ausgehen. Für jeden Punkt A(x, y, z) bestehen die für dieses Gebiet grundlegenden Gleichungen

u a a a N ferner führt die Aufgabe, aus p, q, r die neun Cosinus a,, b,, c, als Funktionen der Zeit zu bestimmen, auf die Gleichungen

da dt

f r

db de =rb —ge, Ze 00, 7 = 1e—pb,

die selbst wieder auf eine Riccati’sche Differentialgleichung reduzier- bar sind 10),

Die Winkelbeschleunigung A wird am einfachsten so in zwei Komponenten zerlegt, dass die eine A, in die Axe o fällt, während die andere Ay in die Gerade » fällt, die zu o normal ist und in der Ebene ol liegt; es ist

do dy

wo x der konische Winkel ist, den die Momentanaxe auf dem Axen- kegel beschreibt, also u die Wechselgeschwindigkeit der Momentan-

189) Vgl. z. B. Resal, Cin&matique, p. 113 u. 115. 190) @. Darboux, Legons sur la theorie generale des surfaces 1, Paris 1887, p. 19.

15. Geschwindigkeit u. Beschleunigungen bei d. Bewegung um einen Punkt. 229

axe (Nr. 26) darstellt. Die von A, resp. Ay herrührenden Beschleu- nigungen eines Punktes A sind senkrecht zu Ebenen, die durch A und o resp. ! gehen. Hat A von den Axen o, ! und n die Abstände r, r, und r,, so ist

AR IN AN p= or + Ar = o®r + Ayur + Aytn,

woraus die Zerlegungen von @ ersichtlich sind!*}). Die Geraden o, n und eine dritte zu ihnen senkrechte Gerade y stellen das natürlichste Axensystem z, x, y für die Analyse der Beschleunigungen dar. Ein ebenfalls zu einfachen Formeln führendes Axensystem bilden die drei senkrechten Richtungen, die durch &, o und r gegeben sind !??).

Analytische Formeln, die p durch p, q, r und A ausdrücken, hat zuerst H. Resal '??) gegeben; es ist

9 —al,—yl,— (’Hr)atp(gy+r2). Ph. Gilbert‘!”*) hat bemerkt, dass der Wert von p, am einfachsten durch formale Differentiation von v, entsteht, in der Form

2 zung ah, GE YA, = N ae YV; und dies gilt in analoger Weise für jedes 9”. Die vorstehenden Formeln vereinfachen sich, falls man mit v, @, ®, A direkt operiert.

Einen ersten Satz dieser Art verdankt man Resal'!®); er findet seinen kürzesten Ausdruck durch die Gleichung

EN N op-—tAv—=(,

N wo og ete. das innere Produkt”?) zweier Vektoren ist. Ph. Gilbert, der dem Satz diese Form gegeben hat, hat auch bemerkt, dass er un-

mittelbar durch Differentiation (Nr. 10) der Gleichung oo —=( ent- steht. Hiermit ist alsdann auch seine Verallgemeinerung gegeben; es ist 1%)

191) Die Zerlegung in o®r und Ar, gab @. Rivals, J. &c. polyt. 35 (1853), p. 113.

192) Vgl. Schell, Theorie d. Bewegung, p.474 ff.; Gilbert, Accelerations 13, p- 277 sowie Paris C. R. 107 (1888), p. 776, 946; 108 (1888), p. 92. Vgl. auch @G. R. Dahlander, Stockh. Öfv. 1870, p. 49.

193) Vgl. Cin&matique, p. 193.

194) Paris C. R. 104 (1882), p. 162, sowie Accelerations 13, p. 268. Die Resal'sche Relation erscheint bei @ilbert einfacher in der Form

N 9, =2,— yı,+oep— oz, was wieder unmittelbar zu einer Zerlegung von g führt, und zwar ist e = 0A. 195) Cinematique, p. 220. 196) Accelerations 18, p. 232 ff. Dort werden noch andere vektorielle

230 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

N N og") . nA pr—1) + a ) 1 pin) + or 10% == 0.

Die Kenntnis der hier auftretenden geometrischen Örter verdankt man wesentlich W. Schell") und Ph. Gilbert‘). Das wichtigste Resultat besagt, dass die Punkte p = const. eine Schar ähnlicher und ähnlich liegender Ellipsoide bilden, deren Mittelpunkt in O fällt; für sie bilden o und Z mit derjenigen Geraden g drei konjugierte Durchmesser, die Ort der Punkte @ (Nr. 10) in den zu o senkrechten Ebenen ist, und zwar mit Rücksicht auf die in diese Ebenen fallende Komponente von 9. Werden n, y, o als x, y, 2-Axen gewählt, so sind die Geraden o, I, g Ort der Punkte, für die resp. p zu den drei Axen parallel ist; analog sind diese Axen Ort der Punkte, für die p zu den drei Ebenen (og), (lg), (ol) normal ist!%). Werden o, I, g als x’, y',2-Axe gewählt und sind «a, b‘, ce’ die zugehörigen Halb- messer, so ist, wie @ülbert'?") fand,

% y 2 Va a re a :

| 9 |

16. Polhodie und Herpolhodie. Den wichtigsten Sonderfall der Bewegungen um einen Punkt O stellt dasjenige Abrollen eines Ellip- soids E,'””) von einer festen Ebene x dar, bei welchem die momen- tane Winkelgeschwindigkeit dem Radiusvector OA nach dem Be- rührungspunkt proportional ist. Durch diese Bewegung ist nach L. Poinsot?®) bekanntlich die Drehung eines Körpers um einen festen Punkt!) in dem Falle charakterisiert, dass auf ihn keine Kräfte wirken. Dieses ursprünglich auf dynamischem Boden erwachsene Resultat hat zu einer Fülle kinematischer Betrachtungen Veranlassung gegeben. Von den beiden Axenkegeln ist, wie die dynamischen Gleichungen ergeben, der in 8 vorhandene Kegel ein K,, während der Axenkegel von 8’ im allgemeinen transcendent ist. Die beiden Kurven, in denen die Axenkegel das Ellipsoid E, und die Ebene x’ durchdringen, und

Produkte analog behandelt. Einen Irrtum, der den Formeln für g(2) bei W. Schell anhaftet, berichtigt E. Novarese, Torino Atti 26 (1890), p. 302.

197) Theorie d. Bewegung, p. 482ff.; Paris ©. R. 107 (1888), p. 776 u. 830; Acce@lerations 13, p. 274 ff. Vgl. auch R. Marcolongo, Giorn. di mat. 27 (1889), p. 90; @. Castellano, Riv. di mat. 2 (1892), p. 19 u. 3 (1893), p. 25.

198) Einen noch allgemeineren Satz dieser Art giebt L. J. Gruey, Paris ©. R. 86 (1878), p. 1241.

199) Im folgenden wird ein Ellipsoid durch E,, ein Hyperboloid durch H,, ein Paraboloid durch P, bezeichnet.

200) Rotation, chap. 2.

201) Für die nähere Erörterung dieses Problems selbst vgl. IV 13 (Stäckel).

16. Polhodie und Herpolhodie. 231

von denen die erste bei der Bewegung von der zweiten abrollt, hat L. Poinsot als Polhodie und Herpolhodie bezeichnet.

In den von Poinsot seiner Arbeit beigegebenen Figuren enthält die Herpolhodie Wendepunkte; dies ist jedoch, worauf zuerst W. Hess”?) hinwies, ein Irrtum. Hieran haben sich weitere fruchtbare Unter- suchungen über die Gestalt und die Natur von Polhodie und Her- polhodie angeschlossen ®®). less fand bereits, dass, wenn auch Wende- punkte beim Poinsot’schen Centralellipsoid ausgeschlossen sind, sie doch auftreten können und müssen, wenn es durch eine andere cen- trische Fläche F, ersetzt wird. Ist sie ein E,, so treten Wendepunkte immer und nur dann auf, wenn der Abstand ON des Punktes O von x grösser ist als die mittlere Halbaxe; analoge Sätze bestehen für ein einschaliges resp. zweischaliges A,.°%) Auch Spitzen kann die Herpolhodie bei einem E, nicht besitzen; wohl aber bei einem gerad- linigen H,, wie @. Darboux bemerkt hat. Die Tangente der Herpol- hodie und ihr von N aus gerechneter Radiusvektor sind nämlich kon- jugierte Tangenten der F,; sie können daher nur bei geradlinigen H, zusammenfallen, und falls eine gewisse Relation erfüllt ist, tritt dies auch wirklich ein.

Man kann fragen, ob noch andere Flächen vorhanden sind, die bei diesem Bewegungsvorgang von einander abrollen. F. Siacei?®) fand zuerst ein H,, das von einem Rotationseylinder abrollt, sodann fand M. Gebbia?®), dass jede F,, die dieselben unendlich fernen Kreis- punkte enthält, wie das Poinsot’sche E,, von einer Rotationsfläche zweiten Grades abrolle.e. Kennt man ein Paar von Rollflächen, so

202) Diss. München 1880 u. Math. Ann. 27 (1886), p. 465 u. 568. Das gleiche fand M. de Sparre, Paris C. R. 99 (1884), p. 906. Vgl. auch A. Mannheim, A. de St. Germain, J. N. Franke, @. Darboux, H. Resal ib. 100 u. 101 (1885). Eine rein kinematische Behandlung des Problems gab F. W. Baehr im Deltt J. Ee. polyt. 6 (1890), p. 27. Ausführlicher J. N. Franke in Krak. Denkschr, 12 (1886).

203) Eine Zusammenstellung giebt @. Darboux im Anhang zu M. Despey- rous, Cours de mecanique 2, Paris 1886, p. 488 ff. Vgl. auch E. J. Routh, A treatise on the dynamics of a system of rigid bodies, 2 vols., 6. ed., London 1897; deutsch von A. Schepp, Leipzig 1898, Bd. 2, p. 105 ff.

204) Genügen die Axenquadrate a?, b?, der F, der Gleichung

a Px®+Qzx —- R=0,- so ist nach @. Darboux das Auftreten von Wendepunkten an e> pur >a>e® oder O>p>#>g > gebunden, wo h:Yl= ON ist.

205) Collectanea mathematica in memoriam di D. Chelini, Milano 1881. 206) Rom. Acc. dei Linc. Mem, (4) 1 (1885), p. 326.

232 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

kann man durch gewisse Berührungstransformationen unendlich viele solcher Paare ableiten ®”).

Über die Polhodie gab J. J. Sylvester*®) folgenden Satz: Werden in den Punkten der Polhodie auf den Normalen des E, konstante Längen aufgetragen, so bilden ihre Endpunkte eine Polhodie auf einem andern E,, und die Normalen des ersten E, sind es zu- gleich für das zweite?®). Ein anderer Satz stammt von J. de la Gour- nerie”'). Er besagt, dass jede Schnittkurve c zweier koaxialen F, als Polhodie zweier gewissen E, und zugleich als Schnittkurve zweier konfokaler F, angesehen werden kann. Darboux?") fügte hinzu, dass diese F, nur dann reell sind, wenn die dritte Flächenschar aus ein- schaligen H, besteht. In jedem Punkt der Polhodie sind die beiden durch ihn gehenden Erzeugenden dieses H, Normalen der beiden E,, für die c eine Polhodie ist. Diese Sätze bringen die Polhodie in Zu- sammenhang mit dem gelenkigen A, (Nr. 31). Aus einem Satz von H. Durrande folgt nämlich nunmehr, dass bei der Formveränderung des H, jeder seiner Punkte eine Polhodie beschreibt. Man hat damit die Möglichkeit, mittelst eines räumlichen Gelenkvierecks eine Polhodie zu erzeugen; analog lässt sich auch eine Herpolhodie durch einen räumlichen Mechanismus beschreiben ?!?).

17. Die Axenflächen der allgemeinsten Bewegung. Der Satz, dass die momentane Bewegung eines Körpers & im allgemeinsten Fall eine Schraubung ist, wurde zuerst von @. Mozzi?"?) ausgesprochen. Die Gesamtheit der Schraubenaxen a bildet in Z& und &’ je eine geradlinige Fläche; diese Axenflächen haben in jeden Augenblick eine Erzeugende gemein und wickeln sich gleitend und rollend so von einander ab, dass die Gleitung längs der Erzeugenden erfolgt?"*); das Verhältnis von Rotation zu Translation ist durch die Axenflächen

207) F. Siacei, Torino Atti 21 (1886), p. 261; vgl. auch D. Padeletti, Napoli Rend. 25 (1886), p. 242.

208) Lond. Phil. Trans. 156 (1866), p. 757.

209) Die invariablen Ebenen sind also parallel.

210) Recherches sur les surfaces reglees tetra&drales sym6triques, p. 163 ff.

211) Paris ©. R. 101 (1885), p. 200 und 102 (1886), p. 501. Die Kurve e darf nicht sphärisch sein.

212) Vgl. auch Ph. Gilbert, Brux. Ann. Soc. scient. 14B (1890), p. 25; dort findet sich auch eine historische Darstellung der neueren Resultate.

213) Vgl. IV 2 (Timerding), Fussn. 29. A. Cauchy hat an der dort er- wähnten Stelle (Exerc. de math. 2, Paris 1827, p. 87 = Oeuvres (2) 7, Paris 1889, p. 94 ff.) auch zuerst die Axenflächen bemerkt.

214) Die allgemeinere Abwickelung geht so vor sich, dass die Gleitung mit den Erzeugenden Winkel bildet; vgl. Nr. 27.

a ee ee ee

17. Die Axenflächen der allgemeinsten Bewegung. 233

bestimmt. Man nennt diesen Vorgang nach Reuleaux Schrotung. Die Flächen müssen entweder beide windschief, oder beide abwickelbar oder beide Cylinderflächen sein ?"°). j

Zwei Axenflächen H, H’ einer möglichen Bewegung unterliegen aber noch weiteren Bedingungen. Sind sie zunächst windschief, so müssen sie längs zweier gemeinsamen Erzeugenden den Centralpunkt und die Centralebene gemein haben und denselben Parameter k be- sitzen; die Striktionslinien gelangen bei der Bewegung Punkt für Punkt zur Deckung, ohne in entsprechenden Punkten gleiche Tangenten zu be- sitzen. Sind v und v’ die relativen Geschwindigkeiten (Nr. 26) des Centralpunktes auf den Striktionslinien von H und ZH’, v resp. v’ deren Winkel mit den Erzeugenden, und % resp. W die Bögen der Bildkurven, die die Richtungskegel von H und H’ auf der Einheits- kugel beschreiben, so bestehen die Gleichungen *'7)

vsinv=vsinv, T=vVcosv —vcov, dy=dv, deren letzte besagt, dass die Richtungskegel auf einander abrollen. Eine weitere Relation ergiebt sich, wenn man die Krümmungsradien o und oe’ der Normalschnitte ins Auge fasst; sie erscheint zuerst bei E. Resal und ist von @. Gautero?'?) berichtigt worden; sie lautet

(< 2 k) (etgv ctgv’) = r re

wo @ und r die Komponenten der momentanen Schraubengeschwindig- keit sind (Nr. 19).

Sind die Axenflächen abwickelbar, so berühren sich ihre Wende- kanten im gemeinsamen Punkt und es bestehen die Relationen ds:o=ds:0, T=vV—o, wenn s und s’ den Bogen der Wendekanten darstellen °?). Ist eine Fläche ein Kegel, die andere nicht, so ist ds’: =ds und =p/, wo s der Bogen der Kurve ist, in der der Kegel die Einheitskugel durchdringt. Sind beide Flächen cylindrisch, so bestehen derartige Rela-

tionen nicht mehr. Besonderheiten treten auf, falls jede Momentanaxe eine Drehungsaxe ist, so dass beide Flächen von einander abrollen; es rollt dann auch

215) Gewöhnlich so ausgesprochen, dass, wenn die Momentaxe in & eine feste Richtung hat, so auch in Z&’, und umgekehrt.

216) Vgl. ©. Bour, J. €c. polyt. 39 (1862), p. 36.

217) Vgl. besonders Resal, Cinematique, p. 142ff., wo sich noch viele andere Relationen dieser Art befinden.

218) Giorn. di mat. 20 (1882), p. 168.

219) H. Duport, Nouv. ann. (3) 18 (1899), p. 5.

234 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

jede Kurve der einen Fläche auf einer Kurve der andern, insbesondere jede geodätische auf einer geodätischen ?°). Die Aufgabe, alle Flächen H zu finden, die von einer Fläche 7’ abrollen können, führt auf Quadraturen??'). Sind beide Flächen abwickelbar, so rollen auch die Wendekanten von einander ab???) und besitzen in entsprechenden Punkten gleiche erste Krümmung, gehen also bei Abwickelung in kongruente Kurven über?*). Eine analytische Behandlung des Ab- rollens der Axenflächen gab N. Nicolaides?*).

In neuester Zeit hat X. Antomari??) für die Betrachtung der Axen- flächen die folgenden geometrischen Parameter eingeführt: den Para- meter k, die längs der Erzeugenden fallende Geschwindigkeitskompo- nente des Centralpunktes h = vcosv, und die ihr entsprechende geo- dätische Krümmung # des Richtungskegels; beim Abrollen ist ausser k=hk auch h=h. Diese Parameter definieren die Regelflächen. Sind die fünf Grössen k,h, h’, 9, 9 als Funktionen von ft gegeben, so ist damit eine zwangläufige Bewegung bestimmt; es können also die erzeugten Bahnkurven, Enveloppen und Regelflächen, sowie auch deren Parameter analytisch durch sie ausgedrückt werden.

18. Geometrische Eigenschaften der allgemeinsten Bewegung. Durch Grenzübergang verwandeln sich die Sätze von Nr. 5 in solche über Tangenten, Normalebenen, Schmiegungsebenen u. s. w. der stetigen Bewegung”). Wir betrachten zunächst zwei konsekutive Lagen. Alsdann geht &” in das System der Normalebenen «” aller Bahn- kurven über; das System &,, wird mit & identisch, während aus dem Sehnenkomplex der Komplex &, der Bahntangenten ‚wird. Als Haupt-

220) Ausführlich, doch nicht immer fehlerfrei bei Resal, Cin&matique, p. 155 ff., behandelt. Vgl. auch Paris C. R. 100 (1885), p. 261.

221) Königs, Cinematique, p. 204; E.Cesaro, Nouv. ann. (3) 3 (1884), p. 434.

222) Das umgekehrte Problem behandelt E. Weyr, Wien. Ber. 104 (1895), p. 292.

223) Für die allgemeinere Frage des Rollens von Flächen aufeinander vgl. Resal, Cinematique, p. 155 ff.; E. Beltrami, Giorn. di mat. 10 (1872), p. 103; H. Zimmermann, Zeitschr. f. Math. 19 (1874), p. 242; W. Thomson u. P. @. Tait, Treatise on natural philosophy, 1890, p. 90 ff. Die Kurven, längs deren die Be- rührung stattfindet, haben gleiche geodätische Krümmung.

224) These Paris 1864, p. 47 ff.

225) These Paris 1894, p.2 u. 67ff. Antomari behandelt auch einige Klassen spezieller Probleme.

226) Diese Sätze wurden von Chasles früher aufgestellt, als die von Nr. 5 (Deplacement fini). Beweise gab zuerst E. de Jonquieres, Melanges de geometrie pure, Paris 1856. Eine analytische Ableitung geben @. Battaglini, Napoli Rend. 9 (1870), p. 79, und J. Tannery, Ann. €c. norm. (3) 3 (1886), p. 43.

18. Geometrische Eigenschaften der räumlichen Bewegung. 235

theorem ergiebt sich, dass in jedem Augenblick die Punkte von & mit den Normalebenen ihrer Bahnen ein Nullsystem W bilden, dessen Haupt- axe die momentane Schraubenaxe ist. Da nun ein Nullsystem und ein linearer Komplex &, sich gegenseitig definieren, so ist jede Momentan- bewegung durch einen linearen Komplex bestimmt und ebenso um- ' gekehrt. Der betreffende Komplex besteht aus den Geraden, die sich in W selbst konjugiert sind, und deren Bahntangenten zu ihnen senkrecht sind”).

Das Haupttheorem enthält insbesondere folgende Sätze: 1) Die Normalebenen der Bahnen aller Punkte von g laufen durch die zu g kon- jugierte Gerade g”. Falls g nicht dem Komplex @, angehört, kann daher die momentane Bewegung von g als Rotation um g” angesehen werden®®). Für die von 9 beschriebene Fläche (g) bilden die Nor- malen längs 9 ein Paraboloid®®), die Centralebene von (g) ist zur Axe a parallel und ihr Oentralpunkt liegt auf derjenigen Normalen, die a trifft. 2) In einer Ebene & giebt es einen Punkt (Nullpunkt), dessen Bahntangente zu & senkrecht steht, und eine Gerade e (die Charakteristik), die sich in & bewegt und Bahntangente eines ihrer Punkte ist; alle diese Geraden bilden den tetraedralen Komplex &,.”°) 3) Die Momentanbewegung ist durch 5 Strahlen des &, bestimmt, insbesondere auch so, dass 5 Punkte auf gegebenen Flächen bleiben; ihre Normalen liefern die 5 Komplexstrahlen. Die Auffindung der Normalebenen beliebiger Punkte von & ist aus ihnen konstruktiv lösbar, ebenso die Konstruktion der momentanen Schraubenaxe ?’'). 4) Sind g und h konjugierte Geraden, sodass die Momentanbewegung durch Rotationen um sie ersetzbar ist, so trifft ihr gemeinsames Lot @H die momentane Schraubenaxe a senkrecht und wird durch sie so geteilt, dass

GA:HA=tg(ga):tg(ha) = k

ist, wo k der Parameter der momentanen Schraubung ist. Ferner

227) Zu den Bemerkungen des Textes vgl. die ausführlichere Darstellung bei H. E. Timerding (IV 2, 10ff.).

228) Eine Regelfläche ist also durch Abrollen von Flächen erzeugbar.

229) Jede Erzeugende der zweiten Art des Paraboloids ist eine Gerade g” für eine mögliche Bewegung von g, bei der g die Fläche (g) beschreibt.

230) Den besonderen Charakter dieses Komplexes (vgl. Nr. 5) erörtert A. Schoenflies, Zeitschr. f. Math. 28 (1883), p. 229 und Geometrie der Bewegung, p. 109. Einen allgemeineren Komplex €, betrachtet D. Padeletti, Napoli Rend. 19 (1880), p. 41.

231) Den Fall, dass die 5 Normalen einer Kongruenz angehören, behandelt G. Halphen, Bull. Soc. math. de France 8 (1880), p. 18.

Eneyklop. d. math. Wissensch. IV 1. 16

236 IV 3. A. Schoenflies und M. Grübler. Kinematik.

besteht für die zugehörigen Winkelgeschwindigkeiten ®,, ©, und die Komponente & der Schraubung die Relation ®,:0,:@ = sin (ha): sin (ag): sin (gh).

Der durch drei Lagen bedingte Komplex €, (Nr. 5) verwandelt sich bei stetiger Bewegung in den Komplex €, der Krümmungsaxen der Bahnen *??); seine Hauptpunkte und Hauptebenen sind im all- gemeinen imaginär, so dass Punkte mit stationärer Normalebene im allgemeinen nicht existieren. Die 3, geht in eine Verwandtschaft zwischen den Punkten A von & und den ÜOentren der Schmiegungs- kugeln ihrer Bahnen über, je zwei entsprechende Punkte A, A’ von ®, sind so gepaart, dass zugleich A Mittelpunkt der Schmiegungs- kugel von A’ für die umgekehrte Bewegung ist (Nr. 3). Die Funda- mentalkurve k, von 3, enthält diejenigen Punkte, deren Bahnen eine stationäre Krümmungsazxe haben, die Kurve i, ist Ort der Punkte mit stationärer Tangente?°?), die Fläche F, enthält die Punkte mit statio- närer Schmiegungsebene, die Fläche F, endlich die Punkte mit statio- närer Schmiegungskugel. Die Mittelpunkte dieser Kugeln bilden die Fläche F} der umgekehrten Bewegung. Auf F, giebt es eine Kurve von Punkten, deren Schmiegungsebene fünfpunktig berührt, auf F, eine Kurve mit sechspunktig berührender Schmiegungskugel u. s. w.?’*). Mit geometrischen Örtern anderer Art hat sich insbesondere noch A. Mannheim???) beschäftigt. So bilden für alle Punkte einer Geraden g die Tangenten ein Paraboloid, die Krümmungsaxen ein Hyper- boloid2##), die Schmiegungsebenen eine abwickelbare F,, die Centra der Schmiegungskugeln eine c,, die Hauptnormalen eine Regelfläche R,, die Centra der Krümmungskreise eine c, u.s. w. u. s. w.”®”).

Sind die Axenflächen Oylinderflächen, so degenerieren die obigen Sätze teilweise. Die allgemeinen Gesetze dieser Bewegung giebt A. Schoenflies”®). Wesentlich ist, dass die , stets in eine zur Schraubenaxe parallele Gerade degeneriert.

232) Für die geometrischen Eigenschaften der Bahnen für drei und mehr konsekutive Lagen vgl. A. Mannheim, Bull. Soc. math. de France 1 (1872), p. 112; A. Schoenflies, Geometrie der Bewegung, p. 136, und Thevenet, These Paris 1886, p. 23ff., dessen Resultate jedoch teilweise inkorrekt sind.

233) Diese Kurve, die ursprünglich mehrfach fehlerhaft bestimmt war, er- scheint richtig zuerst bei J. D. Everett, Quart. J. of math. 13 (1874), p. 39.

234) Vgl. A. Schoenflies, Bull. sciences math. (2) 12 (1888), p. 18.

235) Bull. Soc. math. de France 1 (1873), p. 112.

236) M. Haag, Bull. Soc. philom. 1870, p. 150.

237) Mannheim giebt Konstruktionen der. Krümmungsradien in Paris C. R. 70 (1870), p. 1215 u. 1259, und 110 (1890), p. 391.

238) Math. Ann. 40 (1892), p. 317.

Pe RE TE

19. Geschwindigkeit und Beschleunigungen der räumlichen Bewegung. 237

19. Geschwindigkeit und Beschleunigungen der räumlichen Bewegung. Für die analytische Behandlung ersetzt man die momen- tane Schraubung durch die Bewegung des Anfangspunktes O und die Drehung um eine durch ihn gehende Axe, sodass

w-5rg-r, vw-ntri—p, v4 —g8

ist, wo 8, n, & die Komponenten der Geschwindigkeit von O sind (IV 2, 11, Timerding). Von hier aus ergeben sich die weiteren Formeln für @,,9,, 9, U.S. w. durch Anwendung der Resultate von Nr. 10 und Nr. 15, was wieder zu Zerlegungen von @ in einfach definierte Be- standteile führt®®). Die Formeln für den momentanen Beschleunigungs- zustand werden am einfachsten, falls man mit G@übert*%) den Punkt O in den Centralpunkt © der Momentanaxe legt, diese Axe als z-Axe und die Normale der Axenfläche als x-Axe wählt; es beruht darauf, dass die Beschleunigung von und die Axe der Winkelbeschleunigung in die x2-Ebene fallen. Auch einige weitere Formeln von Nr. 15 hat Gilbert”) auf die allgemeinste Bewegung übertragen. So besteht z. B. hier die Gleichung

N N op + Av = const. -_

Die Sätze über die bezüglichen geometrischen Örter erhält man unmittelbar, wenn man von folgenden Formeln ausgeht. Sind x, y, 2 resp. x, y, 2’ die Koordinaten desselben Punktes für ein in & resp. im Raum 2” festes rechtwinkliges Koordinatenkreuz 7 resp. 7’, so ist

“= ta +by+ a2, Yy-%+t%2+by+ 62 ‘= tr +by+ 62, WO &y, Yo, 20 die Koordinaten des beweglichen Anfangspunktes von T sind, und die a,,b,,c, die 9 Cosinus darstellen. Aus ihnen folgt

7%

a

es sind also alle Differentialquotienten wieder lineare Funktionen von %, y, 2. Man kann auf diese Weise die geometrischen Örter, deren %,9@,..., 9 irgend welchen Bedingungen genügen, unmittelbar be-

239) Für diese Zerlegungen vgl. Resal, Cin&matique, p. 199, und J. &e. polyt. 37 (1858), p. 227; Schell, Theorie d. Bewegung 1, p. 500; Gilbert, Accelerations 13, p. 299. Vgl. auch @. R. Dahlander, Stockh. Öfv. 27 (1870), p. 49.

240) Accelerations 13, p. 308 resp. 302. Dort finden sich auch Formeln und Konstruktionen für die Krümmung der von den Axenpunkten beschriebenen Bahnen; vgl. auch Paris C. R. 107 (1888), p. 830.

16°

238 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

stimmen”). Geometrisch besagen die obigen Gleichungen, dass die 2%, 2... auch für die allgemeinste Bewegung Systeme darstellen, die unter sich und mit & affin sind*®), Man kann auch noch die von Z und 2,, & und &,,... bestimmten Komplexe ins Auge fassen, und so zu den in Nr. 18 abgeleiteten Sätzen gelangen®®). In dieser Weise verfuhr L. Burmester**), der auf die affine Beziehung zuerst hinwies; die Kurven und Flächen ;,,%,... erhalten so eine Bedeutung für die Theorie des Beschleunigungszustandes.

Auch für die allgemeinste Bewegung von & giebt es im all- gemeinen einen Punkt 9”) —= 0, und es bilden die Punkte 9” const. eine F,, die ihn zum Mittelpunkt hat”). Er ist der Doppelpunkt G") von Z und 2; übrigens kann sich statt seiner auch eine Gerade einstellen”). Es greifen daher für die 9” in Bezug auf und die bezüglichen durch ihn gehenden Geraden die gleichen Resultate Platz, die in Nr. 15 abgeleitet wurden. X. Antomari””) hat die Werte der v,@, 9”) aus den von ihm eingeführten Parametern k, h, ® dargestellt (Nr. 17). Dabei stellt sich heraus, dass der Parameter # erst in g9® auftritt, so dass für zwei nicht identische Bewegungen die Werte von v und für alle Punkte übereinstimmen können.

Den einfachsten Fall der Bewegung von & stellt die Bewegung einer Geraden dar”). Für alle ihre Punkte ist die Projektion v, von v auf 9 konstant; auf ihr giebt es ferner einen Punkt, dessen 9) in 9 fällt, und einen, dessen 9” zu g normal ist und beide bilden mit G®) einen rechten Winkel **®).

241) Vgl. C. Jordan, Bull. Soc. math. de France 1 (1873), p. 144; J. L. Gruey, Paris C. R. 86 (1878), p. 1141; @. Schouten, Amst. Verh. I, 2, Nr. 5 (1894), p. 3. Vgl. für die hier auftretenden Örter auch Schell, Theorie d. Bewegung, p. 508; Resal, Cin&ematique, p. 206ff.; dessen Resultate sind aber nicht fehlerfrei. Eine Darstellung in Tetraederkoordinaten giebt C. Formenti, Ist. Lomb. Rend. (2) 17 (1884), p. 787 u. 18 (1885), p. 195, 238, 418.

242) J. Petersen, Kinematik, p. 46 und R. Mehmke, Festschrift z. Feier d. 50jährigen Bestehens d. techn. Hochschule Darmstadt, 1886, p. 77 lösen die Auf- gabe, aus den p von drei Punkten die der andern zu bestimmen.

243) In gleicher Weise liefert das Nullsystem die Richtungen der v.

244) Zeitschr. f. Math. 23 (1878), p. 110. Den von & und &_(„) bestimmten Komplex betrachtet F'. Castellano, Torino Atti 29 (1893), p. 300.

245) Der Punkt p = 0 tritt zuerst bei Resal auf, Cinömatique, p. 205 und J. 6c. polyt. 37 (1858), p. 227.

246) Allemal, wenn die Axenflächen Cylinder sind. Die Flächen g(r) = const. sind dann Kreiscylinder. Vgl. Ligin, Bull. Soc. math. de France 1 (1873).

247) These Paris 1894, p. 67.

248) Vgl. E. Novarese, Torino Atti 24 (1889), p. 400.

249) Vgl. R. Mehmke, Civiling. (2) 29 (1893), p. 487.

20. Bewegung bei Freiheit zweiter und höherer Stufe. 239

20. Bewegung bei Freiheit zweiter und höherer Stufe. Hat ein System & Freiheit zweiter Stufe, so giebt es für einen Punkt A von & als Ort seiner möglichen Lagen im allgemeinen eine Bahn- fläche, und für eine Ebene & eine Hüllfläche. Diese Bewegung hat zuerst Th. Schönemann?®) untersucht, von dem besonderen Fall aus- gehend, dass vier Punkte auf je einer Fläche bleiben). Als ihre wich- tigste Eigenschaft fand er den Satz, dass die Normalen aller Bahn- flächen in jedem Augenblick zwei feste Geraden w und v schneiden, nämlich die gemeinsamen Transversalen der vier gegebenen Flächen- normalen #2). Jede der beiden Geraden rotiert momentan um die andere, sodass jeder ihrer Punkte momentan nicht ein Flächenelement, sondern nur ein Kurvenelement beschreibt?°?).

Die mit dieser Bewegung verbundenen geometrischen Örter sind besonders von A. Mannheim?) und T'hevenet ”*) diskutiert worden. Die Normalen der Bahnflächen aller Punkte einer y bilden ein H,,”®) die Normalen der Ebenen eines Büschels ein P,, die Tangentialebenen aller Punkte einer g eine abwickelbare F',, die Berührungspunkte der Ebenen eines Büschels eine c, u. s. w. Da jeder Geraden oo? Lagen einer Kongruenz entsprechen, so kann man nach dem Ort der Ge- raden fragen, für die diese Kongruenz aus Normalen einer Flächen- familie besteht. Sie bilden nach A. Ribeaucour?®!) einen linearen Kom- plex, dessen Axe das gemeinsame Lot von u und v ist.

Schönemann ?®) hat sich auch bereits damit beschäftigt, dass 3 Freiheit dritter Stufe besitzt, insbesondere mit dem Fall, dass drei Punkte auf drei Flächen bleiben; es existiert dann in jeder Lage von & ein H, von Strahlen, sodass jeder Punkt dieses HA, momentan nur Freiheit zweiter Stufe hat und also nur ein Flächenelement beschreiben kann ?°®),

250) Berl. Ber. 1855, p. 255, und J. f. Math. 90 (1880), p. 43. Dort (p. 39) findet sich auch ein Beweis von C. F. Geiser. Vgl. auch A. Mannheim, Sur- faces trajectoires.

251) Den Fall, dass diese vier Normalen einem H, angehören, behandelt G. Halphen, Bull. Soc. math. de France 8 (1880), p. 18.

252) Die Geraden w und » treffen auch die Normalen aller Enveloppen; vgl. A. Ribaucour, Paris ©. R. 76 (1873), p. 1347.

253) Näheres hierüber, sowie über das zugehörige Oylindroid und die all- gemeine Theorie der linearen Scharen von Schrauben resp. Komplexen und deren kinematische Bedeutung vgl. in IV 2, 15 ff. (Timerding).

254) Thöse Paris 1886, p. 81ff. Vgl. auch Schoenflies, Geometrie d. Be- wegung, p. 150 ff.

255) Für zwei Punkte von g ist daher g Tangente ihrer Bahnflächen.

256) Das Nähere hierüber in IV 2, 17 (Timerding).

240 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

Die analytische Behandlung der Bewegungen bei Freiheit zweiter Stufe?°”) geht davon aus, in Nr. 19 die &, 7, & und die neun Cosinus resp. die p, g, r als Funktionen zweier unabhängiger Variablen und » anzusehen. Man nimmt zweckmässig zuerst an, dass ein Punkt fest bleibt. Wird dann durch p, q,r ein Funktionssystem bezeichnet, das nur von « abhängt, und ist p,,9,,”, eines, das nur von v ab- hängt, so bestehen die hier grundlegenden Gleichungen ®°®)

op © Fa Er un a ne eq oq re Tr a 12° or Or,

Zei 3b,

falls man umgekehrt Grössen 9,9, r,P1, 1, kennt, die diesen Glei- chungen genügen, so liefern sie (Nr. 15) stets Werte der neun Co- sinus, und zwar hängt die Lösung auch hier nur von einer Röccati- schen Gleichung ab. Sind sie gefunden, so sind für die allgemeinste Bewegung von & bei Freiheit zweiter Stufe noch die Gleichungen eg de nremete zu integrieren, in denen analog &,n,& nur von «, und &,,9,,&, nur von v abhängen*®). Die wichtigste Anwendung, die diese Glei- chungen gefunden haben, betrifft die Flächentheorie, insbesondere deren Krümmung (Nr. 21) ?°°).

Ein wichtiger Sonderfall tritt ein, falls die Axen « und v sich schneiden; jede mögliche Bewegung besteht dann in einer Rotation um diesen Schnittpunkt 8. Findet dies Schneiden dauernd statt, so giebt es in & und &’ je eine Fläche ® resp. ® der Punkte 5, so dass sie sich dauernd berühren und auf einander abwickelbar sind?®').

257) Vgl. Genaueres bei @. Darboux, Legons sur la theorie generale des surfaces, 1, Paris 1886, p. 47 ff., sowie Königs, Cinematique, p. 232 und T’hevenet, These Paris 1886, p. 82 u. 142, der auch die Freiheit dritter Stufe analytisch behandelt; p. 132 ff.

258) Vgl. E. Combesei:., Ann. ec. norm. (1) 4 (1867), p. 108. Einen spe- ziellen Fall von Triederdrehung auf Grund dieser Gleichungen behandelt M. Fouche, Paris C. R. 121 (1895), p. 763.

259) @. Darboux a. a. 0. p. 66 ff.

260) Man kann dazu u und v als Drehungen um die Krümmungscentra der Hauptschnitte einführen.

261) A. Ribaucour, Paris C. R. 70 (1870), p. 330; Thevenet, These Paris, p- 132.

21. Spezielle räumliche Bewegungen. 241

21. Spezielle räumliche Bewegungen. Wenn die Bewegung von & in cylindrischer Rollung besteht, so sind die Bahnkurven eben, während eine g im allgemeinen eine Regelfläche erzeugt. Für spezielle Fälle dieser Art hat L. Burmester?®?) die Regelflächen betrachtet. Die dem Ellipsographen entsprechende Bewegung ist durch E. .M. Blake untersucht worden, ebenso der Fall, dass die Polkurven diejenigen des Antiparallelogramms sind ?®). Hierher gehört auch die von Resal und A. Mannheim untersuchte Bewegung eines geraden Doppelkegels ?°*),

Von anderen räumlichen Bewegungen sind besonders solche be- handelt worden, bei denen die Bahnkurven und Bahnflächen eben, sphärisch, oder allgemeiner algebraisch sind.

Da es auf einer Geraden im allgemeinen nur drei Punkte statio- närer Schmiegungsebenen giebt, nämlich ihre Schnittpunkte mit der F, von Nr. 18, so sind alle Bahnkurven eben, falls es vier sind. Wenn also vier Punkte von g in je einer Ebene g, bleiben, so thut es jeder Punkt, und zwar beschreibt, wie Mannheim?) bemerkt hat, jeder Punkt eine Ellipse; ihre Centra liegen auf der Geraden h, auf der die Ebenen gs, die kleinsten Segmente bestimmen; mit ihr bildet einen konstanten Winkel °%).

Wie @. Darboux ?*) erkannte, kann sich & so bewegen, dass jeder Punkt in einer Ebene bleibt, sodass bei der umgekehrten Be- wegung jede Ebene einen Kegel umhüllt. Abgesehen von trivialen Fällen giebt es nur eine solche Bewegung. Die Bahnkurven sind Ellipsen, die Axenflächen sind Kreiscylinder, sodass der eine von innen von einem Cylinder mit doppeltem Radius gleitend abrollt?%®). Die Kegel der umgekehrten Bewegung sind Rotationskegel, deren Axen den Erzeugenden der Cylinder parallel laufen. Die Punkte einer Geraden ö haben Geraden als Bahnkurven **°).

262) Zeitschr. f. Math. 33 (1888), p. 337; vgl. auch Mannheim, Paris €. R. 106 (1888), p. 820; J. S. u. N. Vanegek, Bull. Soc. math. de France 11 (1883), p. 76 und @. Tesari, Rom. Acc. dei Linc. Rend. (5) 2! (1893), p. 407.

263) Amer. J. of math. 21 (1899), p. 257 u. 22 (1900), p. 146.

264) Paris C. R. 101 (1893) p. 634 u. 817.

265) Palermo Rend. 3 (1889), p. 131. Vgl. auch @. Halphen, Bull. Soc. math. de France 1 (1875), p. 117 u. R. Menzel, Diss. Münster 1891.

266) Sind die vier Normalen Geraden eines H,, so ist die Bewegung unmöglich; vgl. Halphen, Bull. Soc. math. de France 8 (1880), p. 18.

267) Paris C. R. 92 (1881), p. 118. Vgl. auch Mannheim, J. ec. polyt. 60 (1890), p. 75; A. Schoenflies, Math. Ann. 40 (1892), p. 317.

268) Die Projektion der Bewegung auf eine zu den Cylindern normale Ebene ist die Ellipsographenbewegung.

269) ö stellt die momentane Wendekurve i, dar (Nr. 18).

242 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

Falls vier Punkte einer g auf Kugeln laufen deren Centra in einer Ebene x’ liegen, so bleibt, wie Mannheim ”') bemerkt hat, jeder Punkt von g auf einer analogen Kugel und die Centra dieser Kugeln erfüllen in =’ eine c,.

Den Fall, dass alle Punkte einer 9 sphärische Kurven beschreiben, hat E. Duporeq?") untersucht. Die Bahnkurven sind c, und liegen auf einem Rotationsellipsoid; je zwei Punkte von 9 beschreiben ähn- liche Kurven; man kann sogar bewirken, dass diese Kurven gleich sind.

R. Bricard?") stellt die Frage, ob jeder Punkt A einer Ebene x.

eine sphärische Bahnkurve so beschreiben kann, dass die Centra 4’ dieser Kugeln auf einer Ebene x liegen. Abgesehen von trivialen Fällen sind zwei solche Bewegungen möglich. In beiden Fällen ent- sprechen sich A, A’ in einer quadratischen Verwandtschaft B,; in dem einen Fall entspricht einer Geraden ein Kreis, in dem andern eine gleichseitige Hyperbel. Die umgekehrte Bewegung von =’ gegen x ist der direkten gleichartig. Dieses Problem hat Beziehungen zu dem von Bricard gefundenen deformierbaren Oktaeder er)

Theoretisch wichtig ist noch die Bewegung eines Trieders, dessen Scheitel eine Kurve ce so durchläuft, dass seine Kanten Tangente, Hauptnormale und Binormale der Kurve sind ”#4); sie bildet die Grund- lage der Darboux’schen Theorie der Kurven und Flächen (Nr. 1). A. Mannheim hat die Resultate der Kinematik zur Auffindung von Sätzen und Konstruktionen der allgemeinen Flächentheorie mit grossem Erfolg benutzt. Dies gilt z. B. besonders für die Theorie der Regel- flächen?”). Auch für die Probleme der darstellenden Geometrie sind die Sätze der Kinematik vielfach benutzt worden ?'6):"

Einer der bekanntesten Sätze über flächenläufige Bewegungen ist

270) Bleibt A auf einer Kugel K, so berührt eine um A gelegte Kugel K, zwei feste Kugeln. Hierauf beruhende Verallgemeinerungen für die Bewegung einer Kugel, bei denen Sätze über Normalebenen in solche über Charakteristiken- ebenen übergehen, gab Mannheim, Paris C. R. 110 (1890), p. 220 u. 270.

271) Paris C. R. 125 (1897), p. 762; J. de math. (4) 5 (1897), p. 121.

272) J. de math. (5) 4 (1898), p. 409.

273) Sind A und a, a’ und A’ entsprechende Hauptelemente der ®,, und P, @ resp. P’, @ Punkte auf «a, a’, so wird das Oktaeder von den Dreiecken APQ, APQ, APQ, APQ' gebildet.

274) E. Beltrami, Giorn. di mat. 5 (1867), p. 21 und W. Schell, Theorie der Kurven doppelter Krümmung, 2. Aufl. Leipzig 1898, Kap. 9.

275) Deren Erzeugung durch ein bewegliches Trieder behandelt auch X. Antomari, These Paris 1894, p. 81.

276) Vgl. besonders Mannheim, Cours de geome6trie descriptive, Paris 1882, L. Burmester, Zeitschr. f. Math. 13 (1873), p. 185.

21. Spezielle räumliche Bewegungen. 243

der, dass jeder Punkt einer Geraden g, von der drei Punkte A, B,C auf drei rechtwinkligen Ebenen «, ß, y bleiben, ein E,') beschreibt. Man verdankt @. Darboux die Erkenntnis, dass die Gerade in allen ihren Lagen Normale einer Fläche ist?"”). Die bezügliche Kongruenz ist am ausführlichsten von R. Menzel°®) untersucht worden.

Wenn drei Punkte A, B, C von g Kugeln zu Bahnflächen haben, deren Centra A’, B', 0’ selbst auf einer g’ liegen, so ist die Bahn- fläche jedes Punktes von g eine Kugel. Auch diese Bewegung ist in sich dualistisch. Die Punkte von g und g’ sind projektiv zu einander, sodass es einen Punkt einer jeden Geraden giebt, der eine Ebene be- schreibt. Es folgt hieraus, dass man durch ein räumliches Gelenk- viereck einen Punkt in einer Ebene x’ laufen lassen kann. Ein Modell dieser Art ist von Darboux konstruiert worden ?”®).

Um algebraische Bewegungen zu finden, kann man von den Formeln von Rodrigues ausgehen (Nr. 6) und deren Parameter &,, Yo, 20; A, B, 0, D als algebraische Funktionen einer oder mehrerer Variabeln wählen. Man erhält so algebraische Bewegungen für Freiheit erster und zweiter Stufe. Auf die Fruchtbarkeit dieses Weges hat @. Dar- boux?”'®) hingewiesen und folgende Resultate abgeleitet: Sind die Parameter lineare Funktionen einer Variablen, so sind die Bahn- kurven räumliche c,. Nimmt man sie als lineare Funktionen zweier Variablen, so sind die Bahnflächen Steiner’sche Flächen; es giebt im allgemeinen 10 Punkte, die Ebenen beschreiben. Im Anschluss hieran hat Darboux auch die Frage erörtert, ob, wenn drei oder vier Punkte Ebenen als Bahnflächen besitzen, dadurch notwendig noch andere Punkte auf Ebenen bleiben. Dies kann eintreten; man kann sogar erreichen, dass die Punkte von einer oder zwei Geraden je ein E,') beschreiben. Eine Bewegung, bei der jeder Punkt eine F, beschreibt, ist nicht möglich.

Als spezielle Bewegung bei Freiheit dritter Stufe ist längst der Fall bekannt, dass eine rechtwinklige Ecke ein E,') umhüllt und ihr Scheitel eine Kugel beschreibt?®®). Dieser Scheitel liegt nämlich stets auf dem oben (Nr. 20) genannten H,, und beschreibt daher eine Bahnfläche®®‘). Ein anderes Beispiel bietet eine Gerade g, die mit

277) Man erhält die Fläche, indem man auf g die Segmente zwischen A, B, C und der Projektion des Scheitels der Ecke halbiert. Vgl. auch Mann- heim, Bull. sciences math. (2) 9 (1885), p. 137.

278) Es befindet sich im Conservatoire des arts et metiers zu Paris.

279) Paris C. R. 92 (1889), p.118; vgl. noch Königs, Cingmatique, p. 363 ff.

280) Gergonne’s Ann. de math. 5 (1815), p. 172, 351.

281) Diesen Beweis gab A. Schoenflies, Geometrie der Bewegung, p. 185.

244 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

zwei Punkten in zwei Ebenen bleibt. Diese Bewegung und der durch g erzeugte Komplex @, ist von R. Menzel?) untersucht worden. Analog zu dem Trieder, das sich längs einer Kurve bewegt, kann man ein Trieder betrachten, dessen Ebenen dauernd mit der Tangen- tialebene und den Hauptschnitten einer Fläche zusammenfallen. Haupt- zweck dieser besonders von Mannheim untersuchten Bewegung ist wiederum Ableitung allgemeiner Sätze der Flächentheorie, insbesondere der Krümmungseigenschaften *!°). Mannheim hat auch die Eigenschaften unendlich dünner Strahlenbündel kinematisch diskutiert und für die Flächentheorie verwertet. Er hat besonders die Parallelflächen, die Fusspunktflächen ”°*) und die Wellenfläche behandelt ®).

22. Flächeninhaltsätze®®‘),, Bewegt sich 6 in 0’, so soll das Flächenstück, das vom Bogen A,A,, von 0,0, und von den Nor- malen A,O, und A,0, begrenzt wird, als die zu A gehörige Fläche 4 bezeichnet werden. Diese Flächen hat zuerst J. Steiner ?®) in Be- tracht gezogen und über sie folgende Sätze abgeleitet.

Rollt eine geschlossene Kurve p von einer Geraden g’ genau einmal ab, so giebt es in 6 einen Punkt S, dessen zugehörige Fläche einen kleinsten Inhalt besitzt. Dieser Punkt $ ist Schwerpunkt von p für diejenige Massenverteilung, die in jedem Punkt der Kurve ihrer Krümmung proportional ist (Krümmungsschwerpunkt). Für jeden andern Punkt A von 6 ist die Fläche %, durch die Gleichung

Vu = Gs + 748° bestimmt, sodass sie auf Kreisen um $ konstant ist. Ist die Pol-

kurve von 0’ eine konvexe geschlossene Kurve p’, so besteht, wenn p von p’ genau einmal abrollt, die Gleichung

YUu=ds + 2a +yp)AS?,

wo 8, den Krümmungsschwerpunkt derjenigen Massenverteilung be- deutet, die der Summe der entsprechenden Krümmungen beider Pol- kurven proportional ist, und g den Winkel, den die beiden Normalen

281*) Vgl. auch R. v. Lilienthal, Deutsche Math.-Ver. 11 (1902), p. 37.

282) Fusspunktflächen entstehen durch Abrollen kongruenter Flächen, analog wie die Fusspunktkurven, Bull. sciences math. (2) 11 (1887), p. 355.

283) G&ometrie cinömatique, p. 320 ff. Dort finden sich noch weitere Bei- spiele flächenläufiger Bewegung.

284) Für eine zusammenfassende Darstellung vgl. M. Despeyrous, Cours de mecanique 1, p. 402 u. A. Amsler, Über den Flächeninhalt und das Volumen durch Bewegung erzeugter Kurven, Schaffhausen 1881.

285) J. f. Math. 21 (1840), p. 33 u. 101.

22. Flächeninhaltsätze. 245

von A in O, und Ö, bilden; 27 +9 ist also der Winkel der ge- samten Drehung®). Ein analoger Satz gilt auch für das Abrollen eines beliebigen Stückes von p von dem entsprechenden von p”.

Die Steiner’schen Sätze sind von verschiedenen Seiten neu be- wiesen und ergänzt worden ?®”). Ihre analytische Quelle besitzen sie in einer von @. Darboux ?®?) gegebenen Formel, die den Inhalt des Sektors © betrifft, den irgend ein Punkt M’ von 0’ mit dem Bogen A,A, der Bahnkurve von A(x,y) bestimmt. Sind «, y Koordinaten für ein in 6 festes System und ist © der Drehungswinkel, der dem Übergang von 6, in 6, entspricht, so besteht die Formel

= 49a +y 2a 2y+)— %O,

wo £, die Potenz auf einen gewissen Kreis bedeutet, dessen Kon- stanten a, b, c nur von M’ abhängen. Wird statt M’ das Drehungs- centrum O0 gewählt, so fällt der Mittelpunkt des Kreises in den Krümmungsschwerpunkt.

Die obige Gleichung liefert eine Reihe von Sätzen, die geschlossene Bewegung betreffen, d. h. eine solche, bei der 6 nach einem vollen Abrollen von der Kurve p’ wieder in die Anfangslage zurückkehrt °*°). Da nämlich die Gleichung drei Konstanten enthält, so muss zwischen den Flächen von vier Punkten eine lineare Relation bestehen; eine Thatsache, der zuerst @. H. Zeuthen ?”®) ohne Beweis Ausdruck ge- geben hat. Die bezüglichen Formeln und Sätze sind später von H. Holditch?°‘), B. Williamson ?”?), ©. Leudesdorf?”?) und A. B. Kempe aufgestellt worden. Sie lauten:

1) Bewegen sich zwei Punkte A und B auf derselben Kurve c', so ist die Differenz zwischen der Fläche von c’ und der zu einem Punkt © der Strecke AB gehörigen Fläche von der Gestalt der Kurve e ng, und es ist ihr Wert zAC- CB.

286) Sind p und p’ kongruente und symmetrisch gelegene Kurven, so ist Umfang und Inhalt der von zwei symmetrischen Punkten beschriebenen Doppel- kurve von der Natur von p unabhängig. Vgl. R. Henning, J. f. Math. 65 (1866), p. 54 und Gigon, Nouv. ann. (2) 7 (1868), p. 462.

287) Vgl. z. B. Ph. Gilbert, Brux. M&m. cour. 30 (1861), p. 3.

288) Bull. sciences math. (2) 11 (1878), p. 337. Vgl. auch Th. Orloff, Mosk. math. Samml. 11 (1883), p. 457.

289) Die bezüglichen Flächeninhalte unterscheiden sich von denen der Steiner’schen Sätze um den Inhalt der Polkurve.

290) Nouv. ann. (2) 10 (1871), p. 90.

291) Lady’s and gentlemen’s diary for the year 1858.

292) An elementary treatise in the integral calculus, London 1877, p. 120.

293) Mess. of math. (2) 7 (1878), p. 125 u. 8 (1879), p. 11.

246 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

2) Sind A, B, drei Punkte einer Geraden, so ist für jede ge- schlossene Bewegung

BC-S%4+0CA-%+AB-$+xBC:-CA:- AB=0.%) 3) Für vier beliebige Punkte A, B, 0, P besteht die Gleichung ABC: $r—=BPC:Zı+0PA-$5+APB- + at,

wo tr die Potenz von P für den durch ABC gehenden Kreis ist.

Wie Kempe?””) bemerkte, besteht eine solche Gleichung auch dann, wenn es n voller Umdrehungen bedarf, bis die Bahnkurven sich schliessen. Statt des Gliedes xt, tritt das Glied »xt}, auf; dies

gilt auch, wenn die Drehung von 6 bald positiv, bald negativ ist. Auch dürfen sich die Bahnkurven kreuzen; alsdann sind die einzelnen Flächenteile mehrfach, und zwar positiv resp. negativ zu zählen. Ist insbesondere die Gesamtdrehung Null, so ist

3a) ABO: $p+ BOP- Zu + CPA-G5 + PAB- = 0.

Die Steiner'schen Sätze können auf die allgemeinste Bewegung von 6 in übertragen werden. Kempe?) fand, dass es einen Kreis k, giebt, dessen Punkten Flächen vom Inhalt Null entsprechen, und dass die Flächen, die zu den Punkten eines mit ihm konzentrischen Kreises gehören, gleich dem n-fachen des zugehörigen Kreisringes sind, falls 6 n volle Umdrehungen gemacht hat”). Der Kreis k, existiert jedoch, wie Ligin bemerkte, nicht immer reell?®); es giebt aber stets einen Punkt K kleinster Fläche und es ist

Sr=Gx+naPR”.

Hat nun die Fläche x einen negativen Wert, so ist %k, reell.

Sätze wie die vorstehenden bestehen auch für die Bögen der Bahnkurven und für die Enveloppen der Geraden. Ein Satz Steiner's ?”) lautet, dass wenn p von einer Geraden g’ abrollt, für jeden Punkt A von 6 die Bogenlänge A,A, gleich der entsprechenden Bogenlänge

294) Eine Verallgemeinerung für nicht feste A, B, C giebt E. B. Elliot, Mess. of math. (2) 7 (1878), p. 150.

295) Mess. of math. (2) 7 (1878), p. 165.

296) Mess. of math. (2) 8 (1879), p. 42. Für die Übertragung bei nicht geschlossener Bewegung vgl. V. Ligin, Bull. sciences math. (2) 11 (1878), p. 310.

297) Für n = 0 treten statt der Kreise Geraden auf; J. Kleiber, Arch. d. Math. Phys. (2) 14 (1896), p. 426.

298) So z. B. niemals im Fall einfacher konvexer Polkurven.

299) J. f. Math. 21 (1840), p. 35. Vgl. auch E. Catalan, Bull. Soc. philom. 1858; P. Serret, Nouv. ann. 18 (1859), p. 341. Eine Erweiterung giebt 0. La- marle, Brux. Bull. (2) 4 (1858), p. 239.

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22. Flächeninhaltsätze. 24T

der Fusspunktkurve von A in Bezug auf p ist. Mannheim ?”) hat ihn auf die Bogenlängen der Enveloppen ausgedehnt, die zu be- liebigen Kurven von 6 gehören. Er ist auch auf den Fall ausdehn- bar, dass eine abwickelbare Fläche von einer Ebene abrollt.

Der Satz, der die Bogenlänge der von einer Geraden g umhüllten Ennveloppe betrifft, stammt von Rebaucour ?°'); es existiert ein Punkt 7, sodass der Bogen, der zwei Lagen g, und g, entspricht, gleich dem Produkt aus (9,9,) in den Abstand von g und 7 ist. Ist die Be- wegung geschlossen, so fällt nach Darboux T wieder in den Krüm- mungsschwerpunkt von p”.

Darboux hat auch die zu den Enveloppen mehrerer Geraden ge- hörigen Bogenlängen und Flächeninhalte mit einander verglichen, falls die Bewegung geschlossen ist. Sind S,, S,, 5, die Bogenlängen, die zu den Geraden a, b, c gehören, so besteht die Gleichung

S, sin (be) + 8, sin(ca) + S, sin (ab) = 0,

während für die Flächen, die einen Punkt M’ mit dem Berührungs- punkt auf g, und g, verbinden, der Satz gilt, dass die Geraden, für die die bezüglichen Flächen gleichen Inhalt haben, je einen c, einer konfokalen Schar umhüllen, dessen Centrum bei geschlossener Be- wegung in den Krümmungschwerpunkt fällt. Für die Flächen, die zu vier Geraden gehören, hat A. Schumann ®””) bei geschlossener Be- wegung die bezügliche Gleichung aufgestellt.

E. Duporeg ®°®) hat Flächen in Betracht gezogen, die von Strecken Ab, resp. Bögen AB überstrichen werden. Die Seiten eines ge- schlossenen Polygons liefern Flächen, deren Summe Null ist, sodass jede geschlossene Kurve eine Fläche vom Inhalt Null überstreicht; zwischen den Flächen, die zu drei Strecken gehören, besteht wieder eine lineare Relation.

Ein grosser Teil der vorstehenden Sätze gestattet die Ausdehnung auf die Bewegung um einen Punkt, und auf die allgemeinste räum- liche Bewegung bei einem, wie bei zwei Freiheitsgraden. Da die Be- wegung von sechs Parametern abhängt, so besteht bei zwei Freiheits- graden zwischen den Körperstücken, die von sieben begrenzten Ober- flächenteilen beschrieben werden, eine lineare Relation ?%). Darboux?®)

300) Geometrie cinematique, p. 524, 528, u. J. &c. polyt. 40 (1863), p. 205.

301) Bull. Soc. philom. 1869, p. 12.

302) Zeitschr. f. Math. 25 (1880), p. 87.

303) J. de math. (5) 1 (1895), p. 443.

304) G. Königs, J. de math. (4) 5 (1889), p. 337. B. Elliot überträgt Sätze von Leudesdorf und Kempe auf die Kugel, Lond. Math. Soc. Proc. 12 (1881), p. 47.

305) Bull. sciences math. (2) 2 (1878), p. 338.

248 IV 3. A. Schoenflies und M. Grübler. Kinematik.

hat den Ort der Punkte bestimmt, deren Bahnflächen mit einem Punkt M’ Kegelflächen konstanten Inhalts bilden ?%).

GC. Die Mechanismen.

23. Mehrere in einander bewegliche Ebenen. Die Gesetze der gegenseitigen (relativen) Bewegung mehrerer Ebenen in einander bilden die kinematisch-geometrische Grundlage für die allgemeine Theorie der ebenen Ketten und derjenigen Mechanismen, deren Punkt- bahnen einer festen Ebene parallel sind (Nr. 28).

Sind 6,, 6,, 6, drei ebene Systeme, die sich irgendwie in einander bewegen, so liegen die drei Pole O,,, O3, Og; auf einer Geraden”). Bewegen sich beliebig viele Systeme 6,, 6,, 6,,...,06, in einander, so gilt das gleiche für die Pole je dreier Systeme 6,, 6,, 6. Die Gesamtheit aller dieser Pole bildet die Polkonfiguration B®, deren allgemeine Gesetze zuerst L. Durmester ?®) methodisch untersucht hat. Für einzelne Fälle war dies schon vorher geschehen ®). Die vier Seiten eines Gelenkvierecks bilden vier gegen einander beweg- liche Systeme, und wenn sich das Viereck in einer fünften Ebene 0’ bewegt, so erhält man einen Fall, der von E. Philipps ?'®) betrachtet worden ist. Die 10 Pole O,, der fünf Ebenen bilden die bekannte Desargues’sche Konfiguration 10, ?!!), was gewöhnlich so ausgesprochen wird, dass das Gelenkviereck dem Polviereck eingeschrieben ist, das aus den Polen der Ebenen 6, in Bezug auf 6’ gebildet ist?'?). Die Pole von n Systemen 6, bilden in derselben Weise die bekannte Konfiguration, die ein ebener Schnitt der Verbindungslinien und Ver- bindungsebenen von n Raumpunkten ist.

Ist ®,;, die zur Bewegung von 6, in 6, gehörige momentane Winkelgeschwindigkeit, so besteht die Gleichung

O3 033 : Oys Op @yı : @yı,

306) Vgl. auch F. A. Hirst, J. f. Math. 62 (1863), p. 246, wo sich ein hier- hergehöriger Satz über Fusspunktflächen findet.

307) Gemäss den Sätzen über Zusammensetzung der Drehungen, vgl. Nr. 2.

308) Civiling. (2) 26 (1880), p. 248, sowie Kinematik, p. 430 ff.

309) Vgl. ausser Fussn. 310 auch 7. Rittershaus, Civiling. (2) 21 (1875), p. #7 u. (2) 26 (1880), p. 27 u. 283.

310) Ann. des mines (5) 3 (1853), p.1. Mannheim, G6ometrie cinematique,

u z 311) d.h. es liegen je drei Pole auf einer Geraden und durch jeden Punkt gehen drei dieser Geraden.

312) Ein ähnlicher Satz besteht für jedes Polpolygon; vgl. @. Jung, Ist. Lomb. Rend. (2) 18 (1885), p. 337.

N In

23. Mehrere in einander bewegliche Ebenen. 249

wie aus den Sätzen über Zusammensetzung unendlich kleiner Drehungen folgt (IV 2, 12, Timerding). Eine Relation, die Pole und Winkel- geschwindigkeiten aller Systeme mit einander verbindet, hat @. Jung®'?) gegeben.

Das vorstehende bildet die einfachste Quelle für die doppelte Erzeugung der eykli- schen Kurven. Man lässt sie dazu (Fig. 5) durch den Punkt P eines Parallelogramms SAPB entstehen, dessen Seiten SA und SB sich um $ mit verschiedener Geschwindigkeit drehen. Von den vier sich in bewegenden Seiten 6,, 65, 6,, 6, kann man einerseits die Seiten SA und AP ins Auge fassen; dann Fig. 5. liegt der bezügliche Pol O, als Punkt von 6 stets auf SA, andrerseits aber auch die Seiten $B und BP, so- dass der Pol O, stets auf SB liegt. Dies liefert die beiden ver- schiedenen Erzeugungen’®!?).

Die Frage, wie die Konfiguration ®®) durch gewisse Pole ein- deutig und konstruktiv bestimmt ist, hat L. Burmester ?!*) erörtert. Seine Methoden sind jedoch unmittelbar nur zu benutzen, falls alle Pole im Endlichen liegen; überdies entspricht sein Ausgangspunkt nicht der allgemeinsten Art und Weise, wie die gegenseitige Bewegung von n Ebenen bestimmt sein kann. Ihre allgemeinste Bestimmung ge- schieht durch Paare zu einander gehöriger Hüllkurven, und zwar sind hierzu 3n 4 Paare in der Weise notwendig und hinreichend, dass jeder Ebene 6, wenigstens drei Kurven angehören. Demgemäss hat ©. Rodenberg ?'°) als allgemeinste Bestimmungsstücke der Bewegung die Normalstrahlen (Nr. 9) ins Auge gefasst. Durch 4 unabhängige, d. h. solche, von denen keine drei durch einen Punkt gehen, ist die Polkonfiguration PB” im allgemeinen eindeutig bestimmt). Sind nur

313) Diese Auffassung findet sich der Sache nach zuerst bei @. Beller- mann, Epicykloiden und Hypocykloiden, Berlin 1867. Für die Folgerungen, die hieraus für die Klassifizierung fliessen, und für weitere Litteratur vgl. F. Schilling, Zeitschr. f. Math. 44 (1899), p. 37; L. Burmester, Kinematik, p. 136. F. Schilling hat auch eine Sammlung bezüglicher Modelle herausgegeben, die bei M. Schilling, Halle a. S. erschienen sind. Für Modelle der cyklischen Kurven vgl. z. B. auch W. Dyck, Katalog, p. 335 ff.

314) Die Grundlage bildet das Gelenkviereck und das Viereck der Pole O,2s Ogsr Osar Os. Als Einzelresultat erwähne ich, dass wenn O,, Os O4 eine Gerade bilden, sie mit O,,, O;,, O,, eine Involution bilden; Kinematik, p. 436.

315) Zeitschr. f. Math. 37 (1892), p. 218.

316) Für n > 6 braucht also kein Pol gegeben zu sein.

250 IV 3. A. Schoenflies und M.@Grübler. Kinematik.

3n 5 Normalstrahlen gegeben®!’), so ist jeder Pol an eine be- stimmte Gerade gebunden; dem System I'® dieser Geraden kommen wichtige Eigenschaften zu®'?).. Mit ihrer Hülfe hat ©. Rodenberg die allgemeinsten Bedingungen aufgestellt, die von der Zahl der Normal- strahlen und Pole erfüllt sein müssen, damit eindeutig bestimmt ist, und im Anschluss hieran auch die Bestimmung der kon- struktiv erledigt; seine Konstruktionen sind auch dann ausführbar, wenn gewisse Pole ins Unendliche fallen.

Für je zwei Systeme o,, 6, giebt es eine quadratische Verwandt- schaft B;,; bei drei Systemen ist durch zwei Verwandtschaften die dritte bestimmt. Ist A, A’ ein Punktepaar der einen, A, A” ein Punktepaar der andern, so werden im allgemeinen A’, A” keine ent- sprechenden Punkte der dritten sein. Es kann dies aber eintreten; derartige Punkte A, A’, A”, die ein Tripel heissen, haben eine grund- legende Bedeutung. Ihre Theorie verdankt man wesentlich ©. Roden- berg ?'?). Ihre kinematische Bedeutung ist die, dass die drei Punkte A, A’, A” auch in zweiter Annäherung gegenseitigen festen Abstand besitzen. Solcher Tripel giebt es im allgemeinen fünf. Für sie be- stehen folgende Sätze:

1) Auf der Polgeraden existiert ein (uneigentliches) Tripel; seine drei Punkte bilden mit den drei Polen eine Involution; es ist im all- gemeinen nicht in zweiter Annäherung fest; ist dies aber der Fall, so gehen die drei Polbahnentangenten durch einen Punkt. 2) Ein Dreieckstripel ist immer reell; giebt es deren zwei, so gehen die drei zugehörigen Kollineationsaxen durch einen Punkt. 3) Durch 3n 4 Paare A, A’ sind sämtliche ®,, im allgemeinen zu bestimmen; ebenso wenn alle Polgeraden und auf ihnen die bezüglichen Tripel gegeben sind.

Man kann auch die Wendepole V,, in Betracht ziehen und ihre gegenseitige Abhängigkeit bestimmen. Auf diese Weise hat M. Grübler °°) die Krümmungsverhältnisse behandelt.

Die vorstehende Theorie führt zu folgenden Definitionen ®"°). Ist die PB” in jeder Lage eindeutig bestimmt, so heisst die Bewegung zwang- läufig. Für singuläre Lagen der PB” können sich mehrere Ebenen momentan wie ein einziges starres System verhalten, sodass sie ein-

317) Die Kette besitzt dann noch Freiheit zweiter Stufe.

318) Über ihre Beziehungen zur Fachwerktheorie vgl. IV 5a (Henneberg).

319) Zeitschr. d. Arch.- u. Ing.-Vereins 36 (1890), p. 192 u. Civiling. (2) 42 (1890), p. 565, sowie Zeitschr. f. Math. 37 (1892), p. 239, 336 ff. Vgl. auch L. Bur- mester, Techn. Blätt. 22 (1890). Ein von Rodenberg konstruiertes Modell findet sich bei W. Dyck, Katalog, p. 328 beschrieben.

320) Riga, Industrie-Zeitung 17 (1891), p. 61.

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23. Mehrere zu einander bewegliche Ebenen. 251

ander nicht zu bewegen vermögen. Sie befinden sich alsdann in einer Todlage°*'). Dies tritt immer und nur dann ein, wenn von den 3n 4 Bedingungen, die die B”) festlegen, auf gewisse m Systeme mehr als 3m 4 fallen, sodass sie die Starrheit dieser Systeme be- wirken. Es kann aber auch die B®) nicht eindeutig bestimmt sein; eine solche Lage heisst nach Rodenberg Verzweigungslage?®). Der einfachste Fall dieser Art wurde bereits von Aronhold°®) erörtert; er tritt für zwei Systeme 6, 0’ ein, wenn die Paare A, A’ und B,P in dieselbe Gerade fallen. Jeder Doppelpunkt und O” der durch AB’, BA’ bestimmten Involution kann alsdann Pol sein; ein Fall, der beim Kurbelgetriebe eintritt, falls «+d=b-+c ist. Er bewirkt, dass die Bahnkurve einen „Sonderdoppelpunkt“ erhält (Nr. 12), dessen Normalen resp. durch und 0” laufen°*). Die Verzweigungslage tritt immer ein, wenn die —4 Paare A, A’, die die ®,, be- stimmen, auf einer I” liegen?®). Alsdann giebt es für je zwei Systeme 6,, 6, im allgemeinen mehrere Pole.

Bei drei Systemen o,, 6,, 6, bilden für jeden Punkt A die Ge- schwindigkeiten v,5, %, %,, da sie Vektoren sind, ein Dreieck, die sechs Geschwindigkeiten v,, also ein Sechseck mit parallelen Seiten; wenn daher die Pole O,, und eine der Grössen v,, bekannt sind, so sind die andern konstruierbar; man benutzt dazu entweder die lot- rechten Geschwindigkeiten®”®) oder die von H. Mohr '%) eingeführten Systeme o, (Nr. 10).

In ähnlicher Weise kann man die Beschleunigungen mittelst der Punkte @,,, H;, und V,, ermitteln; hierzu dienende Methoden hat D. J. F. Wittenbauer ?”) gegeben. Wie auch die Winkelgeschwindig- keiten für die Bewegung von 6, in 6,, resp. von 0, in 6, sich ändern, so ist, falls V,, und V,, bekannt sind, V,, an eine Gerade gebunden. Dies bewirkt, dass die Konstruktionen linear möglich sind, sie ver- einfachen sich noch durch Einführung der G,, und H,,.°®)

321) Die Todlage ist bereits ein dynamischer Begriff. Die Bewegung ist möglich, kann aber von gewissen Gliedern nicht eingeleitet werden. Todlagen des Kurbelgetriebes berücksichtigt eingehend L. Allievi in der Biella piana.

322) Gewöhnlich ebenfalls als Todlage bezeichnet.

323) Kinematische Geometrie, p. 140. Die konstruktive Behandlung giebt L. Buwrmester, Kinematik, p. 114.

324) Der Pol des Kurbelgetriebes kommt nach O’ aus andern Lagen wie nach 0”; daher die beiden im Doppelpunkt vorhandenen Kurvenzweige.

325) ©. Rodenberg, Zeitschr. f. Math. 37 (1892), p. 248, wo sich auch eine nähere Behandlung für n 3 findet.

326) Schadwill, Gliedervierseit, p. 412.

327) Zeitschr. f. Math. 32 (1887), p. 314; 33 (1887), p. 193; 40 (1895), p. 91.

328) Vgl. Nr. 10.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1. I

252 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

24. Die durch Gelenkketten herstellbaren Verwandtschaften. Wenn von » Ebenen je zwei 6, und 6, nur um einen gemeinsamen festen Punkt O,, (Pol) drehbar sind, so bilden sie eine Gelenkkette, und jedes 6, heisst ein Glied ®). Jedes Glied lässt sich als Strecke oder Polygon annehmen, sodass die Endpunkte, resp. die Eekpunkte die Drehpunkte oder Gelenke abgeben. Den einfachsten Typus dieser Ketten bildet das Gelenkviereck des Kurbelgetriebes.

Da die Bahnkurven der verschiedenen Glieder einer Gelenkkette in gewissen verwandtschaftlichen Beziehungen ??®) stehen, so kann man?!) die Gelenkketten benutzen, um durch sie Verwandtschaften mecha- nisch zu vermitteln, resp. Kurven zu beschreiben °??). |

Eine Verwandtschaft, die man schon lange gelenkig zu erzielen vermochte, ist die der Ähmlichkeitstransformation. Der einfachste Apparat, der dies leistet, ist der von O. Scheiner °°°) angegebene Panto- graph, der (Fig. 6) ein Parallelogramm ABOD be- nutzt. Werden auf dessen Seiten Punkte P, ©, R,S so angenommen, dass sie auf einer Geraden liegen, so bleibt dies bei allen gelenkigen Veränderungen bestehen. Wird nun die Bewegung von ABOD in 0’ so vorgeschrieben, dass P festbleibt, während @ eine Kurve ce durchläuft, so durchlaufen R und $ ähn- liche und mit e ähnlich gelegene Kurven. J. J. Syl- vester ”') hat erreicht, dass die eine Kurve gegen die andere um einen Winkel gedreht liegt (Plagiograph). Werden nämlich die Dreiecke BOE» DFC hinzugefügt, so beschreiben, wenn A festgehalten wird, E und F die bezüglichen Kurven °*).

Die schnelle Entwickelung, die die Theorie der Gelenkketten er- fahren hat, beruht darauf, dass man die Verwandtschaft der Inversion®®)

Ay

Fig. 6.

329) Näheres hierüber in Nr. 28 u. 29.

330) Es handelt sich um Punktverwandtschaften der Ebenen 6, und o,.

331) J. J. Sylvester, Conversion of motion, p. 179.

332) J. Neuberg, Tiges articules, giebt eine zusammenfassende Darstellung und viele Litteratur.

333) Pantographice, seu ars delineandi res quaslibet per parallelogrammum lineare seu cavum, mechanicum, mobile, Romae 1631.

334) Ersetzt man in Fig. 3 die Buchstaben A’A,PAB,B durch ABCDOQR, so geht sie in die Figur von Sylvester über. In der That kann auch aus dem Satz von Sylvester die dreifache Erzeugung der Koppelkurve gefolgert werden; S. Roberts, Lond. Math. Soc. Proc. 7 (1876), p. 18; ebenso der Satz von der Vertauschbarkeit von Arm und Koppel; vgl. Neuberg, Tiges artieules, p. 11.

335) Ist O ein fester Punkt und gilt für je zwei entsprechende Punkte P, P’ die Gleichung OP: OP’ const., so heissen sie invers gegen O.

24. Die durch Gelenkketten herstellbaren Verwandtschaften. 253

gelenkig vermitteln kann. Diese folgenreiche

B Entdeckung, die übrigens zunächst unbeachtet blieb, geht auf Peaucellier *?*) zurück. Sind A< £ c

(Fig.7) im Viereck ABCD die Seiten AB=AD Q und OB=(D, und wird E so angenommen, N dass BODE ein Rhombus ist, so ist für alle ua

Lagen AC- AE = const.; es beschreiben da- Fig. T.

her, wenn 4A festgehalten wird, C und E

inverse Kurven. Dasselbe findet statt, wenn ABÜUD ein beliebiges Viereck mit senkrechten Diagonalen ist, während E auf der Diagonale AC so gewählt wird, dass BE= BC ist; es be- ruht darauf, dass ein solches Viereck in allen

Lagen senkrechte Diagonalen behält”). Indiser „/ N e Weise wurde der Inversor von L. Lipkin?”®) ange- 4 c geben. Eine einfache Form des Inversors gab Fig. 8.

auch H. Hart ?°). Wird (Fig. 8) das Antiparallelo- gramm ABCD, in dem AC und BD die parallelen Diagonalen sind, durch eine ihnen parallele Gerade in P, @, R, $ getroffen, so be- schreiben, wenn P festgehalten wird, Q und R inverse Kurven. Sylvester hat die vor- stehenden Inversoren ebenfalls so modifiziert, wie den Scheiner’schen Pantographen (Fig. 9). Mittelst der Inversoren kann man eine genaue Geradführung gelenkig erzeugen. Wird an den Inversor Peaucellier's ein Glied ME | so angefügt, dass ME —= MA ist, und neben A auch M festgehalten, so ist die Kette zwangläufig und während E auf dem durch A gehen- den Kreis läuft, beschreibt C ein Stück einer Geraden. Analog kann man jeden andern Inversor zur Geradführung benutzen”).

336) Nouv. ann. (2) 3 (1864), p. 344 u. (2) 12 (1873), p. 71.

337) Diese Vierecke spielen hier eine hervorragende Rolle. Ihre Bedeutung dürfte zuerst W. Johnson erkannt haben, Mess. of math. (2) 5 (1874), p. 190.

338) Petersburg Bull. 16 (1871), p. 57.

339) Mess. of math. (2) 4 (1874), p. 82, 116. Vgl. auch A. Mannheim, ib. (2) 14 (1884), p. 20.

340) Eine zweite auf mehr elementarer Grundlage ruhende Geradführung gab Hart in Mess. of math. (2) 5 (1874), p. 35. Vgl. auch @..Darboux, Bull. sciences math. (2) 3 (1879), p. 151. Eine genaue Geradführung giebt auch P. L. Tsche- byscheff, Petersburg M&m. de l’Acad. 1881; sie ist von CO. Stephanos zu einer Kreisführung verallgemeinert worden, Paris C. R. 95 (1882), p. 677; ferner Gagarine, Paris C. R. 93 (1881), p. 711 u. R. Bricard, Mathesis (2) 4 (1894),

p. 111. 17*

254 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

Die Möglichkeit der gelenkigen Geradführung erzeugte natur- gemäss die Frage, welche Kurvengattungen sich sonst noch durch Ge- lenkketten beschreiben lassen #). Es ist J. J. Sylvester #2), der dieser Frage sofort ein besonderes Interesse zuwandte und auf den die An- regungen auf diesem Gebiet wesentlich zurückgehen. Er bemerkte, dass man erstens die Art der Verwandtschaft mannigfach wechseln kann, je nachdem man die Fixpunkte und die beschreibenden Punkte in den durch die einzelnen Glieder gebildeten Systemen e, wählt ®?3); zweitens kann man durch Kombination einfacher Ketten zur gelenkigen Erzeugung immer weiterer Kurvenklassen gelangen. Wenn nämlich eine Kette & einen Punkt @, von 6, auf der Kurve ec führt, während 6 sich um O dreht, und eine Kette ®,, während der Punkt Q, von 6, die Kurve c durchläuft, einen Punkt R, von o, eine Kurve c, be- schreiben lässt, so kann man © mit ©, so verbinden, dass Q, zwang- läufig die Kurve c durchläuft, während sich 6 um O dreht. Es bildet daher die Kombination von und ©, ein Gesamtgelenk ®,, das aus der Drehbewegung von 6 resp. der Bewegung eines Punktes auf einem Kreis die Bewegung von R, auf c, entstehen lässt’). Ausser Sylvester haben in dieser Richtung besonders A. B. Kempe und H. Hart®*®) methodisch gearbeitet; dabei ist noch das Bestreben vorhanden, mit einer möglichst geringen Zahl von Gliedern aus- zukommen”), Ein besonderes Problem dieser Art behandelt R. Müller”). Wird ein Punkt $ mit zwei Seiten eines Gelenkvier-

341) Mechanische Beschreibung der algebraischen Kurven durch sogenannte lineale Mechanismen hat bereits H. Grassmann gelehrt.

342) Conversion of motion, p. 179.

343) Durch den Inversor kann jede Kreisverwandtschaft dargestellt werden. Die allgemeinste darstellbare Verwandtschaft erörtert V. Zigin, Nouv. ann. (2) 14 (1875), p. 534; vgl. auch F. Dingeldey, Diss. Leipzig 1885. Es lassen sich auch anallagmatische Kurven erzeugen, was schon Sylvester bemerkte und A. Mann- heim bewies, Lond. Math. Soc. Proc. 6 (1875), p. 36. Einen speziellen Fall dieser Verwandtschaft behandelt P. Somof, Warschau Univ.-Nachr. 7 (1894).

344) Die geführte Kurve c, kann einfacher werden, als die führende Kurve e. Eine gewisse Kette erzeugt die zu c, inverse Kurve; durch Verbindung mit einem Inversor erhält man eine c,.

345) Vgl. Mess. of math. (2) 4 (1874), p. 82 u. (2) 7 (1877), p. 189; Lond. Math. Soc. Proc. 6 (1874), p. 137; 8 (1876), p. 288; 14 (1883), p.199. Auch Hart’s Geradführungen beruhen auf Kombinationen von Peaucellier’schen Inversoren. Vgl. auch F. Schilling, Zeitschr. f. Math. 44 (1899), p. 214, der einige einfache Modelle angiebt, die dies erkennen lassen.

346) Auch auf elementarem Wege sind gelenkige Kurvenerzeugungen ver- schiedenster Art konstruiert worden.

347) Zeitschr. f. Math. 40 (1895), p. 257.

ana id Aha ln nn 2 A 0

34. Die durch Gelenkketten herstellbaren Verwandtschaften. 255

ecks gelenkig verbunden, so kann man verlangen, dass sich von seiner Bahnkurve c, ein Kreis oder eine Gerade abspaltet. Als Lösung des zweiten Falls ergiebt sich Hart's zweite Geradführung, die Lösung des ersten bilden übergeschlossene Mechanismen (Nr. 25) °*®).

Eine Fragestellung besonderer Art, die auf J. Kleiber *°) zurück- geht, ist folgende. Man kann den Pantographen Scheiners so auf- fassen, dass er zu einem Punkt @ den Punkt R konstruiert, der durch die Gleichung PR=4P%@ bestimmt ist. In Verallgemeinerung hiervon kann man die Pantographen auch so benutzen und mannigfach kombinieren, dass sie einen der Gleichung PR= 24,PQ@, genügenden Punkt konstruieren (für 24,—=1). Man kann auch zu räumlichen Ketten dieser Struktur gelangen, und sie zur Konstruktion affiner und kollinearer Kurven benutzen®®®). Alle diese Apparate zeigen die Eigenschaft, dass bei den durch sie möglichen Umformungen gewisse analytische Relationen invariant bleiben, nämlich diejenigen, die den affınen Charakter der bezüglichen Kurven ausdrücken. Dies führt nun zu der Frage, die kinematische Bedeutung anderer algebraischer Umformungen anzugeben, bei denen gewisse Relationen invariant bleiben und umgekehrt, und zu sehen, ob und wie sie sich durch Kombination von Gelenkketten realisieren lassen. Auch diese Frage hat Kleiber?°') in einzelnen Fällen behandelt.

Gelenkketten sind auch für analytische Zwecke konstruiert worden. Schon in seinen ersten Arbeiten gab Sylvester ?°?) eine solche zur Ausziehung der Quadratwurzel (Extractor); St. Loup”®) konstruierte eine Kette zur Auflösung der Gleichungen dritten Grades; kürzlich gab A. Emch’*) Gelenkketten zur Auswertung elliptischer Integrale.

Für den praktischen Wert dieser Ketten kommen die Geschwin- digkeitsverhältnisse in Betracht (Nr. 10); diese haben V. Ligin und

348) Einen Apparat zur Beschreibung eines sphärischen c, giebt H. Hart, Lond. Math. Soc. Proc. 6 (1874), p. 136.

349) Arch. d. Math. Phys. (2) 14 (1896), p. 432. Modelle, die diese Ketten und ihren Zusammenhang mit den Pantographen und Plagiographen Sylvester’s illustrieren, sind bei W. Dyck, Katalog, p. 318 ff. näher beschrieben. Vgl. auch die ähnlichen Zwecken dienenden Apparate von P. Somoff, Fussn. 447.

350) Die ersten Ketten für kollineare Kurven gab ebenfalls Hart, Lond. Math. Soc. Proc. 8 (1877), p. 286. Vgl. auch H. @. Zeuthen, Tidskr. for Math. (4) 1 (1877), p. 161.

351) Zeitschr. f. Math. 41 (1896), p. 176, 233, 281.

352) Eine Vereinfachung gab W. Johnson, Mess. of math. (2) 5 (1876), p. 159.

353) Paris C. R. 79 (1874), p. 1323.

354) Ann. of math. (2) 1 (1900), p. 81. F. T. Freeland giebt eine Kette, die x” für rationales m darstellt, Amer. J. of math. 3 (1881), p. 316.

256 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

M. d’Ocagne behandelt?°°); in neuester Zeit eingehend auch A. Ciappi 15° N). Eine graphische Konstruktion der Werte von v und p giebt H. Mohr '?°).

25. Die Untersuchungen von A. B. Kempe°®) und die über- geschlossenen Ketten. A. B. Kempe ging davon aus, dass zwischen den Cosinus der Gegenwinkel eines Vierecks eine lineare Relation besteht. Kombiniert man zwei ähnliche Vierecke gelenkig, und nimmt auf zwei entsprechenden Seiten zwei entsprechende Punkte P und FE an, so gelangt man zu einer Relation, die nur die Seiten und einen (von P abhängigen) Parameter enthält. Wird nun dieser Relation z.B. noch die Bedingung hinzugefügt, dass der Abstand eines Punktes der Kette von einer festen Geraden konstant sein soll, so gelangt man auf diese Weise zu einer Reihe von Geradführungen, die die- jenigen von Peaucellier und Hart, sowie andere von Kempe selbst angegebene als Spezialfälle liefern.

Man verdankt Kempe°’) weiter den Satz, dass jede algebraische Kurve durch eine Gelenkkette beschrieben werden kann. Der Beweis dieses Satzes beruht erstens darauf, dass man einen Punkt gelenkig auf einer Geraden führen kann und zweitens auf der Existenz der folgenden, ebenfalls von Kempe angegebenen Ketten: einer, die eine Schiebung bewirkt, sodass sie einen Punkt © eine zu P kongruente Kurve beschreiben lässt (Translator), einer zweiten, die die Verdoppe- lung der Winkel bewirkt, sodass wenn P auf seiner Kurve mit einer festen Geraden OX einen Winkel POX=9 bildet, Q auf einer Kurve so geführt wird, dass QOX = 29 ist (Multiplikator), endlich einer dritten, die in ähnlicher Weise die Addition‘ oder Subtraktion von Winkeln bewirkt (Additor und Soustractor)®®). Kempe hat be- reits darauf hingewiesen, dass diese Ideen auf den Raum übertrag- bar sind. Die Ausführung hat @. Königs®°®) gegeben, und da man im Raum einen Punkt gelenkig auf einer Ebene führen kann (Nr. 21), so kann man jede algebraische Bahnfläche gelenkig konstruieren.

Weitere Untersuchungen von Kempe betreffen die Theorie der übergeschlossenen Ketten. Wenn es bei einer zwangläufigen Kette Punkte P, Q giebt, deren Abstand bei der Bewegung konstant bleibt,

355) Nouv. ann. (2)20 (1881), p. 456; (3) 1 (1882), p. 153; (3) 3 (1884), p. 199.

356) Sie finden sich zusammengestellt in KXempe, Straight line. Modelle der bezüglichen Apparate erörtert auch W. Dyck, Katalog, p. 315.

357) Lond. Math. Soc. Proc. 7 (1876), p. 213 und Straight line, p. 33 ff.

358) Man kann auch bewirken, dass ein Punkt eine Kurve beschreibt, die zu einer andern bezüglich einer Geraden symmetrisch liegt (Reversor).

359) Paris C. R. 120 (1895), p. 861. Jede einem System X& auferlegte alge- braische Bedingung ist sogar gelenkig ausführbar, ib. 120 (1895), p. 981.

N

25. Die Untersuchungen von Kempe und die übergeschlossenen Ketten. 257

so kann man die Kette durch Einfügung eines Gliedes PQ zu einer übergeschlossenen zwangläufigen Kette machen; ebenso kann es möglich sein, ganze Gelenkketten so einzufügen, dass sich übergeschlossene Ketten ergeben ®°). Das einfachste Beispiel liefert ein Parallelo- gramm, das Punktepaare konstanten Abstandes in Menge darbietet. Übergeschlossene Ketten hat Kempe zunächst für ein Gelenkviereck ABCD bestimmt. Sind a,b,c,d seine Seiten und nimmt man je einen Punkt A/,B,C’,D resp. mit a, b, c, d fest verbunden an, so erhält man ein neues Viereck, und nun stellt sich Kempe®*') die Aufgabe, dies so zu thun, dass für beide Vierecke die gleichen Relationen bestehen. Ist dies der Fall, so kann durch beide die gleiche zwangläufige Bewegung vermittelt werden und man erhält eine tibergeschlossene Kette. Hierher gehört z. B. der Pantograph Sylvester's und seine Umformung des Hart'schen Inversors®?) (Fig. 9).

Eine analytische Studie dieser Ketten hat @. Darbour’®*) ge- liefert gemäss folgender Überlegung. Wenn von den Relationen zwischen den Parametern eines polygonalen Streckensystems einige

'in Identitäten übergehen, so können die übrigbleibenden Gleichungen

durch unendlich viele Werte der Parameter befriedigt werden; durch solche Werte wird eine bewegliche übergeschlossene Kette geliefert. L. Burmester °%*) hat folgende Sätze abgeleitet. Wird ein Punkt P mit je einem Punkt A,, B,, C,, D, einer Seite des Vierecks ABCD verbunden, und sucht man die Bedingung der Beweglichkeit, so müssen A,, B,, C,, D, auf einem Kreise liegen; P ist Brennpunkt eines ABCD eingeschriebenen c, und bleibt bei der Bewegung immer wieder ein soleher Brennpunkt, sodass die Punkte P eine Fokalkurve bilden. Werden mehrere Punkte P so bestimmt, dass sie mit allen zugehörigen Gelenken eine übergeschlossene Kette bilden, so ergeben sich die Ketten von Kempe, resp. eine noch allgemeinere Klasse’).

Eine einfache Erklärung gewisser übergeschlossener Ketten hat J. Kleiber?%) gegeben; sie beruht auf dem Satz von Clifford Ber

360) Vgl. über diese Ketten auch Nr. 29.

361) Lond. Math. Soc. Proc. 9 (1878), p. 133.

362) Die Ecken der über AB, BC, OD, DA konstruierten Dreiecke bilden hier stets ein Parallelogramm.

363) Bull. sciences math. (2) 3 (1879), p. 151.

364) Zeitschr. f. Math. 38 (1893), p. 193.

365) Hieraus folgt, dass die Koppelkurve nicht nur auf drei, sondern auf 00! Arten durch übergeschlossene Mechanismen erzeugbar ist; J. Kleiber, Zeitschr. f. Math. 36 (1891), p. 296. Modelle zu diesen Mechanismen erörtert W. Dyck, Katalog, p. 331.

366) Zeitschr. f. Math. 36 (1891), p. 296, 328; 41 (1896), p. 179.

258 IV 3. A. Schoenflies und M. @Grübler. Kinematik.

dass wenn man durch das Innere eines Dreiecks Parallelen zu zwei Seiten zieht, bei allen gelenkigen Umformungen das Dreieck der Ecken sich ähnlich bleibt und die Verhältnisse der Seiten konstant. Diese Anordnung gestattet auch jede durch Schiebung erfolgende Umordnung. Mittelst dieser Umordnungen gelangt man in einfacher Weise zu den bekannten und zu neuen übergeschlossenen Ketten, in die Dreiecke und Parallelogramme eingehen.

26. Relative Bewegung°®). Bewegt sich ein Gebilde & in 2”, während ein Punkt A in & eine Eigenbewegung ausführt, so heisst diese seine relative Bewegung bezüglich &. Seine Bewegung in Bezug auf 2” heisst absolute Bewegung; diejenige Bewegung, die A als un- veränderlicher Punkt von & in &’” haben würde, seine Führungs- bewegung. Diese Begriffe finden besonders auch dann Anwendung, wenn Gebilde bestimmter geometrischer Eigenschaft in & mit der Zeit wechseln, wie z. B. der Pol auf der Polkurve, die Momentan- axe auf dem Axenkegel und der Axenfläche, der Schnittpunkt oder Berührungspunkt zweier beweglichen Kurven auf ihnen u. s. w. Die nämlichen Bezeichnungen gelten für Geschwindigkeiten und Beschleu- nigungen jeder Art und jeder Ordnung °®®).

Grundlegend ist hier der Satz, dass sich die absolute Geschwin- digkeit v, die relative v, und die Führungsgeschwindigkeit v,; wie

N Vektoren verhalten; d.h. es it v=v,+ v,; für ein in & festes Axensystem x, 9, 2 bestehen daher die Gleichungen

d wit nytz, d (1) v-ntre—p+7): dz a el Auer

Für die Beschleunigungen gilt ein solcher Satz nur, wenn die Führungsbewegung in einer Translation besteht, sei es längs einer

367) Innerhalb der Kinematik kommt die relative Bewegung wesentlich für die Theorie der Zahnräder und der allgemeinen Mechanismen in Betracht (Nr. 23 u. 27). Weiteres über sie in IV 6.

368) Ist o das Bogenelement der Polkurve, so wird die relative Geschwin- digkeit do:dt = u Wechselgeschwindigkeit des Pols genannt. Bei der Drehung um einen festen Punkt heisst die relative Geschwindigkeit do:dt = » die Wechselgeschwindigkeit der Momentanaxe, wenn o der Bogen ist, den der Axen- kegel auf der Einheitskugel erzeugt. Für die allgemeinste Bewegung giebt es zwei analoge Komponenten u=de:dt, v=de:dt, wo de das Element des kür- zesten Abstandes für zwei Erzeugende ist.

a ee re |

N

1a 1 A

26. Relative Bewegung. : 259

Geraden oder längs einer Kurve. Da man nun die Bewegung von & in die Bewegung eines Punktes O0 und eine Drehung um O zerlegen kann, so kann man die Untersuchung der relativen Beschleunigung auf den Fall der Drehung um einen Punkt beschränken.

Die Sätze über die relative Beschleunigung knüpfen sich an den Namen von @. Coriolis?®®). Bei dem Problem, die dynamischen Glei- chungen der relativen Bewegung analytisch aufzustellen, fand er für die Beschleunigungen die Formel

en de a u 2 wo 9 die von der wirkenden Kraft herrührende Beschleunigung dar- stellt, @, derjenigen Kraft entspricht, die der Bewegung von & in 2” äquivalent ist, und 9, = 2wv, sin (a, v,) normal zur Momentanaxe a und zu v, ist und als Ooriolis’sche Beschleunigung bezeichnet wird ’”®). Sie stellt die doppelte Geschwindigkeit dar, mit der der Endpunkt V, des Vektors OV,=v, um a rotiert?”'). Das obige Resultat ist seit- dem vielfach abgeleitet worden, wesentlich durch drei verschiedene Methoden, eine geometrisch differentielle, eine analytische und eine vektorielle®’?). Die letztgenannten haben den Vorzug, dass sie auf jedes 9”) ausdehnbar sind. Wird v von O aus als Vektor OV ab- getragen, so ist (Nr. 10) @ die Geschwindigkeit von V und aus (1)

folgt sofort dv, ar a Fe 5

aus dieser von E. Bour ?'?) gefundenen Formel kann die Zerlegung von p in Q,, 9, und 9, durch Umformung leicht abgeleitet werden. Die Verallgemeinerung dieser Formel auf 9”) gab Ph. Gülbert°"*), nämlich die Gleichung

369) J. ec. polyt. 21 (1832), p. 268; 24 (1835), p. 146. Näheres in IV 6.

370) Ph. Gilbert giebt auf Grund dieses Satzes Konstruktionen für Krüm- mungscentra der Bahnkurven der relativen Bewegung, Brux. Ann. Soc. scientif. 3B (1879), p. 81.

371) Die zugehörige Kraft, auf den Punkt V,, bezogen, stellt nach @. Coriolis das Analogon der Centrifugalkraft für die Rotation dar.

372) In dieser Weise leitete zuerst B. de St. Venant die Formeln für » und p ab, und zwar mittelst der symbolischen Gleichung D=D,+ D, an- gewandt auf einen beliebigen Vektor, Paris C. R. 21 (1845), p. 623 (vgl. Nr. 7). J. Petersen, Kinematik, p. 11, 37, setzt <=flt,,%), y=glt,,b%), 2=Y(t,, t,), sodass 2, = const. resp. t, = const. die relative und die Führungsbewegung defi- nieren, und erhält die Formeln für absolute Bewegung bei variablem t, und t,.

373) J. de math. (2) 8 (1863), p. 1. Die Leistung von Bour besteht vor- nehmlich in der Einführung vereinfachender analytischer Hülfsgrössen.

374) J. de math. (4) 4 (1888), p. 456, wo sich die obige Ableitung findet.

260 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

(r) fr = Kae 0, er hat sie auch benutzt, um im Fall der Bewegung eines einzelnen Punktes die Komponenten von 9” für solche Koordinatensysteme aufzustellen, die von Punkt zu Punkt wechseln, insbesondere zur Ab- leitung der Gleichungen von Nr. 10. Eine allgemeine Formel, die nicht Rekursionsformel ist, gab J. Somoff?) auf dem Wege vekto- rieller Differenziation; nach ihm ist

Ss ZEN

Feotdpge a2... a+1 Ds,

Dreht sich & um den in &’ festen Punkt O0, während sich in X ein System S um (0 dreht, so gilt auch für die Winkelgeschwindigkeit der relativen und absoluten resp. zusammengesetzten Bewegung von 8 in & und 2” und der Führungsbewegung von & in &’, dass sie sich wie Vektoren verhalten; d.h. es st o=o,-+ o,. Da wieder A die Geschwindigkeit des Endpunktes U des Vektors OU = o ist, so lassen sich die Formeln für A und ebenfalls nach der oben befolgten vektoriellen Methode ableiten. Wird in S ein System XYZ an- genommen, so bestehen für die Komponenten nach diesen Axen die

Gleichungen d dp, dp Azur vi on

und es ist wiederum

ee e“ A=4ı,+4A, +4,

wo A, eine analoge Bedeutung hat, wie oben @,. Diese Formeln hat bereits H. Resal?'®) gegeben; ihre Ausdehnung auf A” ist durch Ph. Gilbert?) geleistet worden. Ebenso verdankt man ihm Formeln, die die Beziehungen zwischen 9”) und A” zum Ausdruck bringen. @. Königs ?”®) hat mittelst der vorstehenden Sätze Kurven bestimmt, die bei räumlicher Bewegung eine Hüllkurve besitzen, indem er näm-

375) Kinematik, p. 394 u. Petersburg M&m. de l’Acad. 9 (1866). Vgl. auch M. Levy, Paris C. R. 86 (1878), p. 1068; Ph. Gübert, ib., p. 1390 u. Accelera- tions 18, p. 252, wo sich eine umfassende Zusammenstellung ähnlicher Formeln findet; A. Laisant, Paris C. R. 87 (1878), p. 204; @. Castellano, Riv. di mat. 2 (1889), p. 19.

376) Cin&matique, p. 266. Die obige Ableitung gab Gilbert, Paris C. R. 103 (1886), p. 1248.

377) Accelerations 18, p. 263 ff.

378) Paris C. R. 119 (1894), p. 897. Vgl. auch Cinematique, p. 306.

27. Zahnräder und verwandte Mechanismen. 261

lich den Ort eines Punktes sucht, für den v, und v, in dieselbe Ge- rade fallen. Die Aufgabe führt auf Quadraturen; die Kurven sind überdies unabhängig von der Axenfläche von 2”.

27. Zahnräder und verwandte Mechanismen. Zahnräder dienen im allgemeinen zur Übertragung gleichmässiger Drehungen von einer Axe oder Welle auf eine andere?”®). Die Übertragung erfolgt durch die bei der gegenseitigen Bewegung ins Spiel tretenden Druck- und Reibungskräfte. Je nachdem die Axen parallel sind, sich schneiden oder windschief liegen, heissen die Räder cylindrisch, konisch oder räumlich resp. hyperboloidischh Bine Darstellung ihrer allgemeinen kinematischen Gesetze hat Th. Olivier ?®®) gegeben. Sind a und 5 die Axen, ®, und ®, die Oberflächen zweier mit ihnen verbundenen Zähne und &, resp. &, die Systeme, denen ®, und ®, angehören, so findet die drehende Bewegung um a und b so statt, dass ®, und ©, ein- ander stets berühren, also Hüllflächenpaare für die relative Bewegung von &, gegen 2%, sind !),

Ist & das System, in dem die Bewegung von &, und 2, erfolgt, so erhält man Flächenpaare ®, und ®, erstens so, dass man sich &, fest denkt. Alsdann liefert jede Fläche ®, eine zugehörigeHüllfläche ©, in &,; dabei bilden die auf ®, liegenden Charakteristiken von ®, die momentanen Berührungslinien. Man kann aber auch in & eine Fläche ® beliebig nehmen und die Hüllflächen bestimmen, die zu ihr für die Be- wegung von &, in & und von 2, in & gehören, so bilden auch sie ein Paar ®,, ®,. Auf ®& entstehen dann im allgemeinen zwei verschiedene Scharen von Charakteristiken k, resp. k,. Diese Darstellung liefert unmittelbar die zwei Zahnrädertypen, die Olivier unterschieden hat. Falls jede Charakteristik k, mit der entsprechenden k, nur einen Punkt gemein hat, so berühren sich auch ®, und ®, nur in einem Punkt und die Räder heissen nach Olivier Präzisionsräder ?®°). Wenn dagegen k, und k, ganze Kurventeile gemein haben, so berühren sich auch ®, und ®, in Kurven; die Räder eignen sich daher zur Kraft- übertragung und heissen Krafträder’®). Eine Unterscheidung anderer

379) Die Übertragung kann übrigens auch so erfolgen, dass die Drehungen nicht gleichmässig sind, vgl. Fussnote 390. Für Modelle vgl. z.B. W. Dyck, Katalog, p. 344.

380) Engrenages, p. 4 ff. Vgl. @. Gautero, Bologna Mem. (4) 1 (1880), p. 203. Die allgemeine Theorie ist über die Arbeiten von Olivier nicht hinausgekommen. Ich habe daher im Text die von ihm herrührende Einteilung in Präzisionsräder und Krafträder beibehalten, obwohl diese Namen in neuerer Zeit nicht mehr geläufig sind. Man spricht statt dessen von Punktverzahnung und Linien- verzahnung.

262 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

Art knüpft an die Art der relativen Bewegung von Z, gegen &, an, die entweder in einem blossen Rollen oder in einem Rollen nebst Gleiten besteht °®!).

Sind die Räder cylindrisch, ©, und ®, die zugehörigen Winkel- geschwindigkeiten, und konstruiert man in einer Ebene 6, die zu a und b senkrecht ist, Kreise, sodass 0,:0,— ®,:_®, ist, so stellen diese Kreise die Polkurven für die Bewegung von 6, gegen 6, dar (Rollkreise). Sind auch die Zähne eylindrisch, so reduziert sich die Theorie auf den Fall ebener Zahnräder #2),

Hier kommt zunächst die Frage in Betracht, wie man für eine beliebige ebene Bewegung Hüllkurvenpaare p, und p, graphisch an- genähert finden kann. J. V. Poncelet?®?) hat zu diesem Zweck die einem beweglichen System 6, angehörige Kurve 9, als Enveloppe von Kreisen, insbesondere von Krümmungskreisen betrachtet, die Lagen dieser Kreise in der festen Ebene 6, bestimmt und dann wieder deren Enveloppe gezeichnet. Grösseren Nutzen gewährt ein von Ch. E. L. Camus **) eingeführter Kunstgriff, der die Bestimmung der Hüllbahn p, zu p, auf die Bestimmung einer Bahnkurve zurück- führt. Ist nämlich p diejenige Polbahn, durch deren Abrollen von p, in 6, die Kurve p, als Bahnkurve eines Punktes A entsteht, so be- schreibt A beim Abrollen der Kurve p von p, in 6, die Kurve g, als Bahnkurve®®). Nimmt man nun p beliebig, so erhält man in den Bahnkurven p, und 9, desselben Punktes von 6 in 6, und 6, stets ein Paar entsprechender Hüllkurven.

In der Theorie der Zahnräder sind die Kurven p, und p, Kreise, man kann dann auch » als Kreis nehmen und findet p, und 9, als eyklische Kurven°®); in dieser Weise gelangt man zur Cykloiden- verzahnung. Die Triebstockverzahnung beruht darauf, dass wenn 9,

381) Eine Übersicht giebt V. Ligin, Nouv. ann. (2) 13 (1874), p. 497. Eine andere Unterscheidung der Bewegungsart giebt F' Grashof, Maschinenlehre 2, p. 235.

382) Der Ort der Berührungspunkte von p, und p, in 6 heisst in diesem Fall nach Reuleaux Eingriffskurve. Sie ist wichtig für die Auswahl solcher Stücke entsprechender Kurven p, und 9,, die man zur Konstruktion der mate- riellen Räder benutzen kann.

383) Seit 1827; vgl. H. Resal, Cinematique, p. 125.

384) Paris, M&m. de l’Acad. 1733, p. 117.

385) p heisst bei Reuleaux Nebenpolbahn. Die drei Pole O,, O, und O,, fallen dauernd zusammen. Das Kurvenstück , muss so gewählt werden, dass seine Normalen p, treffen. Geschieht dies unter konstantem Winkel, so ist y,„ eine Parallelkurve zu p,.

386) Bereits von de la Hire gekannt, Paris, M&m. de l’Acad. 9 (1694), p. 341. Vgl. auch L. Euler, Petersburg Abh. 5 (1754), p. 299.

DENN.

37. Zahnräder und verwandte Mechanismen. 263

und 9, entsprechende Hüllkurven sind, dies auch für zwei Parallel- kurven 9, und 9, von ihnen gilt, die sich je in einem Punkt der gemeinsamen Normale von p, und 9, berühren. Insbesondere kann man 9, als Punkt wählen und erhält p, als Kreis und g, als Parallelkurve einer eyklischen Kurve. Die Evolventenverzahnung ®°) entsteht, falls man eine durch den Pol O gehende Gerade p als Pol- bahn von 6 und zwei zu p, und p, konzentrische Kreise, die p be- rühren, als Polkurven p, und p, von 6, und o, gegen 6 wählt. Nimmt man dann A auf p beliebig, so bilden die zu »,' und p, ge- hörigen Kreisevolventen ein Hüllpaar ,, 9,. Diese drei Fälle stellen die hauptsächlichsten Typen der ebenen Zahnräderprofile dar®®®). Praktisch kommt dabei noch der Gesichtspunkt in Betracht, den Winkel der gemeinsamen Normale von @, und 9, mit der Polkurvennormale möglichst gross zu machen, weil hiervon die Grösse der gleitenden Reibung und des gegenseitigen Druckes und damit die Triebkraft der Räder in erster Linie abhängt.

Allgemeinere Probleme über ebene Zahnräder haben kürzlich E. Delassus und M. Disteli behandelt. Delassus ®°) geht von der Be- wegung dreier beliebigen Ebenen 6,, 6,, 6 gegen einander aus und fragt nach solchen Punkten A von 6, deren in 6, resp. 6, liegende Bahnkurven ein Hüllkurvenpaar für die Bewegung von 6, gegen 6, darstellen. Die notwendige und hinreichende Bedingung ist, dass A auf der Polgeraden 0,0, liegen muss. Fallen nun die Pole O,, O, und O,, stets zusammen, so hat jeder Punkt von o diese Eigenschaft; als Zahnräder ergeben sich zwei Polkurven p, und 9,, die sich ohne Gleitung gegen einander bewegen. Sie liefern die sogenannten un- runden Räder, bei denen die Drehungen nicht mit gleichmässiger Geschwindigkeit erfolgen”). Fallen die Pole nicht zusammen, und soll noch jeder Punkt der Polgeraden die genannte Eigenschaft haben, dann ist diese Gerade zugleich Polkurve für o gegen o, und für 6 gegen o,, was dem Fall der Evolventenverzahnung ent- spricht. Es kann aber auch nur ein einzelner Punkt dieser Art auf der Polgeraden existieren, dann haben die Polkurven all-

387) Zuerst von L. Euler bemerkt, Petersb. Abh. 11 (1765), p. 209.

388) Für die einzelnen Fälle und ihre zeichnerische Behandlung vgl. man die p. 191 genannten Lehrbücher. Eine analytische Behandlung einzelner Fälle giebt P. Richelmy, Torino Atti 16 (1880), p. 29.

389) Bull. sciences math. (2) 22 (1898), p. 251.

390) Vgl. Fussn. 379. Über die unrunden Räder vgl. z. B. Burmester, Kine- matik, p. 370 ff. Auf sie als ideale Rollkurven können noch Zähne, aus Hüll- kurven bestehend, aufgesetzt werden.

264 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

gemeinen Charakter und dies liefert Hüllkurvenpaare allgemeinster Art. Disteli?') giebt eine allgemeine graphische, resp. analytische Methode zur Konstruktion solcher Polkurven p, und p,, die als un- runde Rollräder?®) dienen können. Aus jeder als Tangentengebilde auf- zufassenden Kurve kann ein solches Kurvenpaar p, und », konstruiert werden; nimmt man sie insbesondere als Punkt, resp. Strahlbüschel, so ergeben sich die beim Antiparallelogramm auftretenden kongruenten Ellipsen resp. Hyperbeln.

Cylindrische Räder sind.auch so möglich, dass räumliche Zahn- profile auftreten. Man erhält sie z. B. so, dass man 9, resp. @, Scehraubungen um a resp. b ausführen lässt”). Man gelangt auf diese Weise auch zu Präzisionsrädern dieser Art; die Olivier’sche Er- zeugungsweise liefert sie, indem man in & eine auf der Ebene (ab) senkrechte Ebene n als Fläche ® und in ihr eine Gerade g als Ort der Berührungspunkte wählt. Diese Räder sind bereits von R. Hooke’”), später von White ®*) angegeben und von Olivier ?”) theoretisch erörtert worden; sie rollen ohne Gleitung von einander ab. Der Ort der Be- rührungspunkte ist für &, und Z&, je eine Schraubenlinie s, resp. S,; doch können ®, und ©, noch mannigfach gewählt werden. Die White'schen Räder entstehen so, dass man an a resp. b je ein Dreieck befestigt, sodass eine Ecke des einen in eine Seite des andern fällt, und diese um a resp. b die gleiche Schraubung ausführen lässt; dabei liefert die bezügliche Ecke die Schraubenlinien s, und s,. Olivier bemerkt, dass der Ort der Berührungspunkte in 7 nicht eine Gerade zu sein braucht und dass s, und s, nicht die nämliche Tangente haben müssen. Man kann die Räder auch in solche mit Hüllflächen verwandeln, indem man die Schraubenlinien durch ihre abwickelbaren Flächen ersetzt, sodass je eine Tangente die momentane Berührungs- linie ist.

Die allgemeine Theorie der konischen Räder ist von der Theorie der ebenen nicht wesentlich verschieden. Legt man um die Axen a und b Rotationskegel mit den Öffnungswinkeln « und ß, sodass

391) Zeitschr. f. Math. 43 (1898), p. 1.

392) Eine weitere Modifikation stellen solche Räder um parallele Axen dar, bei denen die Cylinder durch Kreiskegel ersetzt sind. Sie benutzte zuerst 0. Römer, Machines approuvdes par l’Academie, Paris 1735, p. 89.

393) Colleetion of Lectures Nr. 2, London 1674, p. 70. Ein Modell zeigte Hooke schon 1666 in London vor.

394) Sie erschienen 1808 auf der Pariser Ausstellung. Vgl. auch Poincare, Cin&matique, p. 158.

395) J. de math. 4 (1839), p. 304. Euler hatte solche Räder für unmöglich gehalten; vgl. Olivier, Engrenages, p. 100.

27. Zahnräder und verwandte Mechanismen. 265 sin«e:sinß=®,:o®,

ist, so sind sie Polkegel für die relative Bewegung von S, gegen 8, (Rolikegel). Schneidet man die Räder durch eine Kugel um 0, so reduziert sich die Aufgabe auf die Drehung der Kugel in sich und es übertragen sich alle für ebene Räder abgeleiteten Resultate. Das gleiche gilt aber auch für diejenigen, bei denen räumlich gestaltete Zahnprofile in Betracht kommen, also auch die Rädertypen von Hooke resp. White; und ebenso auch von den Ergebnissen von Delassus und Disteli.

Praktisch kommt übrigens für die Übertragung einer Drehung von einer Axe auf eine andere ausser den konischen Rädern wesent- lich noch das Cardanische Gelenk (Hooke'scher Schlüssel) in Betracht (Nr. 14). Zur Übertragung einer konstanten Winkelgeschwindigkeit kann es jedoch nur bei kleinen Bewegungen annäherungsweise be- nutzt werden®”). Ist y der Winkel, den die Ebenen der beiden grössten Kreise bilden, © einer ihrer Schnittpunkte, und werden die Bögen CA und CB durch #, und ®, bezeichnet, sodass ®,:®, —= dd,:d», ist, so ist

EN a A 0,:0%,=1— sin’y sin?’®,:cos®,;

das Verhältnis der Winkelgeschwindigkeiten ist daher nicht konstant, auch nicht einmal angenähert. Durch Verbindung zweier Cardani- schen Gelenke kann man aber eine sphärische Gelenkkette erreichen, für die sich bei jedem Winkel y ein konstantes Verhältnis für ®&,:o, einstellt. Für diesen von Goubet angegebenen Mechanismus?) hat H. Resal?”) die bezüglichen Formeln eingehend abgeleitet. Das gleiche leistet ein von Clemens angegebener Apparat, den näher (©. Roze ?”) und ebenfalls Resal erörtert haben *°).

Im Fall räumlicher Räder hat man die beiden windschiefen Axen a und b als konjugierte Rotationsaxen der relativen Bewegung von 2, gegen &, zu betrachten‘). Die Axe ce der bezüglichen momentanen Schraubung teilt den kürzesten Abstand von a und b so, dass (Nr. 18)

AC:BO = tg(ac):tg(be), ©,:0,:0 sin (be) : sin (ca) :sin (ab)

ist. Als Axenfläche ergiebt sich daher für &, und &, je ein Rotations- hyperboloid, das durch Rotation von c um «a resp. b entsteht. Sind a

396) Genaue Erörterung bei T’h. Caronnet, Nouv. ann. (3) 16 (1897), p. 472. 397) Er erschien 1878 auf der Pariser Ausstellung.

398) Paris C. R. 117 (1893), p. 599.

399) Paris ©. R. 84 (1877), p. 1148.

400) Vgl. auch $. Cappa, Torino Atti 18 (1882), p. 549.

266 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

und 5b, sowie ©, und ®, gegeben, so sind die Hyperboloide be- stimmt 01),

Bereits 1816 hat Olivier %) räumliche Präzisionsräder angegeben, die zu denen von Hooke resp. White analog sind, sodass ihre relative Bewegung in einem blossen Rollen besteht, später (1831) auch solche Präzisionsräder, für die die Relativbewegung im Rollen und Gleiten besteht. Krafträder der ersten Art sind nicht möglich; Krafträder der zweiten Art kannte im Fall rechtwinkliger Axen bereits Pappus, nämlich die Schraube ohne Ende; das ihnen zugrunde liegende Prinzip lässt sich nach Olivier für beliebige Axen benutzen.

Um methodisch zu diesen Zahnprofilen zu gelangen, kann man gemäss Oliwvier’s allgemeiner Methode als Fläche ® eine Ebene & wählen und sie so bewegen, dass sie sich um «a resp. b dreht, und senkrecht zu sich mit konstanter Geschwindigkeit 7 verschiebt*%). Die Flächen ®, und ®, sind dann Tangentenflächen von Schrauben- linien, und falls ihre Erzeugenden /, und /, von a resp. b den Ab- stand r, und r, haben, und k, resp. k, die Schraubenparameter sind, so ist

Y,0,c08s(&a)=1r,0,cos(eb) und

k,o, sin (a) = k,o, sin (eb) = 2x.

Wenn nun die in & liegenden momentanen Charakteristiken /, und I, nur einen Punkt gemein haben, was den allgemeinen Fall darstellt, so erhält man Präzisionsräder, und nur wenn /, und /, zusammen- fallen, Krafträder. Beides ist möglich).

Ist & zu einer Axe a parallel, so geht ©, in.die Cylinderfläche einer Kreisevolvente, und die Berührungskurve in eine Kreisevolvente selbst über; es kann sowohl Präzisionseingriff, wie Krafteingriff*%) er- zielt werden. Ist & zu beiden Axen parallel, so sind ®, und &, Evolventencylinder, es ist aber nur Präzisionseingriff möglich.

Die allgemeine Theorie räumlicher Räder liefert als Hüllflächen-

401) Formeln giebt K. Keller, Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ing. 14 (1870), p. 738.

402) Über die Entstehung seiner Arbeiten berichtet Olivier in der Vorrede zu Engrenages. Ein Modell solcher Räder beschreibt genauer T. Rittershaus bei W. Dyck, Katalog, p. 344.

403) J. Pützer, Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ing. 4 (1860), p. 234, 251. Vgl. auch F'. Grashof, Maschinenlehre 2, p. 83, wo diese Verzahnung als allgemeine Evolventenverzahnung bezeichnet wird.

404) Krafträder treten auf, falls », + r, dem kürzesten Abstand von a und 5 gleich ist. E

405) Ausser der Relation der vorigen Fussnote muss I (ab) = Y, = sein. Diese Räder fand Olivier schon 1815.

1b Dale 1 Elli a la A212 22

BER

28. Allgemeine Theorie der kinematischen Ketten. 267

paare ®,, ®, solche Regeltlächen, deren gegenseitige Bewegung in Drehungen um die Erzeugenden in Verbindung mit Gleitungen be- liebiger Richtung besteht?%). Den einfachsten Typus stellen die be- reits erwähnten Schraubenflächen dar. Zu allgemeinen Zahnprofilen, die den ebenen Zahnrädern analog sind, gelangte, wenn auch nur in angenüäherter Form, zuerst J. B. Belanger *”'), indem er von den als Axenflächen möglichen Rotationshyperboloiden H,, H, ausging, und diese längs einer grossen Zahl von Erzeugenden mit sehr dünnen Streifen versah. Genaue Zahnräder dieser Art hat geometrisch zuerst D. Tessari*") angegeben, indem er auf eine der beiden hyperboloi- dischen Axenflächen ein paraboloidisch gestaltetes Zahnprofil aufsetzt und die andere Zahnfläche konstruktiv bestimmt. Eine allgemeine rechnerische Behandlung des Problems lieferte H. Resal *°).

Zur Übertragung von Drehungen konstanter Geschwindigkeit dienen ausser den Zahnrädern auch die ZReibungsräder, bei denen die Übertragung nicht durch Druck, sondern nur durch Reibung erfolgt; allerdings können so nur geringe Kraftwirkungen erzielt werden. Sind die Axen parallel, so müssen die Rollkreise resp. die Axen- cylinder selbst als Reibungsräder verwandt werden, ebenso die Axen- kegel, wenn die Axen sich schneiden. Bei windschiefen Axen stellen zwei um sie gelegte Rotationshyperboloide den einfachsten Typus von Reibungsrädern dar. Während aber die Axencylinder und Axen- kegel zugleich auch die Axenflächen der entstehenden Bewegung sind, trifft dies für die Hyperboloide nicht mehr zu; die Axenflächen der entstehenden Bewegung sind von ihnen verschieden. Diesen wichtigen Punkt hat F. Schilling *') klargestellt; das Verhältnis der Winkel- geschwindigkeiten ändert nämlich seinen Wert, je nachdem H, oder H, als das treibende Rad gewählt wird, und je näher oder weiter von den Kehlkreisen die zu den Zähnen benutzten Segmente liegen. Er zeigt auch, welche Segmente hierzu verwendbar sind; es kann solche Segmente sogar auch in dem Fall geben, dass sich 4, und H, in zwei reellen Geraden durchdringen.

28. Allgemeine Theorie der kinematischen Ketten. In engem Zusammenhange mit den vorstehenden Entwickelungen steht ein Zweig

406) Vgl. auch T. Rittershaus, Civiling. (2) 24 (1878), p. 171.

407) Paris C. R. 52 (1861), p. 126.

408) Torino Annali del R. Museo industr. 2 (1871), p. 567, 698; auszugs- weise auch in Torino Atti 6 (1870), p. 413.

409) Paris C. R. 117 (1893), p. 391.

410) Zeitschr. f. Math. 42 (1897), p. 37. Es wird die Annahme gemacht, dass die Räder unendlich dünn sind.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1. 18

268 IV 3. A. Schoenflies und M.@Grübler. Kinematik.

der Maschinenwissenschaft, welcher von F. Reuleaux *'') begründet worden ist und von ihm den Namen „Kinematik, Maschinengetriebe- oder Zwanglauflehre“ erhalten hat*'?). Aufgabe dieses Zweiges ist die Systematik, Analyse und Synthese der zur Erzielung bestimmter Bewegungen in Maschinen sich eignenden Körperverbindungen. In strengerer Weise entwickelt und weiter ausgebaut wurden die Grund- lagen dieses Gebietes von F. Grashof *"?) und von L. Burmester *4) umfassend mit der geometrischen Bewegungslehre in Verbindung ge- bracht?").

Rein phoronomisch betrachtet ist jeder Mechanismus und jede Maschine eine bewegliche Verbindung von Körpern, welche zufolge ihrer Berührungen in ihrer gegenseitigen Beweglichkeit beschränkt sind. Die Teile zweier Körper, in denen sie sich berühren, heissen Elemente; sie bilden zusammen ein Elementenpaar*'). Unter einer kinematischen Kette versteht man eine durch Elementenpaare ver- mittelte solche Verbindung von Körpern, durch welche die letzteren die sogenannten Glieder der Kette in ihrer gegenseitigen Be- weglichkeit beschränkt werden. Die Glieder heissen singulär, binär, ternär u. s. f., wenn die Anzahl der in ihnen enthaltenen Elemente 1,2,3, u. s. f. ist. Bezeichnet » die Anzahl aller Glieder einer Kette, n, die Zahl der singulären, », die der binären, n, die der ternären u. s. f. Glieder dieser Kette, endlich e die Anzahl aller Elemente, so ist

(1) =D’ (m); 2) e=- > (in).

Die Kette heisst geschlossen, wenn jedes Glied mit wenigstens zwei

411) Kinematik, Bd.1. Vgl. hierzu D. Padeletti, Giorn. di mat. 14 (1876), p- 195 und 15 (1877), p. 54, 101, 178 u. 248, sowie die kritischen Bemerkungen und abweichenden systematischen Gesichtspunkte von @. Königs, Paris C. R. 133 (1901), p. 330, 385, 432, 533 u. 621. Wegen kinematischer Modelle vgl. den be- züglichen Abschnitt bei W. Dyck, Katalog, p. 315—350.

412) Die Bezeichnung „Kinematik“ rührt von Ampere (vgl. Fussn. 1) her, jedoch in einem weiteren Sinne; vgl. hierzu T. Rittershaus, Zur heutigen Schule der Kinematik, Civiling. (2) 21 (1875), p. 423 ff., sowie D. Padeletti, Giorn. di mat. 14 (1876), p. 195.

413) Maschinenlehre, Bd. 2.

414) Kinematik.

415) Bezüglich der geschichtlichen Entwickelung der Kinematik vgl. die entsprechenden Abschnitte der angeführten Werke von Reuleaux, Burmester und Weiss, sowie Rittershaus, Artikel „Kinematik“ der Allgemeinen Encyklopädie von Ersch und Gruber (2) 36 (1884), und Civiling. (2) 21 (1875), p. 423 ff.; weiter auch M. Grübler, Wandlungen der Kinematik in der Gegenwart, Civiling. (2) 35 (1889), p. 219 ff.

416) J. Schadwill, Verh. d. Ver. z. Beförder. d. Gewerbfl. 55 (1876), p. 348.

28. Allgemeine Theorie der kinematischen Ketten. 269

anderen Gliedern verbunden ist, also keine singulären Glieder in ihr auftreten, offen, wenn das Gegenteil der Fall ist. Die Kette wird eben genannt, wenn die Bahnen der Relativbewegungen aller Glieder- punkte in parallelen Ebenen liegen, im anderen Falle räumlich. Die Kette heisst zwangläufig, wenn die Bahnen der Punkte jedes @liedes gegen jedes andere Glied ganz bestimmte Kurven sind. Ein Mecha- nismus ist eine zwangläufige geschlossene kinematische Kette, von welcher ein bestimmtes Glied in Ruhe gehalten oder ruhend gedacht wird. Auseiner n-gliedrigen Kette gehen demnach im allgemeinen » ver- schiedene Mechanismen hervor. Getriebe nennt man einen Mechanismus, in welchem ein bestimmtes Glied die Bewegung der übrigen Glieder

gegen das ruhende hervorruft. Eine Maschine ist ein Getriebe zum

Zwecke bestimmter Arbeitsverrichtung. Mechanismen, Getriebe und Maschinen sind sonach Spezialfälle geschlossener zwangläufiger kine- matischer Ketten, wie Reuleaux zuerst nachgewiesen hat*!”).

Die Bedingungen, unter welchen geschlossene kinematische Ketten zwangläufig sind, hängen ab von der Art der Elementenpaare, welche die Verbindungen zwischen den Kettengliedern vermitteln. Nach Reuleaux unterscheidet man niedere und höhere Elementenpaare. Niedere Paare sind umkehrbar ohne Änderung der Relativbewegungen ihrer Elemente, d. h. zusammenfallende Punkte beider Elemente durchlaufen dieselbe Bahnkurve bei deren Relativbewegungen; höhere Paare haben diese Eigenschaft nicht. Niedere Paare können sich in Flächen berühren und heissen daher auch Umschlusspaare; höhere Paare berühren sich nur in Kurven oder Punkten. Die wichtigsten niederen Paare sind das Schraubenpaar, und dessen Spezialfälle, das Drehkörper- (Dreh-) und das Prismen-(Richt-)Paar; diese bedingen Schraubungen, bezw. Drehungen, bezw. Schiebungen als Relativbewegungen ihrer Elemente.

Entsprechend der Einteilung der Elementenpaare unterscheidet man niedere Elementenpaar- oder Umschlusspaarketten und höhere Elementen- paarketten; erstere enthalten nur niedere, letztere auch höhere Paare.

Die Bedingungen zu ermitteln, unter denen ein Elementenpaar innerhalb seines relativen Bewegungsgebietes geschlossen bleibt, ist die Aufgabe der Theorie der Stützung *'®). Ist die Relativbewegung der Elemente eine ebene, bewegt sich also eine Scheibe s gegen eine

417) Bezüglich der dynamischen Probleme der Maschinentheorie vgl. IV 8 (Heun).

418) Der Begriff der zureichenden Stützung wurde von Reuleaux (Kinematik, $ 17) eingeführt. Vgl. hierzu die kritischen Bemerkungen und Ergänzungen von T. Rittershaus, Civiling. (2) 21 (1875), p. 423; Th. Beck, Civiling. (2) 22 (1876), p. 571 und Grashof, Maschinenlehre 2, $ 7 fl.

18*

270 IV 3. A. Schoenflies und M. Grübler. Kinematik.

andere s‘, so hängt die zureichende Stützung von s gegen Drehung oder Schiebung ab sowohl von der Zahl der Stützpunkte, in denen die die Scheiben begrenzenden Kurven sich berühren, als auch von der gegenseitigen Lage der Normalen in den Stützpunkten (Stütz- normalen). Der Schluss eines zwangläufigen ebenen Elementenpaares erfordert mindestens drei Stützpunkte, deren Normalen sich in einem Punkte (dem Drehungscentrum) schneiden, und aufeinander folgend

Ay

Fig. 10. Fig. 11.

Winkel einschliessen, von denen zwei grösser als 90° sein müssen. Als Beispiel diene das Bogenzweieck im Dreieck (s. Fig. 10). Ist die letztere Forderung nicht erfüllbar, so muss die Zahl der Stützpunkte mindestens vier betragen, wie z. B. in dem höheren Elementenpaar: Bogendreieck im Rhombus (s. Fig. 11).

Bei räumlicher Bewegung haben Reuleaux, Beck und Grashof (vgl. Fussn. 418) die Bedingungen zureichender Stützung nur in den einfachsten Fällen (Cylinder und Prisma) erörtert; wesentlich all- gemeiner sind die bezüglichen Untersuchungen von P. Somoff'*'?), welche mit der allgemeinen Theorie der linearen Schraubensysteme (IV 2, 15—18, Timerding) in engstem Zusammenhange stehen. Von seinen Resultaten kommt hier wesentlich nur das eine in Betracht dass sich mit Hülfe von sechs Stützungen eine nach Axe und Para- meter bestimmte Schraubung (zwangläufige Bewegung) erzielen lässt; dazu müssen die Stütznormalen einem und demselben Komplexe ersten Grades angehören und ihre Richtungen müssen so gewählt werden, dass wenigstens vier von ihnen eine Opposition bilden.

29. Ebene kinematische Ketten. Für die ebenen Drehkörper- paar- oder @elenkketten ist die im allgemeinen, d.h. bei willkürlichen Dimensionen der Kettenglieder, notwendige und hinreichende Bedingung der Zwangläufigkeit die Erfüllung der Relation *?)

419) Zeitschr. f. Math. Phys. 42(1897), p. 133,161; Warschau, Univ. Nachr. 1898, Nr. 8 u. 9, und Zeitschr. f. Math. Phys. 45 (1900), p. 245. 420) M. Grübler, Civiling. (2) 29 (1883), p. 167.

29. Ebene kinematische Ketten. 271

n

2 (3) Dei 3-99 —4;

2

®

hierin ist g die Anzahl aller Gelenke, bezw. Axen, um welche die Glieder sich gegenseitig drehen, während » und n, die in Nr. 28 an- geführte Bedeutung besitzen. Drehen sich k Glieder um dieselbe Ge- lenkaxe (k > 2) und zählt man ein solches A-faches Gelenk wie k—1 eigentliche Drehkörperpaare, so lässt sich (3) durch die einfachere Relation (3a) 29 —3n+4=0

ersetzen, in welcher y nunmehr die Anzahl aller Drehkörperpaare ist*?)), Wenn bei einer Gelenkkette

29 —-3n+4<0, so ist sie willkürlich beweglich. Wenn dagegen 29 —3nt4>0,

so ist die Kette unbeweglich. In letzterem Falle kann sie jedoch zwangläufig beweglich werden, wenn die Funktionaldeterminante der Bedingungsgleichungen der Starrheit der Glieder identisch verschwindet. Derartige Ketten, bei welchen folglich die Dimensionen der Ketten- glieder nicht mehr willkürlich sind, sondern ganz speziellen Be- dingungsgleichungen genügen müssen, heissen übergeschlossene Gelenk- ketten (Nr. 25). Beseitigt man in einer solchen eine entsprechende Anzahl von Gliedern, so erhält man stets eine geschlossene, der Relation (3a) genügende Kette, welche also auch bei willkürlichen Dimensionen der Kettenglieder zwangläufig sein würde.

Die geschlossenen zwangläufigen Gelenkketten haben folgende allgemeine Eigenschaften: 1) Die Zahl » ist eine gerade. 2) Die

Anzahl der Elemente eines Gliedes ist höchstens gleich 3) Die Zahl n, ist unabhängig von n, und > 4.

Die Relationen (1), (2) und (3) führen zu Bildungsweisen zwang- läufiger Gelenkketten, ebenso zu topologischen Eigenschaften der-

421) In Form einer Regel, aber ohne Beweis findet sich diese Relation bei J. J. Sylvester, Lond. Roy. Inst. Proc. 7 (1875), p. 170—198 und Revue scient. (2) 4 (1874), p. 490. In einem speziellen Falle hat diese Beziehung bereits ver- wendet P. Tschebyscheff, Arbeiten der zweiten Zusammenkunft russischer Natur- forscher in Moskau 1869; in deutscher Übersetzung: Verh. d. Ver. z. Beförd. d. Gewerbfl. 19 (1870), p. 174. Eine Erweiterung der Relation auf willkürlich be- wegliche Ketten gab K. Birkeland, Tidskr. for Math. (5) 4 (1886), p. 174.

272 IV 3. A. Schoenflies und M.@Grübler. Kinematik.

selben *??). Die Bildungsgesetze von Mechanismen, welche aus Gelenk- ketten hervorgehen, behandelt unter besonderem Gesichtspunkte syste- matisch J. Taubeles **°); auch bildet er die Umkehrungen der Gelenk- ketten, in welchen die Gelenke durch Glieder entsprechend ersetzt werden.

Wechsellage nennt man eine solche Lage der Glieder gegen ein- ander, durch welche sie in eine Kette mit anderer Gliederzahl und anderen Bewegungsverhältnissen überzugehen vermag‘). Es bleiben dann einige der Glieder der ursprünglichen Kette nach dem Durch- gang durch die Wechsellage dauernd in relativer Ruhe. Die neue Kette kann entweder zwangläufig geschlossen oder offen sein. Be- züglich der Tod- und Verzweigungslagen, sowie der Polkonfigurationen, Geschwindigkeits- und Beschleunigungspläne und der Krümmungs- verhältnisse der Gelenkketten vgl. Nr. 23.

Enthält eine Kette auch Prismenpaare, so ist sie zwangläufig beweglich nur unter folgenden Einschränkungen: 1) in den nur Prismen- elemente enthaltenden Gliedern dürfen die Schubrichtungen (Prismen- axen) nicht sämtlich parallel sein; 2) binäre nur Prismenelemente ent- haltende Glieder dürfen nicht unmittelbar verbunden sein; 3) die Zahl der Drehkörperpaare, welche in jeder geschlossenen (d. i. in sich zurücklaufenden) Gruppe von Gliedern ausser Prismenpaaren die Ver- bindungen zwischen den Gliedern der Gruppe vermitteln, muss ent- weder >2 oder =0 sein. Nennt man eine geschlossene Glieder- gruppe, in welcher kein Drehkörperpaar auftritt, ein Gleitvielseit, und bezeichnet die Anzahl aller von einander unabhängigen Gleitvielseite der Kette mit y, so ist unter obigen drei Einschränkungen die im allgemeinen notwendige und hinreichende Bedingungsgleichung der Zwangläufigkeit für die ebenen Umschlusspaarketten: in welcher » die Zahl der Glieder und g die Anzahl aller Prismen- und Drehkörperpaare bezeichnet. Die Maximalzahl der Elemente eines Gliedes wird dann gleich 4(n + p).

Ist y= 0 (wie zumeist in Maschinen und Mechanismen), so geht (4) in (3a) über und es gelten für derartige Umschlusspaarketten die gleichen Sätze, welche bei Gelenkketten bestehen *?°).

Bei Prismenketten (welche nur Prismenpaare enthalten) ist die

422) M. Grübler, Civiling. (2) 20 (1883), p. 167.

423) Technische Blätter 19 (1887), p. 20.

424) Reuleaux, Kinematik 1, p. 186.

425) M. Grübler, Verh. d. Ver. z. Beförd. d. Gewerbefl. 64 (1885), p. 179.

5

30. Räumliche kinematische Ketten. 273

Bedingungsgleichung der Zwangläufigkeit unter den oben angeführten Einschränkungen 1) und 2)

(8) 9—2n +30,

worin 9 die Anzahl aller Prismenpaare bezeichnet. Die Einschränkung 2) erleidet eine Ausnahme nur bei der dreigliedrigen Prismenkette, der sogenannten Keilkette.

Bezeichnet h die Anzahl aller Hüllkurvenpaare, welche in den höheren Elementenpaaren einer Kette zur Übertragung der Bewegung zwischen den Gliedern notwendig sind, so ist unter den mehrerwähnten drei Einschränkungen die im allgemeinen notwendige und hinreichende Bedingungsgleichung der Zwangläufigkeit für die ebenen höheren Ele- mentenpaarketten (6) h+29—3n +47, in welcher g, wie vorher, die Anzahl aller Drehkörper- und Prismen- paare und y die Anzahl der unabhängigen Gleitvielseite bezeichnet. Die Zahl der Elemente eines Gliedes ist <4(n +y + h). Treten nur höhere Elemente in einem Gliede auf, so ist deren Anzahl > 3.

Aus (6) folgt für y=0 und g=0, dass zur Bestimmung der zwangläufigen Bewegung von n komplanen Ebenen

h=3n—4 Hüllkurvenpaare im allgemeinen notwendig und hinreichend sind *?).

30. Räumliche kinematische Ketten. Von den räumlichen Ketten sind besonders die Umschlusspaarketten in Anwendung gekommen. Die einfachsten Fälle führt Reuleaux *?°) auf, ohne jedoch den Nachweis ihrer Zwangläufigkeit vollständig zu geben.

Die einfachen räumlichen Gelenkketten wurden zuerst von Ritters- haus *?’) hinsichtlich ihrer Zwangläufigkeit untersucht. Er beant- wortet die Frage, ob sich eine dreigliedrige offene Gelenkkette durch ein weiteres Gelenk zu einer zwangläufigen Kette schliessen lässt, dahin, dass dies im allgemeinen nicht einmal für eine momentane Drehung möglich, dass dagegen bei n = 4 Gliedern sich jedem Punkte einer gewissen Fläche, und bei n—=5 Gliedern jedem Punkte des Raumes sich eine momentane Drehaxe zuordnet, und bei n=7 Gliedern jede Gerade die Axe des zwangläufig schliessenden Gelenkes sein kann. Ausnahmen treten ein, wenn einige der Axen sich schneiden. Die Resultate decken sich zum Teil mit den von A. F. Möbius **)

426) Kinematik 1, p. 5ö4 ff. 427) Civiling. (2) 21 (1875), p. 443 und 22 (1876), p. 559. 428) J. f. Math. 18 (1838), p. 189.

274 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

gefundenen. Ausser den genannten Fällen behandelt Grashof*?®) noch den der räumlichen Prismenkette, von welcher er nachweist, dass sie bei 4 Gliedern mit 4 Prismenpaaren, deren Axen nicht derselben Ebene parallel sind, zwangläufig ist. Auch führt er noch Fälle von Schraubenketten und Ketten mit nicht zwangläufigen Elementenpaaren an, deren Zwangläufigkeit nachgewiesen wird.

In systematischer Weise beantwortet E. Delassus *?°) die Frage, wie die Bewegung von Körpern mit verschiedenen Freiheitsgraden durch kinematische Verkettung mittels Schraubenpaaren erzielt werden könne.

Für die Schraubenketten ist die im allgemeinen notwendige und hinreichende Bedingungsgleichung der Zwangläufigkeit

5s —6n +7T=0,*%N in welcher die Zahl der Glieder und s die der Schraubenpaare ist. Zu dieser Relation gelangt Hochmann“??), indem er von der all- gemeineren

6(n—1)— K=R

ausgeht, in welcher X die Anzahl der Zwangsbedingungen, R der Freiheitsgrad der Kette ist, und darin R=1 und K=Ö5s setzt; doch ist die Ableitung nicht einwandfrei.

D. Anhang.

31. Kinematik veränderlicher Systeme®”). Den Fall, dass ein be- wegliches ebenes System sich stets ähnlich bleibt, hat bereits Chasles***) betrachtet; er bewies, dass es für je zwei Lagen 0 und 0% einen Ähn- lichkeitspol O giebt, sodass durch Drehung um ihn 6; mit 6% in ähn-

429) Maschinenlehre 2, $$ 45—54 und 63, 64.

430) Ann. @c. norm. (3) 17 (1900), p. 446.

431) Ohne Beweis mitgeteilt von M. Grübler, Riga Industrie-Zeitung 15 (1889), p. 162.

432) Die Kinematik der Maschinen, p. 67.

433) Es handelt sich im Text weniger um kinematische Wendung der all- gemeinen Theorie veränderlicher Systeme (vgl. Bd. III), sondern vielmehr um Resul- tate spezifisch kinematischer Bedeutung. Ausgeschlossen bleibt auch die Betrach- tung der allgemeinen kollinearveränderlichen Systeme, sowie die Lehre von den nichteuklidischen Bewegungen. Es genüge die Bemerkung, dass wesentlich solche Fälle kollinearveränderlicher ebener „Bewegungen“ betrachtet worden sind, bei denen drei Punkte festbleiben und jeder andere Punkt eine Gerade resp. einen Kegelschnitt beschreibt; vgl. L. Burmester, Zeitschr. f. Math. 20 (1875), p. 385 u. Math. Ann. 14 (1879), p. 472, sowie J. Petersen, Tidskr. for Math. (3) 5 (1875), p. 21.

434) Bull. science. math. de Ferussac 14 (1830), p. 322.

31. Kinematik veränderlicher Systeme. 275

liche Lage kommt. Eingehender sind die allgemeinen Gesetze ähnlich veränderlicher Systeme von 7’h. Schönemann und A. Grouard untersucht worden. Für ähnlich veränderliche Systeme spielen wieder die imagi- nären Kreispunkte die gleiche ausgezeichnete Rolle, wie für starre Systeme#3). Ebenso sind die Beziehungen affiner Räume denen der starren Systeme analog, nur dass hier den Kreispunkten ein ausgezeich- neter Charakter nicht mehr zukommt.

Bei der stetigen Bewegung eines ebenen ähnlich- oder affın- veränderlichen Systems resp. 6“ in seiner Ebene ist in jeder Lage wieder ein Momentanpol vorhanden, und zwar so, dass die Momentan- bewegung in einer Drehung um O und in einer Dehnung längs jeder durch O laufenden Geraden / besteht. Die Gesamtbewegung ist wiederum durch zwei sich stets berührende Polkurven charakterisiert. Ebenso gilt das Prinzip der Umkehrbarkeit der Bewegung nebst den in Nr. 3 genannten allgemeinen Folgerungen‘?®). Von den besonderen Resultaten, die Schönemann *°”) und Grouard*?°) für die Bewegung eines Systems abgeleitet haben, erwähne ich folgende: Die Bahntangente eines Punktes A bildet mit OA einen konstanten Winkel. Es existiert ein Wendekreis und auf ihm ein Wendepol, durch den alle Wende- tangenten gehen, sowie auch ein Rückkehrkreis; durch drei Krüm- mungsradien ist der Wendekreis bestimmt. Genauer sind die Krüm- mungsverhältnisse und die bezüglichen geometrischen Örter von L. Geisenheimer *°) untersucht worden. Die Verwandtschaft zwischen den Punkten A, A’ ist nach R. Müller “°) eine ein-zweideutige dritten Grades.

Von besonderen Bewegungen eines kennt man wesentlich solche, bei denen der Pol fest bleibt, zuerst diejenige, bei der jede Gerade durch einen festen Punkt geht. Nach J. Petersen *') und Ohr. Wiener **)

' 435) Eine analytische Behandlung aller Transformationen, die die Kreis- punkte resp. den Kugelkreis in sich überführen, giebt Königs, Cin&matique, p. 308 ff.; vgl. auch Bd. II.

436) L. Burmester, Zeitschr. f. Math. 19 (1874), p. 162, 465. J. Somoff, Zeit- schrift f. Math. 30 (1885), p. 199 giebt eine analytische Darstellung der all- gemeinen Resultate.

437) Schulprogramm Brandenburg 1862.

438) L’Institut 35 (1865), p. 159; 37 (1869), p. 27, 84, 124, 171.

439) Zeitschr. f. Math. 24 (1879), p. 129.

440) Zeitschr. f. Math. 36 (1891), p. 129. Die ® ist ein spezieller Fall derjenigen, die man erhält, wenn man eine F, in gewöhnlicher Weise und dann stereographisch auf eine Ebene abbildet; Diss. Leipzig 1883.

441) Nouv. ann. (2) 5 (1866), p. 480.

442) Ann. di mat. (2) 1 (1868), p. 139.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1. 18%

276 IV 3. A. Schoenflies und M. Grübler. Kinematik.

tritt sie ein, wenn drei Geraden durch je einen festen Punkt gehen; jeder Punkt beschreibt einen durch O gehenden Kreis*?). Allgemein besteht für Bewegung mit festem Punkt O der Satz, dass wenn zwei Punkte auf ähnlichen Kurven ähnliche Punktreihen durchlaufen, dies alle Punkte thun*“). Ein analoger Satz besteht für ein affinveränder- liches ebenes System 0“, das drei feste Doppelpunkte besitzt **°). Von solchen Bewegungen sind folgende betrachtet worden: Die Be- wegung eines 0°, bei der alle Punkte ähnliche Geraden durchlaufen *®); ferner die Bewegung von 6°, bei der alle Punkte ähnliche Kreise be- schreiben und jede Gerade einen ©, umhüllt, endlich solche Be- wegungen eines 0“, bei der alle Geraden Parabeln umhüllen oder alle Punkte affine Ellipsen beschreiben u. s. w.‘”). Eine Realisie- rung verschiedener Klassen von ähnlich- und affinveränderlichen Be- wegungen lässt sich durch Kombination von Pantographen und Plagiographen ausführen, wie zuerst J. Kleiber””) und kürzlich auch P. Somoff *") gezeigt haben. Besondere Bewegungen hat Mannheim zu dem Zweck untersucht, um für einzelne Punkte die Tangente und den Krümmungskreis zu bestimmen, resp. für geometrische Kurven Konstruktionen abzuleiten **2).

Auch die Flächeninhaltsätze lassen sich auf ähnlich resp. affın veränderliche Systeme ausdehnen”), sowohl die Sätze von ©. Leudesdorf und A. B. Kempe, wie auch die Theoreme von @. Darboux über die Bogenlängen und die Flächen der Geradenenveloppen, endlich auch die analogen Sätze der räumlichen Bewegung. Bei affinveränder- lichen Systemen treten statt der Kreise naturgemäss Kegelschnitte auf.

Chasles hat in der oben genannten Arbeit vom Jahre 1830 auch bereits die Hauptsätze über ähnlich veränderliche räumliche Systeme

443) Vgl. auch H. Durrande, Nouv. ann. (2) 6 (1867), p.60; F.@. Affolter, Arch. d. Math. Phys. 55 (1873), p. 175.

444) Vgl. auch F. Nicoli, Modena Mem. (2)1 (1883), p.59. Sind die Bahn- kurven c,, so sind die Enveloppen der Geraden im allgemeinen Kurven c,,.

445) Falls alle Punkte affine Kurven beschreiben, fällt die Polkurve mit dem Wendekreis zusammen; Th. Schönemann, Fussn. 420.

446) Sie ist die Umkehrung der Wiener-Petersen’schen Bewegung.

447) Zeitschr. f. Math. 46 (1901), p. 169.

448) Geometrie cin6matique, p. 15, 47, 477. Spezielle Fälle der Bewegung eines behandelt auch @. Fouwret, Paris C. R. 88 (1879), p. 227; Königs, Cindmatique, p. 329; Burmester, Kinematik, p. 86 u. a.

449) A. Schumann, Zeitschr. f. Math. 26 (1881), p. 157; E. E. Elliot, Lond. Math. Soc. Proc. 14 (1882), p. 62; J. Neuberg, Liege, Mem. (2) 16 (1889), p. 12; F. Morley, Quart. J. of math. 24 (1890), p. 359; J. Kleiber, Arch. d. Math. Phys. (2) 14 (1896), p. 408.

iz ie ze

31. Kinematik veränderlicher Systeme. 77

abgeleitet. Für zwei Lagen Z} und 25 giebt es im allgemeinen eine im Endlichen gelegene Gerade a, sodass durch Drehung um sie 2% und 25 in ähnliche Lage übergehen, und zwar in Bezug auf einen auf a gelegenen Ähnlichkeitspol 0.*°)

Das analoge gilt für affıine Systeme®') 2% und 23%. Die Be- wegung besteht in einer Drehung um den Affinitätspol O, resp. um a, und einer Dilatation, die für jede von O0 ausgehende Richtung wech- selt, und deren Grösse für alle diese Richtungen durch ein Ellipsoid bestimmt ist (vgl. IV 14, 12, Abraham). Übrigens können auch alle Punkte von «a Doppelpunkte für 2% und 2% sein.

Von speziellen hierhergehörigen räumlichen Bewegungen ist die wichtigste die eines affinveränderlichen H,, das man so verbiegen kann, dass die Kanten jedes aus vier Erzeugenden gebildeten Vierecks konstante Länge haben. Auf diese aus dem täglichen Leben längst bekannte Bewegungsform hat theoretisch zuerst @. Durrande *°?), später M. Hen- riei*?®) hingewiesen. Durrande zeigte, dass die Bewegung die eines affinveränderlichen 4, '°°) ist, und dass die Bahntangenten aller Punkte senkrecht zur Fläche sind. Hieraus folgt, dass das H, beständig in eine konfokale Fläche übergeht und bei der Deformation die Gesamt- heit dieser konfokalen H, durchläuft, sodass jede Bahnkurve eine Pol- hodie (Nr. 16) ist”). Hält man bei der Deformation des H, eine Erzeugende g fest, so beschreibt jeder andere Punkt des H, eine Kugel, deren Centrum auf g liegt; man erhält damit die oben (Nr. 21) angegebene Darboux’sche Bewegung. Eine einfache Art, die Bewegung des H, zu erzeugen, hat A. Mannheim *°°) angegeben. Er geht von vier Geraden aus, die in den Scheiteltangentialebenen des H, liegen und deformiert das bezügliche Gelenkviereck so, dass diese Beziehung stets erfüllt bleibt.

J. Larmor *°®) hat gezeigt, dass man ein Gebilde von 27 Geraden in ähnlicher Weise gelenkig deformieren kann wie das H,. Es ist durch drei solcher H, gebildet; seinen einfachsten Fall stellen die Kanten und Mittellinien eines Parallelepipedons dar.

450) Einen besondern Fall solcher Bewegung erörtert F. Nicoli, Modena Mem. (2) 1 (1883), p. 171, 249; vgl. auch K. Moshammer, Wien. Ber. 74 (1876), p. 131.

451) Vgl. A. Grouard, Bull. Soc. philom. 9 (1872), p. 34, 39.

452) Ann. €c. norm. (2) 2 (1873), p. 116.

453) O. Henrici hat ein bezügliches Modell Jan. 1875 der Lond. math. Soc. vorgelegt. Vgl. auch W. Dyck, Katalog, p. 261.

454) So zuerst bei @. Darboux, Paris ©. R. 101 (1885), p. 202.

455) Paris C. R. 102 (1886), p. 253.

456) Cambr. Phil. Soc. Proc. 5 (1884), p. 161.

278 IV 3. A. Schoenflies und M.Grübler. Kinematik.

A. Grouard *°') erkannte bereits die Existenz der Beschleunigungs- pole @) bei einem und zeigte, dass auf Kreisen um sie das be- zügliche 9) konstant und dem Radius proportional ist, und für alle Punkte einer durch @” laufenden Geraden mit ihr einen konstanten Winkel bildet. Die Erklärung dieser Übertragbarkeit der Sätze von Nr. 10 liegt darin, dass auch für ein beliebiges oder die End- punkte der v und @ ein zu ihnen affines System &, resp. 2, (Nr. 19) bilden, wie bei starren Systemen &.%”) Analytisch liegt sie darin, dass die Formeln für die Bewegung eines oder dieselbe lineare Form haben, wie diejenigen von Nr. 19, ebenso daher auch die Formeln für die Differentialquotienten *°).

Man kann daher auch die Sätze der allgemeinen Chasles’schen Theorie auf affinveränderliche Systeme übertragen und die bezüg- lichen zugehörigen Komplexe studieren. Auch diese Aufgabe hat bereits R. Durrande analytisch behandelt®#°®). Die hier auftretenden Verwandtschaften sind teilweise allgemeinerer Natur, als im Fall starrer Systeme, doch giebt es auch hier in jeder Ebene einen Punkt, dessen Geschwindigkeit resp. Bahntangente zu ihr senkrecht ist u. s. w.; es bilden jedoch die Punkte mit den Normalebenen kein Nullsystem. Eine ausführliche geometrische Darstellung auf Grund der Sätze über 2%, &,, &, (Nr. 19) und mit Anwendung auf die einfachsten Fälle wurde kürzlich von L. Burmester *%) gegeben.

Auch die Theorie der relativen Bewegung ist auf veränderliche Systeme übertragbar. Im besondern gilt die Somoff’sche Gleichung von Nr. 26, wie aus dem Beweise von M. Levy®”°) hervorgeht, für beliebige kollinearveränderliche Systeme. «'

457) Burmester, Zeitschr. f. Math. 23 (1878), p. 110; K. Moshammer, Wien. Ber. 74 (1876), p. 140.

458) Für die analytische Darstellung vgl. A. Picart, Nouv. ann. (2) 6 (1867), p- 158; V. Ligin, ib. (2) 12 (1875), p. 481; G@. Formenti, Giorn. di mat. 17 (1879), p. 232; besonders aber H. Durrande, Paris C. R. 73 (1871), p. 736; 74 (1872), p. 1243; 75 (1872), p. 1177; 78 (1874), p. 1086, sowie Ann. dc. norm. (2) 2 (1874), p. 89.

459) Vgl. auch F. Castellano, Torino Atti 29 (1893), p. 300.

460) Zeitschr. f. Math. 47 (1902), p. 128.

(Abgeschlossen im Juni 1902.)

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IV4. @.Jung. Geometrie der Massen. 279

IV4. GEOMETRIE DER MASSEN*).

Von G. JUNG

IN MAILAND.

Inhaltsübersicht.

Der Begriff des Massensystems.

I. Lineare Momente. Der Schwerpunkt.

Polare lineare Momente. Die verschiedenen Arten von Massensystemen. Planare lineare Momente. Statische Momente in Bezug auf eine Ebene. Ebene Projektionen eines Massensystems. Geradlinige Systeme.

Sätze über den Schwerpunkt. Das Zentrum der mittleren Entfernungen. Baryzentrische Koordinaten.

Das Massensystem, aufgefasst als ein System paralleler Kräfte. Kongruente und ähnliche Systeme.

II. Quadratische Momente. Das Antipolarsystem. Die verschiedenen Arten quadratischer Momente und ihre gegenseitigen Beziehungen. | Polare quadratische Momente. Planare quadratische Momente und Deviationsmomente und ihre Beziehung zu dem mit dem Massensystem verknüpften Antipolarsystem. Die Zentralflächen für die planaren quadratischen Momente und die Deviationsmomente. Die konfokalen Flächen konstanten planaren Momentes. Axiale quadratische Momente und die zugehörigen Zentralflächen für all- gemeine Systeme. Deviationsmomente, insbesondere für rechtwinkelige Ebenenpaare, bei Schwer- » systemen. Die Trägheitsflächen eines beliebigen Punktes. Das Hauptträgheitstripel eines beliebigen Punktes. Der Trägheitskomplex eines Massensystems.

*), Bei der deutschen Übersetzung des vorliegenden Artikels und seiner

formalen Anpassung an die Artikel IV 2 und IV 5 ist die Redaktion, ausser durch den Verfasser selbst, vielfach durch Hm. H. _E. Timerding unterstützt worden, wofür sie demselben auch hier ihren besten Dank ausspricht. F'. Klein.

Encyklop. d. math Wissensch. IV 1. 19

280 IV4. @. Jung. Geometrie der Massen.

19. Planare und axiale Hauptmomentenflächen. Die Schar der Strahlenkomplexe konstanten axialen Momentes.

20. Quadratische Momente bei ebenen und geradlinigen (allgemeinen) Massen- systemen.

21. Die historische Entwickelung der Lehre von den Trägheitsmomenten und Trägheitsflächen.

22. Quadratisch äquivalente Massensysteme.

III. Anhang zur Theorie der linearen und quadratischen Momente.

23. Lineare und quadratische Momente kontinuierlicher Systeme. Der Kern einer kontinuierlichen Figur. 24. Die Auswertung linearer und quadratischer Momente.

IV. Höhere Momente.

25. Allgemeine Definition der höheren Momente.

26. Die Nullflächen eines Massensystems.

27. Äquivalenz höheren Grades. Indifferenz höheren Grades.

28. Polarität und Apolarität.

29. Ersetzung eines Massensystems hinsichtlich seiner Momente m*® Grades durch einzelne Punkte.

30. Das Problem der Grenzwerte von P. L. Tsschebyscheff.

Litteratur. Lehrbücher.

M. Bresse, Cours de mecanique*) appliquee, t. 1, 2. ed. Paris 1866.

L. N. M. Carnot, De la correlation des figures de geometrie, Paris 1801.

(Geometrie de position, Paris 1803.

M. Chasles, Aperguw historique sur l’origine et le developpemeht des methodes en g6eom6trie, Bruxelles 1837; r&imprime Paris 1875.

D. Chelini, Elementi di meccanica razionale con appendice sui prineipi fonda- mentali della Matematica, Bologna 1860.

L. Cremona, Elementi di calcolo grafico, Torino 1874.

C. Culmann, Die graphische Statik, Zürich 1866; 2. Aufl. 1875.

L. Euler, Theoria motus corporum solidorum seu rigidorum, Rostochii et Gryphis- waldiae 1765.

H. Grassmann, Die lineale Ausdehnungslehre, Leipzig 1844.

Geometrische Analyse, Leipzig 1847.

Gesammelte mathematische und physikalische Werke, Bd. 1, Leipzig 1894.

O. Hesse, Vorlesungen über analytische Geometrie des Raumes (2. Aufl. 1869), 3. Aufl. Leipzig 1876.

J. L. Lagrange, M&canique analytique, Paris 1788 (Mee. an.).

A. F. Möbius, Der barycentrische Caleul, Leipzig 1827.

Lehrbuch der Statik, 2 Bde., Leipzig 1837.

Elemente der Mechanik des Himmels, Leipzig 1843.

*, In der durch kursiven Druck hervorgehobenen Abkürzung wird das betreffende Werk im folgenden zitiert.

Litteratur, 281

4. F. Möbius, Gesammelte Werke, 4 Bde., Leipzig 1885-87.

F. N. M. Moigno, Lecons de me&canique analytique, statique (d’aprös les methodes de L. A. Cauchy), Paris 1868,

L. Poinsot, Elements de statique, 10. ed., Paris 1861.

8..D. Poisson, Traite de mecanique, Paris 1811.

Th. Reye, Die Geometrie der Lage (1. Aufl. Ba. 2, Hannover 1868); 2. Aufl. Bd. 2, Leipzig 1880; 3. Aufl. Bd. 2, Leipzig 1892.

Ed.J. Routh, A treatise on the dynamics of a system of rigid bodies, 2 vols., 6. ed., London 1897; deutsch von A. Schepp, Die Dynamik der Systeme starrer Körper, 2 Bde., Leipzig 1898.

W. Schell, Theorie der Bewegung und der Kräfte, Bd. 1 (1. Aufl. 1870); 2. Aufl., Leipzig 1879.

J. A. Segner, Programma sistens specimen theoriae turbinum, Halae 1755.

J. Somoff, Theoretische Mechanik, 2 Bde., Leipzig 1879, übersetzt von A. Ziwet.

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s 19*

282 IV 4 @. Jung. Geometrie der Massen.

(1851) (das Kap. III, welches die Theorie der Trägheitsmomente enthält, wurde, obwohl vor 1834 geschrieben, zum ersten Male 1851 veröffentlicht). Th. Reye, Beitrag zu der Lehre von den Trägheitsmomenten, Zeitschr. f. Math, Phys. 10 (1865).

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' R. Townsend, On prineipal axis of a body, their moments of inertia, and distri-

bution in space, Cambr. and Dubl. Math. J. 1 (1846) und 2 (1847).

l. Der Begriff des Massensystems. Die Geometrie der Massen!) geht von dem Gedanken aus, die Punkte des Raumes nicht schlecht- hin zu betrachten, sondern ihnen noch eine nach Belieben, positiv oder negativ, wählbare Zahl als ihre Masse beizuschreiben, sodass die Punkte als mit bestimmten Koeffizienten behaftet erscheinen?). Hierbei wird von der physikalischen Bedeutung dieses Wortes zunächst ab- gesehen, die Massen bedeuten in der geometrischen Theorie vielmehr blosse Zahlen, denen erst in den Anwendungen eine besondere Inter- pretation gegeben wird. So können sie im physikalischen Sinne Massen oder Gewichte bedeuten, das Wort Gewicht kann aber auch, wie in der Fehlertheorie, in übertragenem Sinne verstanden werden.

1) Der Name „Geometrie der Massen“ wurde zum ersten'Male von Häton de la Goupilliere in seiner These (M&moire sur une theorie nouvelle de la G6o- metrie des masses, J. &c. polyt. 37 (1857), siehe auch Revue gen. des sciences (1893), p. 337 ff.) eingeführt, später von einigen anderen Autoren acceptiert; z.B. gebraucht ihn J. Somoff, Mechanik (1879) für die einleitenden Kapitel zur Statik und Dynamik (p. 1—107); W. Schell, Theorie der Bewegung 1 (1879), Kap. VI— IX. Abgesehen vom Namen kann man die erste Idee einer von der Mechanik losgelösten Geometrie der Massen, ebenso wie die Idee einer von der Mechanik abgetrennten Kinematik oder Geometrie der Bewegung, bei L. M. N. Carnot (Geometrie de position 1803 ($ 297 und p. 482; $ 298), und Correlation des figures 1801, $ 218) finden; denselben Gedanken verfolgte später M. Chasles (Apergu historique 1837, 2. €d., p. 105, 220—221, 397 u. s. w.). Die Kinematik wurde durch A. M. Ampere und viele andere zur selbständigen Disziplin er- hoben (vgl. IV 3 (Schoenflies), Fussn. 1), die Geometrie der Massen ist dies heute noch nicht, obwohl bereits hinreichendes Material dafür zusammengetragen ist.

2) Den Ausdruck „mit einem Koeffizienten behafteter Punkt‘ gebraucht A. F. Möbius, Barycentrischer Calcul 1827 = Werke 1, p. 28; H. Grassmann, Geometrische Analyse 1847 = Werke 1, p. 375 nennt die Massenpunkte „Punkt- grössen“; vgl. auch W. Schell, Theorie der Bewegung 1, p. 73 und L. Oremona,

Calcolo grafico 1874, p. 59.

1. Der Begriff des Massensystems. 2. Polare lineare Momente. 283

Die Massen können ferner elektrische oder magnetische Mengen oder auch Lichtstärken und Wärmemengen u. s. w. bedeuten. In der Be- völkerungstheorie erscheinen sie als Anzahlen von Personen, die durch eine gewisse Örtliche und zeitliche Umgrenzung zusammengehören u. s.w. Geometrisch lassen sich die Massen durch geradlinige Strecken von bestimmter Länge und Sinn und beliebiger, aber gemeinsamer Rich- tung darstellen, die man von den einzelnen Massenpunkten ausgehen lässt).

Die Hauptbedeutung der Geometrie der Massen liegt indessen in Her Mechanik. So gehören in sie alle Probleme, welche die Theorie der statischen Momente und des Schwerpunktes, ferner die Theorie der Trägheits- und Deviationsmomente betreffen, und die nicht nur in der Dynamik, sondern auch in der Festigkeitslehre und anderswo Verwendung finden.

Wir bezeichnen einen Massenpunkt durch ein Symbol A, welches seinen Ort festlegt, und die Masse «, welche dem Punkte A als Faktor beigefügt wird. Ist @«=1, so ist einfach A zu schreiben, und der Punkt heisst dann nach H. Grassmann ein einfacher Punkt).

Der Inbegriff von n solchen Massenpunkten «,A4;, @=1,2,...,n), der durch das Symbol («,4A,), oder einfacher A) gekennzeichnet sein möge, soll ein Massensystem heissen, u = Se, dessen Gesamtmasse?). Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Massenpunkte in unendlicher Zahl vorhanden sind und ein Kontinuum bilden; in diesem Falle, der in der Folge nur an einer Stelle (Nr. 23) ausführlicher betrachtet werden soll, verwandeln sich die weiterhin zu betrachtenden Summen in leicht verständlicher Weise in Integrale. |

I. Lineare Momente. Der Schwerpunkt.

2. Polare lineare Momente. Die verschiedenen Arten von Massensystemen. Durch ein gegebenes Massensystem wird jedem

3) Solche Segmente von gleicher, aber willkürlicher, nicht orientierter Richtung u repräsentieren skalare Massen. Wollte man die Berciiinnie der «, auch auf orientierte Grössen ausdehnen, so würde man zum Begriff der vektoriellen Massen gelangen («, A,), welche durch nicht parallele Vektoren &,, die von den A, ausgehen, repräsentiert werden. Bezeichnet man mit X, eine Vektorensunieme, so würde die Gesamtmasse des Systems in diesem Falle durch den Vektor u —= 2,0%; der auch Null sein kann, gegeben sein. Übrigens hängt die Vorstellung - von Vektoren, die an einzelne Punkte des Raumes angeheftet sind, auf das genaueste mit der Theorie der gebundenen Kräftesysteme zusammen, die in IV 2, 32 u. ff. (Timerding) behandelt ist. Man vergleiche dort insbesondere, was die Idee vektorieller Massensysteme angeht, die Auseinandersetzungen über astatisches Gleichgewicht und astatische Äquivalenz. Vgl. auch dort die Litteraturnachweise.

284 = IV4. @. Jung. Geometrie der Massen.

Punkte des Raumes in folgender Weise ein bestimmter Vektor zu- geordnet: Sind &, y, z die Koordinaten des angenommenen Punktes =” %;, Y, 2; die Koordinaten eines Massenpunktes A, des Systems, «, dessen Masse, so werden die Komponenten des Vektors:

N) 5-32), 1 =-Iay—Yy), =D.

Dieser Vektor heisst das polare Moment des oe. für den Punkt P als Pol‘). Sind 8’, »‘, die Komponenten des polaren

Momentes für einen anderen Punkt P’ mit den Koordinaten x’, y,g, so wird

2) 5-5 -u@—), n-V=uW—Y, I-G=uß—). Ist u=#0, so findet sich ein einziger Punkt S, für den das polare Moment verschwindet, für dessen Koordinaten x,, y,, 2, sonach wird:

(3) Su, —2)=0, Su y—y)=®, Sa, 2) = 0

oder: (3a) Sun =u%, Suy=u'Yy, Sus,=u:2,.

Dieser Punkt heisst der Schwerpunkt des Massensystems’). Derselbe bleibt ungeändert, wenn alle Massen in demselben Verhältnisse ver- grössert oder verkleinert werden.

Mit Hülfe seiner Koordinaten x,, y,, 2, lassen sich die Kompo-

nenten des polaren Momentes für einen beliebigen Punkt des Raumes in folgender Weise schreiben:

(4) bu 2), 1a y), t=ua—2.

Das polare Moment des Massensystems ist also für alle Punkte gleich dem Momente der in den Schwerpunkt konzentrierten Gesamtmasse. Man findet demnach das polare Moment des Massensystems für irgend einen Punkt, indem man den Vektor, der von diesem Punkte nach dem Schwerpunkte hingeht, im Verhältnisse 1:w ver- grössert, und wenn das polare Moment für irgend einen Punkt P be-

4) Über die Benennung „polares Moment“ vgl. W. Schell, Theorie der Be- wegung 1, p. 74; H.Grassmann, Werke 1, p. 161, 375 nennt das polare lineare Moment eines Massenpunktes die „Abweichung der Punktgrösse « 4” von dem Punkte (Pole) P; p. 378 nennt er es auch die „Mittelgrösse des vielfachen Punkt- quadrates « A?“ (vgl. Fussnote 38), sodass das polare lineare Moment eines Massen- systems mit der Grassmann’schen „Mittelgrösse“ identisch ist. .

5) In dieser Form (3a) ist der Schwerpunkt zuerst von P. Varignon eingeführt worden, Paris, Hist. de l’Acad. 1714. Vgl. IV 2, 32 (Timerding).

2. Polare lineare Momente. Die verschiedenen Arten von Massensystemen. 285

kannt ist®), so ergiebt sich umgekehrt eine einfache Konstruktion des Schwerpunktes’).

Ist u= 0, so sind die Gleichungen (3) im allgemeinen unerfüll-

bar. Die Gleichungen (2) werden dann:

Zus ZU Dal DR Tal 5 das polare Moment M ist also für alle Punkte des Raumes dasselbe°); der Vektor, den es darstellt, werde mit q bezeichnet. Ist g=#0, so heisst das Massensystem ein magnetisches System”) und der Vektor q seine Aze!%); man kann sagen, dass der Schwerpunkt S des Systems in der Richtung von q ins Unendliche gerückt ist.

Es kann aber sein, dass die Gleichungen (3) identisch erfüllt sind, d. h. dass neben u—= 0 auch noch der Vektor g verschwindet. Es verschwindet also das polare Moment für jeden Punkt des Raumes, und jeder Punkt lässt sich als Schwerpunkt des Massensystemes an- sehen !!). Das Massensystem heisst in diesem Falle ein indifferentes System.

Wenn alle Einzelmassen «; gleiches Zeichen haben, so ergiebt sich auch für die Gesamtmasse notwendigerweise ein endlicher, von Null verschiedener Wert, und es ist immer ein bestimmter eigentlicher

6) Man findet dieses Moment durch Konstruktion des Vektors P.P’ gleich der geometrischen Summe der Strecken «;PA;.

7) J. Somoff (Mechanik 2, p.20) schreibt diese Konstruktion des Schwerpunktes, die von dem planaren linearen Momente (vgl. Nr. 3) unabhängig ist, B. de Saint- Venant zu; sie findet sich aber für den Fall eines Systems einfacher Punkte schon bei L. M. N. Carnot (Correlation des figures 1801, 8$ 207, 209, 218), für ein allgemeines (siehe unten) Massensystem wurde sie gegeben von @. Bellavitis (Metodo delle equipollenze 1835), von A. F. Möbius (Mechanik des Himmels 1843 Werke 4, p.124), ferner von H. Grassmann (Ausdehnungslehre 1844 = Werke 1', p. 72, 168) und endlich von B. de Saint-Venant (Paris, C.R. 21 (1845), p. 623).

8) Grassmann, Werke 1', p. 375.

9) Der Name „magnetisches System“ ist deswegen gerechtfertigt, weil ein System von magnetischen Massen (Grassmann, Ausdehnungslehre 1844, $ 104; vgl. auch E. Beltrami, Ann. di mat. (2) 10 (1882), p. 252) ein solches Massen- system darstellt; siehe auch Fussn. 40 u. 55.

10) Grassmann, Ausdehnungslehre 1844, $ 102 (s. unten Fussn. 55). Grass- mann bemerkt hier, dass der Vektor q einen in seiner Richtung unendlich fern gelegenen Punkt ersetzt und als Mitte oder Mittelaxe der Massenpunkte er- scheint (p. 189). Einige Autoren nennen das System „schwerpunktslos“, aber es ist damit nur gemeint, dass im Endlichen kein Schwerpunkt existiert (vgl. Grassmann, Werke 1', p. 169). Der Schwerpunkt bleibt bestimmt, nur liegt er in unendlicher Entfernung. Vgl. auch Moebius, Barycentrischer Calcul, $ 9.

11) Moebius, Barycentrischer Calcul, $ 10 sagt: das System hat keinen Schwerpunkt, es ist damit aber gemeint „keinen bestimmten Schwerpunkt“.

286 IV4. @. Jung. Geometrie der Massen.

Schwerpunkt vorhanden. Das Massensystem heisst dann ein Schwer- system, weil eine Anzahl schwerer Massenpunkte ein Beispiel eines solchen Systems liefern. Die Theorie der Schwersysteme unterscheidet sich von derjenigen der allgemeinen Systeme erst bei näherer Be- trachtung der quadratischen Momente (welche beim Schwersystem not- wendig alle positiv sind, wenn man alle «, > 0 voraussetzt).

Als ein allgemeines Massensystem werden wir weiterhin ein solches System ansehen, dessen Gesamtmasse + 0 ist.

3. Planare lineare Momente. Statische Momente hinsichtlich einer Ebene. Als das statische Moment eines gegebenen Massen- systems für eine Ebene = '?) (planares lineares Moment) bezeichnet man den skalaren Ausdruck, den man erhält, indem man die Masse jedes Massenpunktes des Systems mit seinem Abstande von der Ebene x multipliziert und alle diese Produkte addiert. Ist

Us+Vy+W:=T

die Gleichung der Ebene x, so wird das zugehörige statische Moment des Massensystems:

De; (Ur; + vy,+Wa,—T)

(5) M —— yU’+V°:+W°

oder wegen (3a):

(5a) Mm. (Isa +4, +Wa— N,

vor+ Pr wi

Das statische Moment eines allgemeinen Massensystems wird also für alle Ebenen des Raumes gleich dem statischen Momente der in dem Schwerpunkte konzentrierten Gesamtmasse, nämlich gleich dem Pro- dukte aus dieser Gesamtmasse und dem Abstande des Schwerpunktes von der Ebene'®). Insbesondere verschwindet es für alle Ebenen, die durch den Schwerpunkt gehen '?), oder anders ausgedrückt: der Schwer- punkt $ wird umhüllt von den Ebenen, für die das statische Moment Null ist.

Ist das System ein magnetisches System, also u—= 0, q+ 0, so sind die Ebenen, für die das statische Moment des Massensystems verschwindet, alle der Axe desselben parallel (vgl. Nr. 5), und für irgend eine andere Ebene wird das statische Moment gefunden, indem man die Axe q des magnetischen Systems auf die zu der Ebene nor-

12) Der Begriff des statischen Momentes geht bis auf Archimedes zurück (vgl. W. Schell, Theorie der Bewegung 1, p. 81).

13) Moebius (Barycentrischer Calcul = Werke 1, p. 28) gründet auf diese Eigenschaft die Definition des Schwerpunktes,

3. Planare lineare Momente. 4. Ebene Projektionen eines Massensystems. 287

male Richtung projiziert“). Das statische Moment wird also ein Maximum, nämlich g, für die Ebenen, welche zu der Axenrichtung des magnetischen Systems normal sind.

Das statische Moment eines indifferenten Massensystems ver- schwindet für alle Ebenen des Raumes.

4. Ebene Projektionen eines Massensystems. Geradlinige Systeme. Als Projektion eines Massenpunktes «A auf eine Ebene x kann man den Massenpunkt «A® der Ebene x bezeichnen, welcher der Lage nach in die Projektion des Punktes A fällt und dessen Masse gleich der des projizierten Massenpunktes ist. Dabei kann das Projektionszentrum im besonderen im Unendlichen liegen. Es gelten für die Projektion eines allgemeinen Massensystems die Sätze:

1) Der Schwerpunkt des ebenen Massensystems, dessen Massen- punkte die Projektionen der Massenpunkte eines gegebenen räumlichen Massensystems auf eine Ebene x sind, wird gefunden, indem man den Schwerpunkt 5 des räumlichen Massensystems auf die Ebene x projiziert. Geht insbesondere die Ebene x durch den Schwerpunkt $ des räumlichen Systems, so fällt der Schwerpunkt mit dem Schwer- punkt 5 zusammen ®°).

2) Das polare Moment des ebenen Massensystems für irgend einen Punkt P, seiner Ebene x ist ein Vektor in dieser Ebene und wird gefunden, indem man den Vektor, der das polare Moment des räumlichen Massensystems für denselben Punkt P, darstellt, auf die Ebene x projiziert.

3) Das statische Moment des ebenen Massensystems für eine in seiner Ebene x liegende gerade Linie wird gefunden, indem man das statische Moment des räumlichen Massensystems für diejenige Ebene bildet, welche durch die Linie geht und auf der Ebene x senkrecht steht.

Die orthogonale Projektion des magnetischen Massensystems auf eine beliebige Ebene bildet im allgemeinen wieder ein magnetisches Massensystem, dessen Axe durch die Projektion des Vektors g auf die Ebene gefunden wird. Wenn aber die Ebene zur Axenrichtung des

14) C. Oulmann (Graphische Statik 1866, p. 25) gebraucht für die Pro- jektion auf die zu einer Ebene normale Richtung den Ausdruck Antiprojektion. Vgl. auch L. Cremona, Calcolo grafico 1874, p. 26.

15) Zwischen den projizierenden Strahlen besteht die Beziehung I, &, A, A, = uSS°, d.h. 5$° kann als mittlerer Vektor der Vektoren «,A, A,’ aufgefasst werden. Ist a, der Fusspunkt des auf SA, von einem beliebigen Raumpunkt P gefällten Perpendikels, so ist De;54;: Sa, 0 (vgl, für den Fall ,—=1 Carnot, Correlation des figures, p. 161).

288 IV4. @. Jung. Geometrie der Massen.

räumlichen Massensystems normal ist, so wird die Projektion ins- besondere ein indifferentes Massensystem.

Analoge Sätze lassen sich für nur geradlinige Massensysteme aufstellen.

5. Sätze über den Schwerpunkt. Der Schwerpunkt als Zentrum der mittleren Entfernungen. Die Gleichungen (3) in Nr. 2, welche den Schwerpunkt eines allgemeinen Massensystems als den Punkt defi- nieren, für den das polare Moment verschwindet, gestatten folgende geometrische Interpretation: Die Strecken, welche den Schwerpunkt $ mit den einzelnen Punkten des Systems verbinden, jede multipliziert mit der Masse «,;, lassen sich ohne Änderung von Richtung, Sinn und Länge zu einem geschlossenen Polygon zusammenfügen. Umgekehrt wenn im Raume ein beliebiges geschlossenes Polygon gegeben ist und man von einem beliebigen Punkte 5 aus Strecken 5A; zieht, welche den Seiten dieses Polygons gleich und gleichgerichtet sind (wobei man sich das Polygon in einem bestimmten Sinne umlaufen zu denken hat), so ist der Punkt 8 der Schwerpunkt für die Endpunkte A, jener Strecken.

Symbolisch kann man die Gleichungen (3a) in Nr. 2 schreiben:

1.4: (6) Sa4;=u:S8 oder a .

Der Schwerpunkt erscheint danach als Mittelpunkt‘) oder mit der Gesamtmasse des Systems versehen, als die Summe!) der einzelnen Massenpunkte. en

„Zerlegt man ein allgemeines Massensystem auf beliebige Art in eine Anzahl von Teilsystemen und sucht von allen diesen die Schwer- punkte, indem man sich jedesmal in diesen die Gesamtmasse des Teil- systems konzentriert denkt, so ist der Schwerpunkt aller so ge- wonnenen Massenpunkte zugleich der Schwerpunkt des gegebenen Massen- systems. Liegen alle Massenpunkte eines Massensystems auf einer ge- raden Linie oder in einer Ebene, so liegt auch sein Schwerpunkt auf dieser Linie oder in dieser Ebene.“ Hieraus ergiebt sich:

„Lassen sich in besonderen Fällen die Massenpunkte eines Massen- systems so einteilen, dass die Schwerpunkte der Teilsysteme in einer geraden Linie liegen oder einer Ebene angehören, so geht diese ge-

16) Grassmann, J. f. Math. 24 (1842), p. 271, und Werke 1', p. 72 u. 618; vgl. auch Fussn. 19, 26 u. 27.

17) Moebius, Barcentrischer Caleul = Werke 1, p. 44 u. 611; Grassmann, Geometrische Analyse, $ 15 = Werke 1!, p. 376; (vgl. Fussn. 21).

“5. Sätze über den Schwerpunkt. Das Zentrum der mittleren Entfernungen. 289

rade Linie oder diese Ebene durch den Schwerpunkt des Gesamt- systems oder ist, wie man sagt, für dasselbe eine Schwerlinie oder eine Schwerebene“ In jedem Falle liegen, wenn man ein vorgelegtes Massensystem irgendwie in zwei oder in drei Teilsysteme zerlegt, die Schwerpunkte dieser Teilsysteme immer auf einer Schwerlinie oder in einer Schwerebene '°).

Hieraus ergiebt sich eine einfache Methode, um in vielen Fällen den Schwerpunkt eines gegebenen Systems zu finden (vgl. Nr. 24).

Wählt man im besonderen alle Massen des allgemeinen Massen- systems gleich 1, so werden die Koordinaten des Schwerpunkts 8:

FU FLIT Im aha n

s %

(7) Reg tun, an Y

Die Entfernung des Punktes $ von einer beliebigen Ebene ist also das Mittel der Entfernungen aller Punkte des Systems von derselben Ebene. Es wird daher im vorliegenden Falle der Schwerpunkt als Zentrum der mittleren Entfernungen‘) bezeichnet. Jede Symmetrie- ebene oder -Axe des Systems A, geht durch den Schwerpunkt.

Im magnetischen System ist der Schwerpunkt in der Richtung der Axe im Unendlichen gelegen (vgl. Nr.2). Es ist der uneigentliche Punkt $,. Dadurch modifizieren sich die Sätze, welche für den Schwerpunkt des allgemeinen Massensystems gelten, in folgender Weise:

Das Umhüllungsgebilde der Ebenen vom statischen Momente Null®) wird jetzt der Punkt $,, (vgl. Nr. 3) und als Summe der Punkte «,4, lässt sich vermöge der symbolischen Gleichung‘

Sud —=4 der Vektor g?') ansehen. Teilt man ein magnetisches Massensystem irgendwie in zwei nicht magnetische Teilsysteme, so fällt die Verbindungslinie der

18) Sind u, und u, die Massen der beiden Teilsysteme, $,, 5, ihre Schwer- punkte, so ist, tw =u und 1,89, +85%,=0 und analog für drei Teil- systeme.

19) Carnot, Correlation des figures 1801 (vgl. Fussn. 7). J. V. Poncelet (J. f. Math. 3 (1828)) bezeichnete das Zentrum der mittleren Entfernungen als „Zentrum der harmonischen Mittel in Bezug auf die unendlich ferne Ebene“ (vgl. Nr. 11); vgl. auch Chasles, Apergu historique 1837, 2. ed. 1875, p. 616 R., TIER Grassmann (J. f. Math. 24 (1842), p. 271) veränderte die Poncelet'sche Bezeich- nung in „harmonische Mitte in Bezug auf eine Ebene“ und die Carnot’sche Be- zeichnung in „Mitte zwischen den Punkten“.

20) Moebius, Barycentrischer Caleul, $ 8 u. 9.

21) Grassmann, Werke 1', p. 308; vgl. Fussn. 17.

290 IV4. @. Jung. Geometrie der Massen.

Schwerpunkte dieser Teilsysteme in die Axenrichtung des magnetischen Systems. Die Gesamtmassen der beiden Teilsysteme sind dabei einander entgegengesetzt gleich. Multipliziert man ihren absoluten Betrag mit dem Abstande der beiden Schwerpunkte, so erhält man die Länge der Axe g. Speziell fällt in die Richtung dieser Axe jede Linie, welche einen Massenpunkt des Systems mit dem Schwerpunkte der

übrigen verbindet, und diese Verbindungsstrecke ist der Strecke g

gleich und entgegengesetzt gerichtet, wenn «,; die Masse des heraus- gegriffenen Massenpunktes ist. Setzt sich ein magnetisches Massen- system aus mehreren magnetischen Teilsystemen zusammen, so setzt sich auch seine Axe q aus den Axen g, dieser Teilsysteme nach der- selben Regel zusammen, nach der Vektoren zu einem Vektor vereinigt werden, was durch die einfache Gleichung 2,9; = q angedeutet wer- den möge.

Im indifferenten System ist jeder Punkt Schwerpunkt (vgl. Nr. 2). Es ist die Summe der n Punkte «,A, gleich Null.

Teilt man daher das indifferente Massensystem irgendwie in zwei nicht indifferente Teilsysteme, so fallen die Schwerpunkte dieser Teil- systeme zusammen. Insbesondere liegt in jedem Massenpunkte des indifferenten Systems der Schwerpunkt der übrigen und man erhält umgekehrt aus einem allgemeinen Massensysteme ein indifferentes, indem man als weiteren Massenpunkt die in dem Schwerpunkte konzentrierte Gresamtmasse des Systems mit umgekehrtem Vorzeichen hinzufügt.

6. Barycentrische Koordinaten. Besteht das Massensystem nur aus zwei Massenpunkten «, A, und «,A,, so mögen wir durch die Punkte A, und A, die x-Axe des Koordinatensystems legen, sodass die Koordinaten der Punkte A, und A, (x,, 0, 0) und (z,, 0, 0) werden. Dann werden die Koordinaten y, und z, des Schwerpunktes $ eben- falls gleich Null, und x, wird

0%. 0,

® ee

d. h.'?) der Schwerpunkt $ der beiden Massenpunkte «, A, und 0,4, teilt das Segment A, A, im umgekehrten Verhältnisse zu den Massen a, und @,, und zwar innen oder aussen, je nachdem «, und «, gleiches oder entgegengesetztes Vorzeichen haben ?). Ist «, = «,, so rückt S auf der Verbindungslinie von A, und A, in unendliche Entfernung (vgl. Nr. 2).

22) Dieses Hebelgesetz rührt bereits von Archimedes her.

6. Baryzentr. Koordinaten. 7. Das Massensystem als System parall. Kräfte. 291

Wir übergehen der Kürze halber den Fall dreier Massenpunkte. Besteht das Massensystem aus vier Massenpunkten &,A,, %4s, &; Az, &A,, so liegt sein Schwerpunkt 5 so, dass jede der drei durch ihn gehenden geraden Linien, die zwei Gegenkanten des Tetraeders A,4A,4,A, treffen, diese Kanten im umgekehrten Verhältnisse zu den in ihren Endpunkten angebrachten Massen teilen. Der Abstand des Schwerpunktes S von einer Seitenfläche des Tetraeders steht zu der zugehörigen Höhe in demselben Verhältnisse, wie die in dem gegen- überliegenden Eckpunkte A, angebrachten Massen «, zu der Gesamt-. masse u=,u+% +04 0,

Betrachtet man nun die vier Punkte A, als fest und nur die zugehörigen Massen «, als veränderlich, mit der Bedingung, dass ihre Summe u konstant bleibt, so gehört zu jedem Wertequadrupel (&,%,0%,0«,) ein bestimmter Punkt 5 und umgekehrt zu jedem Punkte $ ein Wertequadrupel («,«,&,«,). Diese vier Werte «, sind die bary- centrischen Koordinaten des Punktes 5, bezogen auf das Fundamental- tetraeder A,A, A, A,”). Dieselben sind von Moebius eingeführt und in seinem Barycentrischen Kalkul (1827) verwertet worden, wodurch zum ersten Male ein System homogener Koordinaten in die ana- lytische Geometrie eingeführt wurde®*). Die Tetraederkoordinaten von J. Plücker®) gehen aus den barycentrischen Koordinaten hervor, indem man dieselben noch mit beliebig wählbaren konstanten Faktoren multipliziert.

7. Das Massensystem, aufgefasst als ein System paralleler Kräfte. Die in den voraufgehenden Nummern gegebenen Sätze er- halten eine charakteristische Interpretation, wenn man die Massen «, eines Massensystems durch Strecken A,B, repräsentiert, die sämtlich einer willkürlichen Richtung «u parallel von den Punkten A, des Systems in ein oder dem anderen Sinne je nach dem Vorzeichen von « auslaufen. Man kommt so auf bekannte Sätze der Statik starrer Körper (vgl. IV 2, 32, Timerding).

Im Falle eines allgemeinen Massensystems (also u + 0) lässt sich

23) Sie sind dem Inhalte der Tetraeder proportional, deren Spitze in S liegt und deren Grundflächen die den Punkten A; gegenüberliegenden Seiten- flächen A, des Fundamentaltetraeders sind.

24) S. die Vorrede von R. Baltzer zu Bd. 1 von Moebius’ Werken p. IX, und bei Grassmann (Werke 1!, $ 116, 117), was er „barycentrisches Richtsystem von Moebius“ nennt.

25) J. f. Math. 5 (1830), p. 1 = Werke 1, p. 124. Vgl. auch Bellavitis, Metodo delle equipollenze (1835), Nr. 99 u. 100.

292 IVA. @. Jung. Geometrie der Massen,

eine im Schwerpunkte $ angreifende resultierende Strecke SR finden ®); da « willkürlich ist, so rotiert, wenn die Streeken A,B, um die Punkte A, durch einen Winkel % sich drehen, die resultierende Strecke um den Punkt S durch denselben Winkel.

Die Strecken A,B, lassen sich als Kräfte auffassen, die in den Punkten A, angreifen; $ ist das Zentrum dieser Kräfte?”).

Nimmt man alle Massen gleich 1, so lassen sich die Strecken SA, als Darstellung eines Systems von Kräften deuten, die am Punkte S angreifend sich das Gleichgewicht halten. Wären » am Punkte S angreifende Kräfte nicht im Gleichgewichte, so würde ihre Resultante gleich der Strecke n- SM sein, wenn M das Centrum der mittleren Entfernungen für die Endpunkte der die Kräfte darstellenden Strecken bedeutet.

Wird das magnetische Massensystem durch ein System paralleler Kräfte ersetzt, deren Angriffspunkte in die Massenpunkte fallen und deren Intensitäten den Massen proportional sind®), so sind die Kräfte im Gleichgewichte, wenn ihre Richtung « mit der Axenrichtung des magnetischen Systems zusammenfällt. Haben sie irgend eine andere Richtung, die mit der Axenrichtung den Winkel » bilde, so setzen sie sich zu einem Kräftepaare vom Momente g-sin® zu- sammen°®). Lässt man den Arm dieses Kräftepaares in die Axen- richtung des magnetischen Systems fallen, giebt ihm im übrigen eine

beliebige Länge a, so haben die Kräfte des Paares die Intensität n

und drehen sich mit den Kräften des Systems, das sie ersetzen, um ihre Angriffspunkte. n

Insbesondere kann man das System paralleler Kräfte so auf ein Kräftepaar reduzieren, dass man irgend eine Anzahl dieser Kräfte, die nur nicht selbst einem Kräftepaare äquivalent sein darf, zu einer Resultierenden vereinigt und ebenso die übrigbleibenden Kräfte des Systems. Diese beiden Resultanten bilden dann das Kräftepaar.

Ersetzt man die Massen in einem indifferenten Massensystem durch parallele Kräfte, so sind dieselben, wie man auch ihre gemein- same Richtung « annimmt, im Gleichgewichte®®).

26) Wegen dieser Eigenschaft des Schwerpunkts $ nennt ihn D. Chelini, Bol. Mem. (2) 10 (1870), p. 343, den „resultierenden Punkt“ der gegebenen Punkte «@;4,.

27) Vgl. Moebius, Statik = Werke 3, p. 151ff.

28) Moebius, Statik 1,8 107 = Werke 3, p. 151 ff.; sowie IV 2, 34 (Timerding).

29) Das Kräftepaar bedeutet eine unendlich ferne, unendlich kleine Kraft; vgl. IV 2, 6 (Timerding). Über die Zusammensetzung solcher Kräfte in der un- endlich fernen Ebene vgl. Culmann, Graphische Statik 1866, $$ 38—44.

8. Kongruente Systeme. 9. Die verschiedenen Arten quadrat. Momente. 293

8. Kongruente und ähnliche Systeme. Aus einem Massen- systeme geht ein kongruentes Massensystem durch eine blosse Ver- rückung im Raume hervor. Hierbei ändert sich die Lage des Schwer- punktes gegen das System nicht. Giebt man der Masse «, eines jeden Massenpunktes «,A, des neuen Massensystems das entgegengesetzte Vorzeichen, so bildet er mit dem entsprechenden Massenpunkte «@,A, des ursprünglichen Massensystems zusammen ein magnetisches Massen- system und alle diese magnetischen Systeme vereinigt geben ein magnetisches System, das die beiden kongruenten Massensysteme um- fasst. Hieraus folgt (vgl. Nr.4) die merkwürdige Gleichung

2,0,4;4; = u 887,°) indem $ und S’ die Schwerpunkte der kongruenten Massensysteme bedeuten und durch &, die geometrische Addition der Vektoren be- zeichnet wird.

Aus einem Massensysteme geht ein affines System durch affıne Transformation des Raumes hervor. Durch dieselbe Transformation geht dann auch der Schwerpunkt des alten Systems in den Schwer- punkt des neuen Systems über?!) (vgl. Nr. 24).

II. Quadratische Momente. Das Antipolarsystem.

9. Die verschiedenen Arten quadratischer Momente und ihre gegenseitigen Beziehungen. Die quadratischen Momente eines Massen- systems für ein Raumelement, nämlich einen Punkt, eine gerade Linie oder eine Ebene, werden definiert als die, skalaren Ausdrücke, die man erhält, indem man die Masse jedes Massenpunktes mit dem Quadrate seiner in bestimmter (gewöhnlich rechtwinkeliger) Richtung gemessenen Entfernung von dem betreffenden Raumelemente multi- pliziert und alle diese Produkte addiert. Die quadratischen Momente werden traditioneller Weise als Trägheitsmomente bezeichnet, und zwar als polare J,, axiale J, und planare Trägheitsmomente J,, je nachdem sie sich auf einen Punkt, eine gerade Linie oder eine Ebene beziehen. Eine Strecke, deren Quadrat dem durch die Gesamtmasse dividierten absoluten Werte des Trägheitsmomentes gleich ist, heisst Trägheits- radius des Systems in Bezug auf das betreffende Raumelement oder auch kurz Trägheitsradius des Raumelements selber, und man hat den

30) Moebius, Mechanik des Himmels (1843), $ 76 = Werke 4, p. 134. Er folgert aus ihr den Satz von der Erhaltung des Schwerpunkts. 31) Für ähnliche Figuren stammt das Theorem bereits von Archimedes.

294 -IV4. @. Jung. Geometrie der Massen.

verschiedenen Trägheitsmomenten entsprechend polare k,, axiale k, und planare Trägheitsradien k, zu unterscheiden °?).

Wählt man im Raume irgendwie drei zu einander normale Ebenen &, n, & und sieht sie als Grundebenen eines Cartesischen Koordinatensystems an, so werden die auf sie bezüglichen planaren Trägheitsmomente J;, J,, J; eines Massensystems («A) durch die Ausdrücke dargestellt:

(9) oo. San}, J, rs Sayp, J.= Seas}. Die Trägheitsmomente für die Axen x, y, 2 dieses Koordinatensystems werden dann °?):

J, = Say? + 2) Ren J;, (10) J, _ P77 2? +2?) = Jc+ J:,

J, = Deo, (a2 + y)= J:+ I, „Man findet hiernach allgemein das axiale Trägheitsmoment J, für irgend eine Axe g, indem man die planaren Trägheitsmomente für zwei durch

diese Axe gelegte, zu einander mormale Ebenen addiert.“ Umgekehrt wird:

A) AI, HI, I) = IH II) IHN)

Das polare Trägheitsmoment J, für den Ursprung O des Koordi- natensystems ist:

2) A- I, at +DdSAHL HRS IHNHN)

32) J. Somoff (Mechanik 2, 531) behält für das axiale Trägheitsmoment J, den von L. Euler gebrauchten Ausdruck „Trägheitsmoment“ bei, ersetzt aber im Gegensatz zu C. Culmann (Graphische Statik 1866), W. Schell (Theorie der Bewegung) und E. J. Routh (Dynamik 1) die von J. Binet (J. &c. polyt. 16 (1813)) auf die Ebenen erweiterte Bezeichnung („Trägheitsmoment in Bezug auf eine Ebene“) durch den Ausdruck „quadratisches Moment in Bezug auf eine Ebene“. Häton de la Goupilliere (J. &c. polyt. 37 (1857), p. 73—76) nennt das axiale Trägheitsmoment J, „moment d’inertie“, das planare J, „somme d’inertie“, das polare J, „moment central d’inertie‘, gebraucht aber später (Revue gen. des sciences 1893) die von uns verwendeten Bezeichnungen. Schon Euler (Theoria motus 1765, Nr. 424) hatte (für schwere Massen) J, in die Form ukz® gebracht. Poinsot (J. de math. 16 (1851), p. 73) führte, daran anknüpfend, zum ersten Male den Begriff des Trägheitsradius ein, indem er k, den „bras d’inertie autour de l’axe g“ nannte. Häton de la Goupilliere nennt den axialen Trägheitsradius k, „rayon de gyration“ (wie auch Mac Cullagh thut), den planaren ke „module de gyration“, den polaren „rayon central de gyration“. Schell (Theorie der Bewegung 1, p. 78, 100) sagt dagegen bezw. „Trägheitsradius“, „Träg- heitsarm“ und „Radius des polaren quadratischen Momentes“. Somoff (Me- chanik 2, p. 74) hat für k. keinen besonderen Namen.

33) Euler, Theoria motus 1765, Nr. 452,

TEE

9. Die verschiedenen Arten quadratischer Momente. 295

„Das Trägheitsmoment J, für irgend einen Punkt ist demnach gleich der Summe der Trägheitsmomente für drei durch diesen Punkt ge- legte normale Ebenen oder gleich der halben Summe der Trägheits- momente für drei durch ihn gehende normale Gerade“ Man kann auch schreiben:

(13) ehr, =I, tr, =ItI. oder: eh, eh, K=h—J,

„Man findet also das Trägheitsmoment J, für eine Ebene, indem man von dem Trägheitsmomente für irgend einen Punkt dieser Ebene das Trägheitsmoment für die in diesem Punkte auf der Ebene errichtete Normale abzieht.“

Die Trägheitsmomente sind, wenn die Massen «, beliebig positiv oder negativ sein können, nicht notwendigerweise immer positiv, sie sind es aber bei einem Schwersysteme (vgl. Nr. 2), wenn alle «, > 0 vorausgesetzt werden. Infolgedessen gelten für die Schwersysteme insbesondere die Sätze: Von den Trägheitsmomenten für drei durch denselben Punkt P gehende, zu einander normale Axen ist jedes kleiner als die Summe der beiden übrigen (wegen (11)) und sie sind alle kleiner als das polare Trägheitsmoment für den Punkt P (wegen (12)). Das Trägheitsmoment für eine Ebene ist kleiner wie das Trägheitsmoment für jede gerade Linie und jeden Punkt der Ebene (wegen (10) und (13)).

Zu den quadratischen Momenten gehören auch die sogenannten Deviations-*) oder Centrifugalmomente®’). Dieselben beziehen sich auf ein Ebenenpaar, dessen Ebenen gewöhnlich zu einander normal, hier aber im allgemeinen ganz beliebig angenommen werden; und zwar wird das Deviationsmoment für ein solches allgemeines Ebenenpaar gefunden, indem man die Masse jedes Massenpunktes des gegebenen Massensystems mit seinen Abständen von den Ebenen des Ebenen- paares multipliziert und alle diese Produkte addiert, indem man also, wenn &, und y; diese parallel zu 7 und & gemessenen Abstände sind, den skalaren Ausdruck bildet

(14) D,,= Zu, Y..

34) Wegen der Bezeichnung vgl. Routh, Dynamik 1, p. 2; Schell, "Theorie der Bewegung 1, p. 104. Beide stützen sich auf W. M. Rankine, A manual of applied mechanics, 2. ed., London 1861.

35) S. hauptsächlich Culmann, Graphische Statik, 2. Aufl. (1875), $ 106; in der französischen Ausgabe (Paris 1880, p. 392) ist übersetzt „moment centri- fuge“. Vgl auch F. Müller-Breslau, Graphische Statik der Baukonstruktionen, Leipzig 1887, p. 27; O. Mohr, Civiling. (2) 33 (1887), p. 43. D. Chelini (Bol. Mem. (2) 10 (1870), p. 207) nennt das Deviationsmoment „momento complesso“.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1. 20

296 IV A. @. Jung. Geometrie der Massen.

Einige Autoren nennen D;, auch das „Deviationsmoment in Bezug auf die Axen x, y“ (in denen die beiden Ebenen n, & von einer dritten geschnitten werden).

Fallen die beiden Ebenen zusammen, so geht offenbar das Devia- tionsmoment in das der Ebene zugehörige planare Trägheitsmoment J, über.

Verschwindet für zwei Ebenen das Deviationsmoment, so heissen sie nach ‚Binet ?°) konjugiert bezüglich des Massensystems. Danach heisst eine Ebene, für welche das planare Trägheitsmoment J, verschwindet, sich selbst konjugiert. Drei Ebenen, welche paarweise bezüglich eines Massensystems konjugiert sind, bilden ein .Binet’sches konjugiertes Tripel’®); sind sie paarweise rechtwinklig, so bestimmen sie für ihren gemeinsamen Punkt P die zugehörigen Hauptträgheitsebenen und Hauptträgheitsaxen®”), d. h. das zugehörige Hauptträgheitstripel. Im allgemeinen (vgl. Nr. 11, 2); 17 und 18) giebt es für jeden Punkt P nur ein solches Hauptträgheitstripel. Der Punkt P heisst für jede dieser drei Hauptebenen und Hauptaxen der Hauptpunkt.

Für das Hauptträgheitstripel des Schwerpunkts, das wir auch Schwerhauptträgheitstripel nennen, mögen im folgenden stets A, B, C die planaren, A’, B’, 0’ die axialen Trägheitsmomente bedeuten. Ähn- lich mögen die zugehörigen planaren Trägheitsradien mit a, b, c, die axialen mit a’, b, ce‘ bezeichnet werden und zwar gelte im Falle des Schwersystems stets die Beziehung a<b<.c, weshalb nach (13) a«>b>e.

10. Polare quadratische Momente. Das polare quadratische Mo- ment eines Massensystems für einen Punkt P mit den Koordinaten x, Y, 2%) wird durch folgenden Ausdruck dargestellt:

(16) = ( + y—-W+&—2)}- Führt man in diesen Ausdruck, unter Voraussetzung eines allge-

meinen Massensystems, die Koordinaten x,, y,, 2, des Schwerpunktes $ ein, so ergiebt sich nach Formel (3a):

36) Binet, J. &c. polyt. 16 (1813), für Schwersysteme.

37) Nach L. Euler, Theoria motus 1765, p. 175 „azwes prineipales cuiusque corporis sunt tres illi axes per eius centrum transeuntes, quorum respectu momenta inertiae sunt vel maxima vel minima“. Über die Definition nur einer Hauptträgheitsaxe siehe unten Nr.18. Eine solche gab W. Thomson, Cambr. and Dubl. Math. J. 1 (1846), p. 127, für ein Schwersystem, auf Grund dyna- mischer Betrachtungen.

38) Grassmann, Werke 1', p. 375, nennt das polare quadratische Moment eines Massenpunktes «A „die Abweichung des vielfachen Punktquadrates aA?“ von einem Punkte P (vgl. Fussn. 4).

10. Polare quadratische Momente. 297

J, Se, rt) 2a tyyta)tu® ty + 2?) oder, da für den Schwerpunkt $ selbst das Moment

ist Pu ty +) ua + +2) (17) J,= 0 + u- PS”. ®)

„Das polare Moment hat also seinen kleinsten oder grössten Wert, je nachdem die Gesamtmasse positiv oder negativ ist, für den Schwer- punkt und ist konstant für die Punkte einer jeden um diesen Schwer- punkt als Mittelpunkt beschriebenen Kugel.“

Bezeichnet A) den polaren Trägheitsradius des Punktes S, sodass

(#) i 2 ki) der absolute Wert von = ist, und beschreibt man mit diesem

Radius kP) um $ eine Kugel K,, von der MN irgend ein Durch- messer sei, so wird für einen beliebigen Punkt P:

as | sFH+PN, wenn u > 0,

J,=u:PM-PN.cos (MPN), wenn uJ® <O.

Diese Kugel K, kann nach Grassmann‘?) benutzt werden, um das Massensystem hinsichtlich seiner polaren quadratischen Momente zu repräsentieren. Stimmt « mit J,” im Vorzeichen überein, so kann man sich die Gesamtmasse u zu gleichen Teilen auf die Endpunkte M und N eines beliebigen Durchmessers verteilt oder auch gleichförmig über die Kugel ausgebreitet denken. Dieses reduzierte Massensystem stimmt dann mit dem vorgelegten auch in allen linearen Momenten überein. Ist # im Vorzeichen von J£) verschieden, so liefert die Kugel K, durch einen beliebigen Durchmesser MN das polare quadratische Moment für P, indem man das innere Produkt der Strecken PM und PN mit der Masse u multipliziert.

Bildet man das polare Moment für die Massenpunkte A, des Systems selbst, indem man es jedesmal mit der zugehörigen Masse «, multipliziert, und addiert alle so entstehenden Ausdrücke, so zeigt die vorhergehende Gleichung (17), dass die Hälfte dieser Summe (19) >} 0,0, 4,4, = u: 3a,84; ®)

29 i

39) Die beiden Formeln (17) und (19) verdankt man, sofern man sich auf Schwersysteme beschränkt, J. L. Lagrange (Berlin, Mem. de l’Acad. 1785 (Annde 1783), p. 290, 291). Von ihnen hat für ein System einfacher Punkte Carnot (Cor- relation des figures 1801, $ 213) verschiedene geometrische Anwendungen ge- geben. Für beliebige Massensysteme vgl. die entsprechenden Entwicklungen von ©. A. Laisant, G. Darboux, G. Jung im Bull. Soc. math. de France 6, 7

20*

298 IV 4. @. Jung. Geometrie der Massen.

wird, wobei in der Doppelsumme für die Indices i,j die $n(n—1) binären Kombinationen der Zahlen 1 bis » zu nehmen sind. Sind alle Massenpunkte des Massensystems einfache Punkte, so wird die vorige Gleichung: (20) 22344, =n 354

Liegt ein magnetisches Massensystem vor, und werden die Kompo- nenten seiner Axe qg mit A,, A,, A, bezeichnet, so dass

A, = 54%, 4, = Say A; = 302,

setzt man ferner A, = = >> (224 y? + 22), so wird das polare quadratische Moment für den Punkt P mit den Koordinaten x, y, 2 (21) I, = 24% + Ay+ Ar A}; das polare Moment verschwindet also für alle Punkte der Ebene &, ‚') deren Gleichung lautet:

Ar + 4 y+ Aa 4. Diese Ebene ist zu der Axenrichtung des magnetischen Systems nor- mal, und für die Punkte einer jeden zu $, parallelen Ebene erhält das polare Moment einen konstanten Wert. Derselbe bestimmt sich, indem man den nach der einen Seite positiv, nach der anderen Seite negativ genommenen Abstand dieser Ebene von der Ebene &, mit der Grösse

Gm 2yA,’ +4°’+ 4,

also der doppelten Länge des Vektors g multipliziert‘). Das magne- tische Massensystem lässt sich hinsichtlich seiner polaren quadratischen Momente nach Grassmann“?) durch die Ebene &, repräsentieren, wenn man dieser noch das „Gewicht“ @ beischreibt. Die Axe g des mag- netischen Systems findet man dann sofort, indem man auf einer Nor- malen der Ebene &, die Strecke 4 @ aufträgt. Endlich wird (22) ?=4’+4’+4°= 22% %; 4,4.)

el

(1878, 1879). Häton de la Goupilliere nannte das linke Glied von (19) das „ab- solute Moment“ des Systems (Revue gen. des sciences 1893, p. 329).

40) Bedeuten die Koeffizienten magnetische Massen, so fällt die Ebene &, mit der von E. Beltrami (Ann. di. mat. (2) 10 (1882), p. 252) Zentralebene genannten Ebene zusammen, während der skalare Wert von q dann das Hauptmoment des Systems angiebt; s. auch F. P. Ruffini, Bol. Rend. 3 (1898/99), p. 17 ff. In Grass- mann’scher Bezeichnung ist die Ebene £&, mit dem zu ihr normalen Vektor eine

innere Plangrösse. 41) Darboux, Jung (Bull. Soc. math. 6, 7 (1878, 1879)).

11. Planare quadrat. Momente und ihre Beziehung zum Antipolarsystem. 299

Für ein indifferentes System it g=0, d.h. 4, =0, 4 =0, A,=0, also das polare Moment (23) I, 24; dasselbe ist mithin konstant für alle Punkte des Raumes®?). Schliess- lich ist (24) 9 0,0, A: =0.%) 3

Ü

11. Planare quadratische Momente und Deviationsmomente und ihre Beziehung zu dem mit dem Massensystem verknüpften Anti- polarsystem. Die Darstellung der Theorie der planaren quadratischen Momente, welche in den folgenden Nummern gegeben werden soll, geht von einer einfachen geometrischen Konstruktion aus, welche jeder Ebene einen bestimmten Raumpunkt zuordnet. Man verändere das vorgelegte Massensystem A) in der Weise, dass man jedem Punkte A, eine neue Masse «, giebt, die dem statischen Momente des Massen- punktes «,A, für eine gegebene Ebene x gleich sei. Sucht man dann von dem so veränderten Massensystem (x, _A,) den Schwerpunkt, so heisst dieser nach Culmann das Zentrum zweiten Grades*')*) der vor-

42) Vgl. Moebius, Barycentrischer Calcul = Werke 1, $ 17,1. Von dieser Eigenschaft gab Moebius (J. f. Math. 26 (1843), p. 26 = Werke 1, p. 581) ver- schiedene geometrische Anwendungen.

43) Die polaren quadratischen Momente fallen mit den von Grassmann als „innere Grössen“ bezeichneten Ausdrücken zusammen. Das im Text Gesagte erklärt die Grassmann’sche Einteilung der ‚inneren Grössen“ in drei Arten (Geo- metrische Analyse 1847 = Werke 1!, 88 16—22, s. auch Moebius Anhang zu Grass- mann’s Geom. Anal. (1847) = Werke 1, p. 621—633) und macht die von ihm ge- wählten Benennungen „Kugelgrösse“, „innere Plangrösse‘“ und „Streckenprodukt‘ verständlich. Dem Wesen nach stimmt diese von den polaren quadratischen Momenten ausgehende Einteilung des Massensystems mit der in Nr. 2 gegebenen vollkommen überein (vgl. @. Jung, Ist. Lomb. Rend. (2) 16 (1883), p. 616).

44) Graphische Statik, 2. Aufl. (1875), $ 103.

45) Die Polarverwandtschaft zwischen einer Ebene = und ihrem Zentrum zweiten Grades leitete auf Grund statisch geometrischer Betrachtungen im Falle eines Schwersystems zuerst L. Oremona ab (Corso litogr. di statica grafica, Milano 1867/8, $ 12, Nr. 92ff.), später O. Mohr, Civiling. (2) 33 (1887), p. 60 und W. Ritter, Schweiz. Bauzeitung 11 (1888), p. 121; für ein beliebiges Massen- system gab den Beweis @. Jung, Ist. Lomb. Rend. (2) 8 (1875) u. (2) 12 (1879), 810, sowie auch Collectanea math. in Mem. D. Chelini, Milano 1881, $ 11. ©. Oulmanm leitete die Beziehung aus dem von ihm auf analytischem Wege ge- fundenen Zentralellipsoid ab (Graphische Statik, 1866). Gleichzeitig mit Oulmann studierte Bresse, Cours de m&canique appliquee 1, 2. &d. Paris 1866) diese Pola- rität in der Ebene und führte zum ersten Male die Benennungen „Antipol einer Geraden“, „antipolare Gerade“ u. s. w. ein, die dann später von Culmann in der zweiten Auflage (1875) seiner graphischen Statik angenommen und auf

300 IV4. @. Jung. Geometrie der Massen.

gelegten Ebene x bezüglich des gegebenen Massensystems. Dieser spielt für die quadratischen Momente eine ähnlich wichtige Rolle, wie der Schwerpunkt S für die linearen Momente und fällt mit ihm zusammen, sobald x ins Unendliche rückt.

Wir beginnen mit einigen analytischen Formeln.

Sind Ur +Yy+Wz— T=0 und UT’xs+Vy+We—T=0 die Gleichungen irgend zweier Ebenen x und =’, so wird das zuge- hörige Deviationsmoment des Massensystems durch den Ausdruck

De U; +Vy +W3— TU, +Vy+W',—T') (25) D,.x = U:1y?1W°

gegeben. Sind x und x zwei Binet’sche konjugierte Ebenen, so wird D,„ = (vgl. Nr. 9) oder (26) Sa, (U, +Yy,+W,— T)\ (Us +V'y+W'’,— T)=0. Fallen x und =’ in eine einzige Ebene zusammen, so erhält man aus (25) für deren planares Trägheitsmoment J, den Ausdruck:

De; (U, + Vy + Wa, T)

(27) J, Fe U? +V7:IW oder 2 (27) J,= wıp wo

wenn zur Abkürzung der Zähler in (27) gleich ® gesetzt wird. Ist x eine im Sinne Binet’s sich selbst konjugierte Ebene so er- giebt sich aus (26) die Gleichung

(28) o— Yu, (U, +Vy, + Wa, T% —0. Diese Gleichung lässt sich in der Form schreiben: D— 4A, U?+4,V?+45: W?+24, V/W+24,WU+24A,UV

28 So —2AUT-2AVT—24AWT+uP=0,

den Raum ausgedehnt wurden (diese Benennungen rechtfertigen sich aus Nr. 12). Bei Th. Reye, Zeitschr. f. Math. u. Phys. 10 (1865), finden sich bereits die Be- nennungen „Gegenpol‘“ und „gegenpolare Gerade“; er verführt unter Voraus- setzung eines Schwersystems analytisch, wie Culmann, beweist aber in $ 6 aus- drücklich, dass die Punkte und ihre gegenpolaren Ebenen ein Polarsystem be- züglich einer imaginären Ordnungsfläche bilden.

Das Theorem ist implieite für ein Schwersystem auch in den von Hesse, Vorlesungen über Geometrie des Raumes, 2. Aufl. 1869, 3. Aufl. 1876, 25. Vorl., gegebenen statisch- analytischen Betrachtungen und für ein beliebiges Massen- system in der Arbeit von Reye, J. f. Math. 72 (1870), enthalten, insofern das Antipolarsystem von dem zu dem „imaginären Bild von Hesse“ und der „zweiten Nullfläche von Reye“ gehörigen Polarsystem nicht verschieden ist [vgl. Nr. 11, 1)].

Re NT

11. Planare quadrat. Momente und ihre Beziehung zum Antipolarsystem. 301

wenn man

el; 119 >77 y— Ay, a

ZSuys—=4, —=A,, Zus, =A,=4,, IR = A, 4; und (30) 7 =A,, Say =4,, Daz, —=4;, > ur setzt.

Die Gleichungen (28) resp. (28°) und (26) sind nun verschiedener Interpretationen fähig. Zunächst ergiebt die Raumgeometrie die be- kannten Sätze:

1) Die Gleichung (28) stellt die Ordnungsflächke ® = 0 eines Polarsystems & dar (des sogenannten Antipolarsystems des Massen- systems), das stets reell ist, auch wenn die Fläche ®—=0 imaginär ist;

2) die Gleichung (26) giebt in laufenden Ebenenkoordinaten den Pol der Ebene x in Bezug auf ®=0 (oder den Antipol P von x in dem System &) und

3) x und = sind konjugierte Ebenen des Antipolarsystems (vgl. IV 2,29 (Timerding)) *).

Andererseits folgen aus dem Umstande, dass für die Ebene

= Ux+Vy+Wz— T= 0 gemäss unserer Grundidee gerade U, +V/y+Ws,—- N vo’ +V?+W° als neue Masse «; des Punktes A, in dem veränderten Massensysteme («,;A,) zu wählen ist, die Sätze:

1”) Dieselbe Be (26) stellt auch das Zentrum zweiten Grades (U’V’'W’T’) der Ebene x dar; und der Schwerpunkt des Massen- systems ist also auch Mittelpunkt des Antipolarsystems & (vgl. oben);

2") alle zu einer gegebenen Ebene x konjugierte Binet’sche Ebenen gehen durch ihr Zentrum zweiten Grades; sonach ist jedes Binet’sche konjugierte Tripel ein Poldreikant des Antipolarsystems & und um- gekehrt, und da es für jeden Punkt im allgemeinen nur ein solches rechtwinkeliges Poldreikant giebt, so giebt es im allgemeinen zu jedem Punkt auch nur ein Hauptträgheitstripel (vgl. Nr. 9, 17 u. 18);

3”) das Deviationsmoment .D,„ zweier Ebenen kann als statisches Moment eines durch eine der Ebenen veränderten Massensystems in Bezug auf die andere Ebene angesehen werden, und ebenso das planare Trägheitsmoment J, als statisches Moment eines durch die Ebene x veränderten Massensystems in Bezug auf dieselbe Ebene z.‘°)

Und deshalb folgt aus dem Vorigen schliesslich:

302 IV 4. @. Jung. Geometrie der Massen.

1”) Die Fläcke ®—= (0) wird umhüllt von den im Sinne Binet’s sich selbst konjugierten Ebenen,

2”) jede dieser Ebenen enthält das ihr zugehörige Zentrum zweiten Grades und

3”) für jede derselben wird das zugehörige Trägheitsmoment J, gleich Null‘). |

Die Art der Fläche ®—= 0 hängt von der Art des vorgelegten Massensystems ab. Jedenfalls fällt ihr eigentlicher oder uneigent- licher Mittelpunkt mit dem Schwerpunkt S oder $, des Massensystems zusammen. Für ein Schwersystem ist die Fläche ® = 0 imaginär. Hierüber vgl. unten Nr. 12 u. 13.

Bezeichnet man nun mit s, den Abstand des Schwerpunktes $, mit p,„ den Abstand des Antipols von der nicht durch S gehenden Ebene x (der Abstand gemessen in derselben an sich willkür- lichen Richtung «, in der die Abstände der Massenpunkte «,4A, von der Ebene x gemessen werden) und beachtet man (vgl. Nr. 3),

dass wenn u==0 für das veränderte Massensystem De; (U;+V/y+Ws,—T) vorm

die Gesamtmasse ist, so erhält man für ein allgemeines Massensystem (aus 3a und den vorigen Sätzen) die Beziehungen”): (31) J, = us,p, und D,r W5,Pr-

„Das planare Trägheitsmoment für eine beliebige, nicht durch den Schwerpunkt gehende Ebene wird also gefunden, indem man die Ge- samtmasse mit dem Abstande der Ebene von dem Schwerpunkte und von ihrem Antipol multipliziert“; und „das Deviationsmoment für irgend ein Ebenenpaar (von dessen Ebenen aber wenigstens eine keine Schwer- ebene ist) gewinnt man, indem man den Abstand des Schwerpunktes von der einen Ebene mit dem Abstande ihres Antipols von der anderen Ebene und der Gesamtmasse multipliziert“.

Für ein magnetisches System ergeben sich, wenn man « in der Richtung der Axe wählt, die Gleichungen

(31°) J.=qp, und D,„ = 1x;

wo p„ den Abstand des zu x gehörigen Antipols von der ganz be- liebigen Ebene =’ und g den skalaren Wert der magnetischen Axe bezeichnet.

46) O. Hesse, Vorlesungen über die Geometrie des Raumes, 25. Vorlesung (für Schwersysteme). 47) Vgl. Culmann, Graphische Statik, 2. Aufl. (1875), p. 409.

12. Die Zentralflächen für die planaren quadrat. Momente. 303

Sind ferner für ein allgemeines Massensystem J, und J, die planaren Trägheitsmomente zweier im Abstande p parallelen Ebenen z und 6, von denen die letzte durch den Schwerpunkt S geht, so findet man aus (9) und Nr. 3 die zu (17) ähnliche Relation:

(32) J„,=J,+ ur und aus (31) und (32), dp=s,,

(33) J,= US, (Pa 55) = US, ‘Po;

wo », der Abstand des zu x gehörigen Antipols P von der parallelen Schwerebene 6 ist. Berührt x die Fläche ®=(0, so wird J_=0 und dann (vgl. (38)):

(34) J, Fee uk?,

wo k den Abstand der Schwerebene o von der parallelen Tangential- ebene der Fläche ® —= 0 ist.

Sind x und =’ zwei beliebige Ebenen und z) und =’® die zu ihnen parallelen Schwerebenen, so ergiebt sich für die zugehörigen Deviationsmomente D,,„ und D,% „( die zu (32) analoge Relation:

(35) D,,. = D9 „0 + u5252 ,*)

wo s, und s, die Abstände des Schwerpunktes von x und = be- zeichnen.

Geht eine dieser Ebenen durch 8, ist z. B. =’ mit identisch, daher s, = 0, so wird

(35”) D,0 „9 = D,,„® ,**)

d. h. „das Deviationsmoment für zwei Schwerebenen x und ® ändert seinen Wert nicht, wenn eine derselben (x) eine parallele Translation (z®9 x) erhält“).

Wir unterlassen es, in ähnlicher Weise die in den Formeln (32) bis (35) enthaltenen Sätze in Worte zu fassen.

12. Die Zentralflächen für die planaren quadratischen Momente und die Devistionsmomente. Wir bezeichnen als Oulmann’sche Zentral- fläche eines Massensystems oder des zugehörigen Antipolarsystems die zu dessen Ordnungsfläicke ®—= 0 konjugierte Fläche ®° 0. *°)

48) Häton de Goupilliere, J. €c. polyt. 37 (1857), p. 44 (für rechtwinkelige Ebenen x und = und unter der Voraussetzung eines Schwersystems).

49) Bezieht man eine Fläche zweiten Grades (wenn sie eine Mittelpunkts- fläche ist) auf ihre Symmetrieebenen, auf die Symmetrieebenen und auf die zu diesen normale Berührungsebene der Fläche (wenn sie ein Paraboloid ist), so

304 IV 4. @. Jung. Geometrie der Massen.

Liegt ein allgemeines Massensystem vor und wählt man als neues Koordinatensystem sein Schwerhauptträgheitstripel (Nr. 9), so werden 4,=-4,=4=0, AA Ast,

Au=4A, As=B, Ay=6C, die Gleichung (28) für ® nimmt die einfachste (kanonische) Form an: ®O—= AU’+BV’+CW’+uT=0 (36) oder in Punktkoordinaten

BEE 7 17% a een Die Gleichung der Oulmann’schen Zentralfläche ist daher: | © —= AU’+ BV + CW—- ut —=0

(3%) oder x: 2 2 NL ARE wa. u A 2” B Bi; C u 0.

Es seien x und bezw. die Polarebenen eines Punktes P x, y, 2 in Bezug auf ® und ®°. Aus der Form ihrer Gleichungen ergiebt sich sofort, dass x und parallel sind und gleichen Abstand vom Schwerpunkte haben. Es gilt auch der umgekehrte Satz, dass die Pole einer beliebigen Ebene in Bezug auf ® und ®° zum Schwer- punkte symmetrisch liegen“). Ist insbesondere P ein Punkt der Oul- mann’schen Zentralfläche selbst, so ist er der Antipol der Ebene, die diese- Fläche in dem zu ihm symmetrischen Punkte berührt.

Die Culmann’sche Zentralfläche ® wird ein Hyperboloid oder ein reelles Ellipsoid, je nachdem ® ein Hyperboloid oder ein imagi- näres Ellipsoid ist. Ist ® ein reelles Ellipsoid, so ist ®° imaginär. Jedes Schwersystem hat sonach ein reelles Culmann’sches Zentral- ellipsoid ®), dessen Formel auf das Schwerhauptträgheitstripel bezogen

BT) . Er S BE a a ist, wo a, b, c die planaren Schwerhauptträgheitsradien (Nr. 9) be- deuten, sodass A=uad, B=ub, C=ud. Im magnetischen System dagegen ist ® ein Paraboloid°!) (vgl.

Nr. 13) und fällt daher nach unserer Definition mit der Oulmann- schen Zentralfläche zusammen.

erhält ihre Gleichung die kanonische Form. Zwei Flächen heissen dann kon- jugiert, wenn ihre kanonischen Gleichungen auf dieselben Koordinatenaxen be- zogen bis auf das Zeichen des konstanten Gliedes übereinstimmen.

50) Graphische Statik, 2. Aufl. (1875), $ 102. 8. auch F. P. Ruffini, Bol. Mem. (4) 3 (1881), p. 9 u. p. 283.

51) Th. Reye, J. f. Math. 72 (1870), p. 298.

12. Die Zentralflächen für die planaren quadrat. Momente. 305

Es handele sich nun wieder um ein allgemeines Massensystem.

Ist eine Tangentialebene der Oulmann’schen Zentralfläche ®°, so ist ihr Antipol der zum Berührungspunkte diametral gelegene Punkt P der Fläche. Bezeichnet k das Perpendikel von $ auf x°, so wird s=P,=+t%k, 22 =+2k und daher (vgl. die Formeln (33) u. (31))

(38) „=. K=2l,.

„Ist also eine Schwerebene 6 zu einer Tangentialebene x der Oul- mann'schen Zentralfläche parallel, so wird ihr Trägheitsradius %k, gleich dem Abstande der letzteren Ebene vom Schwerpunkte°?)“ und ferner „ist der Betrag des planaren Trägheitsmoments für die Tangentialebene an die Oulmann’sche Zentralfläche doppelt so gross, wie für die parallele Schwerebene“. Das Zeichen beider Trägheitsmomente stimmt mit dem Zeichen der Gesamtmasse u überein.

Ist ferner M ein Endpunkt des zu 6 konjugierten Halbmessers der Oulmann’schen Zentralfläche, so ist das Trägheitsmoment des Massensystems für die Schwerebene 6 gleich dem für dieselbe Schwer- ebene genommenen Trägheitsmoment der in M konzentrierten Ge- samtmasse. Nimmt man eine zweite Schwerebene 6’ hinzu, so wird das Deviationsmoment des Massensystems für 6 und 6’ ebenfalls gleich dem Deviationsmoment der in M konzentrierten Gesamtmasse u.°®) Dieser letzte Teil des Satzes folgt aus der Formel (31), wenn man zuerst (mit Hülfe von (35%)) die Schwerebene 6 durch die (parallele) Tangentialebene der Fläche ® im Punkte M ersetzt hat.

Die zur COulmann’schen Zentralfläche reziproke Fläche, deren Gleichung (39) Ar? + BP +02 —u=0 ist, bezeichnen wir nach W. Schell als die Binet’sche Zentralfläche des Massensystems. Legt man normal zu dem Durchmesser SM derselben

die Schwerebene o, so ist der reziproke Wert des zu 6 gehörigen Trägheitsradius k, gleich SM.

Ist das Massensystem ein Schwersystem, so wird diese Fläche stets ein reelles Ellipsoid

(39) ertr+er—1—0. In diesem Falle kann das Binet’sche Zentralellipsoid durch den eben

52) Culmann, Graphische Statik, 1. Aufl. (1866), in $ 61 für räumliche, in $ 66 für ebene Systeme. 53) Culmann, Graphische Statik, 2. Aufl. (1875), p. 401, 409.

306 IV 4. @. Jung. Geometrie der Massen.

ausgesprochenen Satz definiert und auch nach ihm in einfachster Weise konstruiert werden.

Abschliessend bemerken wir zu Nr. 11 und Nr. 12 noch folgendes:

Die Gesamtheit der Ebenen des Raumes und der zugehörigen Zentren zweiten Grades bezüglich eines Massensystems bildet, wie wir sahen, eine Polarverwandtschaft, die wir (auch im Falle eines allgemeinen und eines magnetischen Systems) wegen der im Anfange dieser Nummer bezeichneten Eigenschaften das Antipolarsystem & desselben genannt haben. Es sind danach Zentrum zweiten Grades und Antipol einer Ebene dasselbe. Die Polarität kann sowohl durch die Ördnungsfläche ® von &, als durch die Oulmann’sche Zentralfläche definiert und auch konstruiert werden; und zwar fällt das Zentrum zweiten Grades (Anti- pol) einer Ebene x mit deren Pole P in Bezug auf ® zusammen oder auch mit dem Punkte P, der zu dem zu der Ebene x in Bezug auf ®*° gehörigen Pole hinsichtlich des Schwerpunkts symmetrisch liegt. Die Verbindung von Ebene und zugehörigem Zentrum zweiten Grades scheint im allgemeinen durch die Betrachtung des (immer reellen) Antipolarsystems & einfacher und direkter vermittelt zu werden, als durch das Heranziehen der Oulmann’schen Zentralfläche. Trotzdem be- hält letztere, wie auch die ÖOrdnungsfläche ® selbst, ihre grosse Wichtigkeit insbesondere für die Darstellung der planaren Schwer- trägheitsradien.

13. Die konfokalen Flächen konstanten planaren Momentes. Aus (27), (27) ergiebt sich, dass alle Ebenen, für welche das Träg- heitsmoment J, denselben Wert K hat, der Gleichung

(27) o—=K(U?+V:+W?)

genügen. „Die Ebenen konstanten planaren Trägheitsmoments umhüllen sonach die einzelnen Flächen zweiten Grades einer konfokalen Flächen- schar’t)“ (IV 2, 30, Timerding), und zwar derselben Schar, die durch die Ordnungsfläcke ®— 0 des Antipolarsystems & bestimmt ist. Diese konfokalen Flächen heissen die Flächen konstanten Momentes des Massensystems (vgl. Nr. 19).

Ist nun u-+ 0, das Massensystem also ein allgemeines, so sind diese Flächen konzentrische und koaxiale Mittelpunktsflächen, deren gemeinsame Hauptaxen gerade die Schwerbauptträgheitsaxen sind. Legt man diese der neuen Koordinatenbestimmung zugrunde, so er- hält man für die Flächen die Gleichung:

54) Diesen Satz fand (1811) für Schwersysteme Binet, J. €c. polyt. 16 (1813).

13. Die konfokalen Flächen konstanten planaren Momentes. 307

AU? + BV”?+C0W’+uT?=K(U’+V7°?+W°) (40) Joder in Punktkoordinaten

rg y* En a a ee

wo die Bezeichnung die von Nr. 12 ist. Ist k, der zu J, gehörige Trägheitsradius, so lässt sich für ein Schwersystem die vorstehende Gleichung auch schreiben:

; PR y? 2? (407) ze

Wenn u=0 und g=+0, das System also ein magnetisches ist, so rückt der Schwerpunkt mit einer seiner Hauptebenen in das Un- endliche, die Ordnungsfläche ® hat nur zwei Symmetrieebenen und wird ein Paraboloid’°!), dessen Gleichung auf diese beiden Ebenen und die Zentralebene*®) als Koordinatenebenen°®) bezogen die Form erhält:

= AU?’+ BV?+CW°?—24WT=0 (41) oder in Punktkoordinaten

wo qg das lineare Hauptmoment des Systems, d. h. den skalaren Wert des Vektors g bezeichnet. Die Flächen konstanten Moments werden die zu ® konfokalen Paraboloide.

Für ein indifferentes Massensystem ist A, = A, = A; = 0; ® lässt sich dann auf die Form

(42) AU’ +BV’’+CW’=0 bringen, wo A, B, C die planaren Hauptträgheitsmomente des (be- liebigen) Koordinatenanfangspunktes sind. Die Ordnungsfläche redu- ziert sich sonach auf einen unendlich fernen Kegelschnitt, das Anti- polarsystem auf ein ebenes (unendlich fern gelegenes) Antipolarsystem und jede zu © konfokale Fläche ebenfalls auf einen unendlich fernen Kegelschnitt. Das planare Trägheitsmoment ist danach für parallele Ebenen dasselbe°*®).

Indem wir wegen aller dieser Angaben auf IV 2, 30 (Timerding) verweisen, betrachten wir im Anschluss an die dort gegebenen Er-

55) Diese drei Ebenen bilden das von Beltrami (vgl. Fussn. 40) so genannte Zentraltripel;, ihr Durchschnittspunkt ist das Beltrami’sche „magnetische Zentrum‘ des Systems. Mit Thomson und Beltrami wird anstatt des freien Vektors q (s. Fussn. 10) besser die Axe des Paraboloids ® als „magnetische Axe‘ bezeichnet.

56) Th. Reye, J. f. Math. 72 (1870), p. 302 und $ 5.

308 IV4. @. Jung. Geometrie der Massen.

örterungen die mechanische Bedeutung des konfokalen Flächensystems noch genauer, wobei wir uns indess auf allgemeine Massensysteme, speziell auf Schwersysteme, beschränken, also die Gleichung (40), bezw. (40°) zu Grunde legen.

Durch jeden Raumpunkt P gehen in diesem Falle drei reelle Flächen des Systems, ein Ellipsoid, ein einschaliges Hyperboloid und ein zweischaliges Hyperboloid, die sich im Punkte P rechtwinklig schneiden. Die Umhüllungskegel, welche man von P an die Flächen des konfokalen Systems legen kann, bilden selbst eine konfokale Schar; ihre gemeinsamen Fokallinien (sog. Fokalaxen) sind die beiden durch P gehenden Erzeugenden des genannten einschaligen Hyper- boloids; die gemeinsamen Symmetrieebenen der Kegel fallen in die drei in P berührenden Tangentialebenen der drei durch P hindurch- gehenden Flächen des konfokalen Systems und bilden dort das zu P gehörige rechtwinklige Poldreikant des Antipolarsystems. Umgekehrt ist jede Ebene im allgemeinen Tangentialebene einer und nur einer der Flächen des Systems und gehört also einem und nur einem solchen Poldreikant an.

Die mechanische Bedeutung dieser Beziehungen ist zunächst die, dass die genannten konfokalen Kegel umhüllt werden von den durch P gehenden Ebenen konstanten quadratischen Momentes (vgl. Ende Nr. 16) und dass daraufhin die drei im Punkte konstruierten Tan- gentialebenen das Hauptträgheitstripel dieses Punktes bilden (vgl. Nr.9). (Von der mechanischen Bedeutung der Fokalaxen werden wir erst in Nr. 15 handeln.) Ist umgekehrt eine Ebene x gegeben und man kon- struiert den Punkt P, in welchem sie die ihr zugehörige Fläche des konfokalen Systems berührt, so ist dieser der zur Ebene gehörige Hauptpunkt (vgl. Nr. 9). Man findet denselben als Fusspunkt des Perpendikels, welches man vom Antipol der Ebene auf dieselbe fällen kann. In der That sind die Koordinaten des Antipols der Ebene U, V, W, T nach (36) die folgenden:

AU BV cW BET MIT HI dagegen die Koordinaten des Berührungspunktes mit der Fläche (40), sofern man noch, für K, J, schreibt: ea PEN re DE ARR PLE BI [2 wT

14. Axiale quadratische Momente und zugehörige Zentral- flächen für allgemeine Systeme. Um das Trägheitsmoment für irgend eine Axe g zu finden, kann man den Satz benutzen, dass dieses axiale

14. Axiale quadratische Momente und zugehörige Zentralflächen. 309

Trägheitsmoment gleich der Summe der planaren Trägheitsmomente für irgend zwei durch g gelegte normale Ebenen wird. Legt man insbesondere die eine Ebene auch durch den Schwerpunkt S, so erhält man leicht aus vorstehender Regel und den Gleichungen (10) und (32) die zu (17) und (32) ähnliche Relation”):

(43) J,=Jo + up,

wo p der Abstand des Schwerpunktes von g ist und J,, J,@ die axialen Trägheitsmomente für g und die parallel zu ihr gezogene Schwerlinie bedeuten.

Für die Darstellung der axialen Schwerhauptträgheitsradien hat diejenige Fläche der konfokalen Flächenschar (40) eine besondere

Wichtigkeit, für welche der Parameter K (d.h. J,) gleich A+B+C, oder K= Jo

ist. Die Gleichung (40) wird dann

x 2? es Bere oalere,e

d. h. wegen Nr. 9 und Formel (10)

x y? 2? 0 ara or a

(44) oder in Ebenenkoordinaten: v—- AU +BV’+0W—ıuT=0.

Sie stellt sonach eine zum Antipolarsystem konfokale Fläche % vor, für deren Tangentialebenen jedesmal die zugehörigen planaren Träg- heitsmomente J, den Wert A-+ B-+C erhalten, d. h. gleich werden dem polaren quadratischen Moment für den Schwerpunkt (J,@). Diese Fläche % bezeichnen wir als die Mac Oullagh’sche Zentralfläche des Massensystems. Sie ist mit der Oulmann’schen Zentralfläche koaxial, aber die Hauptaxen der letzteren sind den planaren, die der Mac Qullagh’schen Zentralfläche dagegen den axialen Schwerhauptträgheits- radıen gleich.

Für ein Schwersystem wird natürlich auch die Mac Oullagh’sche Zentralfläche ein zu dem Culmann’schen koaxiales Ellipsoid #:

(44) ntpytaml

die Hauptaxen beider Ellipsoide sind sonach (Nr. 9) durch die Rela- tionen verknüpft:

57) L. Euler, Theoria motus (1765), $ 430, Cor. 2.

310 IVA. @. Jung. Geometrie der Massen.

dr di +, "W=d+d, "=a+bR, woraus umgekehrt folgt: | torte, Bollttar—nN,

e=5(a°+ b?—.C'?).

\ In den Formeln (43) und (44) ist ausgesprochen, dass ganz allgemein der Schwerpunktsabstand von einer Tangentialebene der Fläche # gleich dem Trägheitsradius für die zu ihr orthogonale Sehwerlinie ist; und andererseits die Entfernung des Schwerpunkts von einem Punkte M der Fläche # gleich ist einem der Haupt- trägheitsradien für diesen Punkt: die Normale in M an die Mac Oullagh’sche Fläche ist die zugehörige Hauptträgheitsaxe.

Für ein Schwersystem verallgemeinern sich diese Sätze dahin, dass der zu irgend einer Axe g des Raumes gehörige Trägheits- radius k, gleich dem Schwerpunktsabstande des Schnittpunktes dieser Axe mit einer zu ihr normalen Tangentialebene des Mac Oullagh’schen Ellipsoids ist; in diesem Falle kann man die vorigen Sätze umkehren und sonach zur Definition und Konstruktion des Mac Oullagh’schen Zentralellipsoids benutzen.

Auf die Fläche % bezogen, wird für ein allgemeines Massen- system die konfokale Flächenschar (40) durch die Gleichung

1

a? g? Re Zul kom

gegeben, wo zwischen dem zu einer bestimmten Fläche gehörigen, früher benutzten Parameter K (= J,) und A die Relation besteht:

Bde

oder = nn n: u u Die zur Mac Oullagh’schen Fläche reziproke Fläche: (47) Aa+By+lP—u

bezeichnen wir als die Poinsot’sche Zentralfläche. Für ein Schwer- system, wo sie stets ein reelles Ellipsoid (47°) Attest ist, wurde sie von Cauchy und Poinsot eingeführt. Jeder Halbmesser der Poinsot’schen Zentralfläche ist gleich dem

58) Vgl. Somof, Mechanik 2, p. 85.

15. Deviationsmomente bei Schwersystemen. 311

reziproken Werte des zu ihm, als Schweraxe 9"), gehörigen Trägheits- radius ko. Für ein Schwersystem gilt auch der umgekehrte Satz, der dann auch zur Definition wie Konstruktion des Poinsot’schen Zentralellipsoids benutzt werden kann.

15. Deviationsmomente, insbesondere für rechtwinkelige Ebenen- paare, bei Schwersystemen. Wird in (14) Nr. 9

ed=—+D

gesetzt, so bezeichnet man d als den Deviationsradius für das be- treffende Ebenenpaar oder Diöder. In vorliegender Nummer werden aber nur rechtwinkelige Dieder und die absoluten Werte der zu- gehörigen Deviationsmomente betrachtet, sowie vorausgesetzt, dass es sich um Schwersysteme handele und ausserdem u positiv sei.

Legt man durch eine gegebene Axe y einerseits alle möglichen rechtwinkeligen Ebenenpaare, andererseits alle Ebenenpaare, deren Ebenen bezüglich des Massensystems (nach Binet) konjugiert sind, so erhält man zwei Involutionen, die im allgemeinen nur ein konjugiertes Elementenpaar gemein haben. Für dieses rechtwinkelige Ebenenpaar verschwindet das Deviationsmoment D,; seine Ebenen e und bilden das sogenannte Nulldiöder der Axe°”). Sind x und =’ ein anderes der durch g gehenden Ebenenpaare und ist der Winkel ze 0, so wird, wenn man ukı,” = Da, setzt:

(48) kan =%.sin20, wo (49) P=; (M—M})

ist. Hieraus folgt, dass für das Diöder, dessen Ebenen die Winkel des Nulldiöders halbieren, das Deviationsmoment ein Maximum —=4(J,— J,) wird; der zugehörige Deviationsradius / wird nach Häton de la Goupilliere der Parameter der Axe g genannt.

Jede Gerade g ist sonach als „Deviationsaxe g“ durch die Lage ihres Nulldiöders (e,e’) und den Wert ihres Parameters / charak- terisiert°®). Kennt man nämlich diese Elemente, so lässt sich direkt aus (48), unabhängig von den allgemeinen Formeln (31), (35), (35), das Deviationsmoment für jedes durch sie gehende rechtwinkelige Ebenenpaar finden. Das Nulldiöder bestimmt sich im konfokalen Flächensysteme (Nr. 13) so, dass man zunächst die beiden Flächen

59) Häton de la Goupilliere (J. &c. polyt. 37 (1857), p. 3), dem man die nähere Untersuchung der Deviationsmomente verdankt, nennt die beiden Ebenen e,e‘ die Nullebenen von g. Vgl. auch F. Moigno, Statique, Nr. 201—207.

Eneyklop. d. math. Wissensch. IV 1. 21

312 IV 4. @. Jung. Geometrie der Massen.

des Systems aufsucht, welche von der Axe 9 berührt werden, und

dann in den Berührungspunkten die Tangentialebenen konstruiert.

Sind K und K’ die Parameter der beiden Berührungsflächen, so wird 2u

Ist der Parameter ! = 0, so verschwindet das Deviationsmoment für jedes durch g gehende rechtwinkelige Ebenenpaar; die Ebenen sind daher alle konjugiert hinsichtlich des Massensystems. Die Axe g ist dann Erzeugende eines der konfokalen Schar angehörigen ein- schaligen Hyperboloids, d. h. eine Fokalaxe des Flächensystems (oder des Antipolarsystems); vgl. Nr. 13 °°®). Umgekehrt ist auch jede Fokal- axe Deviationsaxe vom Parameter Null, d. h. eine Nullaxe®). Ist P ein Punkt von g und r der Winkel, den die eine Nullebene von g mit den Ebenen gf, gf bildet, die g mit den von P auslaufenden Fokalaxen f, f’ verbinden, so ist der Parameter / für alle von P aus- laufenden Geraden®), welche dieselbe Fläche der konfokalen Schar berühren, wie die ausgewählte Nullebene, zu sin proportional.

Ist insbesondere der Punkt P ein eigentlicher, und nimmt man auf einer beliebigen durch ihn gehenden Linie g den Punkt @ so, dass PG@ gleich dem Werte L des „Parameters“ für die mittlere, zu P gehörige Hauptträgheitsaxe ist, so bilden die Halbierungsebenen des Ebenenpaares gf, gf’ das Nulldiöder der Axe g; der zugehörige

der zur Deviationsaxe y gehörige Parameter / gleich V

Parameter wird = Yp - p', wenn p und »’ die Abstände des Punktes G von den Fokalaxen f und f’ bedeuten. Der Satz gilt auch für den uneigentlichen Punkt P,, sofern G ein ganz beliebiger Punkt der Deviationsaxe g ist?”).

16. Die Trägheitsflächen eines beliebigen Punktes. Ist O der willkürlich gegebene Punkt, so wähle man O als Anfangspunkt eines beliebigen rechtwinkeligen Koordinatensystems und bestimme die zu- gehörigen planaren Trägheitsmomente & e®, © und die entsprechen- den Deviationsmomente ©, &, $. Durch diese sechs Konstanten lassen sich dann für alle Ebenen und Strahlen des Bündels O die zugehörigen Trägheitsmomente ausdrücken. Ist nämlich in Bezug auf das gewählte

59%) Für das Studium der Deviationsaxen und zugehörigen normalen Devia- tionsmomente spielt die Nullaxenkongruenz eine analoge Rolle, wie der Träg- heitskomplex (vgl. Nr. 18) des Massensystems für das Studium der Hauptträg- heitsaxen und zugehörigen Trägheitsmomente.

60) Häton de la Goupilliere (J. &e. polyt. 37 (1857)) scheidet die durch einen Punkt gehenden Nullaxen in Fokalaxen und singuläre Axen, je nach- dem der Punkt P im Endlichen oder Unendlichen liegt.

16. Die Trägheitsflächen eines beliebigen Punktes. 313

Koordinatensystem Ux + Vy+Wz=0 die Gleichung einer Ebene durch O und J, deren Trägheitsmoment, so wird

50) Iu(U, +Yy + Wa) J,(U?+V?+ W*)

oder in anderer Form geschrieben:

(51) @U?+e9V?+ECW?+H2 DV W+25WU+H2FUV=uT", wo 7 aus der Gleichung

(52) A en de ee)

zu bestimmen ist‘!),

Bedeutet ferner g den zu x normalen Strahl des Bündels O, so erhält man aus J,=J,— J, und weil J, = Io, (0? + y?+ 2), die Relation:

m | Bar eHar Her aw —29/W —26WVU—-2FUV=J(U”+V?+W)

oder wegen (10) auch in der Form:

(51) @ U?+e9 V?+&W?-29/ W-265WU-2FUV=uT’,

wo @, e/9, ©’ die den Koordinatenaxen zugehörigen axialen Träg- heitsmomente sind und 7 aus der Gleichung

(62) «7° = J,(U: 47° +3)

folgt ®').

In Ebenenkoordinaten stellen die Gleichungen (51), (51) zwei bestimmte Flächen zweiter Klasse dar, deren erste wir als die Oul- mann’sche Trägheitsfläche, deren zweite wir als die Mac Cullagh’sche Trägheitsfläche des Punktes O bezeichnen. Die zu diesen Flächen reziproken Flächen nennen wir die Binet’sche Trägheitsfläche (nach Schell) resp. die Poinsot’sche Trägheitsfläche des genannten Punktes. Jedem Raumpunkte gehören also vier Trägheitsflächen an, deren gemeinsame Hauptaxen die Hauptträgheitsaxen des Punkts (= 6 = = 0) sind, und die mit den gleichnamigen „Zentralflächen“ zusammenfallen, wenn der Punkt O der Schwerpunkt 5 des Massensystems ist. Sie besitzen für die quadratischen Momente in Bezug auf die Ebenen und Strahlen des Bündels O ‚dieselben Eigenschaften, wie die Zentral- flächen für die quadratischen Momente in Bezug auf die Schwer- ebenen und Schwerlinien (vgl. Nr. 12 und 14). Wählt man die

61) Substitutiert man in (51”) den Wert (52°) von uT* und dividiert dann durch (U?-+V?-+W°?), so erhält man die klassische Lagrange’sche Formel, die den Wert von J, durch die obigen sechs Konstanten (@’, &9’, €’, 9, &, 7) und die Richtungscosinus der Axe g ausgedrückt ergiebt. Analog erhält man aus (51) und (52) die entsprechende Binet’sche Formel für J,.

21°

314 IV4. @. Jung. Geometrie der Massen.

Hauptträgheitsaxen als Koordinatenaxen (Q=6—=F—=0), so mögen @, &9, EC resp. @, e&9', © in X, B, E resp. in W, ®’, © über- gehen, sodass 4, ®, E& die planaren, W, ®, ©’ die axialen Haupt- trägheitsmomente des Punktes sind.

Besonders wichtig wird die Darstellung durch die genannten Flächen, wenn das vorgelegte Massensystem ein Schwersystem ist, was wir für das Folgende annehmen. In diesem Falle sind alle Trägheits- flächen reelle Ellipsoide, sodass jedem Punkte O vier koaxiale Träg- heitsellipsoide zugeordnet sind; und zwar erstlich ein Oulmann’sches und ein Mac Cullagh’sches Trägheitsellipsoid, deren Gleichungen in Punkt- koordinaten, auf die Hauptträgheitsaxen von O0 bezogen,

(63) een

a? 2 2? (54) a’? r ze Zr er 1, sind (wo a, b, c die planaren, a, b', d' die axialen Hauptträgheitsradien des Punktes O bedeuten), und zweitens ein Binet’sches und ein Poinsot- sches Trägheitsellipsoid, die zu den vorigen reziprok sind und durch

die Gleichungen

(55) + +l’=l,

(56) Pitt i—l

gegeben sind. Im übrigen gelten für die Definition und Konstruktion der Trägheitsellipsoide für die Ebenen und Geraden des Bündels O dieselben Sätze, wie sie oben (Nr. 12 u. 14) für die Definition und Konstruktion der Zentralflächen für Schwerebenen und ‚Schwergeraden gegeben wurden.

Man kann noch auf einem anderen Wege zu dem Oulmann’schen Trägheitsellipsoid ©, eines Punktes O gelangen. Diese Fläche lässt sich nämlich geometrisch auch dadurch definieren, dass erstlich ihre Hauptaxen in die Hauptträgheitsaxen des Punktes O fallen und dass zweitens für sie der Schwerpunkt $ des Systems der Pol der Anti- polarebene ® von O ist). Diese Definition versagt nur dann, wenn O in den Schwerpunkt S rückt (d. h. für ®;); in diesem Falle definiert man, ®s als das Culmann’sche Zentralellipsoid ®°. In der That ist = irgend eine Ebene des Bündels Ound OM der zu ihr konjugierte Halb-

62) Diese geometrische Definition findet sich bei Cremona (Corso litogr. di statica grafica, Milano 1867, 68, Nr. 102). Oulmann bestimmt in seiner Graphi- schen Statik die Trägheitsfläche analytisch 45). Für a—=1 wird im Falle eines Schwersystems die Trägheitsfläche identisch mit dem zum ersten Male von Binet gegebenen Ellipsoid.

16. Die Trägheitsflächen eines beliebigen Punktes. 315

messer der Fläche ®,, so liegt ihr Antipol P auf dieser Geraden OM; ist weiter P’ ihr Schnittpunkt mit der parallel zu x gelegten Schwerebene o, so wird

OM=OP2OR,

Mit Hülfe dieser Relation (wo OM, OP und OP’ mit k,, p, und s, proportional sind) und den allgemeinen Formeln in Nr. 11 beweist man leicht, dass die für das Oulmann’sche Zentralellipsoid geltenden Sätze in Nr. 12 ebenfalls für das Trägheitsellipsoid ®, des Punktes O gelten.

Bisher galt der Punkt O als ganz beliebig. Betrachten wir nun insbesondere die Punkte auf den Fokalkurven des Antipolarsystems. Inden wir annehmen, dass ein Schwersystem vorgelegt sei, bezeichnen wir die Symmetrieebene desselben mit «, ß, y; die zugehörigen pla- naren Trägheitsmomente sind A, B, C, wobei wir A< B< (C annehmen (vgl. Nr. 9); die Fokalellipse liegt dann in y, die Fokalhyperbel in 8. Da nun für jede Tangentialebene der einen oder anderen dieser ausgearteten konfokalen Flächen das Trägheitsmoment denselben konstanten Wert hat, und da die Ebene der Kurve als deren Tangentialebene in jedem ihrer Punkte zu betrachten ist, so sieht man sogleich, dass für jede Tan- gentialebene der Fokalellipse (7) das Trägheitsmoment O und für jede Tangentialebene der Fokalhyperbel (8) das Trägheitsmoment = B wird. Die vier Trägheitsellipsoide für einen Punkt O einer Fokal- kurve werden also Rotationsflächen, deren gemeinsame Rotationsaxe die Fokalkurve in dem Punkte O berührt‘®).

Ist das Oulmann’sche Zentralellipsoid ®; eine Rotationsfläche und seine kleinste Axe 2a die Rotationsaxe, so existieren auf dieser im Abstande —= Ye? a? vom Schwerpunkte zwei Brennpunkte®*), für welche die drei Hauptträgheitsmomente gleich und die Trägheits- ellipsoide Kugeln werden (Binet, Poisson)®?).

In dem Bündel O giebt es im allgemeinen oo! Ebenen x und 00! Geraden 9 konstanten gegebenen Trägheitsmomentes; jene um- hüllen je eine der konfokalen Flächen der Schar (40), diese erfüllen

63) Demnach wird für die Punkte der Fokalellipse das kleinste planare Hauptträgheitsmoment veränderlich und gleich A’— A-+ur?, für die Punkte der Fokalhyperbel das grösste planare Trägheitsmoment veränderlich und gleich B’— B+ ur?, wenn r den Schwerpunktsabstand bedeutet (Binet, J. 6c. polyt. 16 (1813), p. 61, 62, und Poisson, Me&canique 2, p. 496). Häton de la Gou- piliere (J. €c. polyt. 37 (185%), $ 28) nennt die Fokalkurven „lignes de syme- trie“ und die Punkte auf ihnen „points de symetrie“.

64) Nach Häton de la Goupilliere heissen diese Punkte „points de com- plete syme6trie“,

316 IVA. @. Jung. Geometrie der Massen.

den zu dem vorigen Kegel supplementären Kegel zweiten Grades, in- dem die Strahlen des einen Kegels auf den Tangentialebenen des anderen Kegels senkrecht stehen. Ist nämlich g normal zu x, so folgt aus I, J,— J,, dass J, = const., wenn J, = const. ist®®).

17. Das Hauptträgheitstripel eines beliebigen Punktes. Was das Hauptträgheitstripel eines beliebigen Punktes O angeht, so wurde dessen Lage im konfokalen System der Flächen konstanten planaren Momentes bereits in Nr. 13 angegeben. Seine Bestimmung sowie die der zugehörigen Hauptträgheitsmomente fällt danach mit der Aufgabe zusammen, für eine Fläche zweiten Grades (vgl. Nr. 16) die Haupt- axen der Grösse und Lage nach zu bestimmen. Wir geben hier die vollständigen Formeln für ein Schwersystem, indem wir an die vorige Nummer anknüpfen.

Die planaren Hauptträgheitsmomente A, ®, & von O werden die Wurzeln K,, K,, K, der kubischen Gleichung

(87) K’—q4,K’+9K—, =),

wo 4=@+eB+L, 68) |9—@eB+ BC+ CE D-8—- 7, 1 EBCH2DEF-AD BE: CF"; die Richtungskosinus «,, ß,, y; der zugehörigen Hauptträgheitsebenen folgen aus den linearen Gleichungen:

aa, r FB, a 57; = K;e,

(59) Fat SB +Dy—Kh, " (= & «+ DB, u Ey, = K,y..

Analog erhält man die axialen Hauptträgheitsmomente W, 9, von O als Wurzeln H,, H,, H, der kubischen Gleichung‘)

65) Besonders bemerkenswert sind die „Fokalkegel“ O(ß) und O(y), welche die Fokalkurven (ß) und (y) aus dem Punkte O projizieren, ‚und die an diese anknüpfende Konstruktion von Mac Cullagh, die Townsend (Cambr. and Dubl. Math. J. 2 (1847), p. 41) folgendermassen wiedergiebt: Die gemeinsamen Er- zeugenden der beiden Fokalkegel bilden das Vierkant der durch O gehenden „bifokalen Sehnen‘ und dessen diagonales Dreikant liefert die Hauptträgheitsaxen und -Ebenen von O0. Vgl. auch E. J. Routh, Dynamik 1, p. 46.

66) Cauchy (Exereices de math. 1827 = Oeuvres (2) 7, p. 130) bemerkt, dass die kubische Gleichung (57) in der Form

(H-@)(H—- eA)(H—- ©) 9:(H—-@)— 6°(H— ec‘) FH -©)+298EF =, w@=h+G, I —-0418 © =-@+eB, von Lagrange bei seinen Untersuchungen über die Rotation eines starren Kör- pers gefunden wurde. Lagrange hatte auch gezeigt, dass die drei Wurzeln

17. Das Hauptträgheitstripel eines beliebigen Punktes. 317

(57) PB +yH—g 0, wo =@+c9+ (Cab 5) IE + OHIO M_&—-F% = ER @—-2DEF—-E D— RM ®— CF?

die Richtungskosinus «,, ß,, 9, der zugehörigen Hauptträgheitsaxen

ı

folgen aus den linearen Gleichungen @,—- FA —$6y—Ha, (59) _ Fu + Bi Yy—Hh (6-12 3) arg Sa, Eu DB, - Ey, = H;y;. Man hat übrigens zwischen den Wurzeln H und K die Relationen

HA=KB+&K, B=R+&ı, H=KR,+&, sodass

(60) HB, +K=J),=@+RA+C=-UA+B+rE ((—=1,2,3) ist. Mit Hülfe dieser Relationen findet man nicht nur aus einer der

Gleichungen (57), (57°) die andere, sondern man hat auch wegen (46) die Beziehung ®”)

(61) HD ur? A,), i=1,2,3 wo r— SO und A, Ay, A, die zu dem Punkte O gehörigen, auf das

Mac Cullagh’sche Zentralellipsoid # bezogenen Parameterwerte sind (vgl. Nr. 14).

immer reell sind, „mais M. Binet a prouv@ le premier que ces racines &taient pr6cis6ment les moments d’inertie prineipaux“. Binet (1811) (J. €c. polyt. 16 (1813), p. 51) fand mit Hülfe der Gleichung (57) zuerst die Hauptträgheitsaxen und die planaren Hauptträgheitsmomente. Indem er dann die Gleichung bildete, deren Wurzeln die Summen von je zwei Wurzeln der Gleichung (57) sind, bestimmte er die axialen Hauptträgheitsmomente und bewies endlich, wie man der Glei- chung die obige Form geben kann, ın der sie Lagrange (M&c. an. 1788, p. 397) mitgeteilt hatte. Sir W. Thomson (Lord Kelvin) gab den Gleichungen (57’) und EFF FD DE

(57) eine andere Gestalt, indem er die Grössen war, (Cambr. and Dubl. Math. J. 1 (1846), p. 199— 200).

Sind «, ß, y die Richtungskosinus einer Axe y oder der Normalen einer Ebene x durch O gegen die Hauptträgheitsaxen dieses Punktes, so werden die Trägheitsmomente für dieselben

I, = U +VR+EY, I, = Ua? + BP’+ Cry.

Die erste dieser Formeln stammt von Euler (Theoria motus 1765, Nr. 452), die zweite von Binet (1811); man erhält sie sogleich (vgl. Fussn. 61) aus (51°) und (51), in denen jetzt O- 6 = = 0 ist.

67) Vgl. Routh, Dynamik 1, p. 43; Schell, Theorie der Bewegung 1,2.322.

einführte

318 IV 4. @. Jung. Geometrie der Massen.

Man bemerke noch, dass die Koeffizienten q,, 9, 45 4, % > % (die Invarianten des Punktes O) durch folgende Beziehungen mit ein- ander verknüpft sind:

(62) 1=29, Bet m %-hh—%:

Sind nicht die sechs Konstanten ©, &, Fund @ e&, © (oder @',e%, ©") gegeben, sondern das Schwerhauptträgheitstripel und die diesem zugehörigen Trägheitsmomente, so findet man das Hauptträgheits- tripel und die zugehörigen Hauptträgheitsmomente eines Punktes O folgenderweise:

Sind 2, 9, z die auf die Schwerhauptträgheitsaxen bezogenen Koordinaten von O0, so sind die planaren Hauptträgheitsmomente A— ua’, B— ub, C— uc? des Punktes O in Übereinstimmung mit der in Nr. 13 gemachten Angabe die Wurzeln XK,, K,, K, der kubischen Gleichung:

ur? uy? wz’ (63) BAG ng! (vgl. (40)), sodass (64) KR, B=R,c-RK,

ist#®). Die Richtungskosinus a,, b,, c, der zugehörigen Hauptträgheits- ebenen, welche mit den zu O gehörigen Berührungsebenen der drei durch diesen Punkt gehenden konfokalen Flächen (40) übereinstimmen, ergeben sich aus der Proportion

(65) EL ILS ey ER u EB (=1, 2, 3). Das polare Trägheitsmoment Jo des Punktes O ist gleich dem Koeffhi- zienten von K? in Gleichung (63); durch Anwendung von (10) findet man dann sofort die axialen Hauptträgheitsmomente W— ua”, B—= ub”?, O’=uc”? von 0.)

68) Man findet hiernach die Koordinaten x, y,z eines Punktes, dessen planare Hauptträgheitsmomente gegebene Werte X, ®, haben, wenn man die Formeln berücksichtigt, welche die Cartesischen Koordinaten eines Punktes in Funktion seiner elliptischen Koordinaten geben. Man erhält 8 Punkte, die symmetrisch gegen die Koordinatenaxen liegen und deren Koordinaten den Gleichungen genügen:

(U— A) B N(E— A) YA B)® B)(C B) : Van 2, (C-BidA—Bun ' _ vV%- OKB—-C)E— CO),

(A—C)(B— C)u

2

Vgl. Somoff, Mechanik 2, p. 89. 69) Die Betrachtungen dieser und der vorigen Nummer gelten auch dann,

1

18. Der Trägheitskomplex eines Massensystems. 319

Man bemerke noch, dass A< B< C vorausgesetzt wurde und daher 4’>B’>(’ ist (Nr. 9). Daher liegen für einen beliebigen Punkt die zugehörigen planaren Hauptträgheitsmomente 4, B, zwischen den Grenzen A, B, CO, oo und die awialen Hauptträgheits- momente W, ®, © zwischen den Grenzen oo, A’, B’, 0’ (J. Binet).

18. Der Trägheitskomplex eines Massensystems. Zu jeder Ebene x gehört im allgemeinen ein Hauptpunkt (Nr. 9), (für den also z eine Hauptträgheitsebene ist). Zu jedem Punkte P gehören im all- gemeinen drei Hauptträgheitsaxen, welche paarweise die drei ent- sprechenden Hauptträgheitsebenen bestimmen und ein rechtwinkeliges Poldreikant des Antipolarsystems bilden; für jedes der sechs Elemente ist P der zugehörige Hauptpunkt (vgl. Nr. 9). Eine Gerade g da- gegen ist dann und nur dann Hauptträgheitsaxe für einen ihrer Punkte, wenn sie den Antipol einer zu ihr normalen Ebene enthält?”); sie gehört nämlich dann einem rechtwinkeligen Poldreikant oder, was dasselbe ist, einem Binet’schen konjugierten Haupttripel an (vgl. Nr. 11 u. 9). Der zugehörige Hauptpunkt wird dann der Durchschnitt der genannten Ebene mit g, und g steht in diesem Punkte auf einer der drei durch ihn gehenden konfokalen Flächen senkrecht. Damit ist jede Normale der konfokalen. Flächenschar eine Hauptträgheitsaxe und zwar für den zugehörigen Fusspunkt als Hauptpunkt.

Man kann auch sagen”): Nur dann ist 9 eine Hauptträgheitsaxe, wenn sie ihre antipolare Gerade g’ rechtwinkelig kreuzt oder schneidet. Dies ist aber genau die Definition, welche Th. Reye für eine (geo- metrische) „Axe“ des Antipolarsystems aufgestellt hat. Die Reye’schen Axen sind also einerseits geometrisch”®) mit den Normalen des kon- fokalen Flächensystems, andererseits mechanisch mit den Hauptträgheits- axen des Massensystems identisch. Speziell liefert der (mit dem Antıi- polarsystem verknüpfte) Reye’sche Axenkomplex (vgl. IV 2, 31, Timer- ding) die Gesamtheit der zu dem Massensystem gehörigen Hauptträg- heitsaxen.

Die zahlreichen und bekannten®®) Eigenschaften der Strahlen eines solchen Komplexes geben also ohne weiteres ebensoviele Eigen- schaften der Hauptträgheitsaxen. Dieser Komplex nimmt daher (wie das Antipolarsystem selbst) beim Studium der Trägheitsmomente eine

wenn der Punkt O mit dem Schwerpunkte S zusammenfällt, sodass man damit eine andere, von der Fläche ®—=0 unabhängige, analytische Herleitung des Culmann’schen und der drei anderen Zentralflächen des Massensystems hat.

70) Th. Reye, Geometrie der Lage, 3. Aufl., Bd. 2, Leipzig 1892, p. 141, 152, 156.

320 IV4. @. Jung. Geometrie der Massen.

zentrale Stelle ein und werde kurz als Trägheitskomplex des Massen- systems bezeichnet (vgl. Nr. 21) 0°).

19. Planare und axiale Hauptmomentenflächen. Die Schar der Strahlenkomplexe konstanten axialen Momentes, Jede Fläche F(K) der konfokalen Schar (40) lässt sich als Ort der Punkte defi- nieren, für welche eins der zugehörigen planaren Hauptträgheits- momente J, den konstanten Wert K hat (denn die Punkte sind Haupt- punkte der zugehörigen Tangentialebenen).

Betrachtet man also die Krümmungslinien, in denen sich zwei durch einen Punkt O gehende konfokale Flächen der Schar F(K) und F(K’) schneiden, so ist die Tangente im Punkte 0 an diese Krümmungslinie Hauptträgheitsaxe für den Berührungspunkt und gleichzeitig ist das zugehörige Trägheitsmoment „= K + K' für alle Tangenten der genannten Krümmungslinie dasselbe (Binet). Als Deviationsaxen anfgefasst sind (vgl. Nr. 15) die Tangenten ebenso Axen konstanten Parameters I.

Weiter sind auch die Normalen der konfokalen Fläche F(K) längs eines sphärischen Kegelschnitts, in dem eine konzentrische Kugel die Fläche schneidet, als Hanptaxen ihres Fusspunktes P Axen kon- stanten Trägheitsmomentes J, (weil in), —=J, J, J, und J, konstant sind); und zwar ist J) = 4A’+ „SP? 2

Der allgemeine Ort der Punkte P, für welche eins der zugehörigen axialen Hauptträgheitsmomente J, einen konstanten Wert H hat, ist eine „biaxiale“ Fläche vierter Ordnung A(H),'*) deren Gleichung man leicht durch die Überlegung erhält, dass die zu P gehörige Haupt- trägheitsaxe Normale in P an eine der drei durch diesen Punkt gehen- den konfokalen Flächen ist. Für die zugehörige Tangentialebene ist J,= J,— H; andererseits ist nach ML, =-M+@®+tyPr 2?)

70°) Der Trägheitskomplex ist auch mit dem Reye'schen Axenkomplex der Culmann’schen Zentralfläche identisch; daher sind seine Strahlen auch die Nor- malen der zu dieser Fläche konfokalen Flächenschar. Der Fusspunkt f einer dieser Normalen ist jetzt aber nicht mehr der zugehörige Hauptpunkt h, sondern diese Punkte zusammengenommen bestimmen auf de" Normalen eine Strecke fh, die von der zu ihr rechtwinkeligen Schwerebene halbiert wird.

71) Dieser Satz rührt von W. Thomson her. Vgl. R. Townsend (Cambr. and Dubl. Math. J. 2 (1847)), welcher bemerkt, dass diese Eigenschaft für die Theorie der isochronen Axen wichtig ist, d.h. derjenigen Axen, um die das Massensystem, der Schwerkraft unterworfen, Pendelschwingungen von derselben Zeitdauer ausführen würde, (Axen gleichen Momentes, die vom Schwerpunkte gleichweit entfernt sind, sind offenbar isochrone Axen).

72) W. Thomson (Cambr. and Dubl. Math. J.1 (1846), p.203) nennt die Fläche „equimomental surface“.

19. Planare und axiale Hauptmomentenflächen. Strahlenkomplexe. 321

und Jd—=4A+B-+0C. Für diesen Wert J, des Parameters K folgt aus (40) und (63) die Gleichung 6 AM)- En er (66) AH)=- arg HStI HT gerry H+ÄH+R—H

2? TE ee die die verlangte Fläche darstellt. „Ist P(x, y, 2) irgend ein Punkt dieser Fläche und P, die orthogonale Projektion des Schwerpunkts 5 auf die Tangentialebene der Fläche A(H) in P, so wird PP, die zu P gehörige Hauptträgheitsaxe mit dem Trägheitsmomente H“.'%)

Variiert man H als einen Parameter, von 0’ anfangend bis oo, so stellt die Gleichung (66) eine Schar von Flächen ®) dar, die sich in drei Klassen gewissermassen konfokaler Flächen gruppieren, je nach- dem der Wert von H zwischen 0’ und B’ oder B’ und A’ oder A’ und liegt. Jede Fläche der A(H)-Schar hat (wie jede der F(K)- Schar) die drei Symmetrieebenen des Antipolarsystems ihrerseits zu Symmetrieebenen. Die Doppelpunkte aller Flächen A(H) erfüllen zwei Kegelschnitte%); es sind dies die Fokalkegelschnitte (ß) und (y) des Antipolarsystems (vgl. Nr. 16).

Man betrachtet in der Optik Flächen desselben Charakters wie A(H), doch nur solche, bei denen die Fokalhyperbel den Ort der Doppelpunkte bildet. Die Fresnel’sche Wellenfläche für doppeltbrechende Medien’”) ist hiernach eine solche A(H), die zu der letzten Klasse (H> A’) gehört.

73) Auch mit Hülfe dieser Gleichung lassen sich die axialen Hauptträgheits- momente eines beliebigen Punktes (x, y,2) finden. Die Gleichung ist vom dritten Grade in H und ihre Wurzeln H,, H,, H, geben die gesuchten Werte (vgl. Nr. 17).

74) W. Thomson (Cambr. and Dubl. Math. J. 1 (1846), p. 203). S. auch Routh, Dynamik 1, p. 50.

75) W. Thomson (vgl. Fussn. 73 u. 74) bezeichnet dieselben als „conjugate equimomental surfaces.“

76) A. Clebsch, J. f. Math. 57 (1860), p. 73.

77) Diese Fläche 4. Ordnung konstruiert man bekanntlich in der Optik, indem man auf jedem Halbmesser g eines bestimmten Ellipsoids die Halbaxen des Kegel- schnittes abträgt, in welchem die zu g senkrechte Diametralebene das Ellipsoid schneidet. Die Wichtigkeit dieser Wellenfläche auch für andere als optische Probleme ist bekannt. MacCullagh (Dublin Trans. 17 (1837), p. 243) nennt sie allgemein „bi- axial surface“, einerseits wegen der Erzeugungsart der Fläche, andererseits „the name perhaps may appear the more appropriate, at is reminds us of the place which the surface holds in the optical theory of biaxial erystals“. Man vgl. auch Townsend (Cambr. and Dubl. Math. J. 2 (1847), p. 24), der ebenfalls diese Fläche betrachtet und u. a. auf Grund des Thomson’schen Theorems den Satz auf-

322 IV 4. @. Jung. Geometrie der Massen.

Die Gesamtheit der Geraden g (seien sie Hauptträgheitsaxen oder nicht), für welche das Trägheitsmoment J, einen konstanten Wert A hat, bildet einen Painvin’schen (quadratischen) Strahlenkomplex ”®), den wir kurz mit (J,), bezeichnen. Da A oo! Werte annehmen kann, so wird jedem Schwersysteme ausser dem einen Trägheitskomplex noch eine ganze Schar solcher (J,);- Komplexe zugeordnet. Nimmt der Parameter A den besonderen Wert Han, so wird der Trägheitskomplex des Massensystems von dem Komplexe (J,), in einer Kongruenz durchsetzt, deren Strahlen alle Hauptträgheitsaxen sind und alle das- selbe Trägheitsmoment 7 haben. Die zugehörigen Hauptpunkte er- füllen einerseits die Brennfläche dieser Kongruenz, andererseits die obige Fläche A(H). Beide Flächen sind also identisch, womit man eine neue Herleitung der Fläche A(H) hat. „Die A(H)-Flächenschar lässt sich danach definieren als die Schar der Brennflächen aller Kon- gruenzen, die dem Trägheitskomplex und der Schar (J,);- Komplexe gemeinsam sind.“ .

20. Quadratische Momente bei ebenen und geradlinigen (all- gemeinen) Massensystemen. Liegen alle Massenpunkte auf einer Ebene ®, wie dies für eine ebene begrenzte Fläche (oder ebene Kurve) stets der Fall ist, so liegt sowohl der Schwerpunkt $ des Systems auf © (vgl. Nr. 4 und 5), als auch der Antipol (das Zentrum zweiten Grades) jeder andern Ebene des Raumes. Das zu ® gehörige Trägheitsmoment J, wird natürlich Null. Damit reduziert sich die Ordnungsfläche ® des Antipolarsystems, wenn man in Gleichung (36) den Wert C=J,= 0 einsetzt, auf .

| O=- AU BV+ut—0 (36a) | oder

das Antipolarsystem selbst reduziert sich auf ein ebenes in © (=) stellt: Alle diejenigen Hauptträgheitsaxen, welche für die Punkte, zu denen sie gehören, gleichzeitig Axen kleinster Oszillationsdauer sind, umhüllen eine Fläche und zwar gerade die biaxiale Fläche des Mac Oullagh’schen Ellipsoids.

78) A. Demoulin (Bull. Soc. math. de France 20 (1872), p. 130). Derselbe schreibt jedoch (p. 131 Note) das Theorem @. Fouret zu, der es schon einige Jahre vorher der math. Gesellschaft mündlich mitgeteilt habe. Der nach Painvin Nouv. ann. (2) 11 (1872), p. 49, 97, 202, 481, 529 benannte Komplex ist ein Spezialfall des Komplexes von @. Battaglini Napoli Rendic. (1866)), p. 305. Jener besteht aus den Linien, in denen sich zwei normale Tangentialebenen einer Fläche zweiter Ordnung er dieser aus den Linien, von denen aus die Tangentialebenen an zwei gegebene Flächen zweiter Örduuug vier harmo- nische Ebenen bilden. Vgl. auch A. Aschieri, Giorn. di mat. 8 (1870), p. 35—37.

20. Quadratische Momente bei ebenen und geradlinigen Massensystemen. 323

gelegenes Antipolarsystem. Alle Ebenen, die durch dieselbe Gerade p von ® gehen, haben sonach dasselbe Zentrum zweiten Grades P und darum kann der Punkt P in diesem Falle als Zentrum zweiten Grades oder Antipol der Geraden p selbst bezeichnet werden. Danach wird jeder Geraden p der Ebene des Massensystems ein Zentrum zweiten Grades (Antipol) zugeordnet, welches der Antipol aller durch sie hindurch gehenden Ebenen ist und mit ihrem Pol bezüglich des Kegelschnitts ® zusammenfällt.

Die Culmann’sche Zentralfläche reduziert sich jetzt auf die Oulmann’sche Zentralkurve:

(37a) D— 2 Te

und die Binetsche Zentralfläche auf die reziproke Kurve + By —u=0.

Ist ® eine Hyperbel, so wird ®*° die konjugierte Hyperbel; ist ® eine reelle Ellipse, so wird die Culmann’sche Zentralkurve imaginär und umgekehrt. So bestimmt z. B. jede ebene begrenzte Fläche (oder Kurve) in ihrer Ebene © ein Antipolarsystem ohne reelle Ordnungs- kurve und hat sonach eine Oulmann’sche Zentralellipse

, x? y? ar (373) +b=1,

wo a, b die Schwerhauptträgheitsradien der Figur sind (sodass A wa}, B= ub? die Schwerhauptträgheitsmomente) und u den Inhalt der gegebenen Fläche (oder die rektifizierte Länge der Kurve) bezeichnet.

Da die linearen und quadratischen Momente für die Linien (und Punkte) der Ebene © bezw. gleich den linearen und quadratischen Momenten für die durch sie gehenden und zu ® normalen Ebenen (und Axen) sind, so giebt die Oulmann’sche Zentralkurve auch eine Darstellung der zu ihren Durchmessern gehörigen quadratischen Mo- mente. Z. B. der Abstand des Schwerpunktes von einer Tangente dieses Kegelschnitts ist gleich dem Trägheitsradius für den zu ihr parallelen Durchmesser °?); das Trägheitsmoment für einen Durch- messer o des Oulmann’schen Zentralkegelschnittes ist gleich dem Trägheitsmoment der in dem Endpunkte M des zu ihm konjugierten Halbmessers konzentrierten Gesamtmasse u in Bezug auf den Durch- messer 60; ferner ist das Deviationsmoment für die beiden Durch- messer 6 und 6’ ebenfalls gleich dem Deviationsmoment der in M konzentrierten Gesamtmasse ®).

Es gelten überhaupt im allgemeinen alle Formeln der Nr. 11 und 12 auch für das ebene Massensystem, und zwar gelten sie ebenso

324 IV4. @. Jung. Geometrie der Massen.

für die Ebenen des Raumes wie für die Geraden der Ebene ©. Z. B, kann in der Formel

(31) I, USD

x sowohl irgend eine Ebene des Raumes, als auch irgendeine in ® liegende Linie bedeuten; s,, 2, sind dann die zugehörigen Abstände von den dort (Nr. 11) genannten Punkten u. s. w.

Die Axen konstanten Trägheitsmomentes, die in der Ebene ® liegen, sowie die zu © normalen Ebenen konstanten Momentes um- hüllen die einzelnen Kurven der zum Antipolarsystem konfokalen Kegelschnittschar, deren Gleichung

= K(U?’+PV’)

oder (40a) z

x Yy Bu HB

ist. Die gemeinsamen Brennpunkte desselben sind die Brennpunkte p und 9’ des Antipolarsystems und bilden zusammen mit den Brenn- punkten f und f’ der Oulmann’schen Zentralkurve die Ecken eines Quadrates.

In der Ebene © des Massensystems ist jeder Punkt O der Mittel- punkt eines ihm zugeordneten Oulmann’schen Trägheitskegelschnittes, dessen Gleichung auf die Hauptaxen von O bezogen die Gleichung (37a) ist, wo aber für A und B die zum Punkte O gehörigen Haupt- trägheitsmomente A und ® einzusetzen sind. Diese Axen sind die Tan- genten in Oan die beiden durch diesen Punkt gehenden konfokalen Kegel- schnitte (40a), sie sind also die Halbierungslinien des Winkels O0 und des zu ihm supplementären Winkels. Für "die quadratischen Momente hat dieser Kegelschnitt bez. seiner Durchmesser dieselben Eigenschaften wie die Oulmann’sche Zentralkurve bez. der in © liegen- den Schwerlinien.

Liegt eine ebene begrenzte Fläche (oder Kurve) oder allgemeiner ein ebenes Schwersystem vor, so wird für jeden Punkt O der Ebene © die zugehörige Trägheitskurve eine Ellipse. Die Trägheitsellipsen für die Brennpunkte p und 9 des Systems sind insbesondere zwei Kreise mit dem Halbmesser a, wenn in (37a) a > b ist.

Die Mac Oullagh’sche Zentralfläche (zur Darstellung der zum

Schwerpunkt gehörigen axialen Trägheitsradien) nach Nr. 14 wird: y? Br (448) A en ag”

und die konfokale Flächenschar der Flächen konstanten Momentes nach Nr. 13 wird:

21. Historische Entwickelung d. Lehre von d. Trägheitsmomenten u. -Flächen. 325

x” ? 2? 1 (40b) Kate str, aus welcher Gleichung mit Hülfe von (46) und für A = 0 auch direkt (44a) folgt. Man sieht ferner, dass der Kegelschnitt ®, dessen Gleichung fir K=(Ü=0 aus (40b) folgt, eine der Fokalkurven der Schar ist: für alle Ebenen nämlich, die durch seine Tangenten gehen, ist das zugehörige J, stets gleich Null. Die Poinsot’sche Zentralfläche wird dann (Nr. 14)

BA +(A+D’— u

Für jeden Punkt O der Ebene © erhält man die Gleichungen der vier ihm zugeordneten Trägheitsflächen, auf seine Hauptträgheits- axen bezogen, indem man zu (37a) und (44a) noch die zu ihnen reziproken Gleichungen aufstellt und dann für A und B die zu- gehörigen Hauptträgheitsmomente A und ® einsetzt. Ist O dagegen nicht ein Punkt der Ebene ©, so geben die Gleichungen (37), (39), (44) und (47), in denen A, B und © durch A, B und & (Nr. 16 und 17) ersetzt werden müssen, die dem Punkte O zugeordneten Träg- heitsflächen.

Ist das Massensystem ein geradliniges, liegen also alle Massen- punkte auf einer Geraden /, so reduziert sich das Antipolarsystem auf eine einfache Punktinvolution X X” Soo auf !, deren Doppelpunkte (oder eventuell konjugierte und hinsichtlich des Schwerpunktes $ symmetrische Punkte) die in zwei Bündel ausgeartete Fläche ® (oder ®°) bilden; jedenfalls ist jeder Punkt X auf / der Antipol aller durch den konjugierten Punkt X’ gehenden Ebenen und umgekehrt. Z. B. ist der Mittelpunkt einer homogenen Strecke AB zugleich deren Schwerpunkt $; und nimmt man auf ihr den Punkt A’ so, dass AA—=2ATB, so ist $ das Zentrum und A, 4’ sind zwei konjugierte Elemente der zu AB gehörigen Involution, die damit bestimmt ist. Mit Hülfe derselben und der auch hier geltenden allgemeinen Formeln der Nr. 11 und 12 kann man dann sehr leicht alle quadratischen Momente der gegebenen Strecke berechnen.

21. Die historische Entwickelung der Lehre von den Träg- heitsmomenten und Trägheitsflächen. . Die Existenz der Hauptträg- heitsaxen für Schwersysteme wurde von L. Euler (1749) zuerst bemerkt und von J. A. Segner (1755)'°) bewiesen. Dieser bewies, dass durch jeden Punkt P wenigstens drei Axen gehen, für die der Punkt P Hauptpunkt ist. Euler‘) gab hierauf die Formeln, mit deren Hülfe

79) Specimen theoriae turbinum, Halae 1755. 80) Theoria motus 1765, p. 177, Nr. 452

326 IVA. @. Jung. Geometrie der Massen.

man aus den axialen Hauptträgheitsmomenten eines Punktes P das Trägheitsmoment für irgend eine andere Axe durch den Punkt P ab- leiten kann. Beide Forscher betrachteten jedoch nicht die anderen Hauptträgheitsaxen, die durch den Punkt P gehen und die ihn nicht zum Hauptpunkt haben, überhaupt beschäftigten sie sich nicht all- gemeiner mit der Verteilung dieser Axen im Raume.

Eine wesentliche Erweiterung erfuhr die Theorie durch J. Binet (1811)®'), der den allgemeineren Begriff des „Tripels konjugierter Axen“ einführte und die planaren Trägheitsmomente zuerst unter- suchte. Er fand die konfokale Flächenschar und die Eigenschaften ihrer Krümmungslinien. Er zeigte, dass diese Flächen von den Ebenen konstanten Trägheitsmomentes umhüllt und von den Punkten erfüllt werden, für die eines der zugehörigen planaren Hauptträgheits- momente einen gegebenen Wert hat. Er bemerkte weiter, dass die Fokalkegelschnitte die Örter der Punkte sind, für die zwei der Haupt- trägheitsmomente gleich werden, und untersuchte gleichzeitig mit S. D. Poisson®®) den besonderen Fall, in dem die konfokalen Flächen Rotationsflächen werden.

A. M. Ampere (1821)°?) behielt den Namen Hauptträgheitsaxen nur für diejenigen Axen bei, welche sich auf den Schwerpunkt be- ziehen, und bezeichnete die anderen als permanente Amen. Er fand dann, dass die durch einen gegebenen Punkt P gehenden permanenten Axen auf einem gleichseitigen Kegel zweiten Grades liegen, während die Punkte, zu denen sie gehören, eine Raumkurve fünfter Ordnung mit einem dreifachen Punkt in P erfüllen, und dass, wenn der ge- gebene Hauptpunkt P einer Symmetrieebene angehört, der Kegel in die Symmetrieebene selbst und eine Normalebene derselben, die Raum- kurve dagegen in einen Kreis“) und eine in der Symmetrieebene ge- legene Kurve dritter Ordnung, die aus dem isolierten Doppelpunkt und einer Geraden besteht, zerfällt. Jede dieser Normalebenen ist zu- gleich Normalebene in P eines Kegelschnittes aus einer gewissen Schar in der Symmetrieebene gelegener homothetischer Kegelschnitte. In einer der Symmetrieebenen liegen zwei derartige homothetische Scharen, deren erste die Fokalhyperbel des Antipolarsystems und deren zweite die Fokalhyperbel der Oulmann’schen Zentralfläche ent-

81) J. &e. polyt. 16 (1813).

82) Paris, M&m. de l’Institut 5 (1826), p. 86.

82‘) Für die Punkte P der Fokalhyperbel und der Fokalellipse des Anti- polarsystems reduziert sich der Kreis auf einen Punkt (den Punkt P selbst); Ampere nennt diese beiden Kegelschnitte bezw. „hyperbole principale‘ und „ellipse principale“, 1. c. p. 139.

21. Historische Entwickelung d. Lehre von d. Trägheitsmomenten u. -Flächen. 397

hält; in jeder der beiden anderen Symmetrieebenen liegt dagegen nur eine solche Schar, und zwar gehören die Fokalellipse des Anti- polarsystems und die Fokalellipse der Culmann’schen Zentralfläche diesen beiden Scharen beziehungsweise an ®?').

Die Theorie der konfokalen Flächen und ihrer Fokalkurven er- weiterte M. Chasles (1837)°°), welcher insbesondere die Verteilung der Normalen dieser Flächen im Raume studierte. Er gab unter andern den Satz, dass die in einer Ebene gelegenen Normalen im allgemeinen einen (zu dem Ampere'schen Kegel antipolaren) Kegel- schnitt, und zwar, wie R. Townsend (1847) fand, eine Parabel um- hüllen, und brachte systematische Ordnung in die Theorie. Seine zunächst nur von geometrischen Gesichtspunkten geleiteten Unter- suchungen, welche aber eine leicht ersichtliche Anwendung auf die Theorie der Hauptträgheitsaxen findet, erhielten ihre Ergänzung in den Untersuchungen von Mac Cullagh (1844), W. Thomson (1846), A. Cayley (1846) und Townsend (1846, 4T)®%) und Häton de la Goupilliere (1857) 9°).

Ein weiterer Schritt von entscheidender Wichtigkeit ergab sich aus anderen Untersuchungen rein geometrischer Natur. Indem 7. Reye®) sich die neuen Ideen der J. Plücker'chen Liniengeometrie zu eigen machte und das bereits zusammengetragene Material benutzte ein reiches, aber systemlos angehäuftes und von verschiedenen Gesichts- punkten aus gewonnenes Material teils mechanischen teils geometri- schen Charakters studierte er (1868) zum erstenmale den Axen- komplex einer Fläche zweiten Grades und des zugehörigen Polarsystems und gab dessen vollständige Theorie. Später definierte er dann den Axenkomplex unabhängig von der anfänglich zu Grunde gelegten Fläche zweiten Grades und zeigte, dass konfokale Flächen und ausser- dem alle zu diesen konzentrischen und homothetischen Flächen denselben Axenkomplex liefern u. s.w. Indem der Reye'sche Axenkomplex des zu einem Massensystem gehörigen Antipolarsystems aber zugleich der Trägheitskomplex des Massensystems ist, ergeben sich mit seiner Hülfe alle früher gewonnenen Resultate über die Hauptträgheitsaxen als einfache Korollare, dazu aber eine Reihe wichtiger Ergänzungen und neuer Sätze, und zwar nicht nur für Schwersysteme, die allein von allen bisher eitierten Autoren berücksichtigt waren, sondern auch für allgemeine Massensysteme. Berücksichtigt man schliesslich, dass auf Grund der in Nr. 11 vorangestellten Schwerpunktsidee die Definition

83) Apergu historique, Note XXXI.

84) Cambr. and Dubl. Math. J. 1, 2 (1846, 1847).

85) Geometrie der Lage, 3. Aufl, Bd. 2, p. 138—177. Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1, 22

328 IVA4. @. Jung. Geometrie der Massen.

des einem Massensysteme zugehörigen Antipolarsystems, durch das in einfacher Weise die Schar der konfokalen Flächen zweiten Grades sowie der Trägheitskomplex bestimmt wird, überaus leicht ist, so darf man nunmehr den Wunsch von Chasles®) und Cayley?), auf Grund eines fundamentalen Begriffs eine logische und systematische Her- leitung aller Theoreme über die quadratischen Momente zu gewinnen, als erfüllt ansehen.

Zur Orientierung über die verschiedenen in der Litteratur vor- kommenden Benennungen der von uns sog. Zentral- und Trägheits- flächen mögen noch folgende Angaben dienen:

Binet®®) (1811) hatte zum erstenmale die einem Punkte zugehörigen planaren Trägheitsmomente mit Hülfe eines Ellipsoids repräsentiert, aber das von Binet benutzte Ellipsoid ist nicht das oben (nach W. Schell) als Binet’sches Ellipsoid bezeichnete, sondern ein zu dem Oulmann’schen Ellipsoid (auf das auch Häton de la Goupilliöre (1857) ®°) gekommen war)

ähnliches Ellipsoid (Verhältnis Yw:1). Zu dem von Binet betrachteten Ellipsoid reziprok ist die Fläche, die Thomson”) „the ordinary ellipsoid of eonstruction“, Cayley*') „the comomental ellipsoid“ und J. Somoff ”?) „das Grundellipsoid“ nennt®). Im Anschluss an Binet repräsentierte Cauchy (1827)%) die axialen Trägheitsmomente eines Punktes eben- falls durch ein Ellipsoid. Dieses Cauchy'sche Ellipsoid, das Mae Cullagh, Thomson, Townsend und anderen als „the momental ellipsoid“ bekannt war, ist homothetisch zu dem von uns (47’) als Poinso’sches Ellipsoid bezeichneten. Es wurde von Poinsot”) „ellipsoide central“ genannt und von ihm (1834) in seinen schönen Untersuchungen über die Drehung der Körper verwertet. Das Mac Oullagh’sche Central- ellipsoid W (44) hat Mac Cullagh (1844)°) als „the ellipsoid of gyration“ eingeführt und zur Untersuchung der Rotation eines Körpers benutzt; Thomson (1846)°°) hat es seinerseits als „the central ellipsoid“

86) Apergu historique, p. 397 und Noten zu p. 220, 221.

87) Brit. Assoc. Report 1862, p. 227.

88) J. &c. polyt. 16 (1813), p. 64.

89) J. &c. polyt. 37 (1857), $ 20.

90) Cambr. and Dubl. Math. J. 1 (1846), p. 201, 202.

91) Brit. Assoc. Report 1862, p. 143.

92) Theoret. Mechanik 2, p. 79.

93) S. auch D. Chelini, Bol. Mem. (2) 5 (1865), p. 144 ff. und F. P. Ruffini, Bol. Mem. (4) 3 (1881), p. 25.

94) Oeuvres (2) 7, p. 127.

95) J. de math. 16 (1851), p. 74.

96) S. Haughton’s Account of Prof. Mac Oullagh’s Lectures on rotation in Dubl. Trans. 22 (1849), p. 149.

22. Quadratisch äquivalente Massensysteme. 329

und A. Olebsch als „das 2% Zentralellipsoid“ wiedergefunden. Die analoge Fläche für einen beliebigen Punkt, die wir als Mac Oullagh- sches Trägheitsellipsoid bezeichnet haben, wurde von Townsend (1846; 1847)°°) und später von A. Olebsch (1859)°®) eingehend studiert.

22. Quadratisch äquivalente Massensysteme. Zwei Massen- systeme heissen äquivalent hinsichtlich ihrer Trägheitsmomente ®), wenn ihre Trägheitsmomente für jede Ebene des Raumes gleichen Wert haben!"®), Dann werden auch ihre Trägheitsmomente für jeden Punkt und jede Axe gleich und ebenso auch ihre Deviationsmomente für jedes Ebenenpaar. Für allgemeine Massensysteme sind die Be- dingungen hierfür die Gleichheit ihrer Gesamtmassen und die Über- einstimmung ihrer Antipolarsysteme. Die Massensysteme sind dann von selbst auch hinsichtlich der statischen Momente äquivalent und ebenso gehört zu ihnen derselbe Schwerpunkt, dieselbe konfokale Flächenschar und derselbe Trägheitskomplex.

Jedes nicht indifferente Massensystem ist sechsfach unendlich vielen Quadrupeln von Massenpunkten äquivalent. Die Punkte eines solchen äquivalenten Quadrupels bilden einfach die Ecken eines beliebigen Anti- poltetraeders des vorgelegten Massensystems!). Sind Ah,, Aa, h,, hy die Höhen des Tetraeders, s,, s,, $;, s, die Abstände des Schwer- punktes von seinen Seitenflächen, so bestimmen sich für ein allgemeines System die Massen u,, 4, Us, u, der vier Eckpunkte aus den Glei- chungen:

(67) uh=us, W=us, ki —=us, ul, = US.

Für ein magnetisches Massensystem (u = 0, q=+0) treten an die Stelle dieser Gleichungen die folgenden:

(67°) uh=9, Whg, Whg, wl,=g,

97) Cambr. and Dubl. Math. J. 1, 2 (1846, 1847).

98) J. f. Math. 57 (1860), p. 73. Clebsch scheint wie auch Thomson die Arbeit von Mac Cullagh nicht gekannt zu haben.

99) Reye, J. f. Math. 72 (1870), Art. 13.; Routh, Dynamik 1, $ 33. Abge- sehen von der Bezeichnung findet sich der Begriff der Äquivalenz von Körpern zuerst (1811) bei Binet (J. €c. polyt. 16 (1813) $ 13) und später bei Legendre (1817) (vgl. Fussn. 103). Die ersten Reduktionen eines Körpers auf äquivalente Gruppen von Massenpunkten haben aber erst Sylvester (1864) (vgl. Fussn. 105). Routh (1864) und Reye (1865) (vgl. Fussn. 100) gegeben.

100) Reye, J. f. Math. 72 (1870), $ 5; für Schwersysteme bereits in der Zeitschr. f. Math. Phys. 10 (1865). Die Zurückführung des Dreiecks auf drei äquivalente Massenpunkte mit gleicher Masse gab zum erstenmale Routh, Quart. J. of math. 6 (1864), p. 267—269.

22*

330 IV 4. @. Jung. Geometrie der Massen.

wo die Höhen in der Richtung der magnetischen Axe gemessen sind und wo q deren skalaren Wert wie in (31) bezeichnet.

Das indifferente Massensystem ist dagegen unendlich vielen Quin- tupeln von Massenpunkten mit der Gesamtmasse Null äquivalent.

Für ein Schwersystem giebt es immer unendlich viele äquivalente Quadrupel von Massenpunkten mit gleicher Masse 4 u. Die Tetra- eder, die diese Quadrupel bilden, sind einem Ellipsoide ®, umschrieben und einem anderen ®, einbeschrieben. Diese Ellipsoide sind mit dem Culmann’schen Centralellipsoid ®® konzentrisch und homothetisch. Ihre Axen gehen aus denen des letzteren durch Division und Multiplikation

mit Y3 hervor. Alle diese Tetraeder sind von gleichem Volumen und die Tetraeder vom grössten Volumen, die sich dem Ellipsoide ®, um- schreiben lassen !91).

Jedes Schwersystem lässt sich ferner auf ein äquivalentes Sex- tupel von Punkten gleicher Masse 4 u zurückführen. Diese Punkte bilden die Endpunkte eines beliebigen Tripels von konjugierten Durch- messern des Ellipsoides &,.

Diese Sätze lassen sich mit Hülfe einer affinen Transformation des Raumes (durch welche die Äquivalenz zweier Massensysteme nicht gestört wird !®)) sofort aus den analogen Sätzen für ein Massensystem, dessen Oentralfläche eine Kugel vom Radius « ist, herleiten. Berück- sichtigt man, dass ein solches Massensystem immer einer homogen mit Masse erfüllten Kugel äquivalent ist, deren Radius —= Y5-a, so folgt weiter, dass jedes beliebige Massensystem mit lauter positiven Massen einem homogenen Ellipsoid äquivalent ist. Dieses Ellipsoid ist kon- zentrisch und homothetisch mit dem Culmann’schen Zentralellipsoid und geht aus demselben hervor, indem man dessen lineare Dimen-

sionen im Verhältnisse Y5:1 vergrössert. Dieses ist das Legendre’sche Ellipsoid '®). Für ein beliebiges homogenes Tetraeder fällt dasselbe

mit dem Uulmann’schen Ellipsoid von vier gleichen Massen y die in den Ecken des Tetraeders konzentriert sind, zusammen.

Es ist aber auch jedes Schwersystem einem homogenen Tetraeder äquivalent. Hat man nämlich ein Quadrupel von vier diskreten Massen- punkten gleicher Masse gefunden, denen das Massensystem äquivalent

101) Über diese Tetraeder von grösstem Volumen s. J. Liowville, J. de math. 7 (1842), p. 190; J. Steiner, J. f. Math. 30 (1846), p. 275 = Ges. Werke 2, p. 343 ff.; C. F. Geiser, Ist. Lomb. Rend. (2) 1 (1868), Art. 1.

102) Routh, Dynamik 1, p. 30, $ 41.

103) A. M. Legendre, Traite des fonctions elliptiques 1 (Paris 1825), Nr. 368. Vgl. auch Routh, Dynamik 1, $ 29.

23. Lineare u. quadrat. Momente kontinuierlicher Systeme. Der Kern. 331

ist, so verbinde man den Schwerpunkt $ mit diesen vier Punkten A,, Ay, Ay, A, und vergrössere die Strecken SA,, SA,, $4A,, 8A, im Verhältnis Y5:1, so bilden die Endpunkte A,’, Ay’, Ay, A, der neuen Strecken 8A,', 8A,', SA,, 8A, die Ecken eines homogenen Tetraeders, das dem vorgelegten Massensystem äquivalent ist. Hier-

mit ist gleichzeitig gesagt, wie man ein gegebenes homogenes Tetra-

eder durch vier Massenpunkte von gleicher Masse 5 ersetzen kann !%),.

Das Tetraeder ist ferner äquivalent !®) fünf Massenpunkten, von denen

vier seine Ecken mit den Massen 3 sind und der fünfte sein Schwer-

punkt mit der Masse 7 1

III. Anhang zur Theorie der linearen und quadratischen Momente.

23. Lineare und quadratische Momente kontinuierlicher Systeme. Der Kern einer kontinuierlichen Figur. Für die praktische An- wendung besonders wichtig sind der Schwerpunkt, die linearen und die Trägheitsmomente kontinwierlicher Körper (oder Flächen); dieselben bedürfen deswegen einer besonderen Erwähnung.

Die früher eingeführten Koeffizienten sind (vgl. Nr. 11) durch die über den ganzen Körper erstreckten Integralausdrücke definiert:

(68) Aufad, A—f[ydr, A,—f2dr, Ay = Ay —/(yzdr, Ay = As —Jzudı, Ay Ay, —jaydı,

A, =! dr, A, —/ydr, A, =Iedr, u—/fdr, wo dr die Masse des Körperelementes und u die Gesamtmasse ist. Im

übrigen bleiben die weiteren Entwickelungen unverändert bestehen. Es tritt nur ein neuer Begriff hinzu, der bei einem diskreten Massen-

104) Hieraus geht gleichzeitig hervor, wie sich ein homogenes Polyeder (oder Polygon und auch eine homogene Polygonallinie), indem man es in Tetra- . eder (oder Dreiecke und Strecken) zerlegt, durch ein äquivalentes System dis- kreter Massenpunkte ersetzen lässt. Hieraus (vgl. auch Fussn. 105) leitet sich eine Methode ab, um die Trägheitsmomente für gewisse Körper, Flächen und gebrochene Linien zu berechnen (vgl. Nr. 24, a).

105) Diese Zurückführung des Tetraeders auf eine äquivalente Gruppe von fünf Massenpunkten gab zuerst J. Sylvester, Quart. J. of math. 6 (1864), p. 131.

106) Andere Beispiele für derartige Reduktionen finden sich bei Routh (1868); vgl. Dynamik 1; Reye, Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ingenieure 19 (1875); R. Mehmke, Zeitschr. Math. Phys. 29 (1884), p. 61.

332 IV4. G. Jung. Geometrie der Massen.

system nicht in Betracht kommt, nämlich der Begriff des Kerns'”). Hierunter versteht man die geschlossene Fläche, die der Ort der Anti- pole aller jener Ebenen ist, welche den Körper berühren, ohne ihn aber zu durchdringen. Der Kern umschliesst den Schwerpunkt $ des Körpers, sowie jeden anderen Punkt, von dessen Antipolarebene der Körper nicht getroffen wird. Ist P irgend ein Punkt auf ihm, r sein Abstand vom Schwerpunkte, und v der Schwerpunktsabstand des Punktes, in dem die Linie SP die zu P (als Antipolarebene) gehö- rende Berührungsebene x des Körpers schneidet, so wird das Träg- heitsmoment für die parallel zu x gelegte Schwerebene:

(69) J=rvV oder & =rV,

wenn V das Volumen des Körpers bezeichnet.

Genau analog ist der Kern für eine ebene Fläche definiert, nur dass hier der Flächeninhalt F an Stelle des Volumens tritt. Man denke sich die vorgelegte ebene Fläche als einen beliebigen normalen Querschnitt eines geraden Balkens; ist dann die Schwerlinie f die Neutralaxe dieses Querschnittes und J, das zugehörige Trägheits-

moment, so ist

J (69a) v= !=F.r.'%)

Bezieht sich nun der Schwerpunktsabstand v auf die entferntere der beiden zu f parallelen Berührungslinien des Querschnitts, und ist also r (d.h. SP) der kürzere auf der zu f konjugierten Schwerlinie liegende Kernradius, so wird diese Grösse v (wegen der Anwendung dieser Theorie in der Festigkeitslehre) nach F. Reuleaux als der Wider- standsmodul des Querschnittes für die Neutralaxe f bezeichnet.

Der Kern ist ein wichtiges Hülfsmittel, um auf graphischem

107) Culmann, Graphische Statik 1866, $ 65 und für ebene Figuren M. Bresse, M&canique 1866, p. 53. Letzterer geht abweichend von Oulmann direkt darauf aus, den Kern verschiedener einfacher Figuren zu bestimmen, indem er sich auf den von ihm gefundenen Satz stützt: Ist « die Schnittlinie der nicht pa- rallelen Grundflächen eines zylindrischen Körpers, so fällt die parallel zu den Seitenlinien (des Zylinders) genommene Projektion A des Schwerpunktes dieses Körpers, auf eine Grundfläche, mit dem Antipol der Linie a in Bezug auf die- selbe Grundfläche, wenn man dieselbe als ein homogenes, kontinuierliches ebenes Massensystem ansieht, zusammen. Die Methode von Bresse wurde von @. Jung in seinen Vorlesungen über graphische Statik systematisch verwertet, indem er hiernach direkt den Kern und das Antipolarsystem für eine Reihe ebener Figuren ermittelte.

108) W. Ritter (Civiling. (2) 22 (1876), p. 309); @. Jung (Ist. Lomb. Rendic. (2) 9 (1876), p. 647) und A. Sayno (ibid., p. 733).

23. Lineare u. quadrat. Momente kontinuierlicher Systeme. Der Kern. 333

Wege die Probleme, welche die Trägheits- und Deviationsmomente betreffen, zu lösen 109).

In affinen Figuren sind die Antipolarsysteme und damit auch die Kerne affin. So folgt aus dem Kerne eines Quadrates, eines Kreises und einer Kugel der Kern eines Parallelogramms, einer Ellipse und eines Ellipsoids u. s.w. Für ähnliche Figuren ergiebt sich

’=#t.J, Vv=A:v, also V—=Ari.y, indem sich die accentlosen Buchstaben auf die erste, die mit Accenten versehenen auf die zweite Figur beziehen, ferner A das lineare Ver- grösserungsverhältnis bedeutet und n—=5 für einen Körper, n= 4 für einen Querschnitt und n—=3 für einen Bogen zu nehmen ist.

Besteht ein Massensystem aus mehreren Körpern 1, 2,..., n, die einzeln die konstanten Dichtigkeiten @,, ,, ..., o, und die Volumina V,,V3, -- , V„ besitzen, so findet man zunächst den Schwerpunkt S des Massensystems, indem man in dem Schwerpunkte S$, eines jeden der » Körper dessen gesamte Masse konzentriert und von diesen Massenpunkten den Schwerpunkt sucht. Ist ferner x eine Ebene, die durch keinen der Schwerpunkte 8; und auch nicht durch den Schwerpunkt S geht, und seien P, die Antipole dieser Ebene bezw. der einzelnen Körper, so verbinde man diese Antipole mit den Schwerpunkten S; und be- zeichne mit s®) und p“) die auf einer Normalen zu x gemessenen

Stücke, welche die Ebene x auf diesen Linien einmal von $, und das andere Mal von P, aus abschneidet. Giebt man dann den Punkten P; die Massen 0,V,s®, so ist der Schwerpunkt dieser Massen- punkte der Antipol P der Ebene ® für das Gesamtsystem (vgl. Nr. 11 u. 5). Gleichzeitig wird (Nr. 11) das Trägheitsmoment für die Ebene x

(70) J, =r Ser 2r US,Pa

wenn u = Do,V, die Gesamtmasse des Systems ist und s, und p, die Abstände der Punkte $ und P von der Ebene x, gemessen auf einer Normalen zu x, bedeuten. Für die parallel zu x durch den Schwerpunkt $ gelegte Ebene 6 wird das Trägheitsmoment

(70') J„=u' 5 (PD zer $,) 45,Po- Schliesslich wird für eine Ebene x, die den Schwerpunkt nicht ent-

hält, und eine zweite ganz beliebige Ebene x’ das Deviationsmoment D,,„. durch den Ausdruck dargestellt (Nr. 11):

(71) Dr,n = PIAZENN = USıPr.:

109) @. Jung (Ist. Lomb. Rendic. (2) 9 (1876), p. 600, 647; Brit. Assoc. Report 1876, p. 23—26, London 1877; Amtl. Bericht d. Ver. deutsch. Naturf. u. Ärzte München 1877, p. 98). Näheres hierüber in IV 5, 23 (Henneberg).

334 IV4. @. Jung. Geometrie der Massen.

Die einzelnen hier betrachteten Körper 1,...,n können natürlich auch Teile eines und desselben Körpers sein; und hieraus leitet sich eine Methode (Zerlegungsprozess) ab, die Berechnung der Trägheits- momente für einen Körper auf die Betrachtung einfacherer Körper zurückzuführen, in die sich der vorgelegte Körper zerlegen lässt. Die

Methode gilt auch für Flächen und Bögen (vgl. Nr. 24, a).

24. Die Auswertung linearer und quadratischer Momente für Schwersysteme. Es seien im folgenden einige Methoden zur Be- stimmung des Schwerpunkts, der quadratischen Momente und des Antipolarsystems eines vorgelegten Schwersystems aufgeführt.

a) Substitutionsmethoden: Das Schwersystem wird durch einfachere Systeme entweder durch den Zerlegungsprozess (vgl. Nr. 23 Ende und Nr. 5) oder durch Reduktion auf ein quadratisch äquivalentes System (vgl. Nr. 22) ersetzt oder endlich durch beide Prozesse zusammen !%), In dem einen wie anderen Falle kann die Rechnung analytisch oder graphisch erfolgen.

b) Analytische Methoden: Und zwar: |

@. Kennt man das Schwerhauptträgheitstripel, so erfordert die Festlegung des Culmann’schen Zentralellipsoid (Formel (37) und (37))) die Bestimmung der drei Konstanten A, B, C. Sind 2,, 2,, 2, die Flächeninhalte der Schnitte des Systems mit den drei durch einen Punkt x, y, z gehenden und mit den Hauptträgheitsebenen parallelen Ebenen, so ergeben sich die drei Konstanten einfach wenn o die Dichte in dem Punkte x, y, z ist aus den Formeln:

A for 2,dz, B foy?2,dy, C (p#9,dz, womit man die zugehörigen planaren Trägheitsradien aus den Be- ziehungen: au=A4A, W”.u=B, d.u = (9) erhält.

Das Culmann’sche Zentralellipsoid bestimmt dann in einfacher Weise das Antipolarsystem, das seinerseits wieder die quadratischen Momente J,, J,, J, in Bezug auf alle Punkte, Ebenen und Geraden des Raumes giebt.

ß. In derselben Weise verfährt man, wenn an Stelle des Schwer- hauptträgheitstripels ein anderes Bine’sches konjugiertes Tripel des Schwerpunktes bekannt ist, denn die Formeln des Culmann’schen Zentralellipsoids bleiben dieselbe. Die Hauptträgheitsaxen des Schwer- punktes werden dann durch die Axen des Ellipsoids bestimmt.

110) Vgl. W. Schell, Theorie der Bewegung 1, p. 129—130.

24. Die Auswertung linearer und quadratischer Momente. 335

y. In vielen Fällen gelingt es nun, ein solches Binet’sches Tripel und damit den Schwerpunkt des Systems ‘auf Grund folgenden Theorems zu finden: Enthält eine Gerade g einer homogenen körper- lichen oder ebenen Figur die Schwerpunkte aller Querschnitte, die parallel zu derselben Schwerebene 6 gelegt sind, so enthält sie den Schwerpunkt 8 der Figur (Nr.5) und zwar ist g der konjugierte Durchmesser zu 6 in dem durch das System bestimmten Antipolar- system (Binet); und umgekehrt: Halbiert eine Ebene 6 alle Geraden eines homogenen Systems, die derselben Schwergeraden g parallel sind, so enthält sie den Schwerpunkt S des Systems (Nr.5) und 6 ist gerade die zu g in demselben Antipolarsystem konjugierte Diametralebene. Damit ist in einem homogenen System jede Symmetrieebene oder -axe eine Schwerhauptträgheitsebene oder -axe. Dieses gilt auch noch für ein nichthomogenes System, wenn in den symmetrisch gelegenen Punkten die Dichte dieselbe ist.

ö. In dem allgemeinen Falle wird für die Anwendung der Formeln (51”) oder (51) (in denen man, wenn das Antipolarsystem verlangt wird, den Punkt O0 mit dem Schwerpunkt zusammenfallen lasse und ausserdem noch die in der Fussn. 61 angegebene Substitution aus- geführt denke) die Bestimmung von sechs Konstanten (@, e9, & 2, &, £°) erfordert, die sich aber sehr selten analytisch ausführen lässt.

& Die Trägheitsmomente für dünne Schichten und Flächen kann man durch Differentiation aus bekannten Trägheitsmomenten für körperliche Figuren ableiten; analogerweise die für dünne Flächen- ringe und Linien aus Trägheitsmomenten für Flächen!!!)

Die analytische Bestimmung des Schwerpunkts erfolgt durch die direkte Anwendung der Formel (3a).

ce) Geometrische Methoden: Ausser den Ähnlichkeits- und Affinitäts- transformationen‘'?) (Nr.8 u. 23) ist zur Erleichterung der Bestimmung der Trägheitsmomente oft die Transformation durch reziproke Radien (oder Inversion in Bezug auf ein Zentrum O) von Vorteil. Es gelten folgende Sätze:

Sind oe und eo’ die Dichten, r und r’ die Radiivektoren zweier

111) Vgl. W. Schell, Theorie der Bewegung 1, p. 142 und J. Somoff, Me- chanik 2, p. 92.

112) Für das direkte Problem (Bestimmung des Trägheitsmomentes einer gegebenen Figur) vgl. Beispiele bei W.. Schell, Theorie der Bewegung 1, p. 134 ff., für das indirekte Problem (gegeben das Trägheitsmoment, oder der Widerstands- modul (Nr. 283), Konstruktion der Figur unter gegebenen anderen Bedingungen) vgl. @. Jung, Ist. Lomb. Rend. (2) 9 (1876), p. 388; 513—597; „I Politecnico“ 24 (1876); Brit. Assoc. Rep. 1876, p. 21—23, London 1877.

396 IV 4. @. Jung. Geometrie der Massen.

sich entsprechenden Punkte der inversen Figuren in Bezug auf ein willkürliches Zentrum (sodass rr’—= #?= const.) und ist

vl)

so haben die beiden Figuren gleiche Trägheitsmomente in Bezug auf

alle Geraden durch 0. Dabei ist » = 10, 8 oder 6, je nachdem die

Figur ein Volumen, eine Fläche oder ein Bogen ist. Die beiden Figuren haben auch dieselben Hauptträgheitsaxen durch O.

Sind ferner J, und J, die polaren Trägheitsmomente der beiden

Systeme in Bezug auf zwei inverse Punkte P und P', so gilt

N

u

die Berechnung des polaren Momentes für ein System folgt also in

einfachster Weise aus der des inversen Systems. Dabei ist wieder

e=eo (+) angenommen, wo n=8, 6 oder 4 ist, je nachdem das

System ein Volumen, eine Fläche oder ein Bogen ist (Thomson) "2°). d) Graphische Methoden: Es sind dies Approximationsmethoden, die besonders wegen ihrer sehr grossen Allgemeinheit vorteilhaft sind. Sie sind, in erster Linie für ebene Systeme, bei allen Problemen an- wendbar, bei denen das Vorkommen empirischer Koeffizienten die Approximation rechtfertigt. Die Technik bietet sehr häufig derartige Probleme. Im übrigen vgl. hierfür das Referat IV 5 (Henneberg).

e) Experimentelle Methoden: Ist der gegebene Körper sowohl seiner Form wie auch Dichtigkeitsverteilung nach irregulär, so ver- sagen die bisher genannten Methoden. Man greift dann auf das Ex- periment zurück:

Wenn möglich lässt man den Körper um eine beliebige horizon- tale Axe g’ pendeln und berechnet mit den bekannten Grössen (Masse u, Gewicht p, experimentell bestimmte Entfernung d des Schwer- punktes $S von der Axe g, beobachtete halbe Schwingungsdauer ?) aus der Formel

0: ta I, =. Tomas) ud?

das Trägheitsmoment in Bezug auf die zu y’ parallele Schwergrade g. ''?)

Man kann aber auch den Körper auf einem Pendel von bekannter Masse befestigen, dessen Trägheitsmoment in Bezug auf eine horizon- tale Axe man vorher durch Beobachtung bestimmt hat. Bestimmt

112°) Vgl. E.J. Routh, Dynamik 1, p. 34. 113) Vgl. R. Townsend, Cambr. and Dubl. Math. J. 2 (1847), p. 26; siehe auch E.J. Routh, Dynamik 1, p. 81.

25. Allgemeine Definition der höheren Momente. 337

man dann von neuem experimentell die Schwingungsdauer, so kann man das Trägheitsmoment des ganzen Systems finden und daraus dann das des gegebenen, vorausgesetzt ist dabei, dass man deren Masse kennt!).

Wiederholt man das Experiment genügend oft, so bestimmt sich das Mac Oullagh’sche Zentralellipsoid aus den gefundenen Werten

2; aus diesem ergeben sich dann leicht die übrigen drei Zentral-

ellipsoide.

f) Mechanische Methoden: Man kann sich auch verschiedener Apparate und Instrumente bedienen, von denen nur die folgenden beiden Beispiele genannt seien:

J. Amsler''5) konstruierte ein Planimeter und Br. Abdank-Abaka- novich *!8) einen Integraphen, die nicht nur das Trägheitsmoment homogener ebener Figuren in Bezug auf eine beliebige Gerade der Ebene, sondern auch die linearen Momente, die Flächen und die Schwerpunkte auf mechanischem Wege bestimmen ?).

IV. Höhere Momente.

25. Allgemeine Definition der höheren Momente. Unter dem Momente m*”" Grades eines Massensystems '"?) für eine Gruppe von m Ebenen, unter denen beliebig viele zusammenfallen dürfen, versteht man den Summenausdruck:

(72) M => 0; Piı Pia Pims

in dem p,, den Abstand des i" Massenpunktes von der Ak" Ebene bezeichnet und m>1 ist!!9). Dieses Moment ist nur ein besonderer Fall von dem Momente des Massensystems für eine allgemeine Fläche m** Ordnung"?). Hierunter versteht man den Ausdruck

(73) M—-Iu,F(a,, Y%, 2), in dem F(x, y, 2)=0 die Gleichung der Fläche sein soll.

114) Vgl. Routh, Dynamik 1, $ 97.

115) Vierteljahrsschr. d. Naturf. Ges. in Zürich 1 (1856); Oulmann, Graphische Statik 1875, $ 114 giebt eine eingehende Beschreibung.

116) Les integraphes, la courbe integrale et ses applications, Paris 1886.

117) Einen Apparat zur Bestimmung der Trägheitsmomente eines beliebigen Körpers konstruierte N. Joukowsky, Bull. de la Soc. des Naturalistes de Moscou (1891), p. 415.

118) Im Texte sind die Modifikationen übergangen, welche die Theorie der höheren Momente und der Äquivalenz für ebene Massensysteme erfährt.

119) Reye, J. f. Math. 72 (1870), p. 306, $ 4.

120) Reye, J. f. Math. 78 (1874), p. 98, $ 2.

338 IV4. @. Jung. (Geometrie der Massen.

Zieht man in einer bestimmten Riehtung von jedem Punkte 4; des Massensystems eine Transversale und sind g,,, Qj5, -. ., @;,, die Ent- fernungen des Punktes A, von den m Schnittpunkten. dieser Trans- versalen mit der Fläche mer Ordnung, so wird das vorige Moment M dem folgenden Ausdrucke proportional

(74) >37 P:10i2 ''" Oim:

Ebenso wird, wenn , die Winkel sind, welche eine beliebig ange- nommene Richtung mit den Normalen von m Ebenen », bildet und auf einer in dieser Richtung durch A, gezogenen Transversale von 7, das Stück g,, abgeschnitten wird, da p,, = g;,, cos p,, das Moment des Massensystems für diese Gruppe von Ebenen:

(75) M 605, 0089, ... Co8 DL? er

Die Abstände p,, stellen sich analytisch dar wie folgt: Es ist Va +Yıy + Wıs T, Vor Ta tW: wo U,,V,, W,, T, die homogenen Koordinaten der Ebene n, sind. Lässt man die m Ebenen n, in eine zusammenfallen, so erhält man hiernach das Moment m*" Grades des Massensystems für eine Ebene 7

in der Form: Ux; +Vy; + Wz,— T\m 76 Fe ; i i i : 2 u Dasselbe kann für jede Ebene des Raumes berechnet werden, sobald es für

Pr

mt) m+9m+3) _ we; N(m) +1

von einander unabhängige Ebenen bekannt ist.

26. Die Nullflächen eines Massensystems. Diejenigen Ebenen, deren Momente m“" Grades einen konstanten Wert M haben, um- hüllen eine algebraische Fläche, deren Gleichung bei geradem m in Ebenenkoordinaten U, V, W, T lautet:

MM) Ia(Un + Yy + Wa Tr MU: + VE HWN, beziehungsweise wenn m ungerade ist: (77) [Fa,(U2, + Yy+Wa— TPM +WIn,

Die Fläche ist also für ein gerades m von der m'®, für ein ungerades m von der 2m‘® Klasse. Für M 0 ergiebt sich immer eine Fläche m‘ Klasse

E

26. Die Nullflächen eines Massensystems. 27. Äquivalenz höheren Grades. 339

(78) m —Ia(Uun + VYy+Wa—T N) Diese Fläche ist die m‘ Nullfläche des Massensystems.

Die sämtlichen Momentenflächen sind unabhängig von der Wahl des zugrunde gelegten Koordinatensystems. Differentiiert man ihre obenstehenden Gleichungen nach 7, so zeigt sich, dass die erste Polare der unendlich fernen Ebene für sämtliche m‘ Momenten- flächen die (m 1)'° Nullfläche des Massensystems ist.

Die Gesamtmasse des Massensystems kann dessen verschiedenen Nullflächen als deren „Gewicht“ beigelegt werden, und mit diesem „&ewicht“ versehen bestimmt die m‘ Nullfläche das Massensystem hinsichtlich aller Momente bis zum m“ Grade inclusive Für die statischen Momente wird die Nullfläche ein Punkt, der Schwerpunkt des Systems, und dieser Punkt mit der in ihm konzentrierten Ge- samtmasse ersetzt in der That das vorgelegte Massensystem hinsicht- lich seiner statischen Momente. Für die quadratischen Momente eines Massensystems wird die Nullfläche die Ordnungsfläche des zu- gehörigen Antipolarsystems, und die zu ihr konjugierte*) Fläche wird die zugehörige Culmann’sche Zentralfläche, u. s. w. So erscheint die mit einem bestimmten Gewichte versehene Fläche m‘ Klasse als eine einfache Verallgemeinerung des Massenpunktes. Um eine ein- fache Bezeichnung zu haben, können wir sie eine Massenfläche nennen. Eine Massenfläche m‘ Klasse ist dann das vollständige Äquivalent einer quaternären algebraischen Form »m*”" Grades. Von hier aus kann man die ganze Theorie der quaternären algebraischen Formen mit der Geometrie der Massen in Verbindung bringen, wie dies ins- besondere 7. Reye'??) ausgeführt hat.

27. Äquivalenz höheren Grades. Indifferenz höheren Grades. Zwei Massensysteme heissen im m" Grade äguivalent'®), wenn für jede Ebene des Raumes ihre Momente bis zum m*® inclusive denselben Wert haben. Dann sind auch für jede Gruppe von höchstens m Ebenen und jede Fläche von höchstens m” Ordnung die Momente beider Systeme gleich.

Bei solchen Systemen stimmen alle Nullflächen bis zur »mt® inelu-

121) Reye, J. f. Math. 72 (1870), p. 296.

122) J. f. Math. 72 (1870), p. 313, 319 u. 321, $ 8 und 78 (1874), p. 99-100 u. p. 114ff.

123) Reye, J. f. Math. 72 (1870), p. 293, 78 (1874), p. 97. Einige besondere Fälle behandelte Routh (Quart. J. of math. 21 (1886)). Die Theorie hat $. Kantor auf einen Raum von beliebig vielen Dimensionen ausgedehnt (Münch. Ber. 26 (1896), p. 531).

340 IV 4. @. Jung. Geometrie der Massen.

sive und auch die Umhüllungsflächen der Ebenen konstanten Momentes bis zum m*®® Momente überein. Umgekehrt sind zwei Systeme, die dieselbe mn Nullfläche und gleiche Gesamtmasse besitzen, im m Grade äquivalent.

Ein Massensystem heisst im m" Grade indifferent, wenn für jede Ebene des Raumes alle seine Momente bis zum m“® inclusive ver- schwinden. Es ist dann jede Nullfläche bis zur m*® unbestimmt, die Gleichung (78) wird eine Identität für m—1,2,...,m. Es wird ferner für jede Gruppe von nicht mehr als m Ebenen und für jede Fläche der m*® oder niedrigerer Ordnung das Moment des Systems gleich Null.

Sind zwei Massensysteme im m*“ Grade äquivalent, so geht das eine aus dem anderen durch Hinzufügung eines in demselben Grade indifferenten Systems hervor, und man kann also ein solches indiffe- rentes System als die Differenz zweier im m‘" Grade äquivalenter Systeme ansehen.

Ist ein Massensystem im (m 1)" Grade indifferent, und ent- wickelt man die Gleichung der zugehörigen m*" Nullfläche 8” = 0 nach Potenzen von 7, so verschwinden in dieser Gleichung alle Glieder bis auf das von 7 unabhängige. Die m“ Nullfläche reduziert sich damit auf eine unendlich ferne Kurve, und die Momente m‘ Grades des Systems sind für zwei parallele Ebenen jeweils gleich.

Zwei Massensysteme, welche für jede Ebene eines Bündels gleiche Momente m'® und niedrigeren Grades haben, sind im m" Grade äquivalent, wenn sie auch gleiche Gesamtmasse besitzen. Denn in der Entwickelung der Gleichung ®" = 0 für beide Systeme nach Potenzen von T stimmen dann alle Glieder überein, und die beiden Systeme haben demnach dieselbe m‘ Nullfläche.

It M— Na,p” der Ausdruck für das Moment m" Grades eines Massensystems bezüglich einer Ebene x, so wird das Moment für eine parallele Ebene x’, welche von x den Abstand «a hat:

(79) M' = Da, @". Die Wurzeln der Gleichung m*® Grades:

(80) Ia,(p or —0

sind daher die Abstände a,, @,...,a,„ der Ebene x von den zu ihr parallelen Tangentialebenen der m*” Nullfläche ®,,.'*) Der Koeffizient von a”-* in dieser Gleichung ist das k" Moment des Massensystems für die Ebene x. Der Koeffizient von a” ist die Gesamtmasse

124) Reye, J. f. Math. 72 (1870), p. 302, $ 3.

28. Polarität und Apolarität. 341

u= De,. Es sind daher die Momente bis zum mt Grade inclusive als Funktionen von qa,,@,...,q, durch die bekannten Relationen zwischen den Koeffizienten und Wurzeln einer Gleichung m!” Grades bestimmt. Z. B. findet man das m‘* Moment des Massensystems für eine beliebige Ebene, indem man die Gesamtmasse multipliziert mit den Abständen der Ebene von den m zu ihr parallelen Berührungs- ebenen der m‘ Nullfläche !®) u. s. w.

In einem beliebigen Büschel sei n eine veränderliche und x eine feste Ebene, welche die m‘ Nullfläche nicht berührt, 0, 6,, @,,...., 6, seien die Winkel, welche x mit n und den m in dem Büschel ent- haltenen Tangentialebenen der Nullfläche bildet. Sind dann M, und M,, die m!” Momente des Dez für n und x, so ward:

sin (6, 6) sin (0, 0 . sin (Om 0 (81) M,— en 6, nn 0. - . sin sn MR) Hiernach lässt sich, wenn M, und de m Tangentialebenen der Null- fläche bekannt sind, das Moment für jede Ebene des Büschels be- rechnen. Ist die ganze Nullfläche bekannt, so lässt sich weiter, indem man die Axe des Büschels in der festen Ebene x verschiebt, das Moment für jede Ebene des Raumes finden.

28. Polarität und Apolarität. Es wurde oben bereits eine Methode erörtert, nach der man mit Hülfe einer beliebigen Ebene x ein gegebenes Massensystem in ein neues verwandelt. Es wurde nämlich jede Masse «, mit einer linearen Funktion (ax; + By; + v2; P) multipliziert, welche den Abstand des betreffenden Massenpunktes von der Ebene x angiebt (Nr.11). Analog kann man allgemein aus einem ge- gebenen Massensysteme ein anderes herleiten, in dem man die Masse «, des .'" Massenpunktes (%,, Y,, 2,) durch die Masse

Fl, Yı, %) ersetzt, wo F, eine bestimmte Funktion A" Grades der Punkt-

koordinaten &, y, 2 bedeutet. Die s'* Nullfläche des neuen Massen- systems wird durch die Gleichung:

(82) > IF, Y, ? z)(Ux; BE Yy, + Wz; —T)=0 dargestellt. Denkt man sich diese —_ entwickelt, so wird der Koeffizient von U*V« W’T*

125) Ist Ne, 0, so wird eine Wurzel a, unendlich gross. ®” wird von der unendlich fernen Ebene berührt, und die Gleichung (80) reduziert sich auf eine Gleichung (m 1)" Grades. Hierdurch wird gegebenenfalls eine leicht er- sichtliche Modifikation des ausgesprochenen Theorems bedingt.

126) Reye, J. f. Math. 72 (1870), p. 304, Nr. 19.

342 IV4. @. Jung. Geometrie der Massen.

2

= FF, (%,Y, a)atyf ar

und dieser Koeffizient setzt sich linear zusammen aus Ausdrücken von der Form

DA ala) af Ü(+m+n=k, A+u+v<s). Diese Ausdrücke sind aber alle selbst Koeffizienten in der Gleichung der (k + s)' Nullfläche des vorgelegten Massensystems, und erscheinen hier multipliziert mit Koeffizienten der Gleichung F,(&, y,2) = 0. Die s' Nullfläche des neuen Massensystems ist deshalb eindeutig be- stimmt durch die Gleichung F,—= 0 und die (k + s)* Nullfläche des ursprünglichen Massensystems, und heisst nach Reye die s“ Polare der Fläche %‘* Ordnung F,'") bezüglich der Nullfläche (k + st" Klasse. Sie ist selbst eine Fläche s'" Klasse. Für s— 1 reduziert sie sich auf einen Punkt, für dessen Koordinaten sich aus (82) die Beziehungen ergeben:

Mo,= 34%, F,(&, 2), My,= 344 F,(%, 2), Ma—= 242F,(&, 2), \ M=3«F,(, % 2). Er kann der Pol der Fläche F, = 0 für das gegebene Massensystem heissen. Es kann nun insbesondere eintreten, dass die Gleichung (82) identisch erfüllt ist, indem das abgeleitete Massensystem im s'"" Grade

indifferent wird'*). Dann heisst nach Reye die Fläche kr Ordnung F,=0 apolar zu der Fläche (k + s)" Klasse ®,,, = 0. '®)

(83) 4

29. Ersetzung eines Massensystems hinsichtlich seiner Momente av” Grades durch einzelne Punkte. Jedes Massensystem kann hin- sichtlich seiner Momente m‘® Grades durch eine Gruppe von

(m + 1)(m + 2)(m +3) ren a7 == N (m) + 1

127) Die Fläche F, kann dabei in eine Gruppe von k Ebenen ausarten, die ihrerseits teilweise oder alle zusammenfallen können.

128) Damit das abgeleitete Massensystem nicht im Grade s indifferent sei, ist ausreichend, dass das Moment des vorgelegten Massensystems für die Fläche F‘, nicht verschwinde. Umgekehrt genügt diese letztere Eigenschaft aber nicht für die Indifferenz des abgeleiteten Massensystems. Dasselbe ist jedoch sicher indifferent im Grade s, wenn F', durch alle Punkte des urprünglichen Systems oder eines ihm im Grade k + s äquivalenten Systems hindurchgeht.

129) Über apolare Flächen vgl. Reye, J. f. Math. 78 (1874), p. 104 ff. und 79 (1875), p. 159 ff.

29. Ersetzung e. Systems hinsichtl. s. Momente mt" Grades d. einzelne Punkte. 343

Massenpunkten a, ersetzt werden, die nicht auf einer und derselben Fläche der m‘”® Ordnung liegen dürfen, sonst aber beliebig wählbar sind. Dem Punkte a, ist hierbei eine solche Masse uw, beizulegen, dass sein Moment in Bezug auf die Fläche m!” Ordnung F, die durch die übrigen N(m) Punkte hindurchgeht, gleich wird dem Momente des vorgelegten Massensystems für dieselbe Fläche. Diese Masse u, bestimmt sich also, nach (73), aus der Gleichung:

(84) u;° a (%;, Y;, 2,) Fr: Sa; 29 (2, Yu 2).'%)

Ein Massensystem lässt sich im allgemeinen auch durch weniger als N(m) + 1 Punkte ersetzen, wenn die Lage dieser Punkte geeignet gewählt wird!?}), Die kleinstmöglichste Zahl von Punkten zu be- stimmen, ist für ein allgemeines m noch nicht gelungen. Für m =1, also hinsichtlich der statischen Momente, ist ein Massensystem im allgemeinen einem einzigen, bestimmten Massenpunkte äquivalent, für m 2 müssen es, wie wir gesehen haben, im allgemeinen mindestens vier Massenpunkte sein'!®). Hinsichtlich der Momente dritten Grades *??) lässt sich ein allgemeines Massensystem auf oo* Arten durch 6 Massen- punkte ersetzen, für die von zweien die Verbindungslinie willkürlich angenommen werden darf, und auf eine einzige Art durch 5 Massen- punkte'®?). Hinsichtlich der Momente vierten Grades'®*) lässt sich ein allgemeines Massensytem auf 00° Arten ersetzen durch 10 Massen- punkte, von denen einer ganz willkürlich ist und ein anderer auf einer bestimmten, von dem ersten Punkte abhängigen Fläche zweiter Ordnung beliebig angenommen werden darf, während die übrigen acht Punkte auf dieser Fläche eine bestimmte Lage haben. Nur in einem be- sonderen Falle ist das Massensystem bezüglich seiner Momente vierten Grades durch weniger als 10 Punkte, nämlich durch 9 Punkte, von denen einer die übrigen bestimmt, ersetzbar. Dies tritt dann ein,

130) Reye, J. f. Math. 78 (1874), p. 110, Nr.19. Es ist offenbar, in welcher Weise man eine solche Reduktion für die Berechnung der Integrale von der Form Se" 48; f F,„(&,y,2)dS, wo dS das Element eines gegebenen Ausdehnungs- gebietes bezeichnet, nutzbar machen kann. Routh wendet (Quart. J. of math. 21 (1866)) das Integrationsverfahren auf einige besondere Fälle an, welche sich auf den Druckmittelpunkt einer ebenen Fläche und den Schwerpunkt eines Tetraeders beziehen, wenn der Druck oder die Dichtigkeit im Elemente dS durch die ganze Funktion F', des Ortes dargestellt wird. (Vgl. auch Routh, Dynamik 1, $ 45.)

131) Reye, J. f. Math. 72 (1870), p. 321 ($ 8).

132) Reye, J. f. Math. 72 (1870), p. 316 ($ 7) und 78 (1874), p. 114 ff.

133) In allen diesen Fällen sind mit den Punkten auch die Massen bestimmt.

134) Reye, J. f. Math. 78 (1874), p. 123 fl.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1. 23

344 IVA. @. Jung. Geometrie der Massen. 830. Problem der Grenzwerte.

wenn die vierte Nullfläche des Massensystems eine apolare Fläche zweiten Grades besitzt.

Algebraisch zu reden handelt es sich bei diesen Sätzen um die Darstellung quaternärer Formen als Summe von Potenzen linearer Formen. Man vergl. in dieser Hinsicht das Referat über Invarianten- theorie in Bd. I (W. Franz Meyer), insbesondere Nr. 10.

30. Das Problem der Grenzwerte von P. L. Tschebyscheff. Eine besondere Wendung hat P. L. Tschebyscheff‘”°) der Betrachtung der höheren Momente, zunächst nur für eine Variable, gegeben. Für eine

B unbekannte, positive Dichte f(x), nimmt er die Integrale f f(«) de, B B A

B Ser® da, Ser @ dx,-- farf) dx als gegeben an, wo A>a b

A A A

und B<b ist, und fragt, zwischen welchen Grenzen dann das 'h fe)dz

gelegen sein kann. Diese Grenzen werden immer durch Massenver- teilungen geliefert, bei denen nur einzelne Punkte der x-Axe mit Masse belegt sind. Vgl. die erste Mitteilung von T'schebyscheff'”°), in (der folgendes Problem gestellt ist: Gegeben die Länge, das Gewicht, der Schwerpunkt und das Schwerhauptträgheitsmoment einer materiellen geraden Linie, deren Dichtigkeit unbekannt ist und sich von Punkt zu Punkt ändern darf; man soll die Grenzen finden, zwischen denen sich das Gewicht eines Teiles dieser geraden Linie bewegen kann. Die Lösung dieses Problems gab P. L. T'schebyscheff' ohne Beweis, den dann A. Markoff“?°) lieferte. Eine ausführliche Zusammenstellung dieser Dinge gab O. Possc'®®). Bei ihm wird die Frage in der Weise analytisch verallgemeinert, dass statt der Potenzen von x Funktionen (a), R,(x) --- 2,(0) eingeführt werden, die geeigneten Einschrän- kungen unterworfen sind'??).

135) P. Tschebyscheff, J. de math. (2) 3 (1858), 12 (1867) und 19 (1874). Vgl. auch Petersb. M&m. de l’Acad. (7) 1 (1859) und Acta math. 9 (1886), sowie die Arbeiten seiner Schüler (E. J. Zolotareff, J. de math. 19 (1874); A. Markoff, Math. Ann. 24 (1884) und Acta math. 9 (1886)).

136) J. de math. 19 (1874), p. 159.

137) Math. Ann. 24 (1884), p. 179.

138) C. Posse, Math. Ann. 26 (1886) und CO. Posse, Sur quelques appli- cations des fractions continues algebriques, Petersburg 1886, ch. 5.

139) Diese Fragestellungen von Tschebyscheff finden ihre besondere An- wendung bei den Untersuchungen über die Massenverteilung im Innern der Erde. Vgl. hierüber das Nähere in Bd. VI (Geophysik).

(Abgeschlossen im März 1903.)

IV 5. L. Henneberg. Die graphische Statik der starren Körper. 345

IV5. DIE GRAPHISCHE STATIK DER STARREN KÖRPER.

Von

L. HENNEBERG

IN DARMSTADT.

Inhaltsübersicht.

Vorbemerkung. Historisches.

I. Grundzüge der graphischen Statik. A. Das ebene Kräftesystem.

Die analytische Zusammensetzung der Kräfte.

Graphische Bestimmung des resultierenden statischen Momentes. Graphische Zusammensetzung der Kräfte durch das Seilpolygon. Die verschiedenen Seilpolygone des nämlichen Kräftesystemes.

Das Seilpolygon als Projektion des Schnittes eines räumlichen Gebildes. Das Gelenkpolygon als Seilpolygon.

Weitere Methoden für die graphische Zusammensetzung der Kräfte. Kräftekurve und Seilkurve.

Kräfte mit demselben Angriffspunkt. Reziproke Figuren. Allgemeine Theorie der reziproken Figuren.

Zerlegung einer Kraft in Komponenten in derselben Ebene.

B. Das ebene Kräftesystem. Anwendungen.

Graphische Schwerpunktsbestimmung. Weitere graphische Methoden für die Schwerpunktsbestimmung. Bestimmung des statischen Momentes einer Kraft durch das Seilpolygon. Biegungsmoment. Biegungsmomentenfläche. Einflusslinie. Konstruktion des Trägheitsmomentes durch das Seilpolygon. Weitere graphische Methoden zur Bestimmung des Trägheitsmomentes. Konstruktion der Trägheitsellipse. Trägheitskreis und Centralkreis. Centrifugalmoment (Deviationsmoment). Centralkern.

C. Das räumliche Kräftesystem.

Kräfte mit demselben Angriffspunkt. Kräftepaare in verschiedenen Ebenen. 28°

346 IV 5. L. Henneberg. Die graphische Statik der starren Körper.

26. Graphische Zusammensetzung der Kräfte im Raum mit verschiedenen Angriffspunkten. 27. Parallele Kräfte. Mittelpunkt. Schwerpunkt.

II. Die bestimmten Fachwerke. Allgemeine Theorie.

A. Ebene Fachwerke. 28. Einleitung.

29. Gelenksysteme und deren Klassifikation. Definition der freien Fachwerke.

30. Analytische Kennzeichen für die verschiedenen Arten von Gelenksystemen.

31. Das statische Grundproblem für die freien Fachwerke. „Bestimmte“ Fach- werke.

33. Dreiecksfachwerke. Schnittmethode. Methode der Kräftepolygone.

33. Maxwell’sche Fachwerke.

34. Die Struktur des (allgemeinen) „bestimmten‘‘ ebenen Fachwerkes.

35. Bestimmung der Spannungen in den (allgemeinen) „bestimmten‘‘ ebenen Fach- werken. Einleitung.

36. Fortsetzung: Die Methode von Henneberg.

37. Fortsetzung: Die kinematische Methode von Mohr und Müller- Breslau.

38. Fortsetzung: Die allgemeine Verwendung der reziproken Fachwerke.

39. Allgemeine Kriterien für das Auftreten der Grenzfälle.

B. Räumliche Fachwerke.

40. Räumliche Gelenksysteme. „Bestimmte“ räumliche freie Fachwerke.

41. Spezielle räumliche Fachwerksformen und Diagramme.

42. Struktur des (allgemeinen) „bestimmten“ räumlichen Fachwerkes.

43. Bestimmung der Spannungen im (allgemeinen) „bestimmten“ räumlichen Fachwerke.

44. Allgemeine Kriterien für das Auftreten der Grenzfälle.

III. Spezielle Fachwerksträger. 45. Vorbemerkung. 46. Lagerpunkte der Fachwerke. 47. Gestützte Fachwerke. 48. Spezielle ebene Fachwerksträger. 49. Fortsetzung: Gestützte ebene Fachwerke als Fachwerksträger. 50. Spezielle räumliche Fachwerksträger.

Schlusswort.

Litteratur. (Ausser den in IV 2 und 4 aufgeführten Büchern.) Lehrbücher.

J. Bauschinger, Elemente der graphischen Statik, München 1871; 2. Aufl. 1880. A. J. du Bois, The elements of graphical statics, New York 1875.

Litteratur. 347

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1. Vorbemerkung. 2. Historisches. 349

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1. Vorbemerkung. Da die Statik der starren Systeme in theo- retischer und insbesondere analytischer Richtung schon in den Artikeln IV 2 (Timerding) und IV 4 (Jung) behandelt wird, so sollen hier nur die graphischen Methoden gegeben werden. Dabei wird die Be- schränkung auf die starren Systeme festgehalten, indem die sich auf elastische Körper beziehenden graphischen Methoden später in den Referaten über Elastizität und Festigkeitslehre behandelt werden.

2. Historisches. Die Methoden der graphischen Statik starrer Körper beruhen im wesentlichen auf der Verwendung des Kräfte- und Seilpolygones. P. Varignon') gab zuerst den Satz, dass sich beliebige im Gleichgewicht befindliche Kräfte, wenn man sie durch gerichtete Strecken darstellt, stets zu einem geschlossenen Polygone zusammen- fügen lassen (vgl. IV 2, 20, Timerding). Ebenso war er der erste, der die Aufgabe behandelte, das Gleichgewicht eines Seilzuges, auf welchen in den verschiedenen Eckpunkten beliebige Kräfte wirken, zu ermitteln, sowie die Spannungen in den einzelnen Teilen des Seiles zu finden. Von da aus kam er dazu, den Zusammenhang des Kräfte- und Seilpolygones zu untersuchen und zwar sowohl für parallele wie für nichtparallele Kräfte?). Auch wird von Varignon mit Hülfe des Seilpolygones schon die Resultante von Kräften bestimmt, ohne dass er jedoch, da er nur an ein Seil denkt, der Konstruktion eine weitere Bedeutung beilegt?). Später sind es @. Lame und B.P. E. Olapeyron*),

1) Nouvelle me&canique, 1 u. 2.

2) Nouvelle m&canique 1, p. 193 u. f.; planche 11, fig. 92 u. 93.

3) So findet sich bei Varignom die folgende Figur (t. 1, planche 11, fig. 6): sowie die Bemerkung (p. 199): Les Corol. 19 et 20 du Lem. 3 font voir que

350 IV 5. L. Henneberg. Graphische Statik: Ebenes Kräftesystem.

J. V. Poncelet?), A. F. W. Brix®) und andere, welche das Kräfte- und Seilpolygon bei der Untersuchung der Gleichgewichtsfigur des Seiles verwenden, dieselben gehen jedoch nicht wesentlich in der Er- kenntnis des Seilpolygones über Varignon hinaus. Das nämliche lässt sich von B. E. Cousinery”) sagen, der sich mehr damit beschäftigte, graphische Methoden für die gewöhnlichen Rechnungsoperationen zu finden, ebenso wie Poncelet bemüht war, für eine Reihe von Rech- nungsausdrücken Konstruktionen herzuleiten. Für die Schwerpunkts- bestimmung soll Poncelet das Seilpolygon in seinen Vorträgen an der Artillerie- und Genieschule in Metz verwandt haben®). Der erste,

l’effort resultant du concours des puissances K, L est dirige suivant ER ou FR; que le resultant du concours de celui-ci et de la puissance M, est dirige

1%

EN

Fig.ı

suivant F'S ou @S$; que le r6sultant de celui-ci et de la puissance N est dirig6 suivant @T; et toujours de m&me. 4) Journ. des voies de communication, St. Petersbourg, Jan. 1827, p. 44 u. f. 5) Cours de m&canique industrielle, Metz 1829, p. 77, 79, 85 etc. 6) Lehrbuch der Statik fester Körper, 2. Aufl., Berlin 1849, p. 422 u. f. 7) Le calcul par le trait, Paris 1838. 8) C. Culmann, Gr. St. 2. Aufl, Vorrede, p. VII.

3. Analytische Zusammensetzung der Kräfte. 4. Statisches Moment. 351

weleher die Verwendbarkeit des Seilpolygones für die allgemeinen Aufgaben der Statik erkannte, und dasselbe lediglich als Konstruk- tionsmittel und unabhängig von seiner Bedeutung als Gleichgewichts- figur des Seiles betrachtete, war 0. Culmann?), der daher als Be- ogründer der graphischen Statik anzusehen ist!%). Bezüglich der An- wendungen der graphischen Statik ist J. Clerk Maxwell hervorzuheben, der insbesondere die reziproken Kräftepläne der Fachwerke begründete.

I. Grundzüge der graphischen Statik. A. Das ebene Kräftesystem.

3. Die analytische Zusammensetzung der Kräfte. Aus den in IV 2, III (Timerding) behandelten Regeln für die Zusammensetzung beliebiger an einem starren Körper angreifenden Kräfte folgt für den besonderen Fall, in dem alle diese Kräfte in einer Ebene liegen, dass dieselben im allgemeinen einer einzigen resultierenden Kraft'') statisch äquivalent sind, welche auch in ein Poinsot’sches Kräftepaar über- gehen kann.

Sind X,, Y, die Komponenten der Kraft P,, «,, y, die Koordinaten des Angriffspunktes und M, = X,y, Y,x, das Drehmoment um den Koordinatenanfangspunkt, so berechnet sich die Resultante aus den Gleichungen

SxX=X, SY=Y, ZSMm—M. Gleichgewicht ist vorhanden, wenn alle drei Ausdrücke verschwinden.

4. Graphische Bestimmung des resultierenden statischen Mo- mentes. Das statische Moment einer Kraft für einen gegebenen Punkt O als Drehpunkt oder Pol wird schon bei Varignon'?) durch den doppelten Inhalt des Dreieckes dargestellt, welches die Kraft zur Basis und den Drehpunkt zur Spitze hat!?). Das resultie- rende Moment eines ebenen Kräftesystemes wird demnach gefunden

9) Carl Culmann, geb. 1821 in Bergzabern (Rheinpfalz), gest. am 9. Dez. 1881 in Zürich, war von 1854 bis zu seinem Tode Professor der Ingenieur- wissenschaften und der erste Direktor am Polytechnikum in Zürich. Sein Haupt- werk ist „Die graphische Statik“.

10) Vgl. auch die ausführliche Darstellung in M. Rühlmann, Vorträge über Geschichte der technischen Mechanik, Leipzig 1885, $ 39.

11) ©. Culmann bezeichnet die Resultante auch als Mittelkraft.

12) Nouvelle mecanique 1, p. 304, sowie Lemme XVI, p. 84 ff.

13) Infolge dieser graphischen Darstellung des Momentes bezeichnet Oul- mann die Grösse der Kraft als die Basis des Momentes.

352 IV 5. L. Henneberg. Graphische Statik: Ebenes Kräftesystem.

durch algebraische Addition aller der Dreiecke, welche die einzelnen Kräfte des Systemes zur Grundlinie und den angenommenen Dreh- punkt zur Spitze haben. Hierfür werden von Culmann zwei gra- phische Verfahren gegeben, indem sämtliche Dreiecksflächen auf die- selbe Grundlinie bezw. Höhe gebracht und dann addiert werden %), Die Methode ist im besonderen anwendbar, wenn alle Kräfte paar- weise an Grösse gleich und entgegengesetzt gerichtet sind, also zur Ermittelung des Momentes eines aus beliebig vielen Kräftepaaren resultierenden Paares °).

5. Graphische Zusammensetzung der Kräfte durch das Seil- polygon. Die Grösse und Richtung der Resultante eines ebenen Kräftesystemes ergiebt sich durch die Schlusslinie des Kräftepolygones '°), nämlich die Linie, welche die nach Grösse und Richtung aneinander- gelegten Kräfte des Systemes zu einem geschlossenen Polygon ergänzt. Die graphische Addition der Momente (für einen angenommenen Drehpunkt) ergiebt die Lage der Resultanten.

Es genügt aber zur Festlegung der Resultante schon die Kenntnis eines einzigen Punktes auf ihrer Aktionslinie. Zur Bestimmung eines solchen wird von Culmann'') ein Seilpolygon“*) (polygone funicolaire, funieolar polygon, poligono funicolare) gezeichnet, dessen Knotenpunkte (Eckpunkte) auf den Aktionslinien ,, 1, l,,... der aufeinanderfolgen- den Kräfte P,, P,, P;,... liegen, während dessen Seiten parallel sind zu den Strahlen (Diagonalen), welche von einem beliebig angenommenen Punkte CO, dem Pole des Kräftepolygones (Pol des Seilpolygones), nach den Eckpunkten 0,1,2,3,... des Kräftepolygones gehen (vgl. Fig. 2). Durch dieses Seilpolygon werden die einzelnen Kräfte in je zwei Komponenten zerlegt, die in den beiden, in der betreffenden Kraft zusammenkommenden Seiten des Seilpolygones liegen und die Grösse der betreffenden parallelen Diagonale des Kräftepolygones besitzen. Hierbei bekommen die beiden gleichgrossen Kräfte, welche mit Aus- nahme der beiden äussersten Seiten‘”) in den einzelnen Seiten des

14) Gr. St., p. 103 u.f. Culmann spricht von einer Reduktion der Momente auf eine vorgeschriebene Basis bezw. vorgeschriebenen Hebelarm.

15) Gr. St., p. 106 u. £.

16) Bezeichnung von Oulmann. Culmann nennt ferner das Kräftepolygon ein offenes bezw. ein geschlossenes, je nachdem der Endpunkt des Kräftezuges nicht in den Anfangspunkt oder wieder in denselben fällt. Gr. St., p. 77.

17) Gr. St., p. 78 u. f.

18) Seileck nach G@. Lang, ebenso Kräfteeck statt Kräftepolygon.

19) Culmann’sche Bezeichnung.

5. Graphische Zusammensetzung der Kräfte durch das Seilpolygon. 353

Seilpolygones liegen, entgegengesetzte Richtung und heben sich auf"). Somit setzt sich die Resultante des gamzen Kräftesystemes aus den beiden Kräften zusammen, welche sich in den äussersten Seiten des ‚Seilpolygones ergeben, und geht durch deren Schnittpunkt hindurch. Beispielsweise geht die Resultante R der drei in /,,l,,l, liegen- den Kräfte P,, P,, P, durch den Schnittpunkt A der äussersten Seiten

N

Fig. 2.

9, und g, des Seilpolygones und hat die Grösse und Richtung der Schlusslinie 03 des Kräftepolygones (s. Fig. 2).

Die Figur links wird als Kräfteplan für die Figur rechts be- zeichnet. Die Längen der Polstrahlen 00, C1, C2, C3 stellen die Komponenten dar, welche sich bei Zerlegung der in /,, l,, I, liegen- den Kräfte P,, P,, P, in den Seiten 9,, 99, 95, 94 des Seilpolygones ergeben; umgekehrt repräsentieren sie auch die Spannungen, die in den Seiten des Seilpolygones angebracht werden müssen, um den Kräften P,, P,, P,, bezw. ihrer negativ genommenen Resultanten, das Gleichgewicht zu halten.

Übrigens ergeben sich sofort die charakteristischen Sätze:

20) Werden die einzelnen Seiten des Seilpolygones materiell gedacht, so stellen die Längen der parallelen Diagonalen des Kräftepolygones die Spannungen in den einzelnen Seiten des Seilpolygones dar. Man hat Zug- und Druck- spannungen zu unterscheiden. Treten nur Druckspannungen auf, so bezeichnet Culmann das Seilpolygon auch als Drucklinie. Gr. St., p. 79.

354 IV 5. L. Henneberg. Graphische Statik: Ebenes Kräftesystem.

Ist das Kräftepolygon geschlossen, das Seilpolygon dagegen offen?*), so lässt sich das Kräftesystem auf ein Kräftepaar zurückführen.

Ist Kräftepolygon und Seilpolygon geschlossen, so ist Gleichgewicht vorhanden.

6. Die verschiedenen Seilpolygone des nämlichen Kräfte- systemes. Schon von Oulmann wird die Frage aufgeworfen nach den verschiedenen Seilpolygonen, die zu dem nämlichen Kräftesystem ge- hören??). Ihre Anzahl ist 0°”. Am wichtigsten sind hierbei diejenigen Seilpolygone, welche sich durch Änderung des Poles im Kräftepolygon, aber unter Beibehaltung der Reihenfolge der Kräfte ergeben.

Das spezielle Seilpolygon, welches für den Anfangspunkt des Kräftepolygones als Pol gezeichnet ist, wird von Oulmann die Mittel- kraftslinie (poligono delle successive resultanti) genannt, da in dessen aufeinanderfolgenden Seiten die Resultanten (Mittelkräfte) der beiden ersten Kräfte, der drei ersten Kräfte u. s. w. liegen. Mit Hülfe dieser Mittelkraftslinie beweist Oulmann den Satz:

Bei zwei Seilpolygomen, die zu dem nämlichen Kräftesystem gehören und für dieselbe Reihenfolge der Kräfte, aber verschiedene Pole kon- struiert sind, schneiden sich die gleichvielten (entsprechenden) Seiten in den Punkten einer geraden Linie (Parallaxe), die parallel ist zur Ver- bindungslinie der beiden Pole (Polaxe)?°).

Von diesem Satze macht H. G@. Zeuthen”) Gebrauch, um Poly- gone zu zeichnen, welche vorgeschriebenen Bedingungen genügen. Insbesondere lösen O0. Mohr, M. Levy und später ©. Saviotti die Aufgabe, ein Seilpolygon zu zeichnen, von dem drei Seiten durch vorgeschriebene Punkte gehen®). Auch O. Hüppner”®), L. Geusen ?") und A. Ludin?®) behandeln diese Aufgabe.

7. Das Seilpolygon als Projektion des Schnittes eines räum- lichen Gebildes. Ein tieferer Einblick in die geometrischen Be-

21) Culmann nennt das Seilpolygon offen, wenn die äussersten Seiten nicht zusammenfallen; im anderen Falle geschlossen.

22) Gr. St., p. 82 u. £f.

23) Culmann bemerkt hierzu: „Dieser Satz ist ausserordentlich nützlich; er setzt uns in den Stand ohne auf das Kräftepolygon zurückzugreifen, ein neues Seilpolygon zu konstruieren.“ Gr. St., p. 84.

24) Zeuthen, Tidsskr. for Math. (4) 1 (1877), p. 27; siehe auch E. Rouche, Nouv. ann. (3) 6 (1887), p. 439.

25) O. Mohr, Civiling. (2) 32 (1886), p. 535; M. Levy, La statique graphique, Paris 1886, t 1, p. 67; C. Saviotti, La statica grafica 2, Milano 1888, p. 26—29.

26) Civiling. (2) 33 (1887), p. 89.

27) Civiling. (2) 42 (1896), p. 471.

28) Zeitschr. f. Math. Phys. 48 (1903), p. 469.

BERN

6. Die verschiedenen Seilpolygone. 7. Das Seilpolygon als Projektion. 355

ziehungen zwischen den Seilpolygonen, die zu dem nämlichen Kräfte- systeme gehören, ergiebt sich, wenn man nach J. Olerk Maxwell (siehe Nr. 12) die gezeichneten Figuren als Projektionen von räumlichen Gebilden betrachtet. Ausgehend von den Untersuchungen von Max- well hat L. Oremona den Satz hergeleitet?”), dass jedes Seilpolygon sich als Projektion eines ebenen Schmittes eines n- Flaches ansehen lässt, dessen Kanten sich in die aufeinanderfolgenden Aktionslinien der Kräfte projizieren. Die betreffende analytische Untersuchung ist von F. Klein durchgeführt"):

Wir nehmen der Einfachheit halber an, dass die gegebenen Kräfte für sich ein Gleichgewichtssystem bilden (anderenfalls müsste man ihnen die Resultante, negativ genommen, hinzufügen). Ferner seien X,, Y,; die Komponenten der gegebenen Kräfte und M, deren Dreh- momente @=1,2,...,n). In Übereinstimmung hiermit mögen die aufeinanderfolgenden Ecken des in Fig. 2 (p. 353) dargestellten Kräfte- polygons die Koordinaten

2 2 0, 0; X, 7, IX, Sy; ete.

erhalten; der Pol © habe die Koordinaten DR A

Es sind dann erstlich die Aktionslinien der gegebenen Kräfte durch folgende Gleichungen gegeben: (A) 0=2-%,—y%+M, Nimmt man ferner als Gleichung der ersten Seite des Seilpolygons (die zu der Verbindungslinie der Punkte 0, 0 und X, Y parallel sein soll) (2) 0=2-Y—-yX+M (wo M beliebig), so ergeben sich für die ferneren Seiten die Glei- chungen:

en HM SEM Mm), (3) 0-z[r- Sr) -s(x- 22)+ (#3 A}

die letzte Seite: -.(r-Sr)-v(x-2x%)+ (#3) 1 1 2

fällt, wie es sein muß (weil Gleichgewicht vorausgesetzt wurde), mit der ersten zusammen.

29) Cremona-Saviotti, Les figures r&eiproques, p. 10 u. folg. 30) Collegienheft von F\. Klein 1896: Technische Mechanik (nicht publiziert).

356 IV 5. L. Henneberg. Graphische Statik: Ebenes Kräftesystem.

Man betrachte nun folgende Reihe von Ebenen im Raume:

2—=(, =23-Y,'-y X, +M, 2 2 2 (4) = a3, —-y2X + 2M, ?=2 3%, —- 923% 4+ 24,

deren letzte mit der ersten (2—= 0) zusammenfällt.

Die Elimination von z zwischen je zwei aufeinanderfolgenden Gleichungen (4) ergiebt die Gleichungen (1). Die aufeinanderfolgenden Ebenen (4) schneiden sich also im Raume in geraden Linien, welche orthogonal projiziert die Aktionslinien der wirkenden Kräfte ergeben.

Man eliminiere andererseits z zwischen den einzelnen Gleichungen (4) und der folgenden Gleichung:

(5) 2z=4-Y—y-X+M.

Man erhält dann gerade die Gleichungen (2), (3) der aufeinander- folgenden Seiten unseres Seilpolygons. Die Ebene (5) schmeidet also die aufeinanderfolgenden Ebenen (4) in solchen Raumgeraden, die ortho- gonal projiziert die suecessiven Seiten des Seilpolygons ergeben. Die dreifach unendlich vielen Seilpolygone ergeben sich, wenn man der Ebene (5) alle möglichen Lagen erteilt.

Aus dieser Darstellung lassen sich leicht die geometrischen Be- ziehungen erkennen, welche zwischen zwei Seilpolygonen, die zu dem nämlichen Kräftesysteme gehören, bestehen.

Weitere Sätze über die Konfigurationen zwischen den ver- schiedenen Seilpolygonen, die sich für das nämliche Kräftesystem zeichnen lassen, bezw. zwischen den Aktionslinien der Kräftesysteme, die sich dem nämlichen Seilpolygone zuordnen lassen, haben L. Ore- mona°!), W. Schell®?), Th. Reye?®®) sowie G. Jung”) gefunden.

8. Das Gelenkpolygon als Seilpolygon. Die allgemeinen Gleich- gewichtsbedingungen für Kräfte, die an mit einander verbundenen

31) Le figure reciproche nella statica grafica, 3. ed., Milano 1879.

32) Theorie der Bewegung und der Kräfte, 2. Aufl. Des 1880, Bd. 2, p. 74.

33) Acta math. 1 (1882), p. 93.

34) Ann. di mat. (2) 12 (1884), p. 169; Ist. Lomb. Rend. (2) 18 (1885), p. 337.

8. Das Gelenkpolygon als Seilpolygon. 357

Körpern angreifen, hat A. F. Moebius gegeben®). Insbesondere hat Moebius die allgemeinen Sätze über das Gleichgewicht eines Gelenk- polygones gefunden und die Untersuchung für das Viereck und Fünf- eck analytisch durchgeführt. Ein klarerer Einblick in die Gleich- gewichtsbedingungen bei einem Gelenkpolygone wird gewonnen, wenn das Gelenkpolygon als ein Seilpolygon betrachtet, bezw. mit einem Seilpolygon in Verbindung gebracht wird, auf welches dann die ge- wöhnlichen Sätze der graphischen Statik angewandt werden können.

Greifen die Kräfte lediglich in den Gelenken an, so muss im Falle des Gleichgewichtes das Gelenkpolygon als ein zu den Kräften gehörendes Seilpolygon betrach- tet werden können. In dem ein- fachen Falle eines Viereckes ABCD, den W. Schell behan- delt?®), ergiebt sich, dass die p Aktionslinien 1, Z, 2,1, der „_—- auf die Gelenke wirkenden Kräfte mit geschlossenem Kräftepoly- gon sich in vier Punkten E,,

E,, F,, F, schneiden, deren Verbindungslinien E,E, und

F,F, durch die Schnittpunkte Fig. 3.

E und F der gegenüberliegen-

den Seiten des Gelenkviereckes gehen. Für das n-Eck hat @. Jung die Untersuchung durchgeführt ®).

Den Fall, bei dem die Kräfte nicht in den Gelenken, sondern in beliebigen Punkten der Seiten des Gelenkpolygones angreifen, hat F. P. Ruffini analytisch mit Hülfe des Prinzipes der virtuellen Ver- rückungen behandelt?”). Bei der graphischen Behandlung ist zu be- rücksichtigen, dass im Falle des Gleichgewichtes die Resultanten der auf die einzelnen Stäbe wirkenden Kräfte sich in durch die Gelenke des betreffenden Stabes hindurchlaufende Komponenten zerlegen lassen müssen, und zwar so, dass sich hierbei in jedem Gelenke zwei gleich grosse, aber entgegengesetzt gerichtete, Gelenkdrücke®) ergeben. Es muss sich somit für die Resultanten der auf die einzelnen Stäbe wirken- den Kräfte ein Seilpolygon konstruieren lassen, dessen Seiten durch die

35) Lehrbuch der Statik, Leipzig 1837, 2, Kap. 1—3.

36) W. Schell, Theorie der Bewegung und der Kräfte, 1. Aufl. Leipzig 1870, p- 632.

37) Bologna, Mem. (3) 10 (1879), p. 3.

38) Gegenkräfte nach Moebius.

358 IV: 5 Henneberg. Graphische Statik: Ebenes Kräftesystem.

aufeinanderfolgenden Gelenke hindurchgehen, d.h. mit anderen Worten: es muss sich ein Polygon zeichnen lassen, welches dem durch die Aktionslinien der Kräfte gebildeten Polygone einbeschrieben und dem Gelenkpolygon umschrieben ist.

In dem speziellen Fall, bei welchem auf einen Stab des Gelenk- systemes eine Kraft wirkt und das Gelenksystem im Gleichgewicht gehalten werden soll durch eine an einem anderen Stab wirkende Kraft von gegebener Richtung, hat A. B. W. Kennedy eine graphische Lösung gegeben®®). Die allgemeinere Aufgabe, bei einem Gelenkpoly- gone die Aktionslinie der auf die letzte Seite wirkenden Kraft für den Fall des Gleichgewichtes zu finden, wenn die Aktionslinien der auf die übrigen Seiten wirkenden Kräfte gegeben sind, hat L. Henne- berg graphisch behandelt?®),

9. Weitere Methoden für die graphische Zusammensetzung der Kräfte. Solche wurden ausser von F.P. Ruffini‘!) und M. d’Ocagne*?) von H. T. Eddy‘) und H. Hollender*) gegeben.

Eddys Methode, welche von CO. Saviotti*) weiter ausgebildet wurde, ist eine Verallgemeinerung des Seilpolygones. Bei dieser Methode des „frame pencil“ oder „metodo del faseio funicolare“ wird irgend ein Polygonzug gezeichnet, dessen Eckpunkte A, in den auf- einanderfolgenden Kräften P, liegen. Jede der Kräfte P, lässt sich dann in eine Kraft durch einen beliebig wählbaren Punkt E und in Komponenten zerlegen, die in den in A, zusammenkommenden Seiten des Polygonzuges liegen, und zwar so, dass zwei in derselben Seite des Polygonzuges wirkende Komponenten sieh aufheben. Die Kräfte P, werden hierdurch zurückgeführt auf die durch E gehende Resultante der in EA,, EA,... liegenden Komponenten und auf eine Kraft, welche die letzte Seite des Polygonzuges zur Aktionslinie hat.

39) Lond. Math. Soc. Proc. 9 (1878), p. 221.

40) Festschrift z. d. Jubelfeier d. 50jähr. Bestehens d. techn. Hochsch. z. Darmstadt (1886), p. 71.

41) Bologna, Mem. (4) 6 (1886), p. 83.

42) Nouv. ann. (2) 19 (1880), p. 115.

43) Van Nostrand’s Engineering Magazine 10 (1878); Amer. J. of math. 1 (1878), p. 322.

44) H.J. Hollender, Über eine graphische Methode zur Zusammensetzung von Kräften, Leipzig 1896.

45) Roma, Acc. dei Linc. Atti (Mem.) (3) 3 (1879), p. 240 und La statica grafica 2, Milano 1888, p. 2933. Saviotti untersucht auch die Beziehung dieser Methode zu den reziproken Figuren der graphischen Statik vgl. unten Nr. 11 resp. Nr. 12,

9. Weitere Methoden für die graphische Zusammensetzung der Kräfte. 359

So lassen sich die drei Kräfte P,, P,, a, zu welchen das Kräfte- polygon 69, €, C2, 63 und eine Resultante R von der Grösse und Richtung der Linie CC; gehört, zurück- führen auf eine Kraft in EA von der Grösse und Richtung der Linie Cobz und in eine

E

Fig. 4.

solche von der Grösse und Richtung der Linie b,c, in der letzten Seite A, A des Polygonzuges. Die Resultante R der Kräfte P,,P,, P;

liegt in !, wo I || c,6;-

Gehen die zu den Seiten des Polygonzuges parallelen Linien Cd, ,69b,,c;b, durch denselben Punkt, so geht die Methode in die- jenige des Seilpolygones über.

Eine Vereinfachung tritt ein, wenn an die Stelle des Polygon-

zuges eine gerade Linie L gesetzt wird*). Es sind dann die Kräfte P; in je zwei Kompo- nenten zu zerlegen, von denen die eine durch einen ange- nommenen Punkt E geht, während die

Fig. 5.

46) Mit diesem speziellen Fall beschäftigt sich H. J. Hollender und be- nutzt denselben auch zur Bestimmung des statischen Momentes und des Träg-

heitsmomentes.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1. 24

360 IV 5. L. Henneberg. Graphische Statik: Ebenes Kräftesystem.

andere in einer vorgeschriebenen Geraden L liegt. An die Stelle des Seilpolygones tritt das Polygon aus den durch E gehenden Komponenten der Kräfte P, (Komponentenpolygon). In der umstehenden Zeichnung ist die Resultante der in /,,%,, !, liegenden Kräfte P,, P,, P, be- stimmt. E,c,,6%,c, ist das Kräftepolygon. Die Resultante R der Kräfte P,, P, ‚P;, welche der Grösse und Richtung nach durch die

Schlusslinie Ec, des Kräftepolygones bestimmt ist, geht durch den Schnittpunkt A der Schlusslinie Eb, des Komponentenpolygones mit der Geraden L (s. Fig. 5).

Diese Methode der Zusammensetzung der Kräfte leistet im wesent- lichen dieselben Dienste, wie diejenige des Kräfte- und Seilpolygones.

10. Kräftekurve und Seilkurve. Bei einer kontinuierlichen Folge von Kräften geht das Kräftepolygon in eine Kräftekurve und das Seilpolygon in eine Seilkurve über*‘). Die Seilkurve kann angesehen werden als die orthogonale Projektion des Schnittes einer abwickelbaren Fläche, deren Erzeugende sich in die Aktionslinien der Kräfte projizieren (vgl. Nr. 7). Die Tangenten der Seilkurve sind hierbei parallel zu den entsprechenden vom Pole ausgehenden Diago- nalen der Kräftekurve. Die Kraft, welche auf ein Längenelement ds der Seilkurve wirkt, wird in der Kräftekurve durch die beiden Diago- nalen ausgeschnitten, die parallel sind zu den Tangenten der Seilkurve in den Endpunkten des Längenelementes ds. Um die Seilkurve zu konstruieren, welche sich aus einer gegebenen Kräftekurve ergiebt, ist es erforderlich die Kräftekurve zunächst durch ein Kräftepolygon zu ersetzen, das sich derselben möglichst anschmiegt. Wird hierzu ein Keaftepolsgon gewählt, das der Kräftekurve eingeschrieben ist, so ist das sich ergebende Seilpolygon der gesuchten Seilkurve um- schrieben und würde daher nachträglich durch eine einbeschriebene Kurve zu ersetzen sein.

Ergeben sich die Spannungen in der Seilkurve als Zugspannungen, so stellt die Seilkurve die Gleichgewichtsfigur eines Seiles dar, auf welches die durch die Kräftekurve bestimmten Kräfte wirken. Sind die Kräfte Schwerkräfte, so wird die Seilkurve als Kettenlinie be- zeichnet.

Sind die Spannungen in der Seilkurve Druckspannungen, so wird die Seilkurve als Drucklinie bezeichnet. Diese Drucklinien oder Stütz- linien haben in der Gewölbetheorie eine grosse Bedeutung, da sie herkömmlicher Weise benutzt werden, um zu untersuchen, wie

47) Varignon, Nouvelle m&canique, t1, p. 201 u. folg. Siehe auch C. Saviotti, La statica grafica 2, p. 187 u. folg.

10. Kräftekurve und Seilkurve. 11. Reziproke Figuren. 361

sich der Druck im Inneren eines Gewölbes fortpflanzt und auf die Lager wirkt. Mit Hülfe der Beziehungen, welche zwischen den Seilpolygonen bestehen, die sich für ein vorgeschriebenes Kräfte- system konstruieren lassen (Nr. 6), ist man imstande Seilkurven zu finden, welche vorgeschriebenen Bedingungen genügen, z. B. eine Stütz- linie bei vorgeschriebener Belastung zu finden, welche durch zwei gegebene Punkte geht und eine bekannte Höhe hat. Welche der Seilkurven, die sich bei vorgeschriebener Belastung zeichnen lassen, als Stützlinie eines Gewölbes einzuführen ist, erfordert eine besondere Untersuchung, die in der Gewölbetheorie durchgeführt wird.

ll. Kräfte mit demselben Angriffspunkt. Reziproke Figuren. Wird zu einem System von Kräften mit demselben Angriffspunkt O ein Kräftepolygon mit dem Pol 0’ und ein Seilpolygon konstruiert, so ergeben sich zwei vertauschungsfähige Figuren, insofern als das

Fig. 6.

anfängliche Kräftepolygon auch aufgefasst werden kann als ein Seil- polygon für Kräfte mit dem Angriffspunkte O0’, für welches das an- fängliche Seilpolygon in das Kräftepolygon übergeht. Culmann be- zeichnet demgemäss Kräfte- und Seilpolygon für Kräfte mit dem- selben Angriffspunkt als reziproke Figuren und die Punkte O und 0’ als Pole der Reziprozität (s. Fig. 6). Jede der beiden reziproken Figuren kann als Kräfteplan (Nr. 5) für die andere angesehen werden.

Wird jedem Knotenpunkte A des Seilpolygones die entsprechende zum Polstrahle OA parallele Seite a des Kräftepolygones zugeordnet,

24*

362 IV 5. L. Henneberg. Graphische Statik: Ebenes Kräftesystem.

so ergiebt sich der Satz: Das Produkt aus den Entfernungen ent- sprechender Elemente von den beiden Polen ist konstant:

h-W = const.

Die Reziprozität ist demgemäss durch die beiden Pole O0, 0’ und ein Elementenpaar A,a’, wo OA || a‘, bestimmt, oder auch statt dessen _ durch zwei beliebig gewählte Elementenpaare‘*).

Die Beziehung, welche zwischen zwei Seilpolygonen des näm- lichen Kräftesystemes besteht (Nr. 6), geht bei Kräften mit demselben Angriffspunkt in eine Kollineation über und zwar für den Angrifispunkt der Kräfte als Centrum und für die Parallaxe als Kollineationsaxe. Diese Kollineation geht in dem speziellen Falle, in welchem der Schnittpunkt O der Aktionslinien der Kräfte in das Unendliche fällt, die Kräfte also parallel werden und das Kräftepolygon in eine einzige zu den Kräften parallele Gerade fällt, in eine Affinität über.

Allgemein werden von J. ©. Maxwell‘”) zwei ebene geradlinige Figuren, von denen die eine aus den Aktionslinien der Spannungen eines Gleichgewichtssystemes, die andere aus dem zugehörenden Kräfte- plan gebildet ist, als reziproke Figuren bezeichnet, sobald die beiden Figuren in der Weise vertauschungsfähig sind, dass umgekehrt die erste Figur auch aufgefasst werden kann als Kräfteplan für Spannungen, welche die Linien der zweiten Figur als Aktionslinien haben und an ihr im Gleichgewichte stehen. Wird in der ersten Figur dem Angriffspunkte A einer Kraft diejenige Strecke der zweiten Figur zu- geordnet, welche die Grösse und Richtung derselben angiebt, so wird, wenn einige der Kräfte denselben Angriffspunkt haben, bezw. deren Aktionslinien sich in demselben Punkt A schneiden, diesem Punkt A in der zweiten Figur ein Polygonzug entsprechen müssen, welcher geschlossen ist.

12. Allgemeine Theorie der reziproken Figuren. Wir berichten nunmehr über Maxwell’s weitere Untersuchungen der reziproken Figuren, die insbesondere für die Theorie der Fachwerke so wichtig geworden sind (s. u. Nr. 33).

Maxwell untersucht zunächst*°), wann überhaupt sich zu einem Spannungssystem eine reziproke Figur konstruieren lässt, und findet:

Dann und nur dann ergeben sich zwei reziproke Figuren, wenn die eine Figur als Projektion eines Polyeders betrachtet werden kann.

Die andere Figur erscheint dann ebenfalls als Projektion eines

48) Oulmann, Gr. St., p. 86 u. 87, sowie 2. Aufl. p. 284. 49) Phil. Mag. (4) 27 (1864), p. 250.

12. Allgemeine Theorie der reziproken Figuren. 363

Polyeders. (Man vgl. Fig. 6, deren beide Teile als Projektionen vierseitiger Pyramiden mit den Spitzen in O bez. O’ angesehen werden können.) Die Beziehung der beiden Polyeder ist dabei die, dass jeder Ecke des einen Polyeders eine Seitenfläche des anderen zugeordnet ist und umgekehrt, also eine Beziehung derselben Art, wie sie bei der Polarreziprozität hinsichtlich einer Fläche 2. Grades auftritt. Und in der That gelang es Maxwell, die Beziehung der beiden Polyeder durch eine solche Polarreziprozität zu ermitteln °%). Er drehte zu diesem Zwecke die eine ebene Figur gegen die andere um 90°. Die beiden zugehörigen Raumpolyeder erscheinen dann direkt als Polarpolyeder in Bezug auf ein Rotationsparaboloid, dessen Rotationsaxe senkrecht zur Ebene der Zeichnung steht.

Die Drehung um 90° ist immerhin unbequem. Um sie zu ver- meiden wurde von L. Öremona an Stelle des Rotationsparaboloides zur Begründung der reziproken Figuren der graphischen Statik das Moebius’sche Nullsystem gesetzt. Die reziproken Figuren ergeben sich direkt als orthogonale Projektion von Polyedern, die in Bezug auf ein Nullsystem polarreziprok sind, dessen Axe zur Ebene der Zeichnung senkrecht steht"). In der That ergeben zwei in Bezug auf das Null- system konjugierte Raumgerade vermöge dieser Projektion auf die Zeichnungsebene zwei parallele Gerade.

Für die Herstellung reziproker Figuren leistet die frühere Methode von Maxwell an sich das nämliche, wie diejenige von ÜOre- mona. Wenn es daher auch nicht so wichtig ist, ob bei der Her- stellung des reziproken Kräfteplanes das Rotationsparaboloid oder das Nullsystem zu Grunde gelegt wird, so ist doch immerhin durch die Einführung des Nullsystems und die Vermeidung der Drehung des Kräfteplanes in theoretischer Richtung eine Abrundung erzielt.

Während COremona bei der Herstellung der reziproken Figuren gegenüber dem Polarsystem des Rotationsparaboloides bei Maxwell das Nullsystem zu Grunde legt, stellte sich @. Hauck??) die Frage, ob sich nicht durch das Polarsystem einer dreiaxigen Fläche zweiter Ordnung das nämliche erreichen lässt, wenn die orthogonale Projek- tion, die bei Maxwell und Cremona allein verwandt ist, durch eine schiefe Parallelprojektion bezw. durch Öentralprojektion ersetzt wird. Hierbei ergab sich, sofern noch geeignete Umklappungen hinzugefügt werden, der Satz:

50) Zunächst mitgeteilt 1867 in den Reports der British Association, dann ausführlicher Edinb. Roy. Soc. Trans. 26 (1872), p. 1.

51) L. Oremona, Le figure reciproche nella statica grafica, Milano 1872.

52) J. f. Math. 100 (1887), p. 365 und 120 (1899), p. 109.

364 IV.5:.. Henneberg. Graphische Statik: Ebenes Kräftesystem.

Ein ebenes Stabnetz und ein zugehöriges Kräftenetz können ange- sehen werden als die Projektionen zweier reziproken Polyedergebilde im Polarsystem irgend einer allgemeinen Fläche zweiter Ordnung auf eine Projektionsebene, welche parallel zu einer eyklischen Ebene ist; und zwar das Stabnetz als schiefe Parallelprojektion in der Richtung des zuge- hörigen konjugierten Durchmessers, das Kräftenetz als Centralprojektion aus dem Mittelpunkt des Polarsystemes. Beim hyperbolischen Paraboloid tritt an die Stelle der cyklischen Ebene die Ebene eines gleichseitigen Hryperbelschnittes.

Den Nachweis, dass allgemein die Wirkungslinien der Kräfte eines beliebigen ebenen Kräftesystemes zusammen mit einem zugehörigen Seilpolygon einerseits und das entsprechende Kräftepolygon nebst den Linien, welche seine Ecken mit dem Pole des Seilpolygons ver- binden, andererseits im Mazxwell’schen Sinne als reziproke Figuren angesehen werden können, hat zuerst L. Cremona geführt. Die zu- gehörigen Raumfiguren ergeben sich direkt durch die in Nr. 7 be- rührten Entwickelungen. Die Ecken

2 2 0, 0; X,, 4,3 X, Sy;

des Kräftepolygons erscheinen als orthogonale Projektionen von Raum- punkten, die folgende Koordinaten haben:

2 2 2 (1) 0,0, 0; 2%; Y; M,; X, Sy, Su; ..

ebenso der Pol

X, Y 2 des Kräftepolygons als Projektion des Raumpunktes (2) AH Man ordne nun jedem Raumpunkte &, n, & vermöge des Nullsystems (3) 2—$=ın —y

eine (durch ihn hindurchgehende) Ebene zu. Trägt man hier für &, n, & die Werte (1), bezw. (2) ein, so erhält man genau die Ebenen (4), bezw. (5) der Nr. 7. In ganz entsprechender Weise lässt sich übrigens die allgemeine Theorie der reziproken Figuren von Maxwell- Oremona analytisch formulieren (Klein).

Auch die von Eddy gefundene Methode der Zusammensetzung der Kräfte (s. Nr. 9 und insbes. Fig. 4) führt auf reziproke Figuren.

13. Zerlegung einer Kraft in Komponenten in derselben Ebene. Nach dem Parallelogrammgesetze müssen zwei Kräfte P, und P,, die eine gegebene Kraft P ersetzen sollen, in zwei Linien wirken, die

13. Zerlegung einer Kraft in Komponenten in derselben Ebene. 365

sich auf der Aktionslinie von P schneiden und mit ihr in derselben Ebene liegen, im übrigen aber willkürlich zu wählen sind. Culmann behandelt im besonderen den Fall, dass diese Linien durch zwei ge- gegebene Punkte A und B gehen sollen. Ihr Schnittpunkt $ kann dann auf der Aktionslinie g von P beliebig angenommen werden. Ist er gewählt, so geschieht die Zerlegung durch ein Kräftepolygon, in

9

Fig. 7.

diesem Falle ein Dreieck (s. Fig. 7). Man zeigt leicht, dass hierbei der Schnittpunkt N der beiden die Komponenten P, und P, liefern- den Linien ON und N1 auf einer ganz bestimmten zu AB parallelen Geraden % liegt. Durch den Schnittpunkt mit dieser Geraden k wird also die Strecke Ol so geteilt, dass OM und M1 die einem unend- lich fernen Punkte S entsprechenden parallelen Komponenten von P darstellen.

Für die Zerlegung einer Kraft in drei Komponenten in drei ge- gebenen Geraden haben A. Ritter?) und COulmann’*) Methoden an- gegeben”). A. Ritter bestimmt die Komponenten durch den Satz vom statischen Moment, indem er, um Gleichungen zu erhalten, die nur je eine Unbekannte haben, die Drehpunkte in den Schnittpunkten der Aktionslinien der Komponenten annimmt’). Culmann findet die

53) Elementare Theorie und Berechnung eiserner Dach- und Brücken- konstruktionen, Hannover 1863.

54) Gr. St., p. 863.

55) Auch Hollender giebt eine Methode für die Zerlegung einer Kraft in zwei und drei Komponenten.

56) Die Ritter'sche Methode pflegt im Gegensatz zu der Oulmann’schen als eine rein analytische angesehen zu werden. Dies ist nicht richtig, da sich mit

366 IV 5. L. Henneberg. Graphische Statik: Ebenes Kräftesystem.

drei in 9,, 93, 9, liegenden Komponenten durch die Bemerkung, dass die Resultante @ der beiden in g, und g, liegenden Komponenten einerseits durch den Schnitt von g, und g, und andererseits durch

denjenigen von 9, mit der gegebenen und zu zerlegenden Kraft P gehen muss.

B. Das ebene Kräftesystem. Anwendungen.

Die in den folgenden Nummern 14—23 zur Besprechung kom- menden Anwendungen sind allgemein geometrisch und analytisch bereits in dem voraufgehenden Artikel (IV 4, Jung) behandelt, auf den wegen der Einzelheiten überall verwiesen sei; der vorliegende Artikel bringt ergänzend die graphischen Konstruktionen.

14. Graphische Schwerpunktsbestimmung. Die Bestimmung des Mittelpunktes eines Systemes von parallelen Kräften in derselben Ebene, bezw. des Schwerpunktes eines ebenen Systemes, läuft auf eine zwei- malige Zusammensetzung der parallelen Kräfte in zwei verschiedenen Richtungen hinaus. Die beiden gefundenen Resultanten bestimmen durch ihren Schnittpunkt den gesuchten Mittelpunkt. In dieser Weise wird von Culmann°”) die graphische Bestimmung des Schwer- punktes mit Hülfe von zwei Seilpolygonen ausgeführt. Handelt es sich hierbei um den Schwerpunkt einer gleichmässig belasteten Poly- gonfläche, so zerlegt Oulmann dieselbe in lauter Dreiecke mit der- selben Spitze, die er dann auf die nämliche Grundlinie bringt. Der Schwerpunkt der Polygonfläche ergiebt sich als Mittelpunkt eines Systemes von parallelen Kräften, die in den Schwerpunkten der ein- zelnen Dreiecke angreifen, und deren Grössen propdrtional sind den gefundenen Höhen der auf dieselbe Grundlinie gebrachten Dreiecke. Im Falle von nicht geradlinig begrenzten Flächen zerlegt Oulmann die- selben durch parallele Linien in gleich breite Streifen, die näherungs- weise als Trapeze betrachtet werden. Die Bestimmung der jedes- maligen Resultante wird in allen diesen Fällen durch das Seilpolygon bewerkstelligt.

15. Weitere graphische Methoden für die Schwerpunkts- bestimmung. Andere graphische Schwerpunktsbestimmungen finden sich schon bei @. Monge ®), A. F. W. Brix®?) und anderen). Hierbei

Momenten auf Grund der Darstellung derselben durch Flächen ebenso gut kon- struieren, wie rechnen lässt.

57) bezw. von Poncelet, Fussn. 8.

58) Trait6 el&mentaire de statique, ch. III, Paris 1810.

59) Lehrbuch der Statik fester Körper, 2. Aufl. Berlin 1849, Kap. 5.

60) S, auch L. Oremona, Elemente des graphischen Caleuls. Übers. von M. Curtze, Kap. 8, Leipzig 1875.

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14, 15 u. 16. Graphische Bestimmung d. Schwerpunkts u. stat. Moments. 367

wird vielfach der Satz vom statischen Momente der Kräfte verwandt. Häufig wird auch der Schwerpunkt erst durch Rechnung bestimmt und dann für den Rechnungsausdruck eine Konstruktion gegeben. Auch Oulmann verfährt so in einer Reihe von Fällen®'), Von Brix wird schon eine allgemeine Methode angegeben, um den Schwerpunkt der Fläche eines Polygones zu finden. Dieselbe beruht darauf, dass die Verbindungslinie der Schwerpunkte zweier Polygone, in welche das gegebene Polygon durch eine Diagonale zerfällt, eine Schwerlinie des gegebenen Polygones ist. Auf diese Weise wird die Bestimmung des Schwerpunktes eines Polygones auf diejenige von Polygonen mit weniger Eckpunkten, somit in letzter Linie auf die von Dreiecken zurückgeführt ®?).

Weitere allgemeine Methoden für die graphische Bestimmung des Schwerpunktes einer Polygonfläche sind von Most®?), A. Laisant®*) und J. Gysel ®°) angegeben.

16. Bestimmung des statischen Momentes einer Kraft durch das Seilpolygon. Aus dem Kräfte- und Seilpolygon lässt sich nach

| | | | | |

4

2 |

Fig. 8.

61) So z. B. bei dem Schwerpunkt des Trapezes, des Kreis- und Parabel- abschnittes, Gr. St., p. 149.

62) Für Polygone, welche eine grössere Zahl von Eckpunkten haben, wird die Methode unübersichtlich, und demgemäss wird von Brix in solchen Fällen die Rechnung empfohlen.

63) Arch. d. Math. 49 (1869), p. 355. Die Methode ist auch anwendbar auf Polyeder.

64) Nouv. ann. (2) 16 (1877), p. 407, sowie Bull. Soc. math. de France 10

368 IV 5. L. Henneberg. Graphische Statik: Ebenes Kräftesystem.

Oulmann das statische Moment irgend einer der Kräfte oder auch der Resultante einer Gruppe von aufeinanderfolgenden Kräften angeben, und zwar ist das Moment einer Kraft P in Bezug auf einen Dreh- punkt O gleich dem Produkte aus der Strecke, welche auf einer durch O zu P parallelen Geraden durch die beiden sich auf P schmeidenden Seiten des Seilpolygomes ausgeschnitten wird, und dem Abstande des Poles von der betreffenden Kraft im Kräftepolygon. So ist (Fig. 8) A,A,:h, das Moment der in I, liegenden Kraft P,, und B,B,-h dasjenige der Resul- tante von P,, P,, P, für O als Drehpunkt. Wichtigkeit erlangt diese Darstellung des Momentes erst bei parallelen Kräften‘®) (Fig. 9). Die Momente aller Kräfte werden dann gleich auf dieselbe Basis reduziert und bei demselben Drehpunkt O auf der nämlichen Geraden ausge- schnitten. So ist bei den in /,, %,, !; liegenden Kräften P,, P,, P; für O als Drehpunkt:

N | N ! / N R # x N 2 2, & Z, , W 3“ oO 54 2 r | / N B / P, N N | A SSL RN SS 4 Ba Br N Den EE a \ er ur | Be na” A / Sr Be Ge = / IA, / R / S | / N . pP. / I I.r A ; = |- / SH pi HM, i | 4 / . . | V Fig. 9.

das Moment von PR = 4,4, :h, das Moment von P, —= 4,4; :h,

das Moment der Resultante der Kräfte P,, P,, P;, = Ad; :h.

Auf diesem Verfahren beruht die Oulmann’sche Darstellung des Biegungsmomentes beim belasteten Balken.

(1882), p. 40. Im Anschluss daran die Arbeit von E. Laquiere, Bull. Soc. math. de France 10 (1882), p. 131.

65) Arch. sciences phys. (3) 32 (1894) p. 275.

66) Die von Hollender gegebene Methode zur Bestimmung des Momentes hat in dem allgemeinen Falle manche Vorzüge, vgl. Fussnote 46.

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17. Biegungsmoment. Biegungsmomentenfläche. Einflusslinie. 369

17. Biegungsmoment. Biegungsmomentenfläche. Einflusslinie. Die Kenntnis des Biegungsmomentes ist erforderlich, wenn es sich um die Untersuchung der Festigkeit eines belasteten Balkens handelt. Bevor an die Bestimmung des Biegungsmomentes herangetreten werden kann, sind die Lagerreaktionen zu finden, welche bei zwei Lagern durch die Bedingung bestimmt sind, dass sie den den Balken belasten- den Kräften das Gleichgewicht halten müssen. Diese Lagerreaktionen lassen sich auf Grund der in Nr. 13 für die Zerlegung einer Kraft in zwei Komponenten angegebenen Culmann’schen Methode in fol- gender Art finden. Nach Konstruktion des Kräftepolygones, das ganz in eine vertikale gerade Linie fällt, und des Seilpolygones ist die Schlusslinie des letzteren zu ziehen, d. h. die Verbindungslinie der Punkte, in denen die äussersten Seilpolygonseiten die vertikalen Aktionslinien der Lagerreaktionen schneiden. Die durch den Pol des Kräftepolygones gehende, zu dieser Schlusslinie parallele Gerade teilt die vertikale Strecke, welche das Kräftepolygon bildet, so, dass die Stücke die Lagerreaktionen ergeben °”).

Unter Biegungsmoment (moment flechissant, moment of flexure, momento flettente) wird verstanden die Summe aus den Drehmomenten derjenigen Kräfte, welche auf der einen Seite des zu betrachtenden Querschnittes liegen, und zwar für die in dem Querschnitte liegende Biegungsaxe als Drehungsaxe. Für vertikale Kräfte, welche in der- selben Ebene liegen, die eine Symmetrieebene für en Balken ist, und für zur Längsaxe des Balkens senkrechte Querschnitte ist die Biegungs- axe die horizontale Schwerlinie des Querschnittes. Es kann dem- gemäss in diesem Falle das Biegungsmoment definiert werden als die Summe der Drehmomente der auf der einen Seite liegenden Kräfte für einen Punkt der Axe als Drehpunkt.

Wird nach Culmann die Fläche, welche durch das für die Kräfte konstruierte Seilpolygon und dessen Schlusslinie begrenzt ist, die Momentenfläche und deren Höhe an irgend einer Stelle die Momenten- höhe, bezw. die Ordinate der Momentenfläche, genannt, so ergiebt sich der Satz: Das Biegungsmoment eines belasteten Balkens ist gleich dem Produkte aus der Momentenhöhe und dem Polabstand.

Das Biegungsmoment für den Querschnitt AB ist gleich m - h. Für die Dimensionenbestimmung des Balkens kommt das grösste

67) Vgl. Fig.10 auf p.370. Die beiden den Balken belastenden Kräfte P, und P,, welche im Kräftepolygon durch die Strecken P, —=01 und P,—12 dargestellt

sind, liefern in den Lagerpunkten die beiden an R, = MO und R,=2M.

370 IV5. L. Henneberg. Graphische Statik: Ebenes Kräftesystem.

Biegungsmoment (Maximalmoment) in Betracht. In beistehender Figur würde dasselbe gleich m’- h sein.

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.

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Fig. 10.

Culmann giebt eine Regel für das Vorzeichen des Biegungs- momentes, welche auch den Fall erledigt, bei dem die Vertikale in irgend einem Punkte der Axe aus der Begrenzung der Momenten- fläche mehr als zwei Punkte ausschneidet °®°).

Es kommt häufig vor, dass der Balken durch eine auf den ganzen Balken oder auf einen Teil desselben stetig wirkende Belastung be- ansprucht ist. Die Begrenzung der Momentenfläche, bezw. das Seil- polygon aus den wirkenden Kräften, geht dann für den betreffenden Teil des Balkens in eine Kurve über (vgl. Nr. 10), und das Maximal- moment findet sich an einer Stelle, an welcher die Tangente dieser Kurve parallel zur Schlusslinie der Momentenfläche ist, vorausgesetzt, dass das Maximalmoment sich überhaupt im Innern des betreffenden Intervalls befindet. h

In vielen Fällen ist es zweckmässig, die vorhandene Belastung in Teile zu zerlegen und die Momentenfläche jedes Teiles für sich zu bestimmen. Ist hierbei der Polabstand jedesmal derselbe, so ergiebt sich die Höhe der resultierenden Momentenfläche aus den Momenten- höhen der für die Einzelbelastungen gezeichneten Momentenflächen durch eine algebraische Addition. Besonders wichtig ist eine der- artige Zerlegung der Belastung, wenn ausser einer unveränderlichen Belastung eine bewegliche Last vorhanden ist. Mit diesem Falle und der dann erforderlichen Bestimmung des Maximalmomentes hat sich schon Culmann beschäftigt). Das Verfahren besteht im wesent- lichen darin, dass anstatt der Last der Balken verschoben wird. Es ist dann möglich, das Kräfte- und Seilpolygon beizubehalten und nur

68) Gr. St., 2. Aufl. Zürich 1875, p. 334. 69) Gr. St., p. 129 u.f.; siehe auch Levy, La statique graphique, Paris 1886.

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17. Biegungsmoment. Biegungsmomentenfläche. Einflusslinie. 371

die Schlusslinie des letzteren der Lage des Balkens entsprechend zu ändern. Die Schlusslinien des Seilpolygones umhüllen hierbei eine Parabel, und die Höhe der dwrch das Seilpolygon und diese Parabel begrenzten Fläche liefert für die verschiedenen Stellungen der bewegten Last das sich aus derselben ergebende Maximalmoment. Sind mehrere bewegte Lasten vorhanden, die unter sich in fester Verbindung stehen, so tritt an die Stelle der Parabel ein Linienzug, der sich aus mehreren Parabel- bögen zusammensetzt.

Im Gegensatz zu Oulmann nimmt W. Stahl”) und nach ihm H. G. Zeuthen") die Schlusslinie des Seilpolygones als unveränderlich an und verschiebt das Lastensystem statt des Balkens. Bei Bei- behaltung des Polabstandes ergeben sich dann bezüglich der Ände- rung, welche das Seilpolygon erfährt, die Sätze:

Jeder Eckpunkt des Seilpolygones bewegt sich auf einer Parabel, alle diese Parabeln sind untereinander kongruent und gleich gerichtet. Jede Seite des Seilpolygones dreht sich um einen festen Punkt, und zwar ist dieser Punkt der Schnittpunkt der beiden Parabeln, in welchen sich die Endpunkte dieser Seite bewegen.

W. Stahl zeigt, wie sich mit Hülfe dieser Sätze die Maximal- momentenkurve bestimmen und das absolute Maximum finden lässt '?).

Von J. Weyrauch”?) werden zur Untersuchung der Träger bei Ein- wirkung einer beweglichen Last die sog. Influenz- oder Einflusslinien eingeführt. Unter der .Einflusslinie

für irgend eine vorgeschriebene Stelle A: 73 E des Balkens bez. des Trägers wird See hierbei eine Linie verstanden, deren et Ördinaten für die verschiedenen Lagen Fig. 11.

der bewegten Last den Einfluss der-

selben auf die Stelle X ausdrückt, also hier das Biegungsmoment, welches sich bei den verschiedenen Lagen der bewegten Last für die Stelle E ergiebt. In beistehender Figur (Fig. 11) stellt A.E’B die Einfluss- linie für die Stelle E dar. Ist in derselben EE’ das Biegungsmoment für den Querschnitt E, wenn die Last sich in E befindet, so ist

70) Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ing. 21 (1877), p. 7.

71) Tekn. Foren. Tidsskr. 1877.

72) Vgl. J. Schlotke, Civiling. (2) 31 (1885), p. 501, sowie H. T. Eddy, Zeit- schr. f. Bauwesen 40 (1890), p. 397.

73) Allgemeine Theorie u. Berechnung d. kontinuierlichen und einfachen Träger, Leipzig 1873, p. 50; Zeitschr. des Arch.- u. Ing.-Ver. zu Hannover 21 (1875), p. 467. Die Untersuchungen von J. Weyrauch sind mehr analytisch.

372 IV5. L. Henneberg. Graphische Statik: Ebenes Kräftesystem.

DD’ das Biegungsmoment für denselben Querschnitt, wenn die Last in D ist.

Diese Einflusslinien haben für den Fall einer beweglichen Last eine grosse Bedeutung erlangt nicht allein beim Balken, sondern auch bei den Fachwerken"*).

18. Konstruktion des Trägheitsmomentes durch das Seil- polygon. Zur graphischen Bestimmung des Trägheitsmomentes eines Systemes von Massenpunkten, die in den Punkten A; einer Ebene E liegen, für eine Trägheitsaxe g in E zeichnet Culmann nach Ersetzung der Massen durch Kräfte P,, welche in A, angreifen und parallel zu g sind, das Kräfte- und Seilpolygon. Darauf wird ein zweites Seil- polygon gezeichnet für ein gleichgerichtetes und zu der Geraden g paralleles System von ebenfalls in den Punkten A, angreifenden Kräften, wobei die Grössen dieser Kräfte gleich den Strecken zu nehmen sind, die aus der Trägheitsaxe g durch je zwei aufein- anderfolgende Seiten des ersten Seilpolygones geschnitten werden. Hat der Polabstand bei beiden Kräftepolygonen die nämliche Grösse h, so besitzt das Trägheitsmoment für die Axe g den Wert

J=AB-1, wo AB die Strecke ist, welehe durch die äussersten Seiten des zweiten Seilpolygones aus g geschnitten wird”®).

Beistehend (Fig. 12) ist die Konstruktion des Trägheitsmomentes durchgeführt für die drei in A,, A,, A, angreifenden Kräfte P, = 01, P,=12, P,=23 und für die Axe g als Trägheitsaxe.

Nach einer Bemerkung von Mohr ‘*) dient das zweite Seilpolygon nur dazu, um den Inhalt des Flächenstückes zu finden, welches durch

74) Graphisch sind die Einflusslinien von W. Fränkel, Civiling. (2) 22 (1876), p. 442 behandelt. Weiter ausgebildet und auf die Fachwerkträger angewandt ist die Theorie der Einflusslinien wesentlich von H. Müller-Breslau. Siehe auch M. Levy, La statique graphique 2 ed., Paris 1886, t. 2, p. 39.

75) Durch dieses Verfahren wird die Bestimmung des Trägheitsmomentes auf zweimalige Bestimmung von statischen Momenten zurückgeführt, s. auch Nr. 16. In entsprechender Weise konstruiert Oulmann die höheren Momente. Es ist dies derselbe Gedanke, der in IV 4, Nr. 11 (Jung) zur Konstruktion des einem Massensystem zugehörigen Antipolarsystems benutzt wird.

76) Zeitschr. des Arch.- u. Ing.-Ver. zu Hannover 16 (1870), p. 41. Um- gekehrt kann daher auch das Seilpolygon zur Bestimmung des Inhaltes eines Flächenstückes verwandt werden. Später hat Oulmann gezeigt (Gr.St. 2. Aufl., p.21), dass das Seilpolygon als Summationspolygon sich allgemein zur Konstruktion

eines Ausdruckes von der Form Sn benutzen lässt. 1 i

18. Konstruktion des Trägheitsmomentes durch das Seilpolygon. 373

das erste Seilpolygon und die Trägheitsaxe begrenzt ist, und dessen Inhalt auch auf andere Weise z. B. durch das Planimeter bestimmt werden kann. Ist ® der Inhalt dieses Flächenstückes, so ist das Trägheitsmoment

J=26®h.

Fig. 12.

Durch das nämliche Seilpolygon kann dann auch das Trägheits- moment für jede zu g parallele Trägheitsaxe und insbesondere für die zu g parallele Schwerlinie gefunden werden. In der umstehenden Figur (Fig. 13) ist 2@'h das Trägheitsmoment für die drei in A,, As, 4, angreifenden Kräfte PR =01, = 12, P,— 23 für die Schwer- Fi s als Trägheitsaxe.

Handelt es sich um das Trägheitsmoment eines Flächenstückes F, so ist dasselbe bei unregelmässiger Begrenzung in Streifen parallel

374 IV5. L. Henneberg. Graphische Statik: Ebenes Kräftesystem.

zur Trägheitsaxe zu zerlegen und die Kräfte P; sind dann in den

Mittellinien dieser Streifen proportional zu den Inhalten, also pro- portional zu den mittleren Höhen für gleiche Breiten ö der Streifen

0

Ss | | |

Fig. 13.

anzunehmen. Ist dieser Proportionalitätsfaktor, so hat das Träg- heitsmoment den Wert J=2nöh-®. Da für B als Länge des Kräftepolygones der Inhalt des Flächen- stückes F=nBö

ist, so wird der sog. Trägheitsradius I 2h de V: =-V5 k=y®D

bezw. yo,

wenn nach dem Vorschlage Mohr’s der Polabstand h gleich = ge-

wählt ist. Zur Bestimmung des Trägheitsradius würde demnach die Fläche ® in ein Quadrat zu verwandeln sein.

19. Weitere graphische Methoden zur Bestimmung des Träg- heitsmomentes. An weiteren Methoden für die graphische Bestim- mung des Trägheitsmomentes ist zunächst diejenige von H.J. Hollender ”') zu erwähnen, bei welcher das sogenannte Komponentenpolygon die Stelle des Seilpolygones vertritt.

Von Culmann werden sodann die Trägheitsmomente von solchen ebenen Flächenstücken, deren Trägheitsmomente sich durch Integration

77) 8. Fussn. 46,

[

19 u. 20. Weitere Methoden z. Best. d. Trägheitsmomente; Trägheitsellipse. 375

leicht ermitteln lassen, vielfach durch direkte Konstruktion des Rech- nungsausdruckes auf Grund der Methoden von B. E. Cousinery '?) ge- funden. Für ebene Flächenstücke, die von nicht gesetzmässigen Kurven begrenzt sind, werden von Vojäcek, Collignon '”), Chr. Nehls®), R.Werner®), L. Lewicki®) durch }\ direkte graphische Integration nach Cbousinery, ae % indem die Begrenzungslinie als Ausgang genommen wird, reduzierte Flächen hergeleitet, deren Inhalte das betreffende Trägheitsmoment bezw. höhere Y Moment darstellen. Die verschiedenen Konstruk- tionen unterscheiden sich im wesentlichen nur durch eine verschiedene Art der Zerlegung des gegebenen Flächenstückes in Streifen, sowie durch _; andere Anordnung der Hülfslinien. So stellt (nach Fig. 14.

Nehls) für die Fläche F und die Axe g der In-

halt F, der durch die Kurve AP,B und die y-Axe begrenzten Fläche

das statische Moment ya f, der Inhalt F, der durch die Kurve AP,B und die y-Axe begrenzten Fläche das Trägheitsmoment dar.

N

F

20. Konstruktion der Trägheitsellipse®). Für die technischen Zwecke, insbesondere für diejenigen der Festigkeitslehre, empfiehlt es sich, die von Culmann eingeführte Trägheitsellipse zu verwenden. Für die Konstruktion derselben kommt die Eigenschaft in Betracht, dass für jede durch den Mittelpunkt gehende Trägheitsaxe der Träg- heitsradius gleich dem Abstande der beiden parallelen Tangenten vom Mittelpunkt ist. Culmann konstruiert demgemäss für drei durch den Mittelpunkt gehende Axen die Trägheitsradien und findet so sechs Tangenten, durch welche die Ellipse schon mehr als bestimmt ist). Ist die Centralellipse gezeichnet, so ergiebt sich aus derselben

78) Le calcul par le trait, Paris 1839, vgl. oben Nr. 2.

79) Vortrag gehalten 1874 in Lille. Referat darüber von M. d’Ocagne, Bull. Soc. math. de France 12 (1884), p. 21. M.d’Ocagne zeigt auch, wie die Tangenten und die Krümmungsradien der reduzierten Flächen sich finden lassen.

80) Civiling. (2) 20 (1874), p. 295; 21 (1875), p. 131, 199, 261. Sodann „Über graphische Integration und ihre Anwendung in der graphischen Statik“, Hannover 1877, 2. Aufl. Leipzig 1885.

81) Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ing. 21 (1877), p. 365.

82) Civiling. (2) 25 (1879), p. 527.

83) Für die Nummern 20—22 des Textes vgl. insbesondere IV 4, Nr. 20 (Jung).

84) F. Graefe schlägt vor, die Trägheitsradien für drei Axen zu bestimmen, deren eine mit jeder der beiden anderen einen Winkel von 45° einschliesst, und giebt dann eine einfache Konstruktion für zwei konjugierte Durchmesser, sowie

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1, 25

376 IV5. L. Henneberg. Graphische Statik: Ebenes Kräftesystem.

die Trägheitsellipse für einen anderen Mittelpunkt mit Hülfe der Be- ziehungen, die zwischen den Trägheitsmomenten bezw. den Trägheits- radien zweier parallelen Trägheitsaxen bestehen.

Um den Übergang von der Centralellipse einer Fläche F zu einer anderen Trägheitsellipse zu erleichtern, werden von Mohr ®) die beiden Punkte p und g’ (Brennpunkte?) der gegebenen Fläche F) eingeführt, für welche die Trägheitsellipse ein Kreis ist. Dieselben liegen auf der kleinen Axe der Culmann’schen Centralellipse®’) und haben, wenn a und b deren Halbaxen sind, vom Schwerpunkte $ die Entfernung

c—=YVa?— b!, wenn a>b,

d.h. dieselbe Entfernung, wie die Brennpunkte. Das Trägheitsmoment J und der Trägheitsradius k für eine beliebige Gerade g haben dann den Wert J=F(ad-+ 06), k=YVa?+ 6%,

wo e, und e, die Entfernungen der Trägheitsaxe g von den beiden Brennpunkten der Fläche F' sind. Sodann ergiebt sich der Satz: Die beiden Hauptaxen eines beliebigen Punktes C halbieren die Winkel zwischen den von C nach den Brenmpunkten der Fläche F gehenden Strahlen®?).

21. Trägheitskreis und Centralkreis. Vielfach ist es zweck- mässig, die Trägheitsradien nicht durch die Trägheitsellipse, sondern. durch einen Kreis darzustellen. Eine derartige Darstellung findet sich

für die Halbaxen, Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ing. 43 (1899), p. 210. Siehe auch A. Sayno, Ist. Lomb. Rend. (2) 8 (1875), p. 614.

85) Zeitschr. d. Arch.- u. Ing.-Ver. zu Hannover 16 (1870), p. 48.

86) Diese Bezeichnung findet sich bei Mohr erst in einer späteren Arbeit, Civiling. (2) 33 (1887), p. 50. Unabhängig von Mohr sind später diese beiden Punkte von G. Jung gefunden und als Brennpunkte des Antipolarsystemes der Fläche F „Antifochi di F“ bezeichnet worden, Ist. Lomb. Rend. (2) 8 (1875), p. 888—890, Nr. 19—22.

87) Diejenige Hauptträgheitsaxe, für welche das Trägheitsmoment den grössten Wert hat, wird von Mohr als die erste bezeichnet. Dieselbe ist die kleine Axe der Oulmann’schen Trägheitsellipse, Zeitschr. d. Arch.- u. Ing.-Ver. zu Hannover 16 (1870), p. 48.

88) Dieser Satz ist in einem allgemeineren Satze enthalten. Die Brenn- punkte p, p' der Fläche F bestimmen eine konfokale Kegelschnittschar ; jede Kurve der Schar (die in p, p' ausgeartete eingeschlossen) ist ein Kegelschnitt konstanten Trägheitsmomentes (vgl. @. Jung, Ist. Lomb. Rend. (2) 12 (1870), p. 225). Die Hauptträgheitsaxen eines Punktes P sind die Tangenten in P der beiden kon- fokalen Kegelschnitte, die durch ihn gehen und halbieren daher den Winkel zwischen den von P nach p und 9’ gehenden Strahlen (vgl. IV 4, 21 (Jung).

21. Trägheitskreis und Centralkreis. 22. Centrifugalmoment. 377

schon bei Mohr. Die Trägheitsradien werden nach Mohr durch die halbe Länge der durch die Trägheitsaxen aus einem Kreis, dem Trägheitskreis, geschnittenen Sehnen bestimmt ®) 8°). Der Mohr’sche Trägheitskreis für die Schwer- punktsaxen ist hierbei ein Kreis, welcher um den einen Brennpunkt B der Fläche & mit einem Radius a gleich dem Trägheits- radius der ersten Schwerpunktshauptaxe ge- schrieben wird. Aus demselben ergeben sich für das Trägheitsmoment J und den Trägheitsradius k einer beliebigen Axe y die Werte: m PUR Fig. 18. J=F.EH',, k—-EH, wo E der eine Schnittpunkt der zu g parallelen Schwerlinie mit dem Kreise und H der Fusspunkt ist des vom Mittelpunkte B des Kreises auf g gefällten Perpendikels. Aus dem Trägheitskreis für den Schwerpunkt $ lässt sich derjenige für einen beliebigen Punkt her- leiten. Der Trägheitskreis kommt bei Mohr zur Verwendung, wenn es sich um die Bestimmung des Mittelpunktes der Spannung in einem Querschnitt handelt bei gegebener neutraler Axe®°).

@G. Jung hat gezeigt”), dass der Mohr'sche Trägheitskreis für den Schwerpunkt nichts anderes ist als die Oulmann’sche Trägheits- ellipse für jeden der Brennpunkte p und der Fläche F', sowie dass die Anwendung desselben noch erleichtert wird, wenn man einen anderen auf Sp als Durchmesser beschriebenen Kreis hinzufügt.

Sind ferner f und f’ die Brennpunkte und AA’ die grosse Axe der Trägheitsellipse für einen Punkt O, so wird andererseits von Jung der auf AA’ als Durchmesser geschlagene Kreis, der Centralkreis, be- nützt®'). Dieser Kreis ist die Fusspunktkurve für die zu O gehörende Trägheitsellipse. Für eine beliebige Axe. g durch O wird nach Jung der Trägheitsradius halb so gross als die durch f (oder f”) gehende und zu g rechtwinklige Sehne des Centralkreises.

22. Centrifugalmoment (Deviationsmoment). Das Centrifugal- moment eines ebenen Massensystemes für zwei Axen in ‘ihrer Ebene wird gebildet, indem man die einzelnen Massen mit den in der Rich-

89) Auch in der späteren Arbeit von A. Lodge werden die Trägheitsmomente durch Kreise dargestellt, Phil. Mag. (5) 22 (1886), p. 453, sowie Brit. Ass. Rep. 1886, p. 543.

90) Ist. Lomb. Rend. (2) 8 (1875), p. 890.

91) Brit. Ass. Rep. 1876, p. 25.

25*

378 IV5. L. Henneberg. Graphische Statik: Ebenes Kräftesystem.

tung der Axen genommenen Abständen von diesen Axen multipliziert und alle diese Produkte addiert.

Die graphische Bestimmung des Centrifugalmomentes wird von Culmann*?) unter Ersetzung der Massen durch ein System von pa- rallelen Kräften in ähnlicher Weise wie diejenige des Trägheits- momentes durchgeführt (vgl. Nr.18). Die Kräfte werden zunächst parallel zur einen Axe angenommen, und deren Momente durch ein Seilpolygon für einen Drehpunkt in dieser Axe bestimmt. Darauf werden die auf denselben Hebelarm gebrachten Momente als Kräfte an die Stelle der Massen gesetzt, wobei diese Kräfte nunmehr die Richtung der zweiten Axe erhalten. Das resultierende Moment dieser Kräfte für einen Punkt der zweiten Axe als Drehpunkt liefert das Centrifugal- moment. Da die Bestimmung dieses resultierenden Momentes eben- falls durch ein Seilpolygon geschehen kann, so lässt sich das Cen- trifugalmoment mit Hülfe von zwei Seilpolygonen konstruieren. Fallen die beiden Axen zusammen, so läuft die Konstruktion auf die- jenige des Trägheitsmomentes hinaus.

Ist die Centralellipse eines Flächenstückes F' gezeichnet, so lässt sich nach Oulmann das Centrifugalmoment für zwei Axen g, und 9, die durch den Mittelpunkt der Centralellipse gehen, sofort angeben. Ist nämlich A der Schnittpunkt des zur einen Axe g, konjugierten Durchmessers mit der Centralellipse, so ist das Centrifugalmoment pgF.?®) Aus dem Centrifugalmoment für zwei durch den Schwerpunkt gehende Axen lässt sich dann sofort dasjenige für zwei parallele Axen herleiten, wenn man nicht zu dessen Bestimmung die Trägheitsellipse für den Schnittpunkt dieser beiden Axen verwenden will. Um das Centrifugalmoment und mit ihm das Träg- heitsmoment für Axen, welche durch einen Punkt P gehen, zurückzuführen auf statische Momente, legt Mohr durch P einen Kreis, den Grundkreis®) (Mohr-Land’scher Trägheitskreis), mit einem beliebigen Radius r und denkt sich denselben in der Weise mit Masse belegt, dass sich auf dem

dJ R Längenelement ds eine Masse 7 befindet, wo dJ, das polare Träg-

heitsmoment®) des Flächenstreifens ist, welcher durch die von P nach

92) Gr. St., 1. Aufl. (1866), p. 162.

93) Gr. St., 2. Aufl. (1875), p. 401 u. 404.

94) Bezeichnung von R. Land, Civiling. 34 (1888), p. 160. 95) Siehe IV 4, 10 (Jung).

23. Centralkern. 379

den Endpunkten des Längenelementes ds gehenden Strahlen aus «dem gegebenen Flächenstück F' geschnitten wird, und zwar für P als Pol. Wird von der Masse auf dem Kreise der Schwerpunkt 7, (Trägheits- schwerpunkt der Fläche F für den Pol P) bestimmt und in demselben

J die ganze Masse -* vereinigt angenommen, so ergeben sich nach

2r Mohr die Sätze:

Das Centrifugalmoment der Fläche F für zwei beliebige Polstrahlen PA und PB ist gleich dem statischen Moment der Masse des Träg- heitsschwerpunktes in Bezug auf die den beiden Polstrahlen zugehörige Kreissehne AB.

Das Trägheitsmoment der Fläche F für eine beliebige durch den Pol gehende Axe PA ist gleich dem statischen Moment der Masse des Trägheitsschwerpunktes in Bezug auf die Kreistangente im Schnittpunkte A des Kreises mit der Trägheitsaxe PA.

Die Hauptträgheitsawen sind die Strahlen, welche von dem Pole P nach den Endpunkten des durch den Trägheitsschwerpunkt bestimmten Durchmessers des Grundkreises gehen.

Der Trägheitsschwerpunkt kann aus drei Trägheitsmomenten be- stimmt werden. Aus dem Trägheitsschwerpunkt für den Schwerpunkt der Fläche F'’ lässt sich derjenige für einen anderen Pol herleiten.

Zur Konstruktion des Mohr-Land’schen Trägheitskreises ver- wendet R. Land die Trägheitsmomente für zwei zu einander senk- rechte Axen und das betreffende Centrifugalmoment*®).

Die Beziehungen zwischen dem Mohr-Land’schen Trägheitskreis und der Trägheitsellipse sind von F. Graefe untersucht””). Insbesondere konstruiert F. Graefe den Trägheitskreis für den Schwerpunkt durch Ermittelung eines Punktes der Centralellipse.

23. Centralkern. Durch COulmann hat die Centralellipse eine weitere Bedeutung für die Festigkeitslehre erhalten ®).

Wirkt auf einen ebenen Querschnitt F' eines Körpers eine in einem beliebigen Punkte A desselben angreifende und zum Querschnitt senkrechte Kraft P, so erleidet derselbe nach Culmann eine Drehung um eine in dem Querschnitt liegende Biegungsaxe (Nulllinie), sodass die Normalspannungen des Querschnittes proportional zu der Ent- fernung von dieser Biegungsaxe werden. Und zwar ist diese Biegungs- awe die Antipolare des Punktes A in Bezug auf die Oentralellipse des

96) Civiling. 34 (1888), p. 123; Zeitschrift f. Bauwesen 42 (1892), p. 549. 97) Zeitschr. Math. Phys. 46 (1901), p. 348. 98) Gr. St., 1. Aufl., p. 172 u. folg.; 2. Aufl., p. 415 u. folg.

380 IV5. L.Henneberg. Graphische Statik: Räuml. Kräftesystem.

Querschnittes, d. h. die Polare des dem Punkte A diametral gegenüber- liegenden Punktes A”.

Schneidet die Biegungsaxe die Begrenzung des Querschnittes, so wird auf der einen Seite der Biegungsaxe Zug und auf der anderen Seite Druck vorhanden sein. Dagegen tritt im ganzen Querschnitt dieselbe Art der Spannung auf, sobald die Biegungsaxe ausserhalb des Querschnittes zu liegen kommt, bezw. den Querschnitt nicht schneidet.

Dasjenige Gebiet, in welchem der Angriffspunkt A der Kraft liegen muss, damit die Biegungsaxe den Querschnitt nicht schneidet, wird nun von Oulmann als der Centralkern (noyau central, central nucleus, nocciolo centrale) bezeichnet. Demgemäss ist der Centralkern eines Querschnittes begrenzt durch die Antipole aller geraden Linien, welche die Begrenzungskurve der ursprünglichen Figur berühren, aber nicht schneiden. Vgl. IVA4, 23 (Jung).

Mit Hülfe der alas oder unter Umgehung derselben mit Hülfe des Trägheitskreises lässt sich der Centralkern für einen gegebenen Querschnitt leicht graphisch ermitteln”).

In Figur 17 ist der Centralkern des Rechteckes ABC.D bestimmt. Derselbe ist begrenzt durch die vier Antipolaren a, b, c, d der Punkte

A 2

Fig. 17. Fig. 18.

A, B, C, D in Bezug auf das durch die Centralellipse des Viereckes bestimmte Antipolarsystem.

Ist die Begrenzungskurve des Querschnittes teilweise nach innen gekrümmt, so ist vor Bestimmung der antipolaren Figur dieses nach innen gekrümmte Stück derselben durch die dasselbe abschneidende Tangente zu ersetzen, da die Tangente in den Punkten des nach innen

99) Oulmann benutzt bei der Bestimmung des Centralkernes direkt die Centralellipse, während Mohr und später Land mit dem Trägheitskreis kon- struieren: Mohr, Zeitschr. d. Arch.- u. Ing.-Ver. zu Hannover 16 (1870), p.55; Land, Zeitschr. f. Bauwesen 42 (1892) p. 558.

24. Kräfte mit demselben Angriffspunkt. 381

gekrümmten Teiles der Begrenzungskurve dieselbe sowohl schneiden wie berühren würde. Handelt es sich demgemäss um das Sechseck ABCDEF (Fig. 18), so ‚sind die beiden einspringenden Seiten AF und FE durch die Linie AE zu ersetzen. Der Kern des Sechseckes ist dann die antipolare Figur des Fünfeckes ABODE in Bezug auf das durch die Centralellipse des Sechseckes bestimmte Antipolar- system 100),

C. Das räumliche Kräftesystem 1%),

24. Kräfte mit demselben Angriffspunkt. Der Satz vom Kräfte- polygon gilt bei Kräften im Raume in derselben Weise, wie bei Kräften in der Ebene. Die Resultante von Kräften im Raume mit demselben Angriffspunkt ist die Schlusslinie des räumlichen Kräftepolygons. Kräfte im Raume mit demselben Angriffspunkt stehen im Gleichgewicht, wenn das räumliche Kräftepolygon ein geschlossenes ist.

Zur graphischen Bestimmung der Resultante von Kräften im Raume mit demselben Angriffspunkt konstruiert Oulmann '?) die Poly- gone aus den Projektionen der Kräfte in drei!) zu einander senkrechten Projektionsebenen. Dieselben sind die Projektionen des räumlichen Kräftepolygones. Die Projektionen der Resultante sind dann die Schlusslinien dieser drei Polygone. Gleichgewicht ist vorhanden, wenn die Polygone aus den Projektionen der Kräfte geschlossen sind.

Die Zerlegung einer Kraft P in drei Komponenten P,, P,, P; mit demselben Angriffispunkt wie P ist eindeutig möglich, solange P,, P,, P, nicht in einer und derselben Ebene liegen. Die Kom- ponenten P,, P,, P, sind dann durch den Satz vom Kräfteparallel- epiped bestimmt. Die Zerlegung ist rasch durchführbar mit Hülfe der Bemerkung von Oulmann, dass die Resultante der beiden Kompo- nenten P, und P, in der Schnittlinie der Ebene P,P, mit der Ebene PP, liegen muss. Eine nicht weniger bequeme Methode giebt H. Mülller-Breslau %). Nach derselben wird mit dem Zeichnen des

100) In den Lehrbüchern der graphischen Statik, insbesondere in denjenigen von Culmann und Saviotti finden sich die Centralkerne für eine ganze Reihe von speziellen Querschnitten angegeben. Bezüglich der technisch wichtigen Querschnitte siehe F. Heinzerling und O. Intze, Deutsches Normalprofil-Buch f. Walzeisen, 5. Aufl., Aachen 1897, sowie die von den Hüttenwerken heraus- gegebenen Profilbücher.

101) Vgl. IV 2, Abschnitt III (Timerding).

102) Gr. St., p. 113.

103) Das dritte Polygon ist nicht unbedingt notwendig, es dient nur zur Kontrolle.

104) Zentralbl. d. Bauverwaltung 11 (1891), p. 437.

382 IV5. L. Henneberg. Graphische Statik: Räuml. Kräftesystem.

räumlichen Kräftepolygones begonnen, indem durch die Endpunkte der gegebenen Kraft P parallele Linien zu P, und P, gezogen werden. Auf denselben sind dann die Endpunkte von P, und P, so zu be- stimmen, dass deren Verbindungslinie parallel zu P, ist. Dieses ge- lingt durch zweimaliges Probieren unter Anwendung des Satzes: Drehen sich die Seiten eines n-Ecks um feste Punkte, die auf einer Geraden liegen, und verschieben sich hierbei zugleich » 1 Eck- punkte längs beliebigen gegebenen Geraden, so beschreibt der letzte Eckpunkt auch eine Gerade.

25. Kräftepaare in verschiedenen Ebenen. Zur Bestimmung des resultierenden Kräftepaares einer Reihe von Kräftepaaren in verschie- denen Ebenen wird bei Culmann der Satz vom Axenpolygon direkt verwandt. Dagegen zerlegt J. Bauschinger!”), wie dieses von Poinsot bei der analytischen Zusammensetzung geschieht, zunächst jedes Kräftepaar in drei Kräftepaare in drei zu einander senkrechten Projektionsebenen, und ermittelt dann, nach Zusammensetzung der Kräftepaare in der- selben Projektionsebene, das resultierende Kräftepaar durch den Satz vom Axenparallelepiped !).

26. Graphische Zusammensetzung der Kräfte im Raum mit verschiedenen Angriffspunkten. Die graphische Zusammensetzung von Kräften P,, die an verschiedenen Punkten eines starren Systemes angreifen, wird von Oulmann unter Zugrundelegung von drei zu ein- ander rechtwinkligen Projektionsebenen zunächst ganz im Sinne von Poinsot '') in der Weise ausgeführt, dass sämtliche Kräfte nach einem Punkte, der am besten im Schnittpunkt O der drei Projektionsebenen angenommen wird, verschoben werden. An die Stelle jeder Kraft P, tritt hierbei die nach O verschobene Kraft und ein Kräftepaar. Die parallel verschobenen Kräfte können durch die Kräftepolygone aus den Projektionen der Kräfte zu einer in O angreifenden Kraft ver- einigt werden, die Kräftepaare nach den in Nr. 25 behandelten Methoden zu einem einzigen Kräftepaar, sodass sich eine in O angreifende Kraft und ein Kräftepaar ergiebt.

Wird zur Zusammensetzung der Kräftepaare die Methode von

105) Elemente der graphischen Statik, München 1871, p. 59.

106) Da die Kräftepaare in den Projektionsebenen schon durch die Projek- tionen der Kräfte gegeben sind, so hat die Bauschinger’sche Methode den Vor- zug, dass sich sämtliche Konstruktionen direkt in den drei Projektionsebenen ausführen lassen und Umklappungen u. s. w. nicht erfordern. Die Zusammen- setzung der Kräftepaare in derselben Projektionsebene kann durch Kräfte- und Seilpolygon bewerkstelligt werden.

25. Kräftepaare. 26. Kräfte mit verschiedenen Angriffspunkten. 383

Bauschinger verwandt, so sind die Momente der drei resultierenden Kräftepaare in den drei Projektionsebenen gleich den Momenten- summen der Kräfte für die Schnittlinien der Projektionsebenen, bezw. gleich den Summen aus den statischen Momenten der ersten, zweiten und dritten Projektionen der Kräfte für den

Punkt O0 (Fig.19). Die Bestimmung dieser I Momentensummen kann nach den verschie- » denen besprochenen Methoden erfolgen. Werden hierbei nach Bauschinger die drei l | Seilpolygone verwandt, die sieh in den drei er Projektionsebenen für die Projektionen der oF

Kräfte konstruieren lassen, wobei es zweck- mässig ist, die Abstände der drei Pole von den Schlusslinien der Kräftepolygone gleich Fig. 19.

gross zu wählen, so läuft die graphische

Zusammensetzung der Kräfte im Raum mit verschiedenen Angriffspunkten auf die Konstruktion der drei Kräfte- und Seilpolygone für die Pro- jektionen der Kräfte hinaus. Sind die drei Kräftepolygone aus den Projektionen der Kräfte geschlossen, die drei Seilpolygone, bezw. wenigstens eines derselben, offen, so lassen sich die Kräfte auf ein einziges Kräftepaar zurückführen. Sind die drei Kräftepolygone und Seilpolygone geschlossen, so stehen die Kräfte im Gleichgewicht. Also:

Kräfte im Raum sind dann und nur dann im Gleichgewicht, wenn sich sowohl die Kräfte- als auch die Seilpolygone aus ihren Projek- tionen auf jede von drei sich schneidenden Ebenen schliessen !").

Eine weitere Methode von Culmann !%) besteht darin, dass sämt- liche Kräfte in je zwei Komponenten zerlegt werden, von denen eine in einer angenommenen Ebene E liegt, während die andere durch einen beliebig gewählten Punkt A geht. Die Kräfte in E lassen sich durch Kräfte- und Seilpolygon zu einer einzigen Kraft ın E ver- einigen; die durch A gehenden Kräfte können durch zwei Kräfte- polygone zu einer einzigen in A angreifenden Kraft zusammengesetzt werden, sodass die Kräfte auf zwei sich kreuzende Kräfte zurück- geführt sind, von denen die eine in der Ebene E liegt, während die andere durch den Punkt A geht. Dagegen gibt F‘ Zuchetti'%) ein graphisches Verfahren zur Zurückführung des Kräftesystemes auf zwei

sich kreuzende Kräfte, von denen die eine in einer vorgeschriebenen Geraden liegt.

107) J. Bauschinger, Graphische Statik, p. 62. 108) Gr. St., 2. Aufl., Zürich 1875, p. 215. 109) Torino, Atti 12 (1877), p. 44.

384 IV5. L. Henneberg. Graphische Statik: Räuml. Kräftesystem.

Für die Centralaxe und das Hauptkräftepaar''®), das senkrecht gegen die Centralaxe gestellt ist, wird schon von Oulmann eine graphische Methode gegeben, welche im wesentlichen auf den Poinsot’schen Aus- führungen beruht. Sehr bequem ist zur Bestimmung von Centralaxe und Hauptkräftepaar eine Methode von Mohr'!!), bei welcher der Satz verwandt wird, dass die Projektion eines räumlichen Gleichgewichts- systemes wieder ein Gleichgewichtssystem bildet. Es seien in den drei Projektionsebenen aus den ersten, zweiten und dritten Projektionen der Kräfte die Resultanten A, 5, C gefunden. 5 und Ü bestimmen, als zweite und dritte Projektion einer Kraft aufgefasst, eine solche D, C und A eine Kraft E, A und B eine Kraft F. Diese drei Kräfte D, E, F sind parallel zur Centralaxe, und die Centralaxe ist der Schnitt der drei Ebenen, welche durch die Kanten des durch die Kräfte D, E, F bestimmten Prismas normal zu den gegenüberliegenden Seiten desselben gelegt werden''?).

An sonstigen Methoden für die graphische Zusammensetzung von Kräften im Raum mit verschiedenen Angriffspunkten ist zu erwähnen eine solche von M. Levy"), die von F. Steiner ''*) weiter ausgebildet ist. Dieselbe soll die für die Ebene durch das Seilpolygon gegebene Methode auf den Raum verallgemeinern. An die Stelle des Seil- polygones tritt hierbei eine Seilpyramide.

Ist auf eine dieser Arten!?) das räumliche Kräftesystem auf eine Kraft und ein Kräftepaar, bezw. auf zwei sich kreuzende Kräfte, zurück- geführt, so bereitet es keine Schwierigkeiten, dieses Kraftkreuz mit Hülfe der Sätze über das Nullsystem durch ein anderes zu ersetzen. Das Gleiche gilt von der Zerlegung einer Kraft in drei, vier, fünf und sechs Komponenten !!P).

110) Siehe IV 2, Nr. 10 und Nr. 23 (Timerding).

111) Civiling. (2) 22 (1876), p. 121.

112) An die Arbeit von Mohr schliessen sich die Arbeiten von O. Hüppner und J. Tesar an, Civiling. (2) 29 (1883), p. 145; bezw. Prag. Ber. (1886), p. 259.

113) La statique graphique, Paris 1874, p. 220.

114) Über die graphische Zusammensetzung der Kräfte im Raum, Wien 1876, p. 10.

115) Mit der Frage, welche Methode die bequemste ist bei dem Zusammen- setzen und Zerlegen von Kräften beschäftigt sich eine Arbeit von W. Stäckel, Zeitschr. Math. Phys. 43 (1898), p. 62.

116) Mit der graphischen Zerlegung einer Kraft in sechs Komponenten hat sich schon Culmann beschäftigt, Gr. St., 2. Aufl. 1875, p. 275; später Mohr, Civiling. (2) 22 (1876), p. 129; sowie L. Henneberg, Civiling. (2) 30 (1884), p. 381 mit Hülfe der Sätze über das Nullsystem. Vereinfachte Konstruktionen gaben W. Stäckel (Fussn. 115) und im Anschluss daran R. Skutsch, Sitzungsber. d. Berl. Math. Ges. 1 (1902), p. 59. Vgl. IV 2, Nr. 22—25 (Timerding).

27. Parallele Kräfte. Mittelpunkt. Schwerpunkt. 385

27. Parallele Kräfte. Mittelpunkt. Schwerpunkt. Die Zusammen- setzung von parallelen Kräften kann nach Oulmann erfolgen durch Zu- sammensetzung der Projektionen der Kräfte in zwei Projektionsebenen, durch Kräfte- und Seilpolygon. Die hierbei sich ergebenden Resul- tanten sind die betreffenden beiden Projektionen der Resultante der gegebenen parallelen Kräfte. Sind die beiden in den Projektions- ebenen gezeichneten Kräftepolygone geschlossen, die Seilpolygone da- gegen offen, so vereinigen sich die parallelen Kräfte zu einem Kräfte- paar. Gleichgewicht ist dagegen vorhanden, wenn die Kräfte- und Seilpolygone geschlossen sind.

Der Mittelpunkt!!”) eines Systemes von parallelen Kräften kann graphisch gefunden werden, indem die Bestimmung der Resultante für zwei verschiedene Richtungen durchgeführt wird. Praktisch ist es hierbei, die Kräfte zweimal parallel zu einer Projektionsebene an- zunehmen, und die Kräfte in der betreffenden Projektionsebene durch Kräfte- und Seilpolygon zu vereinigen. Die beiden sich so ergeben- den Resultanten bestimmen durch ihren Schnitt einen projizierenden Strahl, auf welchem der Mittelpunkt des Kräftesystemes liegt. Um auf demselben den Mittelpunkt zu finden, genügt es, nur einmal in einer anderen Projektionsebene in gleicher Weise die Zusammensetzung durchzuführen. Hiermit ist von Oulmann eine allgemeine graphische Methode zur Bestimmung des Mittelpunktes von parallelen Kräften, bezw. des Schwerpunktes, gefunden, und zwar läuft dieselbe auf die Konstruktion von drei Seilpolygonen hinaus. Handelt es sich nicht um den Schwerpunkt von einzelnen schweren Punkten, sondern um denjenigen eines Körpers, so sind ähnliche Betrachtungen, wie bei den Schwerpunktsbestimmungen von Flächenstücken hinzuzufügen.

II. Die bestimmten Fachwerke. Allgemeine Theorie. A. Ebene Fachwerke.

28. Einleitung. Eine der wichtigsten Anwendungen der gra- phischen Statik bildet die Theorie der Fachwerke. Sie gehört zu denjenigen Theorien, die ganz aus dem praktischen Bedürfnis heraus entstanden sind: sie hat sich ergeben infolge der Aufgaben, welche durch die Benutzung des Eisens bei den Ingenieurhoch- bauten auftraten, bezw. dadurch, dass hierbei Gerippe von verhältnis- mässig dünnen Stäben zur Übertragung der Lasten auf die Lager verwandt wurden. Alle derartigen Gerippe von Stäben, wie sie wesent-

117) Siehe IV 2, Nr. 21 (Timerding), sowie IV 4, Nr.7 (Jung).

386 IV5. L. Henneberg. Graphische Statik: Ebene Fachwerke.

lich bei den Dach- und Brückenkonstruktionen verkommen, und die ihrem Zwecke entsprechend notwendig stabil") sein müssen, werden schlechtweg als Fachwerke bezeichnet.

Die Hauptaufgabe, die bei der Untersuchung eines vorliegenden Fachwerkes entsteht, und welche auch die Hauptaufgabe einer Theorie der Fachwerke bildet, ist die Bestimmung der infolge der vorhandenen Belastungen in den einzelnen Stäben des Fachwerkes sich ergebenden Spannungen. In der Theorie der sog. bestimmten Fachwerke (vgl. weiter unten) sind die Punkte, in denen die einzelnen Stäbe mit einander verbunden sind, stets als Gelenke gedacht'!”), so dass die Bestimmung der Spannungen auf die Aufgabe einer Kräftezerlegung hinausläuft. Aus diesen Spannungen sind dann von dem Ingenieur in einem praktischen Falle auf Grund der Festigkeitslehre die Dimen- sionen zu berechnen, welche die einzelnen Stäbe erhalten müssen, um diese Spannungen aufnehmen zu können. Die Elastizität der Stäbe, die Gestaltsveränderung, welche sich daraus für das Fachwerk ergiebt, und die Änderung, welche die Spannungen wiederum hierdurch er- leiden (Nebenspannungen) werden in der Theorie der bestimmten Fach- werke nicht berücksichtigt !?0).

Da hier nur Fachwerke behandelt werden sollen, die aus starren, durch Gelenke mit einander verbundenen, Stäben hergestellt sind, so werden im folgenden zunächst die Gelenksysteme untersucht.

29. Gelenksysteme und deren Klassifikation. Definition der freien Fachwerke. Unter einem Gelenksystem soll ein System von starren Stäben verstanden werden, die in ihren Endpunkten durch Gelenke miteinander verbunden sind.

Ein solches Gelenksystem, bei dem endliche oder unendlich kleine Bewegungen der einzelnen Stäbe bezw. Gelenke gegen einander mög- lich sind !?!), sei als könematisch unbestimmt bezeichnet.

118) In diesem Artikel soll dementsprechend unter einem Fachwerk nur eine stabile Konstruktion verstanden werden.

119) Ein Fachwerk, in dem die einzelnen Stäbe nicht durch Gelenke, son- dern starr mit einander verbunden sind, wird als ein starres Fachwerk bezeichnet.

120) Alle hierhergehörigen Fragen werden in einem späteren Artikel behandelt.

121) Die unbestimmten Gelenksysteme sind nach kinematischer Seite unter- sucht in IV 3, Nr. 28—30 (A. Schoenflies und M. Grübler). Beiträge zu ihrer statischen Untersuchung geben die Entwickelungen in Nr. 8 oben. Anderweitige komplizierte Fälle werden in der Litteratur mehrfach behandelt, auch mit gra- phischen Hilfsmitteln. Vgl. insbes. $. Finsterwalder, Mechanische Beziehungen bei der Flächendeformation, Deutsche Math.-Ver. 6 (1899), p. 48, sowie W. Schlink, Über die Deformation von Häuten rhombischer Struktur, Diss. München (Neu- wied) 1902.

28. Einleitung. 29. Gelenksysteme und deren Klassifikation. 387

Kinematisch bestimmt soll ein Gelenksystem genannt werden, bei welchem gegenseitige Bewegungen der Gelenke bezw. Stäbe nicht mög- lich sind, und aus welchem durch die Wegnahme eines jeden Stabes ein kinematisch unbestimmtes System entstehen würde. Dagegen sei ein kinematisch überbestimmtes Gelenksystem ein solches, bei welchem gegenseitige Bewegungen der Gelenke nicht möglich sind, und bei welchem sich wenigstens ein Stab finden lässt, nach dessen Wegnahme das System noch immer unbeweglich bleibt. Jedes kinematisch über- bestimmte Gelenksystem lässt sich aus einem kinematisch bestimmten Gelenksystem durch Einschaltung eines oder einiger weiteren Stäbe herleiten.

Die kinematisch bestimmten wie die kinematisch überbestimmten Gelenksysteme werden als freie Fachwerke bezeichnet.

In dieser allgemeinen Weise sind die Fachwerke zuerst von O0. Mohr und sodann von A. Föppl aufgefasst, während A. Ritter, ©. Culmann und L. Oremona, die nebst COlerk Maxwell als die Be- gründer der Fachwerkstheorie anzusehen sind, nur ganz spezielle kine- matisch bestimmte und kinematisch überbestimmte Gelenksysteme als Fachwerke definieren.

, Mohr'??) verstand ursprünglich unter einem Fachwerk jede aus stabförmigen Teilen zusammengesetzte Trägerkonstruktion, welche so unterstützt ist, dass eine Veränderung der Form und der Lage des Trägers nur infolge von Längenänderungen der Konstruktionsteile entstehen kann. Ein solches Fachwerk nannte Mohr ein einfaches, wenn die Längen der einzelnen Konstruktionsteile voneinander unab- hängig sind, im anderen Falle ein zusammengesetztes.

Zweckmässiger sieht A. Föppl®) zunächst von den besonderen Lagerbedingungen (wie auch oben geschehen)!#) ab und versteht unter einem Fachwerke ein System, das aus materiellen Punkten und ge- wissen Verbindungslinien derselben so zusammengesetzt ist, dass keine relative Bewegung der Teile des Systemes gegen einander möglich ist, ohne dass die Länge dieser Verbindungslinien geändert wird. Diese Definition ist mit der oben gegebenen Definition des freien Fach- werkes identisch.

Die materiellen Punkte (Gelenke, Knotenpunkte'?®)) und die Ver-

122) Zeitschr. d. Arch.- u. Ing.-Ver. zu Hannover 20 (1874), p. 223, 509, sowie 21 (1875), p. 17.

123) Theorie des Fachwerkes, Leipzig 1880.

124) Auf die sogenannten gestützten Fachwerke kommen wir in Nr.47 zurück.

125) Bei den Fachwerken wird in der Regel von Knotenpunkten statt von Gelenken gesprochen.

388 IV5. L. Henneberg. Graphische Statik: Ebene Fachwerke,

bindungslinien (Stäbe) werden als Elemente der Fachwerke bezeichnet, die ihrerseits ebene oder räumliche Fachwerke genannt werden, je nachdem das ganze System in einer Ebene liegt oder nicht.

30. Analytische Kennzeichen für die verschiedenen Arten von Gelenksystemen. Je zwei Knotenpunkte eines ebenen Gelenksystemes mit den Koordinaten &,,y,; und &,, Y%, welche durch einen Stab von der Länge /;, mit einander verbunden sind, liefern eine Gleichung (1) 2.’ + el.

Daraus, dass diese Gleichungen im Falle des kinematisch be- stimmten Gelenksystems nach Festlegung des Koordinatensystemes gegenüber dem Gelenksystem für die Koordinaten sämtlicher Knoten- punkte bestimmte Werte liefern müssen, ergiebt sich, dass die Zahl m der Stäbe eines ebenen Fachwerkes von n Knotenpunkten 2n 3 betragen muss, und dass in diesem Falle die obigen Gleichungen voneinander unabhängig sein müssen. Dadurch wird für das Gelenk- system eine ganz bestimmte „Struktur“ festgelegt, auf deren nähere Bestimmung weiter unten (in Nr. 34) eingegangen wird.

Da wir auch unendlich kleine Beweglichkeit des Gelenksystemes ausschliessen, können wir die (2n» 3) in Betracht kommenden Glei- chungen durch ihre Differentialrelationen ersetzen:

(2) (2 2,) (68; d8,) + y y,)(dy; 89,) 0. Zugleich werden wir, um das Koordinatensystem festzulegen, etwa 0, „=I, 5=0

und dementsprechend

6, =0, dy, =0, du, = 0 setzen. Es muss dann verlangt werden, dass auch die übrigen (2n 3) Grössen dx,, öy, infolge der vorstehenden linearen Gleichungen ver- schwinden. Man ordne also die Gleichungen nach diesen d«,, öy, und bilde die Koeffizientendeterminante D. Die dx,, öy, sind dann not- wendig alle gleich Null, wenn D Z Er

1 v

Damit ist die notwendige und hinreichende Bedingung dafür, dass ein Gelenksystem als ein freies kinematisch bestimmtes Fachwerk betrachtet werden kann, die, dass die Zahl m der Stäbe bei n Gelenken (Knoten- punkten) 2n 3 beträgt, und dass die obige Determinante D einen von Null verschiedenen Wert besitzt”).

126) Die Anzahl der notwendigen Stäbe haben unabhängig von einander Mohr und Levy bestimmt; Mohr, Zeitschr. d. Arch.- u. Ing.-Ver. zu Hannover 20 (1874), p. 509; Levy, La statique graphique, 1.6d. Paris 1874, p. 50 und 93—95;

die Bedingung D20 findet sich zuerst bei Föppl. Vorher hat jedoch schon

830. Analytische Kennzeichen f. d. verschiedenen Arten v. Gelenksystemen. 389

Ist m <2n 3, so ist das Gelenksystem unter allen Umständen kinematisch unbestimmt, wobei es jedoch sein kann, dass ein Teil des Gelenksystemes für sich als kinematisch bestimmt oder selbst als kinematisch überbestimmt zu betrachten ist. So sind die beiden ge- zeichneten Gelenksysteme (Fig. 20), für welche m <2n 3, kine- matisch unbestimmt, obgleich in dem ersten ein Teil kinematisch bestimmt, in-dem zweiten ein Teil kinematisch überbestimmt ist.

Ist ein Gelenksystem von n% Gelenken (Knotenpunkten) und m=2n— 3 Stäben kinematisch unbestimmt, so sind zwei Fälle möglich:

a) Es kann sein, dass die für die kinematische Bestimmtheit er- forderliche Struktur des Gelenksystemes nicht vorhanden ist. Dies

Fig. 20. Fig. 21.

tritt z. B. ein, wenn ein Teil des Gelenksystemes ein kinematisch überbestimmtes Fachwerk ist (wie in Fig. 21), während der andere Teil zu wenig Stäbe hat. Die obigen m = 2n 3 Gleichungen (1) würden sich dann auf weniger als 3 von einander unabhängige ‚Gleichungen zurückführen lassen; für das lineare Gleichungssystem (2) bedeutet dies ein Verschwinden der Determinante D.

b) Es kann aber auch sein, dass die erforderliche Struktur vorliegt und trotzdem D=0 ist. Dieser Fall möge der Grenzfall genannt werden”). Die kinematische Unbestimmtheit ist nur hervor- gerufen durch die speziellen Werte, welche die Längen der einzelnen Stäbe besitzen. Beispiele hierzu bieten ein Dreieck ABC, dessen

A. F. Moebius, Lehrbuch der Statik, Leipzig 1837, 2. Bd., Kap. 4 die Frage entschieden für den allgemeinen Fall verschiedener mit einander verbundener Körper.

127) Diesen Grenzfall behandelt A. F. Moebius, vgl. Fussn. 126. Bei den Fachwerken machte O. Mohr zuerst auf diesen Fall und dessen Wichtigkeit aufmerksam, Civiling. (2) 31 (1885), p. 289. Mohr bezeichnet diesen Fall als denjenigen, bei welchem die eine Stablänge als Funktion der übrigen betrachtet, ein Maximum oder Minimum ist. Dass bei dem Grenzfall die Struktur des Ge- lenksystemes übrigens die für die kinematisch bestimmten Fachwerke erforder- liche ist, wurde von L. Henneberg, Statik, p. 219, nachgewiesen.

390 IV5. L. Henneberg. Graphische Statik: Ebene Fachwerke.

Eckpunkte in dieselbe Gerade fallen, sowie das Fachwerk von 6 Knoten- punkten (Fig. 22), bei welchem die drei Stäbe AA,, BB,, CC,, bezw. deren Verlängerungen, sich in demselben Punkte O schneiden. In be-

Fa

Fig. 22. Fig. 23.

sonderen Fällen kann auch endliche Bewegung auftreten, vgl. Fig. 23. Jedenfalls lässt sich der Satz aussprechen:

Hat ein Gelenksystem von m = 2n 3 Stäben diejenige Struktur, welche für ein freies kinematisch bestimmtes Fachwerk erforderlich ist, so ist es entweder ein solches, oder es liegt der Grenzfall vor.

Hat ein Gelenksystem mehr als 3 Stäbe, so ist es ent- weder kinematisch überbestimmt oder kinematisch unbestimmt. Bei der Entscheidung dieser Frage kommt es darauf an zu untersuchen, ob das obige System der Gleichungen (1) sich auf 5 voneinander unabhängige zurückführen lässt oder auf weniger als 3.

3l. Das statische Grundproblem für die freien Fachwerke. „Bestimmte“ Fachwerke. Auf die Gelenke (Knotenpunkte) eines Ge- lenksystemes sollen Kräfte wirken, welche zusammengenommen unter- einander im Gleichgewichte sich befinden. Die sich dann ergebende Aufgabe, die Spannungen in den einzelnen Stäben, die infolge dieser Kräfte auftreten, zu bestimmen, lässt sich so formulieren: Die auf die Knotenpunkte wirkenden und in ihrer Gesamtheit im Gleich- gewicht stehenden Kräfte sollen in der Weise in die einzelnen Stäbe zerlegt werden, dass sich in jedem Stabe zwei gleich grosse und entgegen- gesetzt gerichtete Kräfte ergeben. Die absolute Grösse der beiden Kräfte in einem Stabe giebt die absolute Grösse der betreffenden Spannung, während durch deren Richtung bestimmt ist, ob in dem Stabe Zug oder Druck herrscht. In der Regel wird diese Aufgabe der Span- nungsbestimmung in etwas veränderter Weise gefasst. Statt der be- treffenden Komponenten der auf ein Gelenk wirkenden Kraft P werden ihnen entgegengesetzte, gleich grosse Kräfte, die Gelenkdrücke, ein- geführt. Dann ist die in einem Knotenpunkte A angreifende Kraft P

31. Das stat. Grundproblem f. d. freien Fachwerke. „Bestimmte“ Fachwerke. 391

in das Gleichgewicht zu setzen mit den auf den Punkt A wirkenden und in den in A zusammentreffenden Stäben liegenden Gelenkdrücken, wobei die beiden Gelenkdrücke, welche in demselben Stabe liegen, und die auf die beiden den Stab begrenzenden Knotenpunkte wirken, die- selbe Grösse, aber entgegengesetzte Richtung haben müssen. Die letzte Auffassung hat den Vorteil, dass man die für jeden Knotenpunkt sich ergebenden Kräftepolygone in derselben Richtung von der betreffen- den Kraft P ausgehend zu umfahren hat (siehe die Polygonmethode in Nr. 32). Wir erläutern zunächst den analytischen Ansatz.

In einem Gelenksysteme von » Knotenpunkten und m Stäben seien die Koordinaten der Knotenpunkte mit «,, y,, die Komponenten der auf x,,y; wirkenden Kraft mit X,, Y,, die Länge eines zwei Knoten- punkte z,,y; und x,,y, verbindenden Stabes mit Z,, und die Spannung in demselben mit $;, bezeichnet. Dann ergeben sich für die Spannungen

die Gleichungen u, k ı

Be} Y— DS, ee k

ix

wobei die Summen über diejenigen Knotenpunkte x,y, zu erstrecken sind, welche mit dem Knotenpunkte &;y; durch Stäbe verbunden sind. Die Zahl dieser Gleichungen reduziert sich infolge der Gleich- gewichtsbedingungen, denen die Kräfte genügen sollen:

Sxy-0, Syh=0, ZS(La—-Xy)=0 auf 3 voneinander unabhängige. Die Bestimmung der Span- nungen erfolgt durch Auflösung dieses Systemes von 2n 3 linearen Gleichungen mit m Unbekannten.

Soll das Gelenksystem statisch bestimmt sein, d.h. sollen sich für jedes Gleichgewichtssystem der Kräfte X,, Y, ganz bestimmte endliche und eindeutige Werte für die Spannungen ergeben, so ist erforderlich:

a) dass die Zahl der obigen von einander unabhängigen Glei- chungen übereinstimmt mit der Zahl der Unbekannten. Das Gelenk- System muss somit m = 2n 3 Stäbe haben, also ebensoviele Stäbe haben, wie die kinematisch bestimmten Fachwerke.

128) A. Castigliano, Theorie de l’equilibre des systömes &lastiques, Turin 1879, p. 15. Werden die Gleichungen für die Spannungen in dieser Weise ge- schrieben, wobei in den Summen auf den rechten Seiten stets mit den Koor- dinaten x,;, y; angefangen wird, also mit den Koordinaten desjenigen Knoten- punktes, auf den die betreffende Kraft X, Y,; wirkt, so wird S;, positiv im Falle einer Zugspannung und negativ im Falle einer Druckspannung, vgl. L. Henne- berg, Statik, p. 223.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1. 26

392 IV5. L. Henneberg. Graphische Statik: Ebene Fachwerke.

b) Es muss die Eliminationsdeterminante A der Gleichungen einen von Null verschiedenen Wert besitzen.

A. Föppl hat nun den wichtigen Satz bemerkt'?*), dass diese Determinante A übereinstimmt mit der vorhin besprochenen Deter- minante D, von welcher es abhängt, ob ein Gelenksystem von m —= 2n 3 Stäben kinematisch bestimmt ist oder nicht. So ergiebt sich der Satz von A. Föppl:

Die freien kinematisch bestimmten Fachwerke sind identisch mit den statisch bestimmten Gelenksystemen.

Infolge dieses Satzes werden von A. Föppl die freien kinematisch bestimmten Fachwerke schlechtweg als „bestimmte“ Fachwerke bezeichnet.

Die Bestimmung der Spannungen in einem bestimmten Fachwerke ist zurückgeführt auf die Auflösung des obigen Systemes von 2n 3 linearen Gleichungen mit 2n 3 Unbekannten und nicht verschwinden- der Determinante '”).

Ist ein Gelenksystem von m = 2n 3 Stäben kinematisch un- bestimmt, sei es nun, dass ein Teil des Gelenksystemes zu viel, ein anderer Teil zu wenig Stäbe hat, sei es, dass der Grenzfall vorliegt, so lässt sich die Spannungsbestimmung nur für spezielle Kräfte- systeme durchführen und führt dann auf unendlich viele Werte für die Spannungen '?*). Daraus folgt der Satz:

129) Dass die beiden Determinanten übereinstimmen, ist ausgesprochen und der Beweis kurz angedeutet in Föppl, Theorie des Fachwerks, p. 26. Später giebt A. Föppl, Schweiz. Bauz. 9 (1887), p. 42 einen ausführlicheren Beweis. Werden in Rücksicht darauf, dass oben dx, = 0, dy, = 0, d, = 0 gesetzt ist, nun die Gleichungen für X,, Y,, X, weggelassen und dann in den Gleichungen für die Spannungen die Grössen a als die Unbekannten betrachtet, so ergeben sich diese beiden Determinanten aus einander durch Vertauschung der Reihen und Zeilen, wie A. Föppl gezeigt hat. Bei L. Henneberg, Statik, wird der Satz von Föppl bewiesen durch den Nachweis, dass die kinematisch bestimmten Fach- werke und die statisch bestimmten Gelenksysteme dieselbe Struktur haben, und dass beide Male die Grenzfälle sich decken.

130) In den folgenden Nummern werden demgemäss wesentlich die Methoden gegeben werden müssen, welche zur graphischen oder analytischen Auflösung dieses Systemes von linearen Gleichungen dienen. Zunächst soll die Unter- suchung durchgeführt werden für spezielle Fachwerksformen (Nr. 32 und 33). Daran schliesst sich die Untersuchung der Struktur des allgemeinen bestimmten ebenen Fachwerkes (Nr. 34). Auf Grund dieser Struktur werden dann (Nr. 35—88) die allgemeinen Methoden für die Auflösung des obigen Systemes von Gleichungen entwickelt. Den Schluss des Abschnittes bilden die Kriterien für das Auftreten der Grenzfälle (Nr. 39).

130°) Dass die Spannungen beim Grenzfall im allgemeinen unendlich gross werden, hat zuerst O. Mohr, Civiling. 31 (1885), p. 295 bemerkt; vgl. auch L. Henneberg, Statik, p. 231.

1 ia DL 2 3 Ba HAIE 1

32. Dreiecksfachwerke. Schnittmethode. Methode der Kräftepolygone. 393

Ein Gelenksystem von m = 2n 3 Stäben ist ein bestimmtes Fachwerk, sobald sich für irgend ein angenommenes Gleichgewichtssystem von Kräften die Spannungen als endlich und eindeutig bestimmen lassen'?").

Ist ein kinematisch überbestimmtes Fachwerk gegeben von n Knoten- punkten und m=2n—3-+-p Stäben, so ist die Zahl der unbe- kannten Spannungen um p grösser als die Zahl der linearen Gleichungen. Es ergeben sich somit unendlich viele Werte für die Spannungen. Die kinematisch überbestimmten Fachwerke werden daher als statisch unbestimmte Fachwerke bezeichnet. Die Spannungen lassen sich bei einem statisch unbestimmten Fachwerke in der Form anschreiben

Sr Fe Sh TE 4, S;, ir 4,8, + a n 1.0,

wobei S() irgend ein mögliches Wertesystem der Spannungen dar- stellt, während $/,, --: 8 » von einander verschiedene Wertesysteme für die Spannungen bedeuten, die möglich sind, wenn sämtliche äusseren Kräfte gleich Null gesetzt werden. Die spezifische Untersuchung der statisch unbestimmten Fachwerke läuft auf die Bestimmung der p Multiplikatoren A,,A,,...A, hinaus, was mit Hülfe der Elastizitäts- lehre möglich ist.

Wir werden bei den folgenden Betrachtungen die statisch un- bestimmten Fachwerke der Kürze halber beiseite lassen '??), womit dann auch die Betrachtung der mehrfach zusammenhängenden Fach- werke entfällt, über die Maxwell in seiner Abhandlung von 1869 einige vorläufige Bemerkungen macht.

32. Dreiecksfachwerke. Schnittmethode. Methode der Kräfte- polygone. Fachwerke, welche man sich entstanden denken kann durch Aneinanderlegen von Dreiecken, werden Dreiecksfachwerke genannt. A. Ritter'??) und ©. Culmann'*) haben in ihren anfänglichen Unter- suchungen überhaupt nur an Dreiecksfachwerke gedacht und dem- gemäss die Fachwerke definiert.

Unter einem Fachwerk wird von Oulmann geradezu ein System von Stäben verstanden, das nach dem umstehenden Schema hergestellt ist1?°).

131) Dieser Satz wird wichtig werden, wenn es sich um die Entscheidung des Grenzfalles handelt.

132) Die Behandlung der statisch unbestimmten Fachwerke wird in den Referaten über Elastizität und Festigkeitslehre ihren Platz finden. In der Praxis kommen sehr oft statisch unbestimmte Fachwerke vor, vgl. die unten in Nr. 48 und 49 gegebene Aufzählung.

133) Elementare Theorie und Berechnung eiserner Dach- und Brücken- konstruktionen, Hannover 1863.

134) Graphische Statik, 1. Aufl. (1866), 1. Teil (1864).

135) Culmann, Gr. St., p. 362.

26*

394 IV5. L. Henneberg. Graphische Statik: Ebene Fachwerke.

Der Polygonzug 1, 3, 5, 7, u.s. w., auf welchem sämtliche Knoten- punkte liegen, wird die Gurtung oder der Rand des Fachwerkes genannt, die betreffenden Stäbe die Gurtungs- bezw. die Randstäbe. Die übrigen Stäbe 23, 34, 45, ..., welche einen fortlaufenden Zug bilden, werden als Diagonalen bezw. als Diagonalstäbe bezeichnet, die Dreiecksflächen 123, 234, ..., durch deren Aneinanderfügen das

\ \,

Fig. 24.

System entstanden gedacht werden kann, als die Fächer oder Felder des Fachwerkes.

Das hier von Culmann als Fachwerk eingeführte System ist im Sinne einer allgemeinen Definition als ein spezielles Dreiecksfachwerk zu bezeichnen, da bei den allgemeinen Dreiecksfachwerken die Diago- nalen keinen fortlaufenden Zug zu bilden brauchen.

Zur Bestimmung der Spannungen werden nun bei Ritter und Oulmann Schnitte durch das Fachwerk gelegt, welche nur drei nicht durch denselben Punkt gehende Stäbe treffen (Schnittmethode). Die Bestimmung der Spannungen erfolgt dann durch die Bemerkung, dass diejenigen Kräfte, welche auf den einen Teil des Fachwerkes wirken, im Gleichgewicht stehen müssen mit den drei Gelenkdrücken, welehe von dem anderen Teile des Fachwerkes herrühren und in den drei vom Schnitte getroffenen Stäben liegen. Im weiteren unter- scheiden sich die Methoden von Ritter und Culmann nur durch die verschiedene Art der Lösung der Aufgabe, eine Kraft in drei Komponenten zu zerlegen, welche in drei vorgeschriebenen Geraden liegen (s. Nr. 13).

Die Schnittmethode ist stets anwendbar, wenn sich durch das Fachwerk ein Schnitt legen lässt, B s der nur drei Stäbe trifft, die (bezw. deren Verlänge-

Fig. 25. rungen) nicht durch denselben Punkt gehen, und

4

32. Dreiecksfachwerke. Schnittmethode. Methode der Kräftepolygone. 395

kann dann zur Bestimmung der Spannungen in den drei vom Schnitte ge- troffenen Stäben verwandt werden. Die Bedeutung der Schnittmethode geht daher über die Dreiecksfachwerke hinaus. So kann in dem beigezeichneten Fachwerke (Fig. 25), welches kein Dreiecksfachwerk ist, die Schnittmethode benutzt werden zur Bestimmung der Span- nungen in den drei Stäben 14, 25, 36.

Bei der Methode der Kräftepolygone (Polygonalmethode) '?*) er- folgt die Bestimmung der Spannungen in der Reihenfolge 1,2, 3,4,.... (Fig. 24) der Knotenpunkte für jeden Knotenpunkt einzeln durch das zugehörige Kräftepolygon, da sich dann stets nur zwei unbekannte Gelenkdrücke ergeben, die durch die Bedingung des geschlossenen Kräftepolygones bestimmt sind. Jede Spannung kommt hierbei zweimal vor und zwar in den beiden Kräftepolygonen, die für die beiden den betreffenden Stab begrenzenden Knotenpunkte konstruiert sind. In Fig. 26 sind nach der Polygonalmethode die Spannungen

(2)

-_ B»7 e

(0)

R IR) a R

r. lo) pP (7) ce

Fig. 26.

für einen einfachen symmetrisch gebauten und symmetrisch belasteten Brückenträger bestimmt. Infolge der Symmetrieverhältnisse brauchen die Spannungen dabei nur für die Hälfte des Fachwerkes gefunden zu werden. Es sind daher die Kräftepolygone nur für die Knoten- punkte (0), (1) und (2) gezeichnet. In den einzelnen Kräftepolygonen haben die Spannungen dieselbe Bezeichnung wie die betreffenden Stäbe

136) Die Polygonalmethode scheint von M. Taylor und Fl. Jenkin zuerst benutzt worden zu sein, vgl. Oremona-Saviotti, Les figures r&ciproques, p. 8.

396 IV5. z. Henneberg. Graphische Statik: Ebene Fachwerke.

des Fachwerkes erhalten. Die Spannungen b und / sind Druck- spannungen, die übrigen Zugspannungen.

Die Bedeutung der Polygonalmethode geht ebenfalls über die Drei- ecksfachwerke hinaus. Dieselbe ist anwendbar für alle Fachwerke, welche man sich aus einem Dreieck durch successives Hinzufügen von weiteren Knotenpunkten, von denen jeder durch zwei Stäbe fest- gelegt ist, entstanden denken kann '?”). Bei dem Zeichnen der Kräftepoly- gone ist mit dem zuletzt hinzugekommenen Knotenpunkte zu beginnen, dann zum vorletzten überzugehen, u. s. w., sodass sich stets Polygone ergeben, von denen sämtliche Seiten mit Ausnahme von zweien von vornherein bekannt sind.

Vom analytischen Gesichtspunkte aus betrachtet, liefert die Schnittmethode für den Fall ihrer Anwendbarkeit ein Mittel, um aus den linearen Gleichungen des Problems sämtliche Spannungen mit Ausnahme von dreien zu eliminieren, und so drei lineare Gleichungen herzustellen mit drei Unbekannten bezw. drei Gleichungen, von denen jede nur eine Unbekannte enthält. Bei der Polygonalmethode, falls dieselbe anwendbar ist, werden die obigen Gleichungen zu je zweien so gruppiert, dass ihre Auflösung sich durch successives Auflösen von je zwei linearen Gleichungen mit zwei Unbekannten bewerk- stelligen lässt.

Aus der Schnittmethode ergiebt sich die zuerst von H. Müller- Breslau benutzte Methode der imaginären Gelenke‘), die in einer zweifachen Anwendung der Schnittmethode besteht. Diese Methode kann verwandt werden zur Bestimmung der Spannungen in zwei Stäben a und b, wenn sich durch dieselben zwei Sehnitte g, und 9, legen lassen, von denen der erste ausser den beiden Stäben a und b nur noch zwei Stäbe c, und d,, der letzte zwei Stäbe c, uud d, trifft. Werden nämlich für diese beiden Schnitte die Momentengleichungen aufgestellt und zwar bei dem Schnitte g, unter Benutzung des Schnitt- punktes 0, von c, und d, als Drehpunkt, und bei dem Schnitte g, für den Schnittpunkt 0, von c, und d, als Drehpunkt, so ergeben sich zwei lineare Gleichungen für die Spannungen in den Stäben a und b. Die Schnittpunkte O,, 0, der Linien c,,d, und c,,d, werden dabei als imaginäre Gelenke bezeichnet.

Durch diese verschiedenen Methoden sind die Spannungen in

137) Siehe Nr. 34 (das dort an zweiter Stelle angeführte Bildungsgesetz).

138) Schweiz. Bauz. 9 (1887), p. 122. H. Müller - Breslau bestimmt die Spannungen in einem Fachwerke, das durch ein Sechseck und die drei Haupt- diagonalen gebildet ist. Die Benennung imaginäre Gelenke ist von A. Föppl eingeführt: Theorie des Fachwerks (1880), p. 40.

ERDE EEE REFERENT

33. Maxwell’sche Fachwerke. 397

vielen schon komplizierteren Fachwerken bestimmbar. Häufig wird es hierbei notwendig sein, bei demselben Fachwerke mehrere Methoden zu verwenden !??).

33. Maxwell’sche Fachwerke. Ausgehend von der durch ihn begründeten Theorie der reziproken Figuren (Nr. 12) stellte sich Clerk Maxwell“) die Aufgabe, Fachwerke

z a zu finden, deren Kräftepolygone sich so zusammenlegen lassen, dass sie eine zu 5 c dem ursprünglichen Fachwerke und den an

ud

ihm wirkenden Kräften reziproke Figur bilden. = Beispielsweise kann man die drei Kräfte- polygone der Fig. 26 und die zu ihnen sym- metrischen, in Fig. 26 nicht gezeichneten Kräftepolygone, so zusammenlegen, dass bei- stehende Figur entsteht, die zu der des in Fig. 26 dargestellten Brückenträgers rezi- Fig. 27. prok ist. Augenscheinlich hat die Fig. 27 vor den Polygonen der Fig. 26 den Vorzug, dass bei ihr die Spannung eines jeden Stabes nur einmal vorkommt. Aus den Untersuchungen von Maxwell ergiebt sich nun:

Alle und nur solche bestimmten Fachwerke, welche zusammen mit den Aktionslinien der wirkenden Kräfte als orthogonale Projektion einer Polyederschale angesehen werden können, liefern reziproke Kräftepläine.

Wir werden die betreffenden Fachwerke als Maxwell’sche Fach- werke bezeichnen. Will man bei einem Maxwell’schen Fachwerke das Bild eines geschlossenen Polyeders vor Augen haben, so kann man so verfahren, dass man in die Aktionslinien der wirkenden Kräfte noch ein Seilpolygon einspannt und dementsprechend in der rezi- proken Figur die vom zugehörigen Pole des Kräftepolygons nach den Eeken desselben gehenden Diagonalen hinzufügt.

In Nr. 12 ist der Zusammenhang der reziproken Figuren mit dem Nullsystem ausführlich besprochen und zum Teil durch Formeln

139) Eine ganze Reihe spezieller Methoden finden sich bei C. Saviotti, La statica grafica, Milano 1888. Saviotti untersucht eine grosse Zahl schwie- rigerer Fachwerke, bei denen er die Spannungen vielfach durch spezielle Über- legungen findet.

140) Phil. Mag. (4) 27 (1864) und Edinb. Roy. Trans. 26 (1872) = Papers 1, p. 514 bezw. Papers 2, p. 161.

398 IV5. L. Henneberg. Graphische Statik: Ebene Fachwerke.

erläutert. In der nachfolgenden Figur (Fig. 28) ist die ganze Kon- struktion für einen Dachstuhl, auf dessen Knotenpunkte ausser der Belastung noch Winddruck wirkt (die Seitenansicht findet sich in der Figur links unten) nach den Methoden der darstellenden Geometrie in Grundriss und Aufriss durchgeführt !*').

Yge

cr Lu

AR

Fig. 28.

Übrigens hat eine derartige Figur nur theoretisches Interesse; für die Konstruktion der reziproken Kräftepläne braucht man nicht aus der Ebene herauszutreten.

141) Ref. verdankt diese Figur, wie überhaupt eine Reihe sonst ver- wendeter wertvoller Mitteilungen Herrn F'. Schilling.

RES EN

33. Maxwell’sche Fachwerke. 399

Bequem ist bei der Herstellung der reziproken Kräftepläne die Bezeichnung von R. H. Bow“), nach welcher im Fachwerk die ein- zelnen Fächer und im Kräfteplan die diesen Fächern entsprechenden Punkte dieselbe Bezeichnung erhalten 1#3).

Unabhängig von Maxwell sind M. Taylor und Fl. Jenkin“#) durch das praktische Bedürfnis veranlasst zu diesen reziproken Kräfteplänen gekommen. Auch sind schon von Fl. Jenkin) die reziproken Kräfte- pläne für eine ganze Reihe von technisch wichtigen Fachwerken an- gegeben. Weitere Beispiele gab von englischer Seite R. H. Bow #2). Andere zum Teil komplizierte Beispiele hat L. Cremona hinzugefügt. Hervorzuheben ist die systematische Darstellung L. Oremona’s unter Benutzung des Nullsystemes.

Vorzugsweise einfach werden die reziproken Kräftepläne für alle diejenigen Fachwerke, welche in der Form Fig. 24 enthalten sind. Für die betreffenden Kräftepläne fand L. Cremona die folgenden Regeln '“°), mit Hülfe deren man dieselben rein schematisch #) zeich- nen kann:

Im Kräftepolygone sind die Kräfte in der nämlichen Reihenfolge anzuordnen, wie die Knotenpunkte bei Umgehung der Gurtung des Fachwerkes auf einander folgen. Von den Eckpunkten dieses Kräfte- polygones müssen die Spannungen in den Gurtungsstäben ausgehen, und zwar die Spannung in dem die Knotenpunkte ; und % verbin- denden Gurtungsstabe von demjenigen Punkte aus, in welchem die auf diese Knotenpunkte © und k wirkenden Kräfte im Kräftepolygone zusammenkommen. Die Diagonalspannungen bilden einen fortlaufen- den Zug. Die Spannungen in den Stäben eines Faches kommen in einem Punkte zusammen.

So einfach wie in Fig. 27 werden die Zeichnungen allerdings nicht immer. -

Die nachfolgende Fig. 29 giebt den Kräfteplan für ein Fachwerk von der Form Fig. 24. b,,b,,b;,...,d;,b, ist das Kräftepolygon für die auf die Knotenpunkte 1,2,3,... wirkenden Kräfte P,, P,, en

142) R. H. Bow, Economies of constructions in relation to framed structures, London 1873.

143) Cambr. Phil. Soc. Proc. 2 (1876) = Papers 2, p. 492.

144) Edinb. Roy. Soc. Trans. 25 (1869), p. 441.

145) L. Cremona, Le figure reciproche nella statica grafica. Die im Text gegebenen Regeln reichen aus für eine grosse Zahl technisch wichtiger Fachwerke.

146) Es ist hier also nicht nötig, sich erst die räumlichen Figuren zu bilden (s. die obige Bemerkung).

400 IV5. L. Henneberg. Graphische Statik: Ebene Pachwerke.

welche ein Gleichgewichtssystem bilden. In diesem Kräftepolygone sind die Kräfte in der Reihenfolge P,, P,, P,, P}, Ps, Pı, P;, P; an einander angetragen, somit in der Reihenfolge wie die Knotenpunkte des Fachwerkes bei Umgehung des Randes. Die Spannungen in den Gurtungsstäben des Fachwerkes sind die Linien, welche von den Eck- punkten b,,b,,... des Kräftepolygones ausgehen. Insbesondere ist die Strecke b,IV, welche von dem Punkte b, ausgeht, in dem die Kräfte P, und P, zusammentreffen, die Spannung in dem Gurtungs- stabe 46. Der Linienzug I, II, IH... ist der Zug der Diagonalspannungen. So ist III die Spannung in der Diagonalen 23, II III die Spannung in der Diagonalen 34 u. s. w. Die Punkte I, II,... sind diejenigen

Punkte des Kräfteplanes, welche den einzelnen Fächern des Fach- werkes entsprechen, und in denen stets die drei Spannungen zusammen- treffen, die in den das betreffende Fach begrenzenden Stäbe liegen. In der Zeichnung des Fachwerkes sind, wie dieses üblich ist, die auf Druck in Anspruch genommenen Stäbe durch eine zweite schwächere Linie hervorgehoben.

Es entsteht die Frage: Wann lässt sich überhaupt ein Fachwerk nebst den Aktionslinien der wirkenden Kräfte und dem Seilpolygon als Projektion eines Polyedergebildes betrachten, sodass ein reziproker Kräfteplan ( Diagramm) möglich ist? Diese Frage beantwortet J. Petersen durch den Satz: Wenn jeder geschlossene „Polygonweg“ ein Stück vom Systeme vollständig losschneidet, so existiert ein Diagramm“). (Petersen setzt dabei das Fachwerk nicht notwendig als bestimmt und nicht einmal als eben voraus.) Dagegen giebt F. Schur (vgl. Nr.38 u. Fussn. 173) die Regel: für das Fachwerk solle eine vollständige und zusammenhängende Zerlegung in k 1 „einfache“ Polygone existieren (k ist dabei die Zahl der Knotenpunkte).

147) J. Petersen, Statik, p 159.

34. Die Struktur des allgemeinen bestimmten ebenen Fachwerkes. 401

34. Die Struktur des (allgemeinen) „bestimmten“ ebenen Fach- werkes. In den folgenden Betrachtungen seien die Knotenpunkte nach der Zahl der Stäbe unterschieden, die in ihnen zusammen- kommen, und zwar sei ein Knotenpunkt, in dem k +1 Stäbe durch ein Gelenk verbunden sind, ein k-facher Knotenpunkt genannt*#®).

Die älteren Methoden zur Herstellung von bestimmten ebenen Fachwerken sind wesentlich die beiden folgenden '*?):

1) Man sucht zwei bestimmte ebene Fachwerke (Scheiben) von n, und n, Knotenpunkten zu einem einzigen bestimmten ebenen Fach- werke von n, + n, Knotenpunkten zu vereinigen. Dies geschieht, indem drei Knotenpunkte des einen Fachwerkes durch drei Stäbe mit drei Knotenpunkten des anderen Fachwerkes verbunden werden ®). Hierbei dürfen sich die drei Stäbe bezw. ihre Verlängerungen nicht in demselben'Punkte schneiden, sonst würde „der Grenzfall“ eintreten °!).

2) Aus einem bestimmten ebenen Fachwerk von n Knotenpunkten lässt sich ein solches von n + 1 Knotenpunkten herleiten, wenn nach Annahme eines Punktes C als (n + 1)" Knotenpunkt derselbe durch Stäbe mit zwei Knotenpunkten A und B des Fachwerkes von n Knoten- punkten verbunden wird. Hierbei darf der Punkt C nicht auf der Verbindungslinie der Punkte A und B liegen, da sonst der Grenzfall eintreten würde.

Der erste, welcher sich das allgemeine Problem stellte, sämt- liche bestimmten Fachwerke von gegebener Knotenzahl zu finden, ist 0. Sawiotti?). Wenn auch Saviotti eine Reihe von weiteren Ge- setzen angibt, so sind dieselben doch nicht die allgemeinsten.

Von L. Henneberg'°°) werden die allgemeinen Gesetze zur Her- stellung von bestimmten ebenen Fachwerken mit Hülfe des aus der Gleichung

m—=2n—3

folgenden Satzes hergeleitet:

148) M. Grübler bezeichnet dagegen einen Knotenpunkt, in dem % Stäbe zusammenkommen, als einen %k-fachen.

149) Levy, La statique graphique, Paris 1874, 2. Aufl. 1886; Föppl etc.

150) Es können von den Knotenpunkten einzelne zusammenfallen; so dürfen z. B. zwei Stäbe von dem nämlichen Knotenpunkte ausgehen.

151) Kann das Fachwerk als in dieser Weise hergestellt erklärt werden, so lassen sich Schnitte durch das Fachwerk legen, welche nur drei nicht durch einen Punkt gehende Stäbe treffen, was bei der Schnittmethode vorausgesetzt ist.

152) La statica grafica und Oremona-Saviotti, Les figures r&ciproques.

153) Statik, Darmstadt 1886 und Jahresber. d. Deutsch. Math.-Ver. 3 (1894), p. 567.

402 IV5. L. Henneberg. Graphische Statik: Ebene Fachwerke.

Ein bestimmtes ebenes Fachwerk hat wenigstens einen einfachen oder zweifachen Knotenpunkt.

Es sind hiernach zwei Fälle zu unterscheiden:

a) Das Fachwerk von » Knotenpunkten hat einen einfachen Knotenpunkt. Wird dann dieser Knotenpunkt nebst den beiden nach ihm führenden Stäben weggenommen, so entsteht ein „bestimmtes“ ebenes Fachwerk von »n 1 Knotenpunkten.

b) Das Fachwerk von » Knotenpunkten hat keinen einfachen Knotenpunkt. Dann ist jedenfalls ein zweifacher Knotenpunkt O vorhanden, von welchem drei Stäbe nach drei anderen Knoten- punkten A, B, © gehen. Nach Wegnahme des Knotenpunktes O0 und dieser drei Stäbe entsteht ein bewegliches System und zwar werden wenigstens zwischen zweien der Punkte A, B, C, z.B. zwischen A und B Bewegungen möglich sein. Alsdann ist das bei Verbindung der beiden Knotenpunkte A und .B durch einen Stab entstehende Stab- system von na 1 Knotenpunkten und [2(» 1)— 3] Stäben ein be- stimmtes Fachwerk von a—1 Knotenpunkten.

Da nach Wegnahme des Knotenpunktes O0 und der drei Stäbe 0A, OB, OC nur Bewegungen zwischen zweien der drei Punkte A, B, © möglich zu sein brauchen, so sind bei der Zurückführung des Fachwerkes von n Knotenpunkten auf ein solches von n 1 Knoten- punkten unter Umständen drei Möglichkeiten zu prüfen.

Umgekehrt folgt der Satz:

3) Aus einem bestimmten ebenen Fachwerke von n 1 Knoten- punkten, bei welchem zwei Knotenpunkte A und B durch einen Stab verbunden sind, lässt sich ein solches von n Knotenpunkten herleiten, indem nach Wegnahme des Stabes AB und Fixierung eines Punktes O als n!" und zwar als zweifachen Knotenpunkt derselbe mit den Punkten A und B und einem beliebig gewählten dritten Knotenpunkt C durch Stäbe verbunden wird. Hierbei ist die Wahl des Punktes O an die Bedingung gekmüpft, dass O nicht auf einem gewissen Kegel- schnitt, dem Grenzkegelschnitt"°*), liegen darf, da sonst der Grenzfall ein- treten würde.

Da jedes bestimmte ebene Fachwerk von n Knotenpunkten sich durch die Regeln a) und b) auf ein solches von na —1 Knotenpunkten und in letzter Linie auf ein Dreieck zurückführen lässt, so genügen umgekehrt die Gesetze 2) und 3) zur Herstellung sämtlicher be- stimmten ebenen Fachwerke von gegebener Knotenzahl.

154) Für diesen von L. Henneberg gefundenen Grenzkegelschnitt hat M. Grübler eine Konstruktion gegeben. Zeitschr. Math. Phys. 35 (1890), p. 247.

a

34. Die Struktur des allgemeinen bestimmten ebenen Fachwerkes. 403

Hierdurch ist das, was bereits oben (Nr. 30) als Struktur des bestimmten Fachwerkes bezeichnet wurde, endgültig festgelegt.

Ein Fachwerk, zu dessen Herstellung nur das Gesetz 2) ver- wandt ist, wird von Föppl ein einfaches genannt, ein solches dagegen, zu dessen Herstellung auch das Gesetz 3) erforderlich ist, ein zu- sammengesetztes. Dasjenige Fachwerk, welches aus einem bestimmten

' ebenen Fachwerk nach successivem Wegnehmen aller einfachen Knoten-

punkte entsteht, wird nach @. Lang als die Grundfigur oder das Grund- eck des gegebenen Fachwerkes bezeichnet).

Vielfach wird die sog. Methode der Stabvertauschung zur Her- stellung von neuen Fachwerken empfohlen '). Dieselbe ist nur dann dazu geeignet, wenn das Fachwerk, von welchem man ausgeht, so einfach ist, dass man sofort erkennt, welche Stäbe man vertauschen darf, ohne dass durch die betreffende Stabvertauschung sich eine Beweglichkeit ergiebt.

Ist ein Gelenksystem auf Grund der Gesetze 2) und 3) hergestellt, so ist es entweder ein bestimmtes Fachwerk, oder es liegt der Grenz- fall vor. Die Entscheidung hierüber bedarf einer besonderen Unter- suchung (Nr. 39). Ergiebt sich, dass der Grenzfall vorliegt, so wird eine geringe Änderung der Lage der Knotenpunkte genügen, um das Gelenksystem zu einem bestimmten Fachwerk zu machen.

Umgekehrt sind die Regeln a) und b) zur Prüfung eines Gelenk- systemes von » Knotenpunkten und m = 2n 3 Stäben geeignet. Lässt sich ein Gelenksystem durch die Regeln a) und b) auf ein Dreieck zurückführen, so ist es entweder ein bestimmtes Fachwerk,

2 ö

4

Fig. 30. Fig. 31.

oder es liegt der Grenzfall vor, was wieder einer besonderen Unter- suchung bedarf. Wird z. B. bei Fig. 30 der Knotenpunkt 6 nebst den drei Stäben 61, 63, 65 weggenommen und dafür der Stab 15 eingeschaltet, so entsteht das System Fig. 31, welches durch Weg- nahme der Knotenpunkte 3 und 4 und der betreffenden Stäbe das

155) Riga, Ind.-Zeitung 15 (1889), p. 75. 156) A. Föppl, Graphische Statik, Leipzig 1900, p. 214.

404 IV5. L. Henneberg. Graphische Statik: Ebene Fachwerke.

Dreieck 125 ergiebt. Folglich ist das Gelenksystem Fig. 30 ein be- stimmtes Fachwerk, oder es liegt der Grenzfall vor”).

Bezüglich der weiteren geometrischen Eigenschaften der be- stimmten ebenen Fachwerke, der Frage nach der Anzahl der Drei- ecke, der Vierecke u. s. w., der Frage nach der Anzahl der Knoten- punkte von gegebener Art etc. möge auf die Arbeiten von @. Lang '*®), M. Grübler ”°), ©. Rodenberg '®) und Fr. Schur ') verwiesen werden.

35. Bestimmung der Spannungen in den (allgemeinen) „be- stimmten“ ebenen Fachwerken. Einleitung. Durch die Schnitt- methode sind die Spannungen in allen Fachwerken, bezw. in allen denjenigen Stäben eines Fachwerkes bestimmbar, durch welche sich Schnitte legen lassen, die nur drei nicht in einem Punkt zusammen- kommende Stäbe treffen. Ebenso bietet die Bestimmung der Span- nungen keine Schwierigkeiten, wenn das vorliegende Fachwerk ledig- lich unter Anwendung des Gesetzes 2) hergestellt ist. Allgemeinere Methoden sind eventuell erforderlich, wenn das Fachwerk sich nur durch Zuhülfenahme des Gesetzes 3) erklären lässt.

Mit der allgemeinen Aufgabe, die Bestimmung der Spannungen für ein beliebig gegebenes bestimmtes Fachwerk durchzuführen, haben sich zuerst O0. Mohr, A. Föppl und C. Saviotti beschäftigt. Das Prinzip der virtuellen Verrückungen ist hierbei zuerst von Mohr verwandt. Föppl sagt bezüglich dieser Aufgabe'%?), dass sich die Spannung in einem Stabe AB eines bestimmten Fachwerkes ermitteln lässt, indem man diesen Stab wegnimmt bezw. ersetzt durch zwei gleich grosse, entgegengesetzt gerichtete Kräfte, die in A und B angreifen und in der Linie AB liegen, und dann durch das Prinzip der virtuellen Ver- rückungen die Gleichgewichtsbedingungen bestimmt. Doch wird dieser Gedanke auch von Föppl nicht weiter zur Bestimmung der Spannungen verwertet, vgl. weiter unten Nr. 37.

157) Vgl. auch L. Henneberg, Jahresber. d. Deutsch. Math.-Ver. 3 (1894). Hier ist unter einem einfachen Fachwerke gemäss der ursprünglichen Mohr- schen Terminologie (Nr. 29) dasjenige verstanden, was jetzt im Text als be- stimmtes Fachwerk bezeichnet ist.

158) Riga, Ind.-Zeitung 15 (1889), p. 73.

159) Riga, Ind.-Zeitung 13 (1887) p. 37 u. 49; 14 (1888), p. 277; 15 (1889), p. 88; 17 (1891), p. 75 u. 206.

160) Riga, Ind.-Zeitung 17 (1891), p. 73 u. 205.

161) Math. Ann. 48 (1897), p. 142.

162) Theorie des Fachwerks (1880), p. 20. Vorher hatte jedoch schon Mohr bemerkt, dass sich in dieser Weise die Bestimmung der Spannungen durch- führen lässt, Zeitschrift d. Arch.- u. Ing.-Ver. zu Hannover 20 (1874), p. 512 und Civiling. (2) 31 (1885), p. 291.

35. Bestimmung d. Spannungen in d. allgemeinen bestimmten Fachwerken. 405

Die Untersuchungen von (. Saviotti haben zu einer Methode de la fausse position geführt!#®). Dieselbe beruht auf dem Satze: Ändert ein n-Eck in der Weise seine Form, dass sämtliche Seiten desselben durch feste Punkte einer und derselben Geraden gehen (die bei der Methode de la fausse position die unendlich ferne Gerade ist), während n 1 Eckpunkte gerade Linien beschreiben, so bewegt sich auch der n' Eckpunkt auf einer Geraden. Die Methode ist insbesondere an- wendbar, sobald sich, nach Annahme der Spannung in einem Stabe, ein reziproker Kräfteplan konstruieren lässt, und führt dann durch zwei- maliges Probieren zum Ziele. In der beistehenden Figur ist mit Hülfe der Methode de la fausse position in einem ganz einfachen Fach-

+E, b, ©, B, 2

werke die Bestimmung der Spannungen durchgeführt (Fig. 32). Auf die Knotenpunkte 2, 4, wirken drei Kräfte P,, P,, P,, die vertikal nach abwärts gerichtet sind und dieselbe Grösse P haben. Das Fach- werk ist in 1 und 1’ gelagert, und die Lagerreaktionen P, und P, werden infolge der Symmetrieverhältnisse dieselbe Grösse , —P,,—=3P erhalten. Infolge der Symmetrieverhältnisse ist es nur erforderlich, den halben Kräfteplan zu konstruieren. b,, b,, b, ist das Kräfte-

polygon, und zwar ist A, =b,b,, = —b,b,, PR =b,b,. Wird

nun für die Spannung in dem Stabe 12 die Grösse b,c, gewählt, so wird c,d, die Spannung in 13 und d,b, diejenige in 11. Nachdem die Spannung in 13 gefunden ist, lässt sich der Knotenpunkt 3 unter- suchen und zwar wird c,d, E, das Flächenstück, welches dem Punkte 3 entspricht, bezw. d, E, und E,c, werden die Spannungen in 34 und 23. Wird andererseits die Spannung in dem Stabe 12 gleich b,c, gewählt, so kommt der frühere Punkt E, nach E,, er bewegt sich somit in der

163) Cremona-Saviotti, Les figures reciproques, p.65. In diesem Buche unter- sucht Saviotti auch Fachwerke, bei denen die Kräfte nicht in den Knoten- punkten, sondern an beliebigen Stellen der Stäbe angreifen, s. ch. IV u. V; s. auch Roma, Acc. dei Lincei Atti 2 (3) (1875), p. 148.

406 IV5. L. Henneberg. Graphische Statik: Ebene Fachwerke.

durch E, und E, bestimmten Geraden 9. Da aber dieser Punkt in der durch d, gehenden zu 24 parallelen Linie (horizontalen Linie) liegen muss, so ist er der Schnitt von g mit dieser Linie. Nachdem so die wirkliche Lage E dieses Punktes gefunden ist, lässt sich der Kräfteplan für das Fachwerk leicht angeben und zwar bekommt die Spannung in dem Stabe 12 die Grösse be.

Aus dem Kräfteplane für dieses einfach gewählte Fachwerk geht die Bedeutung der Methode von Saviotti noch nicht genügend hervor, da sich auf dieses Fachwerk auch die Schnittmethode hätte anwenden lassen. Saviotti benutzt jedoch diese Methode auch zur Bestimmung des Kräfteplanes für kompliziertere Fachwerke, für welche die Schnitt- methode versagt. Jedenfalls lässt sich die Methode stets verwenden, wenn sich für das Fachwerk nach Kenntnis der Spannung in einem Stabe ein reziproker Kräfteplan zeichnen lässt.

Die allgemeinen Methoden für die Bestimmung der Spannungen sind: die Methode von Henneberg, die kinematische Methode von Mohr und Müller-Breslau und die von Schur erweiterte Methode der reziproken Kräftepläne von Maxwell-Cremona.

36. Fortsetzung: Die Methode von Henneberg'*). Die Span- nungsbestimmung in dem gegebenen Fachwerke erfolgt durch mehr- malige Bestimmung der Spannungen in einem einfacheren (abgeleiteten) Fachwerke. Zur Herstellung des abgeleiteten Fachwerks werden die Strukturgesetze benutzt und so die Bestimmung der Spannungen in dem gegebenen Fachwerk von » Knotenpunkten auf diejenige im Fachwerke von n —1 Knotenpunkten zurückgeführt.

Es sei bei dem vorliegenden Fachwerk von Knotenpunkten ein zweifacher Knotenpunkt O vorhanden'‘®), der mit drei Knoten- punkten A, B, © des Fachwerkes durch Stäbe verbunden ist. Nach Wegnahme des Knotenpunktes O und der Stäbe 0A, OB, OC sollen Verrückungen der Knotenpunkte A und B möglich sein, so dass bei Hinzufügen des Stabes AB sich ein bestimmtes Fachwerk von n 1 Knotenpunkten ergiebt.

Die auf das gegebene Fachwerk von n Knotenpunkten wirken- den Kräfte seien P,, und speziell P,, P,, P,, P; die Kräfte in den Knotenpunkten O0, A, B, C. Die Komponenten von P,, die sich bei Zerlegung von P, in den Stäben 0A, OB, O0 ergeben, lassen sich in der Form darstellen

S, ia S + A: 8, 8, er 8, En A: 8, 5, ne 8 r A: 8,

164) Statik (1886), p. 222 u. f. 165) Der Fall, bei welchem auch einfache Knotenpunkte vorkommen, be- darf keiner weiteren Erörterung.

36. Fortsetzung: Die Methode von Henneberg. 407

wo 8,', 8, S;. die Komponenten bei einer beliebigen Zerlegung von P, und $8,”, 85”, 8,” irgend drei im Gleichgewicht stehende und in OA, OB, O0 liegende Kräfte sind.

Es seien nun gefunden:

a) Die Spannungen in den Stäben des Fachwerkes von n —1 Knotenpunkten, wenn auf die Knotenpunkte A, B, C die Resultanten von P, und $,', P, und 8,', P, und $,’ und auf die übrigen Knoten- punkte die Kräfte P,, P,,... wirken. Hierbei möge sich in einem Stabe /;, eine Spannung S$;;, und insbesondere in dem Stabe AB eine Spannung S,, ergeben haben.

b) Die Spannungen in den Stäben des Fachwerkes von n —1 Knotenpunkten, wenn auf A, B, C die drei im Gleichgewichte stehen- den Kräfte $,”, 8”, 5,” und auf die übrigen Knotenpunkte gar keine Kräfte wirken. Hierbei möge sich in einem Stabe /,, eine Spannung S;, und insbesondere in dem Stabe AB eine solche S/; ergeben.

Dann ist

[23 ik Sp ET 5;

die Spannung in dem Stabe /,, des gegebenen Fachwerkes von n Knotenpunkten 1%),

Die Methode ist sowohl graphisch !°) wie analytisch durchführbar. Bei der graphischen Durchführung kommt es darauf an, zwei Kräfte- pläne für das Fachwerk von na 1 Knotenpunkten zu zeichnen und nach entsprechender proportionaler Änderung des zweiten denselben vom ersten abzuziehen. Welche graphische Methode dabei benutzt wird, ist selbstverständlich gleichgiltig.

Bi der analytischen Anwendung der obigen Methode ist die Auf- lösung eines Systemes von 3 Gleichungen mit 3 Unbe- kannten zurückgeführt auf die Auflösung von zwei Systemen von 2n 5 Gleichungen mit 5 Unbekannten. Der Vorteil dieser Berechnungsart besteht darin, dass die 5 Gleichungen dieselbe einfache Struktur wie die 2»—3 Gleichungen erhalten, bezw. dass in jeder der 5 Gleichungen wie in jeder der 3 Gleichungen nur ganz wenige der Unbekannten vorkommen.

Ein ähnliches Verfahren wendet H. Müller-Breslau 10) an, indem

166) Hat das Fachwerk von n— 1 Knotenpunkten, auf welches das vor- liegende Fachwerk zurückgeführt wird, abermals keinen einfachen Knotenpunkt, so würde das Verfahren nochmals anzuwenden sein. Die Methode führt stets zum Ziele, da man zuletzt auf ein Dreieck kommt.

167) L. Henneberg, Statik, p. 234 führt die Methode an einem Beispiele graphisch durch.

168) Baukonstruktionen, 1. Teil (1887), 2. Aufl., p. 213; 3. Aufl., p. 443.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1. 27

408 IV5. L.Henneberg. Graphische Statik: Ebene Fachwerke.

er das Fachwerk durch Beseitigung von Stäben und Hinzufügung von ebensoviel neuen Stäben (Ersatzstäbe) in ein Stabgebilde ver- wandelt, dessen statische Bestimmtheit „ausser Zweifel steht“, und dann die Bestimmung der Spannungen in dem gegebenen Fachwerk auf diejenige in dem reduzierten Fachwerk zurückführt. Hierbei sind die unbekannten Spannungen in den weggenommenen Stäben als äussere Kräfte einzuführen und die notwendigen Gleichungen für die Multiplikatoren sind wie bei Henneberg durch die Bedingung ge- geben, dass die Spannungen in den Ersatzstäben Null sein müssen. Das Verfahren hat jedoch den Übelstand, dass keine allgemeine Regel angegeben ist, wie die Verwandlung des Fachwerkes in ein Stab- gebilde, dessen statische Bestimmtheit ausser Zweifel ist, zu erfolgen hat!#°).

37. Fortsetzung: Die kinematische Methode von Mohr und Müller- Breslau. Den in Nr. 35 erwähnten Gedanken von O0. Mohr und (später)

Fig. 33.

169) H. Müller- Breslau bezeichnet dieses Verfahren als die „Methode des Ersatzstabes“. Ist das vorliegende Fachwerk so einfach, dass man, auch ohne sich streng an das Gesetz 3) in Nr. 34 zu halten, ein stabiles System herleiten kann, für welches sich die Spannungsbestimmung leicht durchführen lässt, so kann man allerdings in dieser Weise die Methode von Henneberg zur Ausführung bringen und wird dieses auch vielfach mit Vorteil thun. Siehe auch die Ab-

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37. Fortsetzung: Die kinematische Methode. 409

A. Föppl hat zuerst H. Müller-Breslau'°) zur graphischen Bestimmung der Spannungen im Fachwerk verwandt.

Um die Spannung S,, in einem Stabe /,, zu bestimmen, möge dieser fortgenommen werden, sodass ein bewegliches System entsteht (vgl. Fig. 33). Wird dann der Stab 1,, festgehalten, so ist nur Gleich- gewicht möglich, wenn auf den Knotenpunkt n ausser der Kraft P, noch eine Kraft S,, wirkt, welche in Z,, liegt und gleich dem be- treffenden Gelenkdrucke ist. Durch $,, ist dann die Spannung in dem Stabe !,, bestimmt. Die Bestimmung von $,, geschieht nun durch das Prinzip der virtuellen Verrückungen, aus welchem folgt, dass für den Fall des Gleichgewichtes die Summe aus den virtuellen Momenten der Kräfte P,, P,,... und dem virtuellen Momente der noch auf den Punkt 2 wirkenden Kraft $,, gleich Null. sein muss.

Zur Bestimmung der virtuellen Momente werden nach Williot die normalen Geschwindigkeiten verwandt, bezw. es werden die virtuellen Ver- rückungen der einzelnen Knotenpunkte auf den Normalen der Bahnen von dem betreffenden Knotenpunkte aus so aufgetragen, dass das sta- tische Moment der auf den betreffenden Knotenpunkt wirkenden Kraft für den Endpunkt der normalen Geschwindigkeit (Geschwindigkeitspol) als Drehpunkt dasselbe Vorzeichen hat, wie das virtuelle Moment und somit mit demselben übereinstimmt. Hierbei ist die Grösse der nor- malen Geschwindigkeit eines Knotenpunktes wählbar. Jedem Knoten- punkte 3,4,...n ist als Endpunkt der normalen Geschwindigkeit ein Punkt 3°, 4,...n zugeordnet. Sind dann &,c,,...c, die je nach dem Drehungssinn positiv oder negativ genommenen Hebelarme der Kräfte P,, P,,... P, für die Punkte 3’ 4',... n’ als Drehpunkte und ebenso c derjenige von $,, für »’ als Drehpunkt, so folgt aus dem Prinzip der virtuellen Verrückungen die Gleichung

Sn e+23Pa—0, 3

durch welche die Spannung $,, in dem Stabe /,, bestimmt ist, was am besten graphisch geschieht.

Wird der Stab /,, nicht festgehalten, so sind noch die Momente der Kräfte P, und P,, sowie das Moment einer in 1 angreifenden und

handlungen von H. Müller-Breslau, Zentralbl. d. Bauverw. 23 (1903), p.65; O. Mohr, Zentralbl. d. Bauverw. 23 (1903), p. 237,402 und L. Henneberg, ebenda, p. 377.

170) Schweiz. Bauzeitung 9 (1887), p. 121; Baukonstruktionen, 2. Aufl., 1. Bd., p. 204; Zeitschr. d. Arch.- u. Ing.-Ver. zu Hannover 34 (1888), p. 191. Diese Methode pflegt als Müller-Breslau’sche Methode bezeichnet zu werden. Vgl. die Arbeit von O. Mohr, Zentralbl. d. Bauverw. 23 (1903), p.237, in welcher O. Mohr seinen Anteil an der kinematischen Methode wahrt.

27°

410 IV5. L.Henneberg. Graphische Statik: Ebene Fachwerke.

der Kraft $,, entgegengesetzten aber gleichgrossen Kraft hinzuzufügen. Zur Bestimmung der Spannung $,, in dem Stabe /,„ ergiebt sich dann eine Gleichung von der Form

Sn —e)+Z3PRao=0. 1

Zur Bestimmung der Spannungen ist hierbei für jeden Stab ein besonderer Geschwindigkeitsplan zu konstruieren. In den meisten praktischen Fällen wird jedoch die einmalige Durchführung der Kon- struktion genügen, da sich nach Bestimmung der Spannung in einem Stabe die übrigen Stabspannungen unter Anwendung der gewöhnlichen Methoden werden finden lassen. Wie die Schnittmethode, so gestattet es auch im allgemeinen Fall die kinematische Methode, die Spannung in einem Stabe des Fachwerkes zu bestimmen, ohne die Spannung in sämtlichen anderen Stäben mitzubestimmen.

Bei der Konstruktion des Geschwindigkeitsplanes, also der Punkte 3,4,...,#, verwenden H. Müller- Breslau und insbesondere O. Mohr !'%®) die Sätze über das momentane Drehungscentrum, sowie speziell den Satz, nach welchem die relativen momentanen Drehungscentra dreier Ebenen gegen einander in einer Geraden liegen. Die Figur der Ge- schwindigkeitspole eines irgendwie bewegten Fachwerkes ist in jedem Momente ein Fachwerk von derselben Gliederung und mit entsprechen- den Stäben gleicher Richtung, und es kann umgekehrt jedes solche Fachwerk als die Figur der Geschwindigkeitspole einer dadurch be- stimmten Bewegung des ersten Fachwerkes betrachtet werden '"!).

Analytisch betrachtet führt die kinematische Methode allerdings für jeden Stab auf eine lineare Gleichung mit einer Unbekannten, nämlich der betreffenden Stabspannung; die rechnerische Bestimmung der Hebelarme c, und somit diejenige der beiden Koeffizienten der Gleichung kann jedoch gegebenenfalls sehr umständlich werden.

H. Müller-Breslau giebt die Geschwindigkeitspläne nur an einigen Beispielen. Für eine Reihe von weiteren, mehr komplizierten Fällen hat @. Lang die Geschwindigkeitspläne angegeben''?). Dass jedoch sich stets in der angegebenen Weise der Geschwindigkeitsplan her- stellen lässt, kann mit Hülfe der Gesetze über die Struktur der be- stimmten Fachwerke durch einen Schluss von n auf »+1 leicht ge- zeigt werden.

170*) Civiling. 33 (1887), p. 63.

171) Satz von F. Schur, Math. Ann. 48 (1897), p. 147. Ein Teil dieses Satzes ist schon von Müller- Breslau bemerkt.

172) Rig. Ind.-Zeitung 15 (1889), p. 73 u. 85.

38. Reziproke Fachwerke. 39. Auftreten der Grenzfälle. 411

38. Fortsetzung: Die allgemeine Verwendung der reziproken Fachwerke. Erst durch Fr. Schwr'"®) erhielt die Theorie der rezi- proken Figuren eine Bedeutung für das allgemeine bestimmte Fach- werk. Schur zeigte, dass sich durch Einführung von idealen Stäben und Knotenpunkten jedes bestimmte Fachwerk auf ein Maxwell’sches Fachwerk zurückführen lässt, sodass das Spannungsproblem für ein beliebiges bestimmtes Fachwerk durch den reziproken Kräfteplan des betreffenden Maxwell’schen Fachwerkes gelöst ist. So ergiebt sich der Satz:

Für jedes bestimmte ebene Fachwerk lässt sich jedes Spannungs- problem mit Hülfe eines reziproken Kräfteplanes lösen, wenn das Fach- werk zwoor durch Einführung gewisser idealer Stäbe und Knotenpunkte erweitert ist.

In dem speziellen, wie in dem allgemeinen Falle eines bestimmten ebenen Fachwerkes (wo das Gesetz 3) (Nr. 34) für den Aufbau der Fachwerke herangezogen werden muss) giebt Fr. Schur auf Grund dieser Methode die Konstruktion des Kräfteplanes an !'*).

39. Allgemeine Kriterien für das Auftreten der Grenzfälle. Handelt es sich um die Untersuchung eines Gelenksystemes von n Knotenpunkten und m = 2n 3 Stäben, so ist: es zweckmässig, wenn dieses auch nicht unbedingt notwendig ist, immer zuerst die Struktur desselben zu untersuchen. Ist die Struktur die für die bestimmten Fachwerke erforderliche (Nr. 34), so ist das Gelenksystem entweder ein bestimmtes Fachwerk, oder es liegt der Grenzfall vor. Die Frage kann durch den Satz entschieden werden, nach welchem ein Gelenksystem von m = 2n 3 Stäben statisch bestimmt ist, sobald sich die Spannungen für irgend ein Gleichgewichtssystem von Kräften eindeutig und endlich bestimmen lassen. Dieser Satz führt auf folgen- des Verfahren:

Man nehme irgend ein Gleichgewichtssystem von Kräften auf die Knotenpunkte wirkend an und bestimme nach irgend einer der vor- geführten Methoden graphisch oder analytisch die Spannungen. Lassen sich die Spannungen endlich und eindeutig bestimmen, so ist das Stab- system ein bestimmtes ebenes Fachwerk, im anderen Falle liegt der Grenzfall vor. Hierbei ist es zweckmässig, ein möglichst einfaches Kräftesystem zu wählen, wenn man nicht geradezu sämtliche Kräfte —=() setzen will, so dass

173) Zeitschr. Math. Phys. 40 (1895), p. 48; Math. Ann. 48 (1897), p. 142.

174) Mit der Frage, welche Methode in einem vorliegenden Falle am besten zum Ziele führt, beschäftigt sich H. Kayser, Riga, Ind.-Zeitung 24 (1898), p. 61 u. 73 u. 85.

412 IV5. L. Henneberg. Graphische Statik: Räumliche Fachwerke.

u, —% 0. > 5, I r, 3 Dh

Dann müssen im Falle des bestimmten Fachwerkes sämtliche Spannungen eindeutig —= 0 werden!"®). Ist diese Bedingung nicht erfüllt, so liegt der Grenzfall vor.

Ein anderes Kriterium für das Auftreten des Grenzfalles giebt H. Müller-Breslau mit Hülfe der kinematischen Methode. Es ist der Plan der normalen Geschwindigkeiten zu zeichnen, welcher sich nach Wegnahme des Stabes /,, und Festhalten des Stabes /,, ergiebt (vgl. Nr. 37). Wenn dann der Geschwindigkeitspol n’ des Punktes n auf l,„ liegt, so ist das Gelenksystem kinematisch unbestimmt, im anderen Falle kinematisch bestimmt, also ein bestimmtes Fachwerk.

Auf das Nämliche kommt es heraus, wenn gar kein Stab weg- genommen wird und wenn, nach Fixierung der Geschwindigkeits- richtungen zweier Knotenpunkte und der Grösse der einen, die Ge- schwindigkeitspole sämtlicher Knotenpunkte bestimmt werden. Ist Stabilität vorhanden, so muss bei Verbindung der Geschwindigkeits- pole in derselben Weise, wie die Knotenpunkte durch Stäbe ver- bunden sind, sich eine dem Stabsystem ähnliche Figur ergeben !"®).

Auch die angeführten Untersuchungen von M. Grübler, in denen die Drehungscentren der einzelnen Stäbe bestimmt werden, haben zu einer Methode zur Untersuchung des Grenzfalles geführt!””). Dieselbe läuft jedoch im wesentlichen auf die Methode von, H. Müller-.Breslau hinaus, insofern die Endpunkte der normalen Geschwindigkeiten auch als Drehungscentren angesehen werden können.

B. Räumliche Fachwerke,

40. Räumliche Gelenksysteme. „Bestimmte“ räumliche freie Fachwerke. Unter einem räumlichen Gelenksystem sei ein System

175) Dass bei einem bestimmten Fachwerke alle Spannungen = 0 werden müssen, wenn keine Kräfte wirken, hat Föppl schon 1880 ausgesprochen; siehe Theorie des Fachwerks, p. 26.

176) Schweiz. Bauzeitung 9 (1887), p. 121; s. Fussn. 144 und Baukon- struktionen (1887), 2. Aufl., Bd. 1, p. 210.

177) Riga, Ind.-Zeitung 13 (1887), p. 49 u. f.; 14 (1888), p. 278 u. f. Siehe IV 3 (A. Schönflies und M. Grübler). Die Arbeit von M. Grübler ist etwas vor derjenigen von Müller-Breslau erschienen. Bezüglich der Stabilität der Gelenk- systeme siehe auch die Arbeit von @. Lang, Rig. Ind.-Zeitung 15 (1889), p. 73. Das von @. Lang eingeführte Paralleleck stimmt mit dem Plane der normalen

40. Räumliche Gelenksysteme. „Bestimmte“ räumliche Fachwerke. 413

von Stäben verstanden, die in ihren Endpunkten durch Kugelgelenke (Knotenpunkte) miteinander verbunden sind. Wie bei den ebenen Gelenksystemen können dann kinematisch bestimmte, kinematisch über- bestimmte und kinematisch unbestimmte räumliche Gelenksysteme unter- schieden werden.

Die kinematisch bestimmten und die kinematisch überbestimmten räumlichen Gelenksysteme werden als freie räumliche Fachwerke oder abgekürzt als räumliche Fachwerke‘'?) bezeichnet.

Jeder Stab von der Länge /,,, welcher zwei Knotenpunkte mit den Koordinaten x,y;2, und x,y,2, verbindet, liefert eine Gleichung

- 0’ + al

aus welcher folgt

(2) (6, 8) + 4) du I) + (2) (2, 92) 0. Daraus, dass keine gegenseitigen Verschiebungen der Knotenpunkte möglich sein sollen, ergiebt sich, dass die Zahl der Stäbe des räum- lichen Fachwerkes wenigstens 3n 6 betragen muss, und dass man auf jeden Fall 3n 6 Gleichungen so muss aussuchen können, dass ihre Eliminationsdeterminante D einen von Null verschiedenen Wert hat.

Der Fall, in welchem ein räumliches Gelenksystem die für die kinematisch bestimmten räumlichen Fachwerke erforderliche Struktur besitzt (vgl. Nr. 42), in welchem aber die Determinante den Wert Null erhält, möge, wie bei den ebenen Fachwerken, als der Grenzfall bezeichnet werden. In diesem Falle ist das Gelenksystem von m = d3n 6 Stäben kinematisch unbestimmt und zwar sind im all- gemeinen nur unendlich kleine Bewegungen möglich.

Sind X Y,Z, 432, :--, X, -.. die Komponenten der Kräfte, welche auf die » Knotenpunkte Y 2%, ZYalay >> %;Y;2;,... eines räumlichen Gelenksystemes wirken, so ergeben sich für die m Spannungen $;, in den m Stäben die 3%» Gleichungen

ı

L, -3 Su a k ik Y,—% Y, => | S;, RER, k ik 2, —y Z= > | Sr es j% ik

Geschwindigkeiten überein. @. Lang führt die Untersuchung für eine Reihe von speziellen Fällen durch.

178) Das räumliche Fachwerk ist wesentlich von A. Föppl eingeführt. A. Föppl, Theorie des Fachwerks (1880).

414 IV5. L. Henneberg. Graphische Statik: Räumliche Fachwerke.

welche sich infolge der Gleichgewichtsbedingungen der Kräfte X,Y;Z, auf 3n 6 von einander unabhängige reduzieren. Die Summen auf der rechten Seite sind hierbei über diejenigen Knotenpunkte x, 9,2; zu erstrecken, welche mit dem Punkte z,y,;2, durch Stäbe ver- bunden sind.

Wird ein räumliches Gelenksystem als statisch bestimmt bezeichnet, wenn für jedes Gleichgewichtssystem von Kräften die Spannungen endlich und eindeutig bestimmt sind, so folgt, dass für die statische Bestimmtheit des Gelenksystemes die Zahl der voneinander unab- hängigen 6 Gleichungen übereinstimmen muss mit der Zahl der Unbekannten, und dass die Determinante der obigen Gleichungen einen von Null verschiedenen Wert haben muss.

Das statisch bestimmte räumliche Gelenksystem hat daher 3n 6 Stäbe, also ebenso viele Stäbe, wie das kinematisch bestimmte Fach- werk.

Wie für das ebene Fachwerk, hat nun A. Föppl für das räumliche Fachwerk nachgewiesen, dass die Determinante, von welcher die kine- matische Bestimmtheit eines Gelenksystemes abhängt, übereinstimmt mit der Determinante, durch welche die statische Bestimmtheit be- dingt ist!"®). Infolge davon ergiebt sich der Satz von A. Föppl:

Die kinematisch bestimmten räumlichen Fachwerke sind identisch mit den statisch bestimmten räumlichen Fachwerken.

In Rücksicht auf diese Übereinstimmung bezeichnet Föppl die kinematisch bestimmten räumlichen Fachwerke schlechtweg als „be- stimmte“ räumliche Fachwerke.

Wie bei den ebenen Gelenksystemen lässt sich bei den räumlichen aus dem Satze von Föppl sofort der weitere Satz erkennen:

Wenn für ein räumliches Gelenksystem von m = 3n 6 Stäben die Spannungen sich bei einem beliebig gewählten Gleichgewichtssystem äusserer Kräfte als endlich und eindeutig ergeben, so ist das Gelenk- system ein räumliches bestimmtes Fachwerk '°).

Natürlich giebt es auch kinematisch überbestimmte, statisch un- bestimmte, räumliche Gelenksysteme (mit mehr als 3n 6 Stäben);

179) Siehe Fussn. 129.

180) Im Folgenden wird die Untersuchung in analoger Weise, wie bei den ebenen Fachwerken durchgeführt. Zunächst sollen einige einfache räumliche Fachwerke und Diagramme untersucht werden. Dann wird die Untersuchung der Struktur des allgemeinen bestimmten räumlichen Fachwerkes folgen und die allgemeine Auflösung der obigen Gleichungen, von denen das Spannungs- problem abhängt. Den Schluss des Abschnittes wird die Untersuchung des Grenzfalles bilden.

41. Spezielle räumliche Fachwerksformen und Diagramme. 415

dieselben treten sogar in praxi besonders häufig auf. Für dieselben gelten entsprechende Bemerkungen, wie sie am Schlusse von Nr. 31 über die statisch überbestimmten ebenen Fachwerke gegeben wurden.

41. Spezielle räumliche Fachwerksformen und Diagramme. Schon A. Föppl hat gezeigt, dass sich ein bestimmtes räumliches Fachwerk herstellen lässt, indem zwei bestimmte räumliche Fachwerke durch 6 Stäbe mit einander verbunden werden'®'). Die Spannungen in diesen 6 Stäben lassen sich durch die Schnittmethode finden, wo- bei jedoch der Schnitt durch eine Ebene bezw. eine Fläche zu er- folgen hat. Die Spannungsbestimmung kommt dann auf die Aufgabe hinaus, eine Kraft in das Gleichgewicht zu setzen durch sechs Kräfte, die in vorgeschriebenen geraden Linien liegen, bezw. auf die Auf- gabe, sechs lineare Gleichungen mit sechs Unbekannten aufzulösen. Dass diese Aufgabe in ähnlicher Weise, wie die entsprechende Auf- gabe des ebenen Kräftesystemes (s. Nr. 13) mit Hülfe der Momenten- methode behandelt werden kann, hat A. Föppl gezeigt. Hierbei tritt an die Stelle eines Drehungspunktes eine Drehungsaxe 1?1),

Weitere einfache räumliche bestimmte Fachwerke. sind die Te- traederfachwerke, die, wie die Dreiecksfachwerke aus Dreiecken, sich durch Zusammenlegen von Tetraedern herstellen lassen. Die Span- nungen in den Tetraederfachwerken lassen sich finden durch wieder- holtes Zerlegen einer Kraft in drei Komponenten mit demselben An- griffspunkt, bezw. durch Auflösen eines Systemes von je drei Glei- chungen mit drei Unbekannten.

Zu reziproken räumlichen Figuren besonderer Art haben die Unter- suchungen von M. Rankine und Olerk Maxwell geführt. Diesen Unter- suchungen liegt ein Satz von Rankine zu Grunde"), nach welchem Kräfte mit demselben Angriffspunkt im Gleichgewicht stehen, wenn die- selben senkrecht sind zu den Seiten eines geschlossenen Polyeders, und wenn ihre Grössen proportional sind zu den Inhalten der zu ihnen senk- rechten Flächen. Hierbei müssen sämtliche Kräfte entweder nach dem Äusseren oder nach dem Inneren des Polyeders gerichtet sein.

181) Föppl, Theorie des Fachwerks, p. 13.

181%) A. Föppl, Graphische Statik, Leipzig 1900, p. 172. Diese Momenten- methode wird in den Arbeiten von H. Müller-Breslau, H. Zimmermann und Th. Landsberg zur Bestimmung der Spannungen in speziellen räumlichen Fach- werken vielfach verwandt. Siehe insbesondere Th. Landsberg, Zentralbl. d. Bauverw. 23 (1903), p. 221.

182) M. Rankine, A manual of applied mechanics, 1. Aufl., London 1857, p- 137.

416 IV 5. L. Henneberg. Graphische Statik: Räumliche Fachwerke.

Von diesem Satze macht Rankine eine Anwendung 189) auf die Bestimmung der Spannungen in einem bestimmten räumlichen Fach- werke von 5 Knotenpunkten, jedoch für eine spezielle Annahme be- züglich der auf die Knotenpunkte wirkenden Kräfte.

Es seien 5 Punkte im Raume beliebig gewählt und dieselben durch die 10 Geraden miteinander verbunden. Dann werden in jedem der 5 Punkte 4 Gerade zusammenstossen, und diese 5 Punkte werden als Ecken, bezw. die 10 Geraden als Kanten, 5 Tetraeder bestimmen, von denen je zwei eine Seite gemein haben. Es sei nun eine zweite derartige Figur gebildet und zwar für die fünf Punkte, welche durch die fünf Tetraeder der ersten Figur als Mittelpunkte der umschriebenen Kugeln bestimmt sind. Bei diesen beiden Figuren werden dann die Linien der einen Figur senkrecht stehen auf den Seitenflächen der anderen. Jeder Linie der einen Figur kann demgemäss eine Fläche der anderen zugeordnet werden, und jedem Punkte der einen Figur dasjenige Tetraeder der zweiten Figur, dessen Ebenen senkrecht stehen zu den vier Geraden, die in dem betreffenden Punkte zusammen- kommen. Werden dann in jedem Punkte der einen Figur, als An- griffspunkt, vier Kräfte angenommen, die in den vier in diesem Punkte zusammenkommenden Linien liegen, wobei in jeder Linie die betreffen- den beiden Kräfte dieselbe Grösse aber entgegengesetzte Richtung haben sollen, so besteht an jedem der fünf Punkte Gleichgewicht zwischen den vier Kräften, wenn die beiden Kräfte, die in einer Linie der ersten Figur liegen, proportional sind zu den Flächen der zweiten.

Ein räumliches bestimmtes Fachwerk von fünf Knotenpunkten hat 9 Stäbe, also einen Stab weniger als eine der hier konstruierten Figuren Linien be- sitzt. Diese fehlende Linie AB müsste daher (um die Rankine'sche Konstruktion anwenden zu können) ersetzt werden durch zwei gleich grosse und ent- gegengesetzte Kräfte, die in AB liegen und in den Endpunkten A und B derselben angreifen (Fig. 34). Durch die Flächen der reziproken Figur sind dann

Fig. 34. die Spannungen bestimmt, die sich in dem Fach-

werke von fünf Knotenpunkten ergeben.

In Verallgemeinerung dieser Rankine’schen Untersuchungen be- zeichnet Maxwell‘) zwei räumliche Figuren, die aus einer Anzahl

SL

183) Phil. Mag. (4) 27 (1864), p. 92.

184) Phil. Mag. (4) 27 (1864), p. 260 = Papers 1, p.523. Es ist bemerkens- wert, dass bei dieser Verallgemeinerung der reziproken Figuren das Senkrecht- stehen entsprechender Elemente etwas wesentliches ist.

42. Struktur des allgemeinen bestimmten räumlichen Fachwerkes.. 417

von geschlossenen Polyedern bestehen, als reziprok, sobald jede Linie der einen Figur senkrecht steht zu einer Ebene der anderen und dabei jedem Punkte der einen Figur, in dem mehrere Linien zusammen- kommen, ein geschlossenes Polyeder der anderen Figur zugeordnet werden kann, das durch die Ebenen begrenzt ist, welche senkrecht sind zu den Linien, die in dem betreffenden Punkte zusammen- kommen 19).

Werden in den Punkten der einen Figur Kräfte angenommen, die in den in diesen Punkten zusammenkommenden Linien liegen, und zwar so, dass in jeder Linie sich zwei entgegengesetzt gerichtete Kräfte ergeben, so ist an jedem Punkte der einen Figur Gleichgewicht vorhanden, wenn die betreffenden Kräfte proportional sind zu den Flächen der reziproken Figur. Zwei solche räumliche Figuren reprä- sentieren somit reziproke Kräftediagramme, wobei die Linien der einen Figur die Aktionslinien der wirkenden Kräfte, die Flächen der anderen Figur deren Grösse darstellen.

Wendet man nun die Theorie dieser reziproken räumlichen Figur an auf die Bestimmung der Spannungen in einem bestimmten räum- lichen Fachwerke, so ist es so einzurichten, dass die Stäbe des Fach- werkes in die Linien der einen Figur und die Knotenpunkte des Fachwerkes in die Punkte der betreffenden Figur hineinfallen. Die Aktionslinien der äusseren Kräfte müssten dann in den weiteren Linien der betreffenden Figur liegen. Da aber diese weiteren Linien an ganz bestimmte Bedingungen geknüpft sind, so wird durch diese reziproken Figuren das Spannungsproblem nur gelöst sein unter ganz bestimmten Voraussetzungen bezüglich der äusseren Kräfte. Die wesent- liche Bedeutung der ebenen reziproken Figuren, nämlich die Allge- meinheit der durch dieselben abgeleiteten Resultate, geht dabei verloren.

42. Struktur des (allgemeinen) „bestimmten“ räumlichen Fach- werkes. Wie bei den ebenen Fachwerken möge auch bei den räumlichen ein Knotenpunkt, in dem » Stäbe zusammentreffen, als ein 1-facher Knotenpunkt bezeichnet werden. Ein einfacher Knotenpunkt, also ein Knotenpunkt, in welchem nur zwei Stäbe zu- sammentreffen, ist demgemäss bei einem räumlichen Fachwerke aus- geschlossen, da ein solcher Knotenpunkt A, von welchem nur zwei Stäbe nach zwei anderen Knotenpunkten B und C gehen, noch um

185) Diese Reziprozität räumlicher Gebilde wird von Maxwell, Trans. of the Roy. Soc. of Edinburgh 26 (1872), p. 1 = Papers 2, p. 182—187 analytisch weiter untersucht; er erhält Formeln, die eine genaue Verallgemeinerung der von ihm für ebene Figuren benutzten sind.

418 IV 5. L. Henneberg. Graphische Statik: Räumliche Fachwerke.

die Axe BC rotieren könnte und das Stabsystem somit kein stabiles wäre. In jedem Knotenpunkte eines räumlichen Fachwerkes müssen wenigstens drei Stäbe zusammentreffen.

Die allgemeinen Gesetze zur Herstellung von bestimmten räum- lichen Fachwerken sind von L. Henneberg in derselben Weise wie für die bestimmten ebenen Fachwerke entwickelt er

Aus der Gleichung für die Zahl m der Stäbe

m—=3n—6 folgt, dass die Durchschnittszahl der in einem Knotenpunkte zu- sammenkommenden Stäbe kleiner als sechs sein muss. Daraus er- giebt sich, da ein bestimmtes räumliches Fachwerk keinen einfachen Knotenpunkt haben kann, der Satz:

Das bestimmte räumliche Fachwerk hat wenigstens einen zweifachen, dreifachen oder vierfachen Knotenpunkt.

Aus diesem Satze ergeben sich folgende Gesetze für die Her- stellung von bestimmten räumlichen Fachwerken von n Knotenpunkten aus solchen von n 1 Knotenpunkten.

1) Es werde ein zweifacher Knotenpunkt O hinzugefügt. Der- selbe ist durch drei Stäbe mit drei Knotenpunkten des Fachwerkes zu verbinden. Die drei Knotenpunkte A, B, C müssen hierbei ein Dreieck bilden, dessen Ebene den Punkt O nicht enthält.

2) Es werde ein dreifacher Knotenpunkt O hinzugefügt. Der- selbe ist durch vier Stäbe mit vier Knotenpunkten A, B, 0, D zu verbinden, von denen zwei, z.B. A und B, durch einen Stab ADB, der wegzunehmen ist, schon verbunden sind. Der Punkt.O darf hierbei nicht auf einer gewissen Fläche zweiten Grades, der Grenzfläche, liegen, sonst würde der Grenzfall eintreten.

3) Es werde ein vierfacher Knotenpunkt hinzugefügt. Von dem- selben aus sind fünf Stäbe zu legen nach fünf Knotenpunkten A, B, C, D, E, von denen zwei Paare schon durch Stäbe verbunden sind, die wegzunehmen sind. Hierbei ist die Grenzfläche, auf welcher der Punkt O nicht liegen darf, wenn nicht der Grenzfall eintreten soll, von der vierten Ordnung.

Mit Hülfe dieser drei Gesetze lassen sich sämtliche bestimmten räumlichen Fachwerke aus dem einfachsten bestimmten räumlichen Fachwerke, welches durch die Kanten eines Tetraeders gebildet ist, durch successives Hinzufügen von weiteren Knotenpunkten herstellen. Umgekehrt können diese Gesetze, deren Inbegriff wir als Struktur des bestimmten räumlichen Fachwerks bezeichnen, zur Untersuchung eines

186) Henneberg, Statik (1886), p. 247 u. f.

a ee su

43. Bestimmung der Spannungen im räumlichen Fachwerk. 419

vorliegenden Stabsystemes verwandt werden. Zu diesem Zwecke würde durch successives Wegnehmen der einzelnen Knotenpunkte und Ein- schaltung der Ersatzstäbe das vorliegende räumliche Gelenksystem zu reduzieren sein. Hierbei müssen unter Umständen bei der Weg- nahme eines dreifachen oder vierfachen Knotenpunktes mehrere Mög- lichkeiten geprüft werden.

43. Bestimmung der Spannungen im (allgemeinen) „bestimmten“ räumlichen Fachwerk. Sowohl die Auflösung des Gleichungssystemes für die Spannungen, wie auch die graphische Bestimmung der Span- nungen bereitet keine Schwierigkeiten, wenn das Fachwerk lediglich unter Anwendung des ersten Gesetzes aus dem einfachsten Fachwerk, dem Tetraeder, hergestellt ist, bezw. wenn sich Schnitte durch das Fachwerk legen lassen, welche nur sechs Stäbe treffen.

Ist beides nicht der Fall, so führt die Methode von Henneberg'?') sowohl graphisch wie analytisch zum Ziele. Ist das bestimmte räum- liche Fachwerk von n Knotenpunkten auf ein solches von n —1 Knotenpunkten zurückgeführt, so ist die Bestimmung der Spannungen in dem letzteren zweimal durchzuführen, wenn der weggenommene Knotenpunkt ein dreifacher war und somit nur ein Ersatzstab er- forderlich war; dagegen dreimal, wenn der weggenommene Knoten- punkt ein vierfacher ist und daher zwei Ersatzstäbe erforderlich sind. Besitzt das räumliche Fachwerk von » 1 Knotenpunkten ebenfalls keinen zweifachen Knotenpunkt, so würde die Reduktion nochmals vorzunehmen sein.

Bei der analytischen Durchführung dieser Methode würde im Falle eines dreifachen Knotenpunktes das System von 6 linearen Gleichungen mit 3n 6 Unbekannten zurückgeführt sein auf zwei Systeme von 9 linearen Gleichungen mit 9 Unbekannten. Im Falle eines vierfachen Knotenpunktes würden dagegen drei Systeme von 3n 9 Gleichungen mit 9 Unbekannten aufzulösen sein.

Hat das um einen Knotenpunkt reduzierte Fachwerk abermals keinen zweifachen Knotenpunkt, so würde das Verfahren zu wieder- holen sein.

Der Vorteil dieser Methode liegt, wie bei dem ebenen Fachwerke, wieder darin, dass die Gleichungssysteme die anfängliche einfache Form, bei der in jeder Gleichung immer nur einige wenige Unbekannte vorkommen, behalten.

In entsprechender Weise wie bei dem ebenen Fachwerke giebt

187) L. Henneberg, Statik, p. 259 u. f.

420 IV 5. L. Henneberg. Graphische Statik: Spezielle Fachwerksträger.

H. Müller-Breslau '?) bezüglich der Reduktion des räumlichen Fach- werkes ohne zweifachen Knotenpunkt die allgemeine Regel, dass durch Beseitigung von Stäben und Hinzufügen von ebensoviel neuen Stäben das räumliche Fachwerk auf ein solches zurückzuführen sei, bei welchem sich die Spannungen durch wiederholte Lösung der Auf- gabe, eine Kraft in drei Komponenten zu zerlegen, bestimmen lassen. Damit würde dann die Bestimmung der Spannungen in dem ge- gebenen Fachwerke auf diejenige in dem reduzierten Fachwerke zurückgeführt sein.

Dass bei der graphischen Bestimmung der Spannungen im be- stimmten räumlichen Fachwerke auch die kinematische Methode zum Ziele führt, haben FH. Müller-Breslau und 0. Hübner '*) durch An- gabe des Verschiebungsplanes für das räumliche Fachwerk an Bei- spielen gezeigt '#°*).

44. Allgemeine Kriterien für das Auftreten der Grenzfälle. Auch die Untersuchung der Stabilität eines vorliegenden räumlichen Stabsystemes lässt sich wie bei den ebenen Systemen durchführen. Sind bei n Knotenpunkten 3n 6 Stäbe vorhanden, so genügt es, für ein einziges Gleichgewichtssystem von Kräften, die in den Knotenpunkten angreifen, die Bestimmung der Spannungen durchzuführen. Ergeben sich dieselben als endlich und eindeutig, so ist das Stabsystem statisch bestimmt, also ein bestimmtes räumliches Fachwerk. Am bequemsten ist es hierbei, sämtliche äusseren Kräfte = 0 anzunehmen. Werden dann sämtliche Spannungen eindeutig —= 0, so ist das Gelenksystem ein bestimmtes räumliches Fachwerk, dagegen ist es, kinematisch un- bestimmt, wenn die Spannungen vieldeutig werden. Vor der Durch- führung der Spannungsbestimmung ist es zweckmässig, zunächst die Struktur des Stabsystemes zu untersuchen. Ist die Struktur des Stabsystemes die für die bestimmten räumlichen Fachwerke erforder- liche, so liegt, wenn die Spannungen vieldeutig werden, der Grenzfall vor.

Anstatt durch die Spannungsbestimmung lässt sich die Frage der Stabilität auch durch Konstruktion des Verschiebungsplanes entscheiden.

188) Zentralbl. d. Bauverw. 11 (1891), p. 437; vgl. Nr. 36, sowie Fussn. 169.

189) Zentralbl. d. Bauverw. 12 (1892), p. 225, 244; Civiling. 39 (1893), p. 877. Hierbei werden die allgemeinen Sätze von O. Mohr, Civiling. 34 (1898), p. 691 benutzt.

189*) Eine weitere Methode für die Spannungsbestimmung im räumlichen Fachwerke giebt F. Steiner, Handbuch der Ingenieurwissenschaften 2, 3. Aufl., Leipzig 1901, Kap. 8 (Theorie der eisernen Brücken von F‘. Steiner), p. 238. Bei dieser Methode wird nach Einführung der Spannungen einzelner Stäbe als vor- läufig unbekannter Grössen die Spannungsbestimmung im räumlichen Fachwerke auf die der ebenen Fachwerke zurückgeführt.

a LU U LU DD

44. Auftr. d. Grenzfälle. 45. Vorbemerkung. 46. Lagerpunkte d. Fachwerke. 421

III. Spezielle Fachwerksträger.

45. Vorbemerkung. In dem folgenden Abschnitte soll eine Reihe von in der Praxis vorkommenden speziellen Fachwerksträgern be- sprochen werden; es sind auch einige kinematisch überbestimmte Fachwerksträger in Betracht gezogen. Die Auswahl dieser zu be- sprechenden Träger erhebt auf Vollständigkeit keinen Anspruch. Bei der Wahl eines speziellen Trägers zur Lösung irgend eines vorliegen- den technischen Problemes wird zunächst der Zwetk des Trägers in Betracht kommen. Dann werden die Spannweite, sowie eine Reihe technischer Forderungen, die sich auf Materialverbrauch u. s. w. be- ziehen, bei der Wahl mit entscheidend sein.

46. Lagerpunkte der Fachwerke. Unter einem Fachwerksträger wird ein Fachwerk verstanden, "das gegenüber der Erde durch ge- eignete Lagerungen festgelegt ist. Man unterscheidet feste und be- wegliche Lager. Unter einem festen Lager wird ein Lager verstanden, das derartig mit der Erde verbunden ist, dass Bewegungen desselben ausgeschlossen sind. Ein bewegliches Lager ist dagegen ein Lager, das sich noch in beschränkter Weise bewegen kann, somit bei dem ebenen Fachwerke in einer Kurve. Ein festes Lager eines ebenen Fachwerkes liefert zwei Lagerbedingungen, ein bewegliches Lager eine. Da zur Festlegung eines ebenen starren Systems drei Be- dingungen erforderlich sind, so werden, wenn eine Überbestimmtheit vermieden werden soll, bezüglich der Lagerungen eines ebenen Fach- werkes nur zwei Fälle möglich sein:

1) Das Fachwerk ist festgelegt durch ein festes und ein beweg- liches Lager, oder

2) es ist festgelegt durch drei bewegliche Lager.

Ein festes Lager A liefert eine Lagerreaktion, welche durch A geht, sonst aber jede Richtung besitzen kann. Ein bewegliches Lager B, das sich nur auf einer Kurve C bewegen kann, erfordert eine Lagerreaktion, die in die Normale der Kurve © fällt. In beiden Fällen sind durch die Art der Lagerungen die Lagerreaktionen voll- ständig bestimmt, die sich für ein vorgeschriebenes System von auf die Knotenpunkte des Fachwerkes wirkenden Kräften ergeben. Sind die Lagerreaktionen durch die Gleichgewichtsbedingungen sämtlicher auf die Knotenpunkte wirkenden Kräfte gefunden, so können die Lager durch diese Lagerreaktionen ersetzt werden. Die Lagerknoten- punkte haben dadurch ihre Sonderstellung verloren und das System ist wie ein freies System (freies Fachwerk) zu behandeln, auf dessen Knotenpunkte ein gegebenes Gleichgewichtssystem von Kräften wirkt.

422 IV 5. L. Henneberg. Graphische Statik: Spezielle Fachwerksträger.

Ein festes Lager A eines ebenen Fachwerkes kann man sich dadurch festgelegt denken, dass man den Punkt A durch zwei Stäbe (Fig. 35) mit zwei festen Punkten A, und

2 A, der Erde verbindet. Bei einem beweg- 4; SR —3 lichen Lager B, das sich nur auf einer

on \ Kurve © bewegen kann, darf an die Stelle In . . ® ] Sofa \3, dieser Kurve CO, da es sich nur um die Fig. 38. Untersuchung der unendlich kleinen Be-

wegungen handelt, ein Stab treten, der in die Normale der Kurve © fällt und den Punkt B mit einem festen Punkt B, der Erde verbindet. Für das räumliche Fachwerk ergeben sich ähnliche Betrachtungen, und zwar sind nach betreffender Ersetzung der Lager durch Stützungs- stäbe 6 solche Stützungsstäbe zur Festlegung erforderlich.

4%. Gestützte Fachwerke. In der Praxis kommen häufig Ge- lenksysteme zur Verwendung, welche durch eine grössere Anzahl von _ Lagern bezw. Stützungsstäben festgelegt sind.

Jedes ebene oder räumliche Gelenksystem, welches nach Ersetzung der Lager durch Stützungsstäbe durch mehr als drei bezw. sechs Stützungs- stäbe mit der Erde verbunden ist, möge nebst diesen Stützungsstäben als ein gestütztes Gelenksystem bezeichnet werden. In ähnlicher Weise, wie bei den freien Gelenksystemen, lassen sich dann kinematisch un- bestimmte, kinematisch bestimmte und kinematisch überbestimmte gestützte

Gelenksysteme unterscheiden. Die pr SVESESTES kinematisch bestimmten und die

r \B 36 IE kinematisch überbestimmten ge-

F a R \ stützten Gelenksysteme sollen als ann 0. un gestützte Fachwerke bezeichnet Fig. 36. werden, bezw. die kinematisch

bestimmten gestützten Gelenk- systeme als bestimmte gestützte Fachwerke !’). So ist das bei- gezeichnete System (Fig. 36) einschliesslich der vier an die Stelle der beweglichen Lager in A, B, 0, D tretenden Stützungsstäbe

190) Siehe Föppl, Theorie des Fachwerks, p. 18. Föppl nennt derartige Systeme auch unselbständige Fachwerke, später gestützte Fachwerke. Für das ebene gestützte Fachwerk bestimmen Mohr und Levy die Zahl der Stäbe. Sind bei einem gestützten bestimmten Fachwerke n Knotenpunkte vorhanden, r feste und 9 bewegliche Lager, so beträgt die Zahl der Stäbe m = 2n 2r 2. Zeitschr. d. Arch.- u. Ing.-Ver. zu Hannover 20 (1874), p. 509, sowie Levy, La statique graphique, Paris 1874, p. 50, 93—95. Eine ähnliche Gleichung folgt für das räumliche gestützte Fachwerk.

EEE

47. Gestützte Fachwerke. 423

als ein bestimmtes gestütztes Fachwerk zu bezeichnen. Werden bei einem bestimmten gestützten Fachwerke sämtliche Lager bezw. Stützungsstäbe weggenommen, so entsteht aus demselben ein kine- matisch unbestimmtes Gelenksystem mit 2n s bezw. 3n s Stäben, wenn s Stützungsstäbe vorhanden waren.

Bei dem gestützten Fachwerke sind die Lagerreaktionen durch die Bedingung, dass dieselben mit den auf die übrigen Knotenpunkte wirkenden und gegebenen Kräften ein Gleichgewichtssystem bilden sollen, noch nicht bestimmt. Die gestützten Fachwerke erfordern daher eine besondere Untersuchung.

Diese Untersuchung des gestützten Fachwerkes lässt sich auf die Untersuchung eines freien Fachwerkes zurückführen.

Bei einem gestützten Stabsystem K sollen in der angegebenen Weise die Lagerungen durch Stäbe ersetzt sein, welche nach festen Punkten der Erde gehen. Dann kann für die Zwecke der Unter- suchung an die Stelle der Erde ein bestimmtes ebenes bezw. räum- liches Fachwerk K’ (das Erdfachwerk) gesetzt werden, welches nur der einen Bedingung genügen muss, dass dasselbe diejenigen Punkte der Erde, von denen die Stützungsstäbe ausgehen, zu Knotenpunkten hat. Dieses so erhaltene System K + K’ wird das erweiterte System bezw., wenn K stabil, also ein Fachwerk ist, das erweiterte Fachwerk, genannt'*),

Nach Einführung des erweiterten Systemes ist die Untersuchung der Struktur, wie insbesondere diejenige der Stabilität, auf die be- treffende Untersuchung eines freien erweiterten Systemes zurück- geführt.

Das Gleiche gilt von der Spannungsbestimmung, da, wie Henne- berg gezeigt hat, die Spannungen in den Stäben des gestützten Systemes nur abhängig sind von den Kräften P;, die auf die Knotenpunkte des gestützten Systemes wirken, bezw. unabhängig sind von den Kräften Q,, die in den Knotenpunkten des Erdfachwerkes angreifend gedacht

191) Henneberg, Zeitschrift f. Arch. u. Ingenieurwesen 49 (neue Folge 8) (1903), p. 157. Dass man, wie dieses im Folgenden geschieht, die Erde durch ein Fachwerk ersetzen kann, ist längst bekannt. Vgl. A. Föppl, Graphische Statik, p- 245 u. 273. Von Müller-Breslau ist bemerkt, dass man sich nach Ersetzung der Erde durch ein Fachwerk gestützte Systeme herstellen kann mit Hülfe der von Henneberg für freie Systeme gefundenen Strukturgesetze, Zentralbl. der Bauverw. 11 (1891), p. 440. Vgl. ferner Handbuch der Ingenieurwissen- schaften 2, 3. Aufl., Leipzig 1901, Kap. 8 (Theorie der eisernen Brücken von F. Steiner), p. 202—204, sowie @. Lang, Rig. Ind.-Zeitung 15 (1889), p. 86. @G. Lang hat hier in speziellen Fällen die Stabilitätsuntersuchung durchgeführt.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1. 28

424 IV5. L.Henneberg. Graphische Statik: Spezielle Fachwerksträger.

werden, sobald nur die Kräfte @, mit den gegebenen Kräften P, ein Gleichgewichtssystem bilden !*?).

48. Spezielle ebene Fachwerksträger'”). Soweit freie Fachwerke als Fachwerksträger zur Verwendung kommen, sind dieselben grössten- teils in der Form Fig. 24 (Nr. 32) enthalten und laufen demgemässs auf Dreiecksfachwerke hinaus. Der äusseren Form nach hat man ver- schiedene Arten von Balkenträgern zu unterscheiden: so kommen solche mit geraden und solche mit gekrümmten Gurtungen vor. Bei letzteren kann die Bogenform durch äussere Rücksichten bestimmt sein, kann aber auch die Folge von gewissen statischen Anforderungen sein, wie dies beim Parabel-, Pauli- und Schwedler-Träger der Fall ist.

Fig. 37. Fig. 38.

Der Parallelträger. Beide Gurtungen sind parallel. Das Drei- eckssystem besteht entweder aus rechtwinkligen Dreiecken (System Mohnie, 1854 (Fig. 37) in Bayern eingeführt) oder aus gleichschenkligen Dreiecken (Fig. 38) von Neville vorgeschlagen und 1846 in Belgien eingeführt, von Warren 1849 verbessert.

Bei Eigengewicht allein werden bei dem Mohnie-Träger alle nach

192) Zur Bestimmung der Spannungen in einem gestüfzten Fachwerke K, auf welches Kräfte P; wirken, ist es nur erforderlich, nach Bestimmung des er- weiterten Fachwerkes X + K’ in den Knotenpunkten des Erdfachwerkes K’ irgend welche Kräfte Q; anzunehmen (man begnügt sich hier am besten mit zwei Kräften), die mit den Kräften P; im Gleichgewicht stehen, und dann die Spannungsbestimmung in dem freien Fachwerke K + K’ durchzuführen. Die Spannungen, die sich alsdann in dem Fachwerke K ergeben, sind die richtigen. Bisher wurde für jedes gestützte Fachwerk eine besondere Methode, die auf einen Kunstgriff hinauslief, gegeben. W. Schlink hat mit Hülfe dieser hier empfohlenen Methode die Spannungsbestimmung bei einer Reihe von speziellen gestützten Fachwerken durchgeführt, Zeitschrift f. Arch. u. Ingenieurwesen 49 (neue Folge 8) (1903), p. 165.

193) Die Zusammenstellung der speziellen Fachwerksträger, wie sie in den folgenden Nummern enthalten ist, verdankt der Verfasser Herrn W. Schlink, dem hierfür der schuldige Dank ausgesprochen wird. Zusammenstellungen der ge- bräuchlichen Fachwerksträger finden sich ausser in den Lehrbüchern für Bau- konstruktion und graphische Statik beispielsweise in dem Handbuch der Ingenieur- wissenschaften 2, 2. Aufl., Leipzig 1890, Kap. 8, dritte Auflage noch nicht voll- ständig erschienen, sowie in einigen Abhandlungen z. B. von @. Lang, Riga, Ind.-Zeitung 15 (1889), p. 229, 241, 265, 277; 16 (1890), p. 85, 97, 109, 133, 145.

48. Spezielle ebene Fachwerksträger. 425

der Mitte zu fallenden Diagonalen gezogen, weshalb man alle Dia- gonalen der linken Trägerhälfte nach rechts, alle diejenigen der rech- ten Trägerhälfte nach links abfallen lässt (Fig. 37). Infolge der zu- fälligen Belastung (Verkehrslast) kann jede Diagonale Zug oder Druck bekommen, je nachdem die Felder auf der Seite des Fusspunktes oder die auf der Seite des Kopfpunktes belastet sind. Wirken Eigen- gewicht und Verkehrslast gleichzeitig, so wird in den Diagonalen eines gewissen links gelegenen Gebietes nur Zug, ebenso in denjenigen eines entsprechenden rechts gelegenen Gebietes (falls die Diagonalen nach der Mitte fallen) nur Zug auftreten, nämlich in allen Diagonalen, für welche die Zugbeanspruchung durch Eigengewicht die grösste Druckbeanspruchung infolge Verkehrslast überwiegt. In einem Ge- biete zu beiden Seiten der Mitte werden die Diagonalen sowohl Zug wie Druck bekommen können. Um zu erreichen, dass auch in diesem Gebiete keine Diagonale Druck erhält, ordnet man schlaffe Gegen- diagonalen!*%) an (Fig.39). Würde z. B. in der Diagonale a des Feldes k bei einer bestimmten Belastung Druck entstehen, so knickt sie bei ihrer geringen Stärke aus, und es tritt die Diagonale b als Zugdiagonale in Wirkung. Das Genauere hierüber gehört in die Festigkeitslehre.

Werden die Gegendiagonalen als steife Diagonalen ausgebildet, so ist das Fachwerk ein statisch unbestimmtes. Die Ingenieure er- mitteln dann die Spannungen in den Diagonalen gern so, dass sie den Träger in zwei Fachwerksträger zerlegen, von denen jeder die halbe Belastung trägt, und von denen der eine die Haupt-, der andere die Gegendiagonalen enthält !®).

k

Fig. 39. Fig. 40.

Der Trapezträger (Fig. 40) bietet gegenüber dem Parallelträger den Vorteil der Materialersparnis.

Bei dem Parabelträger‘”) liegen die Knotenpunkte auf einer oder auf zwei Parabeln. Der Vorteil dieser Form liegt darin, dass bei voll-

194) Das Prinzip der schlaffen Diagonalen ist ein sehr wichtiges; die Untersuchung der schlaffen Diagonalen geht jedoch über den vorliegenden Artikel hinaus und kann erst in den Artikeln über Elastizität und Festigkeits- lehre behandelt werden.

195) Handbuch der Ingenieurwissenschaften 2, 2. Aufl., Kap. 8, p. 346.

196) Zeitschr. f. Bauwesen 1 (1851), p. 268.

28*

426 IV5. L. Henneberg. Graphische Statik: Spezielle Fachwerksträger.

ständiger, gleichmässiger Belastung, z. B. durch Eigengewicht, die Diago- nalen gar nicht beansprucht werden. Durch gleichzeitige Wirkung von Eigengewicht und Verkehrslast wird jede Diagonale Zug und Druck bekommen können. Um die Diagonalen von Druck frei zu halten, müssten also in jedem Felde schlaffe Gegendiagonalen angebracht werden. Bei gleichmässiger Belastung ist die maximale Spannung für alle Stäbe des geradlinigen Gurtes die gleiche, während für die Stäbe des gekrümmten Gurtes die Horizontalkomponenten der Span- nung einander gleich sind.

Die wichtigsten Formen der parabolischen Träger sind ausser der Form Fig.41, der Fischbauchträger und der Halbparabelträger (Fig. 42), ferner der Sichelträger, dessen beide Gurtungen nach oben gekrümmt

Fig. 41.

bh Ma. Fig. 42.

sind und in den Auflagerpunkten zusammenlaufen, sowie der Linsen- träger, dessen obere Gurtung nach oben und dessen untere Gurtung nach unten gekrümmt ist.

Der Pauliträger '") ist aus der Forderung hervorgegangen, einen Träger zu konstruieren, dessen beide Gurtungen bei gleichförmiger Belastung konstante Spannungen haben. Thatsächlich weicht die Form von der theoretischen etwas ab, und obige Bedingung ist nur angenähert erfüllt (Fig. 43). Die Form bestimmt sich aus der Gleichung

= 0-n)2[1+25(1- 2)

Der Schwedlerträger '"®) bezweckt den Obergurt derart zu krüm- men, dass die Diagonalen überhaupt nur Zug erhalten. Es muss dann die grösste Druckbeanspruchung, die durch Verkehrslast ent-

197) Erste Ausführung (1857) für die Isarbrücke bei Grosshesselohe. Allg. Bauzeitung 24 (1859), p. 82.

198) Zeitschrift f. Bauwesen 18 (1868), p. 517. Erste Ausführung bei der Berlin-Lehrter Eisenbahn. Die graphische Ermittelung der Ordinäten des Schwedlerträgers findet sich Zeitschr. f. Bauwesen 23 (1873), p. 237.

48. Spezielle ebene Fachwerksträger. 427

stehen kann, aufgehoben werden durch die Zugbeanspruchung infolge des Eigengewichtes. Der ganze Träger würde die beigezeichnete Form (Fig. 44) erhalten, bei welcher die beiden Kurven Hyperbeln sind. Um die Einbuchtung zu vermeiden, nahm Schwedler für den

Fig. 45.

mittleren Teil einen Parallelträger, in welchem aber dann, damit sich bei gewissen Belastungen nur Zug in den Diagonalen ergiebt, Gegen- diagonalen (Fig. 45) angebracht sind.

Sowohl bei Trägern mit gekrümmten, wie bei denen mit geraden Gurtungen kommen die sogenannten mehrfachen Fachwerke (Gitter- werke) vor. Es sind dieses Fachwerke mit mehreren Diagonalzügen, und können sowohl statisch bestimmt, wie statisch unbestimmt sein. Die Zwischenstäbe sind so angeordnet, dass jeder Gitterstab von einem oder mehreren geschnitten wird (an der Kreuzungsstelle sind die Gitterstäbe indes nicht verbunden). Wird jeder Gitterstab durch die ihn kreuzenden in n Teile zerlegt, so spricht man von einem n- fachen Fachwerk. Die zweifachen Systeme wurden von Linville in Amerika eingeführt.

Das beigezeichnete Gitterwerk Fig. 46 ist statisch unbestimmt, kann also mit den Methoden des vorliegenden Artikels nicht behandelt werden. Zur Berechnung der Span- nungen gehen dann, wie schon oben FESSEEOSELEN angedeutet, die Ingenieure gern so F3 vor, dass sie das n-teilige Gitterwerk Fig. 46. in n einzelne Fachwerke zerlegen, deren

jedes bei gleichförmiger Belastung - der Belastung aufnimmt. Jeder

Gitterstab kommt nur in einem Teilsystem vor, jeder Gurtstab in jedem Teilsystem, und die » Spannungen, die sich für einen Gurtstab ergeben, sind zu addieren !?°).

199) Handbuch d. Ingenieurwissenschaften 2, 2. Aufl., Kap. 8, p. 346.

428 IV 5. L. Henneberg. Graphische Statik: Spezielle. Fachwerksträger.

Der beistehend dargestellte Träger (Fig. 47) ist statisch be- stimmt. Von den Punkten A und B ausgehend kann man einen reziproken Kräfteplan kon-

RST : : struieren bis zu den Stäben desSechseckes RSTUVW UVvw ‚3, wit seinen drei Diagonalen. Fig. 47. Man könnte glauben, dass

zur Bestimmung der Span- nungen in diesen 9 Stäben die allgemeinen Methoden der Nummern 35—38 erforderlich sein möchten, doch erweist sich dies als über- flüssig, wenn man berücksichtigt, dass die Stäbe UV und VW in eine gerade Linie fallen.

49. Fortsetzung: Gestützte ebene Fachwerke als Fachwerks- träger. Wird ein freies Fachwerk durch mehr als drei Stäbe mit der Erde verbunden, so ist das erweiterte Fachwerk statisch unbestimmt. Die gebräuchlichsten statisch unbestimmten Fachwerksträger sind die durch- laufenden (kontinuierlichen) Träger (Fig. 48) und die Bogenträger mit

zwei Gelenken (Fig. 49). Liegt etwa ein Balkenträger mit einem festen und drei beweglichen Auflagern vor, so entsteht nach Ersatz der Auflager durch Stäbe und nach Konstruktion des Erdfachwerkes ein neues System (Fig. 50), welches zweifach statisch unbestimmt ist. Es kann zu einem statisch bestimmten gemacht werden durch Weg- nahme zweier Stäbe, z. B. OD und EF. Auf diese Weise entsteht der Gerber’sche Träger mit den Gelenken in L und M. Ausser der angegebenen Form kommt häufig die folgende vor, bei welcher (Fig. 51) die Gelenke in den äusseren Gebieten liegen. Solche Gelenkträger

49. Gestützte ebene Fachwerke als Fachwerksträger. 4929

wurden zuerst von A. Ritter ?°) behandelt. Unabhängig von A. Ritter ist Gerber auf dieselben gekommen. Sie werden nach Gerber benannt, weil von demselben die Einführung in die Praxis herrührt®®), Zur

Fig. 51.

Ermittelung der Lagerreaktionen behandelt man zunächst die auf- gelegten Träger 7’ als einfache Balken auf zwei Stützen und führt die in den Gelenken auftretenden Auflagerdrücke als Kräfte für die Teile R und $ (Fig. 50) bezw. für R (Fig. 51) ein.

Unter dem häufig angewendeten Zweigelenkbogen versteht man ein Fachwerk, dessen untere Gurtung oder dessen beide Gurtungen gekrümmt sind, und das durch zwei Gelenkauflager A und B, also durch vier Stäbe mit der Erde verbunden ist. In diesem Falle kann das erweiterte Fach- "X. ; werk auch dadurch hergestellt nn P- werden, dass man die Auf ao .” lagerknotenpunkte als Knoten- se punkte des an die Stelle der Fig. 52.

Erde tretenden Fachwerkes

ABC auffasst. Um das einfach statisch unbestimmte erweiterte Fach- werk statisch bestimmt zu machen (Fig. 52), muss an irgend einer Stelle ein Stab weggenommen werden. Wird der Stab DE weg- genommen, so entsteht der Bogenträger mit drei Gelenken, der zuerst von Köpcke empfohlen wurde®®). Da die beiden Stäbe AC und BC nur dazu dienen, den Knotenpunkt C des Erdfachwerks festzulegen, so können sie auch weggenommen werden. Das erweiterte Fach- werk wird dann Fig. 53, bei welchem sich das Erdfachwerk auf den einen Stab AB reduziert hat.

Wird dieser Stab AB thatsächlich ausgeführt und dafür das feste Lager B durch ein bewegliches ersetzt, so entsteht der Bogen-

200) A. Ritter, Elementare Theorie und Berechnung eiserner Dach- und Brückenkonstruktionen, Hannover 1863, Abschn. IX.

201) Zeitschr. des bayrischen Arch.- u. Ing.-Ver. (1870).

202) Zeitschr. d. Arch.- u. Ing.-Ver. zu Hannover 6 (1860), p. 346 und 7 (1861), p. 231. Erste Ausführung (1869): „Eiserner Steg“ bei Frankfurt a. M.

430 IV 5. L. Henneberg. Graphische Statik: Spezielle Fachwerksträger.

träger mit Durchzug. Nach Bestimmung der Lagerreaktion geschieht die Bestimmung der Spannungen am besten dadurch, dass zunächst ein Schnitt £...s (Fig. 54) geführt wird, welcher die Spannung in dem Stabe AB ergiebt. Wird der Stab A.B nicht ausgeführt, dagegen

#

} A = B L a

f 6‘

Fig. 53. Fig. 54.

das Lager B wie das Lager A als fest angenommen, so ist die Span- nungsbestimmung schliesslich die nämliche; es ist nur zu berück- sichtigen, dass die beiden Gelenkdrücke, welche sich durch die Span- nung in dem Stabe AB in den Punkten A und B ergeben, nach Weg- nahme dieses Stabes und Ersetzung des beweglichen Lagers B durch ein festes Beiträge zu den Lagerreaktionen in A und B liefern. Eine ähnliche Konstruktion wie der statisch bestimmte Bogen- träger mit Durchzug bietet der für Dachbinder vielfach verwendete

Fig. 55.

Fig. 57.

Polonceau-Träger (Fig. 55), dessen Spannungsbestimmung in analoger Weise wie bei dem Bogenträger mit Durchzug auszuführen ist.

Für grössere Dachkonstruktionen wird wohl der Bogenträger mit gesprengter Zugstange °) (Fig. 56) verwendet, bei dem die Bestim-

203) Dieser Träger führt wie der statisch bestimmte Bogenträger mit Durch-

50. Spezielle räumliche Fachwerksträger. 431

mung der Spannungen leicht durchzuführen ist, wenn man bemerkt, dass der Schnitt #...s nur drei Stäbe trifft.

Die Hängebrücke mit Mittelgelenk, vorgeschlagen von Köpcke (Fig. 57), kann als ein gestütztes Fachwerk mit vier beweglichen Lagern angesehen werden. Die Untersuchung derselben lässt sich leicht auf diejenige des Bogenträgers mit Mittelgelenk zurückführen.

50. Spezielle räumliche Fachwerksträger %). Unter den Raumfachwerken sind es wesentlich die Flechtwerke ?®), welche bislang einer mathematischen Untersuchung unterzogen sind, und die Bedeu- tung für die Technik erlangt haben.

Unter einem Flechtwerk wird ein räumliches Fachwerk verstanden, dessen Knotenpunkte und Stäbe auf einem Mantel enthalten sind, der einen inneren Raum umschliesst.

Umgekehrt gilt der Satz:

Jede aus Dreiecken zusammengesetzte Mantelfläche, die einen ein- fach zusammenhängenden Raum umschliesst, liefert, wenn man die Kanten als Stäbe und die Ecken als Knotenpunkte auffasst, ein Flechtwerk ?®).

Die Flechtwerke können dann wieder nach der Form der Mantel- fläche, auf welcher die Knotenpunkte liegen, eingeteilt werden in Kugelflechtwerke, Tonnenflechtwerke, Pyramidenflechtwerke u.s.w. Einen speziellen Fall eines Kugelflechtwerkes bildet auch die Schwedler’sche Kuppel (vgl. unten Fig. 59).

Aus einem solchen Flechtwerk wird dann ein Flechtwerkträger hergeleitet, indem man dasselbe durch Stützungsstäbe mit der Erde verbindet, oder es durchschneidet, nur die eine Hälfte benutzt und dieselbe durch entsprechende Lagerung gegenüber der Erde festlegt.

Unter den Flechtwerken ist es wesentlich die Zimmermann’sche

zug und der Polonceau-Träger nicht auf ein gestütztes, sondern direkt auf ein freies Fachwerk, da derselbe nur ein festes und ein bewegliches Lager hat.

204) Mit der Untersuchung von speziellen räumlichen Fachwerken haben sich vorzugsweise beschäftigt: A. Föppl, Schweiz. Bauzeitung 11 (1888), p. 115; Das Fachwerk im Raum, Leipzig 1892; Graphische Statik, Leipzig 1900; H. Müller-Breslau, Zentralbl. d. Bauverw. 11 (1891), p. 437; 12 (1892), p. 201, 225, 244,256; Baukonstruktionen, 3. Aufl., Berlin 1901; ferner Th. Landsberg, Zen- tralbl. d. Bauverw. 18 (1898), p. 297 und 23 (1903), p. 221; Mehrtens, Zeitschr. f. Arch. u. Ingenieurwesen, Wochenausgabe (1893), p. 323; siehe auch Hacker, Zeitschr. f, Bauwesen 38 (1888), p. 43 und Zeitschr. d. Arch.- u. Ing.-Ver. zu Hannover 36 (1890), p. 25 und W. Dietz, Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ing. 37 (1893), p. 1441.

205) Eine ausführliche Behandlung der Flechtwerke findet sich in der graphischen Statik von A. Föppl.

206) A. Föppl, Graphische Statik, p. 276.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1. 28 **

432 IV5. L. Henneberg. Graphische Statik: Spezielle Fachwerksträger.

Kuppel ?), welche in letzter Zeit Aufsehen erregt hat. Dieselbe be- steht aus mehreren eingeschossigen Flechtwerksteilen, die durch Stützen- geschosse verbunden sind. Ein solcher Flechtwerksteil ist von zwei Ringen begrenzt, die gewöhnlich in parallelen Ebenen liegen, und die durch Rippen und Diagonalen miteinander verbunden werden. Die Form des oberen Ringes kann eine beliebige sein; der untere Ring hat doppelt soviel Stäbe (2n), indem von der dem oberen Ring entsprechen- den Form die Ecken durch Stäbe E abgeschnitten werden, wobei die beiden Abschnitte zwischen den betreffenden Ecken und den benachbarten Knoten- punkten einander gleich genommen werden (vgl. E Fig. 58, wo eine solche

e aus zwei derartigen Flecht- {4 werksteilen, (Geschossen, bestehende Kuppel im

T Grundriss gezeichnet ist). Fig. 58. Der einzelne Flechtwerks- teil besteht demnach aus

n dreieckigen und » trapezförmigen, durch Diagonalen geteilten Feldern. Sind mehrere derartige Flechtwerksteile aufeinanderzusetzen, so werden sie durch Stützen s verbunden und in die Hälfte der Trapezfelder des so entstehenden Stützungsgeschosses das Paar der Gegendiagonalen ein- gespannt (vgl. die Figur). Schliesslich wird die Kuppel in den Punkten des unteren Ringes des untersten Flechtwerkteiles so gelagert, dass jedes Lager in der Auflagerebene frei beweglich ist; ausserdem ist in jedem, zu einem Trapezfelde gehörigen Unterringstab 7 ein Lager angebracht, welches senkrecht zu dem betreffenden Stab in der Auflagerebene verschiebbar ist und zur Aufnahme der wagerechten Seitendrücke dient. Die wagerechten Auflagerdrücke beanspruchen die Umfassungsmauern nur in der Fluchtrichtung. Man hat im Ganzen 3n Auflagerunbekannte. Zur Bestimmung der Spannungen bei be- liebiger Belastung gab Zimmermann Formeln, auf die hier nicht ein-

207) Zimmermann, Über Raumfachwerke. Neue Formeln und Berechnungs- weisen für Kuppeln und sonstige Dachkanten, Berlin 1901, sowie Zentralbl. d. Bauverw. 21 (1901), p. 201.

na ee ee

50. Spezielle räumliche Fachwerksträger. 433

gegangen werden soll, da es sich um ein statisch unbestimmtes Fach- werk handelt, falls nicht in den Trapezen je eine Diagonale weg- gelassen wird, bezw. als schlaffe Diagonale unberücksichtigt bleiben kann ?®®),

Aus der eingeschossigen Zimmermann’schen Kuppel entsteht die Schwedler’sche, indem die Unterringstäbe zu Null werden, also die Dreiecksflächen in einen Grat übergehen; die -Kuppel ist von mit Diagonalen ver- sehenen Trapezen begrenzt (Fig. 59). Die Kuppel ist gelagert in den Knotenpunkten des unteren Randes und zwar in festen Lagern. Die Stäbe des unteren Randes können als Stäbe, welche feste Lagerpunkte verbinden, weggelassen werden. Die Kuppel ist statisch bestimmt, falls in jedem Trapez (wie es in der Figur geschehen ist) nur eine Dia- gonale eingezogen, bezw. berücksichtigt wird. Schwedler ?°) selbst gab die Berechnung der Spannungen nur für den Fall der symmetrischen Belastung an?'®).

Lässt man bei der Zimmermann’schen Kuppel die Stäbe 7 zu Null werden, treffen sich also je zwei Stäbe in einem Punkt von 7, so dass jeder Eckpunkt des unteren Ringes mit den nächstliegenden Punkten des oberen Ringes verbunden ist, so entsteht die Netzwerk- kuppel. Die Ecken des oberen Ringes liegen verschoben gegen die- jenigen des unteren Ringes. Die Kuppel ist von Dreiecken begrenzt die in verschiedenen Ebenen liegen ?'!), |

Fig. 59.

208) Graphisch hat A. Föppt die Zimmermann’sche Kuppel untersucht. Zentralbl. d. Bauverw. 21 (1901), p. 487. Siehe ferner H. Müller-Breslau, Zen- tralbl. d. Bauverw. 22 (1902), p. 49, 61, 429, 501, sowie 22 (1903), p. 65 und O. Mohr, Zentralbl. d. Bauverw. 22 (1902), p. 205, 684; ferner Mehrtens, Deutsche Bau- zeitung 36 (1902), p. 325. Siehe auch die Beschreibung der Kuppel von Th. Lands- berg, Zentralbl. d. Bauverw. 21 (1901), p. 550.

209) Zeitschr. f. Bauwesen 16 (1866), p. 7.

210) Die Schwedler’sche Kuppel ist ausführlich von A. Föppl behandelt in dessen Graphischer Statik, sowie in den früheren erschienenen und zitierten Abhandlungen. Bei symmetrischen Belastungen werden die Diagonalen der Trapeze spannungslos.

211) Näheres zu finden z. B. in Föppl, Graphische Statik. Von A. Föppl werden ausführlich die Tonnenflechtwerke untersucht; siehe auch Civiling. 40 (1894), p. 465. Weitere Litteraturangaben finden sich in Handbuch der Ingenieur- wissenschaften 2, 3. Aufl. Kap. 8.

434 IV 5. L. Henneberg. Graphische Statik: Schlusswort.

Schlusswort.

Zum Schluss möge ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Voraussetzungen, unter denen vorstehend die Fach- werke betrachtet sind, in praxi immer nur unvollkommen zutreffen. Insbesondere sind die Stäbe in den Knotenpunkten, in denen sie zu- sammenstossen, meist nicht frei drehbar (wo dann noch die Reibung in Betracht zu ziehen wäre), sondern in denselben vernietet. Eine genauere auf Elastizitätsbetrachtungen ruhende Theorie wird nicht nur die aus der longitudinalen Beanspruchung der Stäbe resultierende Längenänderung der Stäbe, sondern auch den Einfluss dieser Ver- nietungen zu berücksichtigen haben. Wie weit die in dem vor- liegenden Artikel gegebenen Entwickelungen als erste Annäherung an die genaue Theorie zu betrachten sind, wird sich nur im einzelnen Falle entscheiden lassen. Hier ist u. a. für das kontrolierende Ex- periment ein weiter Spielraum gegeben. Es ist unmöglich diese Be- trachtungen hier weiter fortzusetzen.

(Abgeschlossen im Juni 1903.)

IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik. 435

IV 6. ELEMENTARE DYNAMIK DER PUNKTSYSTEME UND STARREN KÖRPER”).

Von PAUL STÄCKEL

IN HANNOVER.

Inhaltsübersicht. 1. Geschichtliche Bemerkungen. Begriff und Aufgabe der elementaren Dynamik.

I. Punktdynamik. 2. Bedeutung der Punktdynamik für die gesamte Mechanik und Physik.

A. Allgemeine Theorie. a) Der einzelne Punkt. 3. Fundamentale Begriffe. 4. Aufstellung der Differentialgleichungen der Bewegung.

5. Diskussion der Differentialgleichungen der Bewegung. 6. Reibung.

b) Systeme diskreter Punkte. 7. Die Differentialgleichungen der Bewegung. 8. Mechanische Ähnlichkeit. 9. Kleine Schwingungen ohne Reibung. 10. Relative Bewegung.

c) Beziehungen zu Nachbargebieten.

11. Beziehungen zur Lehre von der Gleichgewichtsgestalt der Fäden. 12. Beziehungen zur Optik.

*) Bei der Abfassung dieses Artikels ist der Verfasser in dankenswerter Weise von verschiedenen Fachgenossen unterstützt worden. An erster Stelle hat er Herrn Julius Petersen (Kopenhagen) zu nennen, der ursprünglich den Artikel übernommen hatte und ihm dementsprechend eine erste Sammlung von Material mit einer Reihe von wichtigen Bemerkungen zur Verfügung stellen konnte. Über die Gestaltung des Artikels im allgemeinen hat sich der Verfasser in wieder- holten Besprechungen mit Herrn F'. Klein beraten, und für die Einzelheiten sind ihm besonders Bemerkungen der Herren @. Hamel (Brünn), K. Heun (Karls- ruhe) und E. Lampe (Berlin) von Nutzen gewesen, die eine Korrektur zu lesen die Güte hatten. P. Stäckel.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1, r. 29

436

13. 14. 15. 16.

17.

18. 19. 20.

21.

22. 23. 24.

29.

30. 31.

82. 83. 34. 35. 36. 87. 38. 39.

IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

B. Spezielle Ausführungen.

a) Der einzelne Punkt. Freie Bewegung in der Ebene und im Raume. Bewegung auf einer Kurve. Bewegung auf einer krummen Fläche. Nichtholonome Bedingungen.

b) Systeme materieller Punkte.

Spezielle Probleme aus der Statik der Systeme; statische Behandlung kine- tischer Probleme.

Stösse bei Systemen.

Sogenannte Anfangsbewegungen.

Ausführungen über kleine Schwingungen der Systeme, insbesondere über solche mit Reibung.

Sonstige Probleme aus der Kinetik der Systeme.

C. Zwischenstück: Zusammenhang mit der Mechanik der Kontinua.

Übergang zu Systemen von unendlich vielen Punkten. Gleichgewichtsgestalten von Fäden. Gleichgewichtsgestalten von Membranen.

II. Dynamik starrer Körper.

Allgemeine Bemerkungen und Geschichtliches über die Dynamik starrer Körper. Bedeutung der Mechanik starrer Körper für die gesamte Mechanik und Physik.

A. Der einzelne starre Körper: Allgemeine Theorie.

Bemerkungen zur Statik des starren Körpers. «'

Vorbereitungen zur Kinetik des starren Körpers: a) Lage und Beweglichkeit, b) Massenverteilung, c) Geschwindigkeits-- zustand, d) Lebendige Kraft und Impuls.

Allgemeine Kinetik des starren Körpers: a) Aufstellung der Differentialgleichungen der Bewegung in synthetischer Behandlung, b) Analytische Behandlung, c) Kinetostatik, d) Bedeutung der Schraubentheorie für die Kinetik des starren Körpers.

Drehung um einen festen Punkt: Eulersche Gleichungen.

Reibung. Gebundene Bewegungen; nichtholonome Bedingungen.

B. Der einzelne starre Körper: Spezielle Ausführungen.

Drehung um eine feste Axe.

Ebene Bewegungen.

Kräftefreier Kreisel.

Schwerer symmetrischer Kreisel.

Schwerer unsymmetrischer Kreisel.

Auf horizontaler Ebene spielender Kreisel (Spielkreisel). Gleiten und Rollen auf Unterlagen.

Schwimmende Körper.

Litteratur. 437

C. Systeme starrer Körper.

40. Einleitende Bemerkungen.

41. Die Differentialgleichungen der Bewegung: a) Freie starre Körper, b) Allgemeine Kinetik der gebundenen Systeme starrer Körper, c) Gelenkketten; Massenausgleich.

42. Kinetostatik der Systeme starrer Körper.

43. Spezielle Probleme aus der Kinetik der Systeme starrer Körper.

44. Stösse starrer Köıper.

Litteratür.

Vorbemerkung. Bei dem grossen Umfange der Litteratur konnte nur eine Auswahl gegeben werden; nicht berücksichtigt worden sind die Werke für den Unterricht an den Schulen sowie, bis auf einige wenige Ausnahmen, die Darstellungen der elementaren Dynamik, die sich in den Lehrbüchern der Physik und der Technik finden. Man vergleiche auch die Verzeichnisse in IV 1 (A. Voss), besonders für die Werke historisch-kritischen Inhalts.

I. Grundlegende Werke und Lehrbücher. A) Ältere Werke (bis 1800).

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G. Galilei, Discorsi e dimostrazioni matematiche intorno a due nuove scienze, Leiden 1638. Deutsch von A. v. Öttingen: Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neue Wissenszweige, Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, Heft 11, 24, 25.

Chr. Huygens, Horologium oscillatorium, Paris 1673, Tractatus de motu corporum et percussione, Tractatus de vi centrifuga. ÖOpuscula postuma, Leyden 1703, deutsch von F. Hausdorff Weber die Bewegung der Körper durch den Stoss. Ueber die Zentrifugalkraft, Ostwalds Klassiker, Heft 138

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*) Mit der durch kursiven Druck hervorgehobenen Abkürzung ist das be- treffende Werk im folgenden und in den Artikeln 11—13 (P. Stäckel) angeführt. 29*

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Nouvelle m&canique ou statique, 2 Bde., Paris 1725 (posthum)

B) Neuere Litteratur.

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Viele Aufgaben finden sich auch in den Lehrbüchern und in den mathe- matischen und physikalischen Zeitschriften, besonders in folgenden:

Mathematical questions and solutions from the „Educational Times“, with many papers nnd solutions in addition to those published in the „Educational Times“, London, jährlich 2 Bände. Erste Serie 75 Bände bis 1901; zweite Serie 8 Bände bis 1905.

Nowvelles annales de mathematiques, Journal des candidats aux &coles polytech- nique et normale, Paris seit 1841.

Wiskundige opgaven met de oplossingen, door leden van het wiskundige genoot- schap, ter spreuke voerende: „Een onvermoide arbeid komt alles te boven“, Amsterdam, seit 1875; z. T. unter anderem Titel schon frühere Serien; alle 3 bis 4 Jahre ein Band, heftweise erscheinend.

Zeitschrift für den physikalischen und chemischen Unterricht, herausgegeben von F. Poske, Berlin seit 1887.

III. Historisch-kritische Werke.

H. Burkhardt, Bericht über Entwicklungen nach oszillierenden Funktionen, Jahres- ber. d. D.M.-V. 10, Heft 2; bis jetzt erschienen Lieferung 1 bis 4, Leipzig 1901 bis 1904. \

P. Duhem, Les origines de la statique t. 1, Paris 1905.

E. Dühring, Kritische Geschichte der allgemeinen Principien der Mechanik. Leipzig 1872, 2. Aufl. 1887.

H. Klein, Die Prinzipien der Mechanik, historisch und kritisch dargestellt, Leipzig 1872.

E. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung historisch und kritisch dargestellt, Leipzig 1883, 5. Aufl. 1904; angeführt ist die 4. Aufl. 1901; englische Ueber- setzung von T. J. Me. Cormack: The science of mechanics, Chicago 1893, 2. ed. 1902; französische Übersetzung von E. Bertrand: La M6canique, Paris 1903.

J. F. Montucla, Histoire des math&matiques, 2 Bde., Paris 1758, 2. 6d. 4 Bde. 1798/1902; die beiden letzten Bände bearbeitet von J. Lalande.

P. Volkmann, Einführung in das Studium der theoretischen Physik, insbesondere in das der analytischen Mechanik, Leipzig 1900.

W Whewell, History of the inductive sciences, 8 Bde., London 1837/38; 3, ed. London 1857; deutsch von J. J.v. Littrow: Geschichte der induktiven Wissen- schaften, Stuttgart 1840/41.

R. Wolf, Handbuch der Astronomie, 2 Bde., Zürich 1891/98.

Bezeichnungen. 1. Geschichtl. Bemerkungen. Begriff u. Aufgabe d. Dynamik. 443

Bezeichnungen.

Die rechtwinkligen cartesischen Koordinaten eines Punktes P seien 2, Y, 2; sind mehrere Punkte vorhanden, so sollen ihre Koordi- naten durch Indices unterschieden werden. Die Zeichen q,,, ---, 9; bedeuten Lagrangesche Positionskoordinaten eines Systems. Die Masse des Punktes P heisse m; bei mehreren Punkten treten unter- scheidende Indices ein. In Übereinstimmung mit IV 1 (A. Voss) soll für die Ableitungen nach der Zeit £ die Newionsche Schreibart

dx ur j

Be an angewandt werden, während der Lagrangesche Strich für Ableitungen nach Koordinaten vorbehalten wird. Die Geschwindigkeit des Punktes P als Skalar werde mit v, als Vektor mit d bezeichnet; für Vektoren sollen überhaupt immer deutsche Buchstaben verwendet werden. Die Komponenten der auf den materiellen Punkt P wirkenden Kraft nach den Axen der x, y,2 seien X, Y, Z; als Vektor aufgefasst werde diese Kraft % genannt. Die Koordinaten (Komponenten) der Kraft bei den allgemeinen Lagrangeschen Gleichungen seien Q,, Qs, ---, Q,- Die lebendige Kraft eines materiellen Punktes oder eines Systems solcher Punkte sei 7, die Arbeit W (work). U möge die Kräfte- funktion, V die potentielle Energie bedeuten, sodass U= PV ist.

Bei der Bewegung eines starren Körpers sei in dem Körper fest das rechtwinklige Koordinatensystem der x, y, z, im Raume fest das System der &, n, & Die Komponenten der Translationsgeschwindigkeit des Körpers in bezug auf die Axen der x, y, 2 heissen u, v, w, die Komponenten der Rotationsgeschwindigkeit p, qg,r. Wählt man als Axen der z,y,2 die zum Anfangspunkte gehörigen Hauptträgheits- axen, so sollen die bezüglichen Hauptträgheitsmomente mit A, B, © bezeichnet werden. Handelt es sich um mehrere starre Körper, so werden unterscheidende Indices angewandt.

l. Geschichtliche Bemerkungen. Begriff und Aufgabe der elementaren Dynamik. Nachdem die Dynamik!) im 17. Jahrhundert von @. Galilei, Chr. Huygens und I. Newton begründet worden war, sind während des 18. Jahrhunderts nicht nur viele einzelne Probleme

1) Nach dem Vorgange von W. Thomson und P. @. Tait (Handbuch 1, p. VI) wird hier mit Dynamik die Wissenschaft von der Kraft bezeichnet, mag diese nun relative Ruhe unterhalten oder eine Beschleunigung der relativen Be- wegung hervorbringen; die diesen beiden Fällen entsprechenden Teile des Dynamik heissen Statik und Kinetik.

444 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

behandelt, sondern auch die Methoden zur Lösung dynamischer Auf- gaben soweit ausgebildet worden, dass prinzipiell nichts mehr zu wünschen übrig schien. Für diese Entwicklung sind besonders die bernoulli, @. F. de ÜHospital, L. Euler, J. d’Alembert und J. L. La- grange zu nennen, mit dem diese Periode abschliesst'*)., In der Vor- rede zur ersten Ausgabe seiner Mecanique analytique vom Jahre 1788 erklärt Lagrange, dass er diese Wissenschaft „auf allgemeine Formeln zurückgeführt habe, deren einfache Anwendung diejenigen Gleichungen liefert, die zur Lösung einer jeden Aufgabe erforderlich sind“. Dieser „reguläre und gleichförmige Gang der Untersuchung“ wird dadurch bewirkt, dass die von ihm „auseinandergesetzte Methode weder Kon- struktionen noch geometrische oder mechanische Überlegungen ver- langt“, dass vielmehr von vornherein der analytische Ansatz mass- gebend wird.

Den Charakter analytischer Allgemeinheit haben auch die Unter- suchungen über die Transformation und die Integration der Differen- tialgleichungen der Dynamik, die als Weiterführung der Lagrangeschen Methode in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zuerst S. D. Poisson und dann besonders R. W. Hamilton und ©. @.J. Jacobi angestellt haben. Während aber Poisson von der astronomischen Störungstheorie. Hamilton von der Optik ausging und beide den Zusammenhang mit der Natur aufrecht erhielten, kam bei Jacobi die abstrakt-mathe- matische Richtung zu bewusster und ausschliesslicher Herrschaft?). Mit L. Poinsot in Frankreich beginnend, alsdann nach England hin- übergreifend, wo man an den geometrischen Methoden der Prineipia von I. Newton stets festgehalten hatte, allmählich überall zur Geltung gelangend ist später eine Reaktion gegen diese einseitige Behandlung der Dynamik eingetreten, bei der man nicht selten an die naive Auf- fassung der Probleme anknüpfte, die im 18. Jahrhundert üblich ge- wesen war®). Den Nachdruck legte man dabei auf die erschöpfende

1°) Leider fehlt es an einer ausreichenden geschichtlichen Darstellung: W. Whewell, E. Dühring, E. Mach versagen,' sobald man tiefer ins 18. Jahr- hundert hineinkommt, und dasselbe gilt auch für das 19. Jahıhundert. Am wertvollsten sind noch die historischen Bemerkungen, die J. L. Lagrange seiner Me&canique eingefügt hat, und die Reports von A. Cayley, British Assoc. 1857, p. 1—42 = Papers 3, p. 156—204, British Assoc. 1862, p. 184—252 = Papers 4, p. 513 —593.

2) Vgl. Jacobis Antrittsrede in Königsberg, 1832, die W. v. Dyck veröffent- licht hat, München Ber. 31 (1901), p. 203 = Math. Ann. 56 (1902), p. 252.

3) Bei L. Poinsot ist zum Beispiel eine Anknüpfung an P. Varignon zu vermuten; man vergleiche etwa für die Lehre von den Momenten die Nouvelle Mecanique, section 1, Lemma 16.

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1. Geschichtl. Bemerkungen. Begriff und Aufgabe der element. Dynamik. 445

Erledigung einzelner, der physikalisch-technischen Wirklichkeit ent- nommener oder ihr doch nahe stehender Aufgaben. Es genügt keines- wegs, so etwa lässt sich Poinsots Ansicht formulieren, ein Problem der Dynamik auf ein System von Gleichungen zurückzuführen, in denen ausser endlichen Ausdrücken höchstens Quadraturen vorkommen, vielmehr kommt alles darauf an, die zu untersuchende Bewegung anschaulich darzustellen, sodass man ihren Verlauf in Zeit und Raum deutlich vor Augen hat. Ebenso haben W. Thomson und P. G. Tait, wie H.v. Helmholtz sich ausdrückt‘), „sich bemüht, Be- griffe einzuführen, welche einer Anschauung fähig sind; eine solche sich herauszuarbeiten ist im Anfange allerdings oft schwerer, als den gegebenen analytischen Methoden in der Rechnung einfach zu folgen, aber es bleibt durch die dabei gewonnene grössere Übersichtlichkeit des Verfahrens auch ein dauernder Gewinn bestehen“ Noch schärfer äussern sich P. Appell und J. Chappuis: „LWabus des methodes de la gsometrie analytique detruit Yintuition et l’esprit d’invention“®).

Unterstützt wurden diese Bestrebungen durch die Bedürfnisse des Unterrichts; allerdings nur teilweise, denn nicht wenige der vielen Beispiele, die sich in den Lehrbüchern und den Aufgabensammlungen finden, sind schematischer Art oder „nicht der Erfahrung entnommen, sondern zum Zwecke der Einübung gewisser allgemeiner und strenger Integrationsmethoden mit nur geringer Rücksichtnahme auf die wirk- lichen Verhältnisse erfunden“‘). In demselben Sinne wirkten ferner die Forderungen der Physik und der Technik, die sich im 19. Jahr- hundert neben den früher fast ausschliesslich von der Astronomie ausgehenden Anregungen immer stärker geltend machten und allmäh- lich zu der Ausbildung selbständiger Disziplinen, einer physikalischen und einer technischen Mechanik, geführt haben; diese Disziplinen stehen zu der rationellen?) oder theoretischen Mechanik nicht in dem Verhältnisse eines Gegensatzes, sondern in demselben Verhältnisse, in dem überall die angewandten Disziplinen zu ihren theoretischen Grund- lagen stehen.

Die Hilfsmittel, deren man sich im Sinne einer konkreten Auf-

4) Handbuch 1 (1871), p. XI.

5) Lecons de me&canique @l&mentaire, Paris 1903, p. VII; vgl. auch R. S. Ball, A dynamical parable (Brit. Assoc. 1887, wieder abgedruckt Theory of screws, p. 496—509).

6) W. Voigt, Mechanik, 2. Aufl,, p. 1.

7) Rationell bedeutet ursprünglich soviel wie a,»riorisch; noch J. d’ Alembert hat eine apriorische Begründung der Mechanik zu geben versucht; vgl. auch IV 1, Nr. 4 und 23 (A. Voss).

446 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

fassung bei der Diskussion dynamischer Probleme bedient hat, sind verschiedener Art. Erstens wurden geometrische Vorstellungen heran- gezogen, zunächst im Anschluss an das Aufblühen der neueren Geo- metrie und an die Schule von @. Monge; später sind auch die von R. W. Hamilton, A. F. Möbius, H. Grassmann, J. W. Gibbs u.s. w. ausgebildeten Methoden der geometrischen Analyse (Vektoranalysis, baryzentrischer Caleul, Ausdehnungslehre) für die Mechanik nutzbar gemacht worden und haben wohl gerade hier die natürlichste und fruchtbarste Verwendung gefunden®). Das Extrem bildet eine von W. Schell vertretene Betrachtungsweise, bei der die Kausalität ganz aus der Mechanik ausgeschaltet wird und nur noch die geometrische Untersuchung scheinbar willkürlich ersonnener Bewegungen übrig bleibt. Zweitens wurden auch die mechanischen Vorstellungen weiter aus- gebildet. Vor allem ist hier der von @. Coriolis scharf definierte Begriff der Arbeit zu nennen, der sich unter dem Einflusse von J. V. Poncelet allgemein eingebürgert hat. In engem Zusammenhange damit steht der Begriff der Energie und die überaus fruchtbare Vor- stellung von der beständigen Verwandlung kinetischer und potentieller Energie in einander; vergl. IV 1, No. 46 (A. Voss). Nicht weniger wichtig war es, dass L. Poinsot als methodisches Hilfsmittel den Be- griff des Impulses eingeführt hat, d.h. derjenigen Stosskraft, die die augenblicklich stattfindende Bewegung momentan aus der Ruhe er- zeugen könnte®*). Weiter ausgebildet wurde die Methode des Impulses in England durch J. Cl. Maxwell, sowie durch W. Thomson und P. G. Tait, und in Deutschland ist sie in neuerer Zeit durch F. Klein und A. Sommerfeld zur Geltung gebracht worden. Man hat ferner ausgezeichnete Sonderfälle der betrachteten Bewegungen zu finden getrachtet, die sich verhältnissmässig einfach erledigen lassen und von denen aus man eine Einsicht in die Natur des allgemeinen Falles gewinnen kann, Sonderfälle, die, wie H. Poincard von den periodi- schen Lösungen des Dreikörperproblems sagt, als Bresche dienen können,

8) Genaueres hierüber findet man in IV 2 (E. H. Timerding) und IV 14 (M. Abraham); Darstellungen der elementaren Mechanik mit starker Verwendung solcher Hilfsmittel gaben J. Lüroth, Mechanik, 1881 und Zeitschr. f. Math. u. Phys. 43 (1898), p. 243; F. Castellano, Meccanica, 1894, A. Föppl, Einführung, 1898, Dynamik, 1899; K. Heun, Mechanik, Leipzig 1902; C. J. Joly, A manual of quaternions, London 1905.

8“) Der Begriff des Impulses tritt im Grunde schon bei @: Galilei als der einem bewegten Körper innewohnende impetus auf, und er findet sich deutlich formuliert bei J. L. Lagrange, der dafür das Wort impulsion gebraucht, Poinsot aber bleibt das Verdienst, aus ihm ein elementares methodisches Hilfsmittel für dynamische Untersuchungen gemacht zu haben.

1. Geschichtl. Bemerkungen. Begriff und Aufgabe der element. Dynamik. 447

durch die man in das zu erobernde Gebiet eindringt. Endlich hat man die bei den geometrischen Untersuchungen bewährten Modelle benutzt und auch gelegentlich direkt das Experiment herangezogen.

Auf diese Weise ist es häufig gelungen, eine befriedigende Er- kenntnis von der qualitativen Beschaffenheit der Bewegungsvorgänge zu gewinnen, und zwar auch bei Problemen, bei denen die Durch- führung der Rechnungen in analytischer Strenge wegen der Verwick- lung der Formeln auf unüberwindliche Hindernisse stösst. Daneben bleibt jedoch die Forderung einer quantitativen Diskussion bestehen; denn die Analysis ist und bleibt das schärfste und zuverlässigste Werkzeug zur Prüfung der Ergebnisse der Anschauung und des Ex- perimentes, und „die Formel liefert schliesslich doch die einfachste und prägnanteste Beschreibung des Bewegungsvorganges; ausserdem ist sie als Grundlage der wirklichen numerischen Ausrechnung unent- behrlich“®). Bei dem geschilderten Verfahren aber ergiebt sich die Formel als die letzte Konsequenz eines gründlichen Verständnisses der mechanischen Vorgänge, das es erst ermöglicht, den der Individualität des Problems entsprechenden analytischen Ansatz aufzufinden. Dabei wird man, je nach den Umständen, Formeln entwickeln, die eine unbeschränkte Genauigkeit der numerischen Rechnung gestatten, oder solche, die nur eine beschränkte Genauigkeit gewähren. Unverkennbar ist hierbei der Zusammenhang mit der modernen Auffassung des Problems der Integration der Differentialgleichungen, die nicht mehr das höchste Ziel darin sieht, die Integration mittels geschlossener Ausdrücke oder auch durch Quadraturen zu bewerkstelligen, sondern die durch die Differentialgleichungen definierten Funktionen zu er- forschen und zu bemeistern.

Ein erheblicher Teil der ausserordentlich zahlreichen, in Lehr- büchern und Monographien niedergelegten, in Zeitschriften und Aka- demieberichten zerstreuten Untersuchungen aus der Dynamik der Punktsysteme und starren Körper, die das 19. Jahrhundert hervor- gebracht hat, ist von den im Vorhergehenden dargelegten Gedanken beherrscht oder doch beeinflusst. In ihrer Gesamtheit konstituieren diese Untersuchungen eine Disziplin, die man als elementare Dynamik bezeichnen kann. Kennzeichnend für die Zugehörigkeit zu ihr ist methodisch die geometrisch-mechanische Anschaulichkeit der Betrach- tungen und der elementare Charakter des analytischen Apparates, bei

9) F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, p. 5; vgl. auch p- 375.

448 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

dem man nicht über den Bereich der elementaren Funktionen und der Elemente der Differential- und Integralrechnung hinausgeht, mate- riell aber der Wille zur Vertiefung in einzelne Probleme, die mit der mechanischen Wirklichkeit in Beziehung stehen°*). Den Gegensatz dazu bilden diejenigen Untersuchungen aus der Mechanik, die sich im Ge- biete von beliebig vielen Veränderlichen ohne bestimmte konkrete Bedeutung bewegen und bei denen alle Hilfsmittel der modernen Analysis zur Verwendung gelangen; in dieser „höheren Dynamik“ überwiegt nicht selten das mathematische Interesse. Auf der anderen Seite giebt es eine „elementarste Dynamik“, bei der unter Verzicht auf die Benutzung der Infinitesimalrechnung eine Einführung in die Be- wegungserscheinungen gesucht wird, wie das zum Beispiel vielfach bei dem Unterrichte in der Physik an den Gymnasien und an den technischen Mittelschulen der Fall ist; hierauf einzugehen, ist an dieser Stelle nicht möglich 'P).

Eine gewisse Schwierigkeit liegt darin, dass sich zwischen ele- mentarer und höherer Dynamik keine scharfe Grenze ziehen läßt; denn schon die strenge Behandlung des Kreispendels führt auf ellip- tische Funktionen, und dasselbe gilt von den einfachsten Problemen aus der Kinetik des starren Körpers. So kommt es, dass ein Teil der in diesem Artikel behandelten Gegenstände in den Artikeln 11—13 (P. Stückel) dieses Bandes noch einmal zur Besprechung gelangen wird. Bei den Litteraturangaben sind deshalb gelegentlich auch Abhandlungen angeführt worden, in denen höhere mathematische Hilfsmittel benutzt werden; sind doch mittels solcher Hilfsmittel manehe Eigenschaften von Bewegungen gefunden worden, die man später auf elementare Art bewiesen hat.

Es würde keinen Zweck haben, im Folgenden die einzelnen Probleme der elementaren Dynamik aufzuzählen, die während des 19. Jahrhunderts behandelt worden sind, vielmehr kann es sich nur darum handeln, charakteristische Beispiele herauszugreifen. Bei der unübersehbaren Fülle der Litteratur und bei dem Mangel an histo-

9°) Es lässt sich freilich nicht leugnen, dass diese Beziehung manchmal recht locker ist, denn nicht wenige der sogenannten Anwendungen der elemen- taren Dynamik sind nichts weiter als Diskussionen idealisierter Probleme, bei denen man nicht einmal von einer ersten Annäherung an die Erscheinungen sprechen darf, die in Wirklichkeit stattfinden. Vgl. auch IV 10 (K. Heun).

10) Die Ausbildung sogenannter „elementarer Methoden“ ist zum Beispiel von G. Holzmiüller im Interesse des Unterrichtes an den technischen Mittelschulen gepflegt worden (Die Ingenieur-Mathematik in elementarer Behandlung, 2 Bände, Leipzig 1897/98). Für die pädagogischen Fragen siehe Bd. VI.

EEE.

2. Bedeutung der Punktdynamik für die gesamte Mechanik und Physik. 449

rischen Vorarbeiten bot diese Auswahl grosse Schwierigkeiten. Wenn sie nicht immer richtig getroffen, wenn so manches Schöne und Wichtige übersehen worden ist, so möge das bei diesem ersten Versuche einer zusammenfassenden Darstellung der elementaren Dy- namik Entschuldigung finden.

I. Punktdynamik.

2. Bedeutung der Punktdynamik für die gesamte Mechanik und Physik. Eine aus dem 18. Jahrhundert stammende Auffassung, die für die Mathematiker ihren klassischen Ausdruck in der Mecanique celeste von P. S. Laplace findet, stellt der Physik im weitesten Sinne des Wortes die Aufgabe, die Naturerscheinungen zurückzuführen auf unveränderliche, anziehende oder abstossende Kräfte, deren Intensität allein von den Entfernungen der punktförmig gedachten Moleküle ab- hängt. Diese Auffassung hat bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die Physik beherrscht; sie dominiert noch bei S. D. Poisson, G. Lame, B. de Saint-Venant und hat auch in H. v. Helmholtz (Einleitung zu der Schrift über die Erhaltung der Kraft, Berlin 1847) ihren Vertreter gefunden !%®). Aber schon im 18. Jahrhundert ist man über die Mechanik der Zentralkräfte hinausgegangen; einerseits, indem man Systeme mit kinematischen Bedingungen betrachtete und die Wirkung der Bedingungen nach dem Vorgange von J. d’Alembert durch Reaktionen ersetzte, andrerseits, indem man auch mit solchen Kräften rechnete, die ausser von den Koordinaten der bewegten Punkte von deren Geschwindig- keiten sowie von der Zeit abhängen. Wie die genauere Untersuchung gezeigt hat, sind die Vorgänge, die man mittels dieser verallgemeiner- ten Kräfte nach den Regeln der Dynamik behandelt, keine reinen Bewegungserscheinungen, vielmehr gehen bei ihnen neben den Orts- veränderungen ponderabler Massen noch andere Veränderungen vor sich: es wird Wärme entwickelt, es treten elektrische und magnetische Induktionserscheinungen auf, es finden chemische Umsetzungen statt. Ob man diese physikalischen Vorgänge durch die Hypothese verborgener Bewegungen der Dynamik einordnen kann, möge dahingestellt bleiben, jedenfalls tritt man bei ihnen aus der üblichen Dynamik ponderabler Massen heraus.

10°) In späteren Vorlesungen (Dynamik, p. 24) hat Helmholtz seinen Stand- punkt etwas verändert; er verlangt, dass die Mechanik die Bewegungen auf immer bestehende, nach unveränderlichen Gesetzen wirkende Ursachen zurück- führe, und will als solche nur reine Bewegungskräfte, d. h. Kräfte angesehen wissen, die allein von den Koordinaten der bewegten Punkte abhängen.

450 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Beobachtet man zum Beispiel die Bewegung eines physikalischen Pendels, so zeigt sich eine Dämpfung der Schwingungen, die durch sehr verschiedenartige Umstände verursacht wird: die Reibung de Schneide in der Pfanne, die von dem Pendel erregten Luftwellen, das Mitschwingen des Pendelstativs und seiner Unterlage u. s. w.; Genaueres in IV 7 (Ph. Furtwängler). Man erhält jedoch eine Be- schreibung des Vorganges, die die Beobachtungen mit befriedigender Genauigkeit darstellt, wenn man neben der reinen Bewegungskraft der Schwere eine Dämpfungskraft einführt, die eine lineare oder noch besser eine quadratische Funktion der Geschwindigkeit ist. Auf diese Weise wird eine Erscheinung, deren verwickelte Ursachen sich der Berechnung entziehen, der mathematischen Behandlung zugänglich gemacht, und es lassen sich so die wirklichen Vorgänge mit grosser Annäherung darstellen. Ebenso hat die Lehre von den erzwungenen Schwingungen auf Probleme Anwendung gefunden, die eigentlich der Elastizitätslehre, der Akustik und der Optik zuzurechnen sind; hier hat man störende Kräfte eingeführt, die in vorgeschriebener Weise von der Zeit abhängen !!).

Die Kräfte, die man einführt, um Erscheinungen, die sich vom Stand- punkte der reinen Dynamik aus nicht in ausreichender Weise erklären lassen, dennoch der dynamischen Betrachtung zu unterwerfen, gehören nach der Terminologie I. Newtons zu den sogenannten äusseren oder ein- geprägten Kräften. Man unterscheidet nämlich innere Kräfte, die aus der Beschaffenheit des Systems selbst hervorgehen, und äussere Kräfte, die von aussen hinzugefügt oder eingeprägt worden sind und in keinem notwendigen Zusammenhange mit dem Systeme stehen'!®). Innere Kräfte sind zum Beispiel die Spannungen bei einem elastischen Körper, die unter sich und mit den Deformationen in einem gesetzmässigen Zusammenhange stehen, während die äusseren Kräfte in ganz willkür- licher Weise hinzutreten können. Solche äusseren Kräfte treten immer auf, wenn man ein unvollständiges System untersucht, das heisst, einen Teil eines Systems für sich betrachtet; die inneren Kräfte des voll- ständigen Systems werden dann zum Teil äussere Kräfte des unvoll-

11) Vgl. H.v. Helmholtz, Dynamik, p. 1, 24, 30, 120.

11°) Vgl. etwa Ch. E. Delaunay, Mechanik, p. 198. Im Grunde gehen hier zwei Einteilungen der Kräfte durch einander, die ganz verschiedener Art sind. Innere Kräfte nennt man häufig nur die gegenseitigen Wirkungen der Punkte des Systems, die nach dem Gesetze der Aktion und Reaktion erfolgen, und alle anderen Kräfte heissen äussere Kräfte. Dagegen stehen den Reaktionskräften, die aus der kinematischen Konstitution des Systems hervorgehen, die eingeprägten Kräfte gegenüber.

2. Bedeutung der Punktdynamik für die gesamte Mechanik und Physik. 451

ständigen Systems). Äussere Kräfte dienen aber auch dazu, die Wirkungen physikalischer und chemischer Kräfte zu ersetzen, teils, weil wir diese Kräfte noch nicht genügend durch die Rechnung be- herrschen, teils weil es sich um sehr verwickelte Vorgänge handelt, für die man auf diese Art wenigstens eine erste Annäherung zu er- halten hofft!?). Hierauf beruht es, dass in der erweiterten Dynamik das Gesetz von der Erhaltung der Energie nicht immer gilt; der bei einem unvollständigen Systeme eintretende Gewinn oder Verlust an Energie erklärt sich daraus, dass ausserhalb des Systems Verände- rungen vor sich ‘gehen, die diesen Gewinn oder Verlust wieder aus- gleichen. Eine ähnliche Aufklärung findet die Tatsache, dass man bei den Problemen der erweiterten Dynamik nicht selten zu Ergeb- nissen kommt, die als solche keinen physikalischen Sinn haben, dass zum Beispiel bei Schwingungen unendlich grosse Amplituden oder unendlich grosse Geschwindigkeiten auftreten. Hierin liegt immer ein Zeichen, dass man das betrachtete System in geeigneter Weise zu erweitern hat, und der Widerspruch hebt sich, weil man mit der vereinfachten Annahme nur bis in die Nähe der kritischen Stelle, aber nicht bis zu ihr selbst gehen darf'!?°).

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat der Anwendungs- bereich der Dynamik eine neue Ausdehnung erfahren durch die mechanischen Analogien physikalischer Erscheinungen. Die Benutzung

12) Schon L. Poinsot, J. de math. (2) 4 (1859), p. 171, hat hervorgehoben, dass es in Wirklichkeit keine festen Punkte, festen Axen, festen Ebenen u.s.w. gebe, dass man es vielmehr in solchen Fällen immer mit unvollständigen Systemen zu tun habe. Zum Beispiel bleibt ein grosser Körper bei Einwirkung einer kleinen Kraft praktisch unbewegt, und bei der Bewegung eines Punktes auf einer festen krummen Fläche hat man es dem entsprechend mit einem kleinen Körper zu tun, der auf der Oberfläche eines grossen Körpers gleitet, und auf den eine so kleine Kraft wirkt, dass sie trotz der Reaktion den grossen Körper praktisch unbewegt lässt. Es möge auch darauf hingewiesen werden, dass die Hertzsche Mechanik nur Kräfte kennt, die von den Bedingungen der Systeme herrühren; die eingeprägten Kräfte werden bei H. Hertz durch die Einführung verborgener Bewegungen eliminiert.

13) Vgl. A. Föppl, Einführung in die Maxwellsche Theorie der Elektrizität, 2. Aufl., bearbeitet von M. Abraham, Leipzig 1905, p. 196, und E. Mach, Mechanik, 5. Kapitel. Mach betont hier, dass es keine rein mechanischen Vorgänge gebe, jeder Vorgang gehöre genau genommen allen Gebieten der Physik an, die nur durch eine teils konventionelle, teils physiologische, teils historisch begründete Einteilung getrennt seien.

13°) Deshalb darf man zum Beispiel nicht fragen, was geschehen würde, wenn ein Atom in ein Anziehungszentrum gerät, wie das L. Euler und P. 8. Laplace getan haben; vergl. A. Hall, Messenger of math. (2) 3 (1874), p. 144 und A. Cayley, ebenda p. 149.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1, ı. 30

452 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

solcher Analogien war bereits in der Dynamik selbst vorbereitet worden. So hat man statt der verwickelten Bewegung eines fallenden schweren Körpers zunächst die einfachere Bewegung seines Schwer- punktes betrachtet, und in ähnlicher Weise bei der Bewegung der Planeten um die Sonne zunächst die Bahnen ihrer Schwerpunkte untersucht. Ebenso wurden die Schwingungen eines schweren starren Körpers um eine horizontale Axe ersetzt durch die Bewegung eines einzigen Punktes, des Schwingungsmittelpunktes, und später allge- meiner die Bewegung eines starren Körpers unter der Einwirkung be- liebiger Kräfte durch die Bewegung eines Systems von vier starr ver- bundenen Massenpunkter (Massenreduktion)“). Um die Bewegungen von Systemen mit einem oder mit zwei Graden der Freiheit zu be- schreiben, hat man sich eines repräsentierenden Punktes bedient, der auf einer Kurve oder einer Fläche bleibt, und bei drei Graden der Freiheit leistet unter Umständen ein im Raume frei beweglicher Punkt dieselben Dienste. Man kann sogar die Bewegung irgend eines Systemes mit einer endlichen Anzahl » von Graden der Freiheit auf die Be- wegung eines einzigen Punktes zurückführen, wenn man sich der Sprache der n-dimensionalen Geometrie bedient, die ein System von n Grössen als Punkt einer »-dimensionalen Mannigfaltigkeit bezeichnet (Lagrangesche Räume) "). Es ist bemerkenswert, dass diese Auffassung jetzt sogar in die Lehrbücher der elementaren Dynamik übergeht!®). Von anderer Art, aber nicht minder wichtig, sind die Analogien zwischen Problemen der Statik und der Kinetik, zum Beispiel die Beziehungen zwischen den Gleichgewichtsgestalten von Fäden und den Bahnkurven eines Punktes auf einer Fläche (vgl. Nr. 11 dieses Artikels), zwischen der Gleichgewichtsgestalt eines elastischen Stabes und der Drehung eines starren Körpers um einen festen Punkt, zwischen der Biegung von Stäben und hydrodynamischen Problemen. Auch in der Physik selbst ist man auf zahlreiche Analogien zwischen den Erscheinungen in den ver- schiedenen Gebieten aufmerksam geworden; es hat sich als sehr nütz- lich erwiesen, die Begriffe der verschiedenen Gebiete mit einander zu vergleichen und diese gewissermassen auf einander abzubilden, indem man für jeden Begriff des einen den entsprechenden des anderen suchte. Man kann dann aus den Lösungen von Aufgaben des einen Gebietes

14) Vgl. IV 4, Nr. 29 (@. Jung), dazu C. Chelini, Giorn. di mat. 12 (1874), p- 201; @. Bardelli, Ist. Lomb. Rend. (2) 7 (1874), p. 249, sowie neuerdings R. Skutsch, Berlin Math. Ges. Ber. 4 (1905), p. 54.

15) Ausführliche Darstellung bei P. Stäckel, Bericht über die Mechanik mehrfacher Mannigfaltigkeiten, Jahresber. d. D. M.-V. 12 (1908), p. 469.

16) So bei A. @. Webster, Dynamics, Leipzig 1904.

2. Bedeutung der Punktdynamik für die gesamte Mechanik und Physik. 453

die Lösungen von Aufgaben des anderen ableiten. Zusammenstellungen solcher Analogien haben zum Beispiel J. Larmor und L. Boltzmann gegeben”).

Der Gedanke, mechanische Analogien zur Erforschung physika- lischer Erscheinungen zu benutzen, stammt von J. Ol. Maxwell, der im besonderen auf diesem Wege zu seinen Fundamentalgleichungen des Elektromagnetismus gelangt ist!°). Maxwell verzichtet auf die genaue Erkenntnis des wirklichen Vorganges und ersetzt diesen durch einen Mechanismus, der in gewisser Beziehung dasselbe leistet. So kon- struierte er, in Gedanken, aus Flüssigkeitswirbeln und Friktionsrollen, die sich im Innern von Zellen mit elastischen Wänden bewegen, ein mechanisches Modell für die elektromagnetischen Erscheinungen; er hat aber auch für einzelne Phänomene die Modelle wirklich herge- stellt, und L. Boltzmann und andere sind ihm darin gefolgt"). Man kann aber auch, wie es Maxwell und besonders J. J. Thomson?) nach ihm taten, davon absehen, die „dynamische Illustration“ ins Detail auszumalen, und sich damit begnügen, die kinetische Energiefunktion so zu konstruieren, dass man dieselben Differentialgleichungen erhält, die das mechanische Modell liefert, also allgemeine Lagrangesche Glei- chungen. Die Positionskoordinaten in diesen Gleichungen bekommen dann eine physikalische Bedeutung und werden dementsprechend als elastische, thermische, elektrische, magnetische, chemische Parameter be- zeichnet. So gewinnen die allgemeinen Lagrangeschen Gleichungen eine universelle Bedeutung für die ganze Physik. Dabei ist zu beachten, dass es für einen Vorgang, wenn überhaupt ein mechanisches Bild existiert, unzählig viele mechanische Bilder giebt?®*). Die Punkt- dynamik erhält so die neue Aufgabe, der Physik brauchbare Bilder zur Verfügung zu stellen, und es erscheint die Hoffnung berechtigt,

17) J. Larmor, London Math. Soc. Proc. 15 (1884), p. 158 und L. Boltzmann, Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, Heft 69, Leipzig 1895, p. 101-—102.

18) Cambridge Phil. Trans. 10 (1855) Scientif. papers 1, p. 157; Phil. Mag. (4) 21 (1861) u. 23 (1862) —= Scientif. papers 1, p. 451.

19) Katalog mathematischer .... Instrumente, herausgegeben von W. v. Dyck, München 1892, p. 89; H. Ebert, Magnetische Kraftfelder, Leipzig 1897, 2. Aufl. 1905.

20) J. Cl. Maxwell, London Phil. Trans. 155 (1865) Scientif. papers 1, p. 526; London Math. Soc. Proc. 3 (1871) = Sc. papers 2, p. 257; London Math. Soc. Proc. 4 (1898), p. 334 —= Sc. papers 2, p. 600; Treatise on electrieity and magnetism, Oxford 1873; J. J. Thomson, Application, London 1886.

20°) H. Poincare, Electrieit6 et optique, 1, Paris 1890, deutsch von W. Jäger und E. Grumlich, 1, Berlin 1891; L. Boltzmann, Vorlesungen über Maxwells Theorie der Elektrizität und des Lichtes, 1, Leipzig 1891.

30*

454 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

dass, ebenso wie einst die ganz abstrakt entwickelte Lehre von den Kegelschnitten in der Astronomie Verwendung gefunden hat, in Zukunft einmal manche scheinbar rein theoretische Untersuchungen der Punktdynamik zur Darstellung physikalischer Erscheinungen dienen werden.

Freilich darf man die Wichtigkeit der mechanischen Analogien nicht überschätzen. Es lässt sich nicht leugnen, dass sie nur einen Teil des Zusammenhanges zwischen den Tatsachen wiedergeben, gewisser- massen nur die gröberen Züge, während die Feinheiten fehlen. Das zeigt sich schon in der Dynamik selbst, denn die Lagrangeschen Gleichungen zwischen den n Parametern, durch die die Lage eines Systems mit » Graden der Freiheit festgelegt wird, sind nur ein Aus- druck für die Eigenschaften, die grossen Klassen „dynamisch äqui- valenter Probleme“ gemeinsam sind, man abstrahiert aber von den Er- scheinungen, die für die einzelnen Probleme charakteristisch sind, zum Beispiel treten dabei gar nicht die Drucke auf, die aus den Bedingungen eines Systems hervorgehen. Mit der Integration jener Gleichungen zwischen den » Parametern oder mit der Ermittlung der Bewegung des „darstellenden Punktes“ ist daher auch in der Dynamik die Lösung einer Aufgabe keineswegs erschöpft ?°®).

A. Allgemeine Theorie. a) Der einzelne Punkt.

3. Fundamentale Begriffe. Die Lage eines materiellen Punktes P von der Masse m zur Zeit? werde durch seine cartesischen Koordinaten x, y, 2 in Bezug auf ein im Raume festes Koordinatensystem be- stimmt). Werden x, y, z als Funktionen der Zeit aufgefasst, so erhält man in Parameterdarstellung die Bahn (Bahnkurve, Trajectorie) des Punktes. Die Ableitungen &, y, 2 von z, y, 2 nach { sind die Komponenten eines Vektors, dessen Richtung mit der Tangente der Bahn im Punkte P übereinstimmt. Unter der Geschwindigkeit des Punktes zur Zeit £ versteht man teils diesen Vektor v selbst, teils dessen

20®) Vgl. auch für diese ganze Nummer P. Duhem, L’&volution de la meca- nique, Paris 1908.

21) Vgl. IV 1, Nr. 11, 13, 14, 22, 23 (A. Voss) sowie die inzwischen er- schienene Abhandlung: Der Begriff des materiellen Punktes in der Mechanik des 18. Jahrhunderts von 7’'h. Körner, Bibl. math. (3) 5 (1904), p. 15. Noch L. Euler (Mechanica, Petersburg 1736) und J. d’Alembert (Dynamique, Paris 1743) haben überall „natürliche Koordinaten“ gebraucht; die prinzipielle Einführung der cartesischen Koordinaten x, y, z stammt von C. Maclaurin, A complete system of fluxions, Edinburgh 1742, art. 465, 469, 884.

8. Der einzelne Punkt: Fundamentale Begriffe. 455

Länge v??). Verlegt man die Anfangspunkte von v in den Anfangspunkt der Koordinaten, so beschreiben die Endpunkte eine Kurve, die schon A. F. Möbius”?) betrachtet und die dann W. R. Hamilton“) als Hodo- graphen?®) bezeichnet hat. Der Bewegungszustand des Punktes zur Zeit t?°) wird charakterisiert durch die Angabe seines Ortes P und des zugehörigen Geschwindigkeitsvektors v. Der betrachteten Be- wegung wird so eine „tangierende Bewegung“ mit gleichförmiger Ge- schwindigkeit zugeordnet; eine weitere Annäherung würde eine „Schmiegungsbewegung“ sein, die mit gleichförmiger Beschleunigung vor sich geht?”); die Astronomen gebrauchen den Ausdruck „osku- lierende Bewegung“ in einer anderen Bedeutung, siehe Bd. VI, Teil 2.

Würde man den materiellen Punkt zur Zeit £ sich selbst über- lassen, so würde er von P aus in der Tangente der Bahn mit der Geschwindigkeit v weiter gehen; dagegen ändert sich der Vektor v, wenn der Punkt einer Einwirkung von aussen her unterworfen ist, die entweder ein momentaner Stos © oder eine kontinuierlich wirkende Kraft 5 sein kann®). Ein momentaner Stoss wird, als Vektor-

22) Fr. Slate, Mechanics, 1900, hat vorgeschlagen, dem entsprechend zwischen velocity (Geschwindigkeit) und speed (Schnelligkeit) zu unterscheiden.

23) Mechanik des Himmels, Leipzig 1843 = Werke 4, Leipzig 1887, p. 36 und 47. Möbius hat den Hodographen mit Erfolg bei der Untersuchung der Be- wegung der Planeten verwendet.

24) Dublin Irish Trans. 3 (1846), p. 345; Elements of Quaternions, London 1866, p. 100, 118.

25) Über den Hodographen siehe auch: R. Pröll, Versuch einer graphischen Dynamik, Leipzig 1874; @. Helm, Zeitschr. Math. Phys. 25 (1880), p. 217; O. Gerlach, Diss. Rostock 1888; A. Laisant, Jorn. de sc. mat. e astr. 10 (1891), p. 97; R. Mehmke, Jahresber. d. D. M.-V. 12 (1903), p. 561.

26) Dieser Ausdruck scheint von F'. Redtenbacher zu stammen, Prinzipien der Mechanik und der Maschinenlehre, Mannheim 1852, 2. Aufl. 1859, p. 3 und: Das Dynamidensystem, Mannheim 1857, p. 10. Er ist vielleicht eine Verdeutschung des französischen Wortes regime.

27) O. Staude, Math. Ann. 41 (1893), p. 219.

28) Während R. Descartes keine anderen Kräfte als Stosskräfte zulassen wollte, die bewegten Körpern eigentümlich sind, hatte die Schule I. Newtons alles auf Fernkräfte zurückzuführen versucht. Dieser Gegensatz, der für die ganze neuere Physik von fundamentaler Bedeutung ist, tritt auch bei der Mechanik des 19. Jahrhunderts in die Erscheinung. So haben S. D. Poisson und J. V. Poncelet die Benutzung von Stosskräften gänzlich verworfen, da es in Wirklichkeit keine momentanen Kräfte gebe, und auch E. Mach, Mechanik, p. 360 erklärt: Es gibt keine Momentänkräfte. Dem gegenüber machten W. Clifford und L. Boltz- mann geltend, dass diskontinuierliche Vorgänge mit der Erfahrung sehr wohl vereinbar seien. Diese Streitigkeiten werden hinfällig, wenn man alle Kräfte nur als „Bilder“ ansieht, für deren Wahl Gründe der Zweckmässigkeit mass- gebend sind. In dem Sinne der Präzisionsmathematik giebt es, wie es schon

456 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

grösse, gemessen durch das Produkt aus der Masse m des Punktes und der durch ihn verursachten Änderung Av des Geschwindigkeits- vektors d:

S=m-Av. Eine kontinuierlich wirkende Kraft % wird als Vektorgrösse gemessen durch das Produkt der Masse m und der durch sie verursachten Be- schleunigung dv/dt, die wie v ein Vektor ist:

dv

N =m- 2: . In demselben Sinne, in dem die Differentialrechnung als die Grenze der Differenzenrechnung erscheint, lässt sich die Wirkung einer kon- tinuierlich wirkenden Kraft % auffassen als die Grenze der Wirkung einer Reihe von Stössen der Grösse 5At, die in den Zeitintervallen At erfolgen; umgekehrt erscheint die Stosskraft © als die Grenze der Gesamtwirkung einer sehr grossen, in dem sehr kleinen Zeitraume At=(t,...t) wirkenden kontinuierlichen Kraft %:

vgl. IV 1, Nr. 24 (A. Voss).

Damit der in P ruhende Punkt momentan die zur Zeit i herr- schende Geschwindigkeit v erhält, muss auf ihn eine vektorielle Stoss- kraft mv ausgeübt werden, deren Komponenten m&, my, mz sind. Die skalare Grösse (der Betrag) dieser Stosskraft wird nach R. Des- cartes?”) Bewegungsgrösse (quantit€ de mouvement) ‚genannt, während die vektorielle Stosskraft mv = 3 als Impuls®®) bezeichnet wird. Der

I. Kant (Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften, Riga 1786) for- muliert hat, keinen Uebergang vom Kontinuierlichen zum Diskontinuierlichen, zwischen Stössen und stetig wirkenden Kräften ist also keine Vermittlung möglich. Stellt man sich dagegen auf den Standpunkt der Approximationsmathematik, so verschwindet der prinzipielle Unterschied zwischen stetig und unstetig; vergl. F. Klein, Anwendung der Differential- und Integralrechnung auf Geometrie, Leipzig 1902.

29) R. Descartes, Lettres, 1, p. 332; 2, p. 413; Principia philosophiae, 1643, 2, art. 36; vgl. auch I. Newton, Principia, Lib. I, definitio 2. Vgl. auch Ivy Nr. 24 (A. Voss) und T. Levi-Civita, Meccanica, p. 410—420.

30) Freilich giebt es noch keinen festen Gebrauch dieser Ausdrücke. A. Föppl, Einführung, 1. Aufl. $. 15, nennt den Vektor mv „Bewegungsgrösse". Die englischen Mathematiker sagen, wohl nach dem Vorgange von W. Thomson und P.G. Tait (Treatise, 2. ed. 1, p.221), vielfach statt Impuls: momentum (= movi- mentum, das Bewegung Hervorrufende); die Komponenten des Impulses heissen dem entsprechend the moments of momentum. H. Hertz sagt statt Impuls: Moment. Es ist störend, dass das Wort Impuls in zwei Bedeutungen gebraucht

8. Der einzelne Punkt: Fundamentale Begriffe. 457

Bewegungszustand zur Zeit t lässt sich daher auch durch die Angabe der Lage und des Impulses $ charakterisieren. Wenn auf den Punkt äussere Kräfte wirken, ändert sich der Impuls so, dass seine Ände- rung gleich ist dem von den äusseren Kräften hervorgerufenen end- lichen oder unendlich kleinen Stosse, oder der Impuls © oder dt setzt sich mit dem Impulse des Bewegungszustandes 3 nach dem Parallelogramm der Kräfte zusammen.

Bei Aufgaben aus der physikalischen und der technischen Praxis ist es unerlässlich, die vorhergehenden Betrachtungen durch die An- gabe der Einheiten zu ergänzen, deren Theorie ©. Runge in V 1 ent- wickelt hat?!). Hier genüge es zu bemerken, dass man als Einheit der Länge das Zentimeter, als Einheit der Zeit die Sekunde zu wählen pflegt. Als Einheit der Kraft wird in dem technischen Masssystem das Gewicht einer bestimmten Masse, etwa des Normalkilogramms unter der Normalschwere gewählt, wodurch dann die Einheit der Masse festgelegt ist?!*). Dagegen wird in dem sogenannten absoluten Mass- system als dritte Einheit die Einheit der Masse genommen. Gegen- wärtig nimmt man dafür das Gramm°?); damit ist dann die Einheit der Kraft, Dyne, festgelegt, und es ist z.B. das Gewicht von 1 kg Masse eine Kraft von etwa 981000 Dynen.

4. Aufstellung der Differentialgleichungen der Bewegung. Für die freie Bewegung eines materiellen Punktes P (x, y, z) der Masse m, auf den die kontinuierliche Kraft % mit den Komponenten

wird, nämlich auch noch in der allgemeineren Bedeutung einer Stosskraft, so- dass es sich vielleicht empfehlen würde, Impuls des Bewegungszustandes zu sagen. Endlich möge noch ausdrücklich hervorgehoben werden, dass die in dem Texte dargelegte Auffassung eine mathematische und psychologische, aber keine physikalische oder metaphysische ist, vgl. J. Petersen, Nyt Tidsskrift 12 (1901), p. 25. Ebensowenig hat mit dem Begriffe des Impulses die Frage etwas zu tun, ob die in Wirklichkeit stattfindendeu Bewegungen einmal durch einen „Anfangs- stoss‘‘ entstanden sind, wie das J. Newton für die Planetenbewegung postu- liert hat.

31) Vergl. auch Z. d. Vereins deutscher Ingenieure 49 (1905), p. 1299.

31°) Wenn auch schon $. Stevin (1586) und P. Varignon (1687) über den alten Pondusbegriff hinausgegangen waren, so ersetzten doch noch die Mathe- matiker des 18. Jahrhunderts, wie L. Euler und J. d’Alembert, die Kräfte ohne weiteres durch Gewichte. Ebenso verfahren auch H. B. Lübsen, Mechanik, 1, Leipzig 1858, p. 5: „Die Annahme abstrakter Kräfte hat für den Anfänger etwas Anstössiges“, und A. Clebsch, Vorträge über Elementarmechanik, Karlsruhe 1858/59- „Ist die angewandte Kraft gleich P Kilogramm‘

32 C.F.Gauss, Intensitas vis magneticae ad mensuram absolutam revocata, Gött. Abh. 1832 Werke 5, p. 81 = Ostwalds Klassiker, Heft 53; bei Gauss, findet sich aber auch das technische Mass.

458 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

X, Y, Z wirkt, gelten die Differentialgleichungen: (1) mi—=X X, Y, Z können dabei Funktionen von x, y, 2; &, %, 2; t sein®®). Die Gleichungen (1) lassen sich auch in die eine vektorielle Gleichung (1) ni=%

zusammenfassen, in der tr den von einem festen Punkte nach P ge- zogenen Vektor und ?5 die als Vektor aufgefasste Kraft bedeutet.

Ist der Punkt an eine krumme Fläche f(x, y, 2) = 0 gebunden, so liefert das d’Alembertsche Prinzip die Gleichungen:

(2) m&=X+Ra mj=Y+Rß, mi=Z+Ry,

in denen «, ß, y die Richtungscosinus der Flächennormale im Punkte P bezeichnen, während R die Grösse des Druckes angiebt, den der Punkt auf die Fläche senkrecht zu dieser ausübt; diesem Drucke ent- spricht eine gleich grosse entgegengesetzt gerichtete Reaktion der Fläche. Die Gleichungen (2) gelten nur unter der Voraussetzung, dass die Wirkung der Fläche mit dieser Reaktion erschöpft ist, sonst kommen noch Reibungskräfte hinzu, vgl. Nr. 6 dieses Artikels.

Ist der Punkt an eine Kurve gebunden, die durch die Gleichungen hy 2)=0, f(z, y 2) = 0 dargestellt wird, so findet man unter denselben Voraussetzungen wie bei (2) die Differentialgleichungen:

(8) mz=X+Ry+Ra, mjy—=Y+ RP, + Rs, mi=Z+Ry + Rp; & , ßı, und &,, ßy, 7 bedeuten die Richtungscosinus der Normalen

der Flächen f, =0, %—=0, während R, und R, Drucke in der Richtung der betreffenden Normalen, also senkrecht zur Kurve sind.

‚my=Y, mi=Z;

32°) Die Masse m wird im allgemeinen als konstant angesehen, es giebt aber auch Fälle, in denen man m als bekannte Funktion der Zeit ansieht. Bei- spiele hierfür sind die Bewegung eines Wagens, bei dem Personen auf- und ab- springen oder aus dem beständig Sand herausfällt, die Bewegung eines Planeten, dessen Masse durch das Auftreffen von Meteoriten eine beständige Vergrösserung erfährt, vergl. ©. @. J. Jacobi, Dynamik 1842/43, p. 57; W. Thomson, Phil. Mag. (4) 31 (1866), p. 533; H. A. Newton, Am. J. of Science 30 (1885), p. 409; H. Gylden, Astr. Nachr. 109 (1884), p. 1, J. Meschtscherskij, Dynamik des Punktes mit ver- änderlicher Masse (russisch), 1897 (F. d. M. 28 (1897), p. 645, wo sich auch weitere Litteraturangaben finden) sowie Astr. Nachr. 132 (1893), p. 129, 169 (1902), p. 229; R. Lehmann-Filhes, Astr. Nachr. 145 (1898), p. 353; E. Strömgreen, Astr. Nachr. 163 (1903), p. 129. In der modernen elektromagnetischen Mechanik wird zwischen longitudinaler und transversaler Masse unterschieden und die Masse als Funktion der Geschwindigkeit angesehen, vergl. etwa M. Abraham, Ann. der Phys. (4) 10 (1903), p. 105.

4. Der einzelne Punkt: Aufstellung der Differentialgl. der Bewegung. 459

Nach dem Parallelogramm der Kräfte zusammengesetzt ergeben sie den Druck des Punktes auf die Kurve und damit die gleich grosse, aber entgegengesetzt gerichtete Reaktion der Kurve.

Auf eine wesentlich andere Art gebundener Bewegungen eines Punktes ist man durch die Mechanik der starren Körper geführt worden. Bei dem Rollen starrer Körper auf einander (vergl. den zweiten Ab- schnitt dieses Artikels) ergeben sich nämlich zwischen den Koordi- naten eines repräsentierenden Punktes Bedingungsgleichungen der Form:

(4) p(z, y, 2)dz + g(8,y, e)dy+ r(a, y, 2)d2—=0, bei denen die linke Seite nicht auf die Gestalt

9(2, 9, 2)df(z, Y, 2)

gebracht werden kann. Derartige Fälle waren schon früher ver- einzelt aufgetreten®®), aber erst A. Voss hat sie systematisch be- handelt). Später hat H. Hertz die physikalische Bedeutung dieses Ansatzes hervorgehoben und vorgeschlagen, diejenigen Probleme, bei denen die Bedingungsgleichungen auf die Form df(z,y,2)=0 ge- bracht werden können, als holonome, zu bezeichnen, während er die Bedingungsgleichung (4) nichtholonom nennt”). Als Differential- gleichungen der Bewegung ergeben sich bei dem nichtholonomen Probleme:

(5) mi=X+p, my=Y-+ag, mi=Z-+tAr,

wo A einen Multiplikator bedeutet; aus den Gleichungen (4) und (5) hat man xz,y,z und A als Funktionen der Zeit zu bestimmen.

33) Probleme des Rollens sind schon im 18. Jahrhundert von L. Euler, Petersburg Comment. 7 ad annos 1734/35, p. 99; J. d’Alembert, Dynamique, 1743; Joh. Bernoulli, Opera 4, 1752, p. 296 behandelt worden, allein bei ihnen enthielt die Bedingungsgleichung des Rollens nur eine oder zwei Veränderliche, sodass die in der Gleichung (4) liegende Schwierigkeit wegfiel. Auch bei den später, zum Beispiel von $._D. Poisson, Mecanique 2, untersuchten Fällen ergab sich nichts Neues, da man sich auf kleine Schwingungen beschränkte; vergl. F. Klein, Zeitschr. Math. Phys. 47 (4902), p. 260. Andrerseits treten nicht- integrable Bedingungsgleichungen schon bei J. L. Lagrange auf, in dessen Mecanique, 1, Partie I, Sektion 4 es ausdrücklich heisst: il n’est pas necessaire, que L, M,... soient les variations exactes de x,y,2,dx,dy,dz..., während Lagrange freilich an anderen Stellen, wo von Bedingungen die Rede ist, still- schweigend annimmt, dass sie sich in Form endlicher Gleichungen darstellen lassen. Vergl. ferner M. Ostrogradskij, St P&tersbourg, M&m. de l’acad. (6) 1 (1834), p. 565; N. M. Ferrers, Quarxt. J. of math. 12 (1873), p. 1.

34) Math. Ann. 25 (1885), p. 258, dazu J. König, Math. Ann. 41 (1888), p. 42; vgl. auch Nr. 16 dieses Artikels.

35) Mechanik, p. 91. Hiernach sind Probleme mit einer oder mit zwei Veränderlichen stets holonom.

460 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Gleichungen der Form (2), (3), (5) gelten auch, wenn in den Bedingungsgleichungen die Zeit vorkommt; diese ist bei den nach dem d’Alembertschen Prinzipe auszuführenden Differentiationen als konstant anzusehen.

Statt holonomer oder nicht holonomer Bedingungsgleichungen können auch Bedingungsungleichheiten auftreten; auch können Bedin- gungen plötzlich fortfallen oder plötzlich durch andere ersetzt werden. Nachdem bereits früher solche Fälle behandelt worden waren, hat, durch E. Study angeregt, A. Mayer, vom Gaussschen Prinzipe des kleinsten Zwanges ausgehend, dargelegt, wie man hier die Bewegung des Punktes in allen Fällen bestimmen kann®®).

Es gewährt nicht selten Vorteil, die cartesischen Koordinaten %, y, 2 durch drei unabhängige Veränderliche (Parameter) q,, 9, 9; auszudrücken, die auch Positionskoordinaten oder verallgemeinerte (generalisierte) Koordinaten heissen; vgl. IV 1, Nr. 37 (A. Voss)?").

Die Gleichungen (1), (2), (3), (5) gehen dabei in Differential- gleichungen zweiter Ordnung für q,, 93, 9, über, die man als allgemeine Lagrangesche Gleichungen bezeichnet. Bei der Bewegung auf einer Kurve oder einer Fläche gelingt es vielfach, die Parameter so zu wählen, dass die Bedingungsgleichungen identisch erfüllt sind, wenn zwei bez. ein Parameter einen konstanten Wert erhalten. Von den Lagrangeschen Gleichungen dienen alsdann zwei bezw. eine zur Be- stimmung der Reaktionen, während die übrigen in Differential- gleichungen zweiter Ordnung für die variablen Parameter übergehen. Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis, dass man ausschliesslich

86) J. Fourier, J. €c. pol. 5 (1798) = Oeuvres 2, p. 488; A. Cournot, Bull. de Ferussac 8 (1827), p. 165; ©. F. Gauss, J. f. Math. 4 (1829), p. 234 = Werke 5, p. 27; M. Ostrogradskij, St. Petersbourg M&m. (6) 1 (1834), p. 565, M&m. Classe math. phys. 1 (1838), p. 129; ©. @. J. Jacobi, Vorlesungen über Dynamik, 1847/48, Heft von W. Scheibner, p.83; A. Ritter, Dissertation Göttingen 1853; N. Bugajeff, Mechanik (russisch), 1, Petersburg 1871; J. W. Gibbs, Am. J. of. math. 2 (1879), p. 49; D. Bobylew, Mechanik (russisch), 1885; L. Henmneberg, J. f. Math. 113 (1894), p. 179; J. Furkas, Ungar. Ber. 12 (1894), p. 268, 15 (1898), p. 25; L. Boltzmann, Mechanik 1 (1897), p. 223, 230; A. Mayer, Leipzig Ber. 51 (1899), p. 224, 245; E. Zermelo, Gött. Nachr. 1899, p. 306; P. Appell, M&canique 1, p. 269; O. Schütt, Diss. Kiel 1905; @. K. Sousloff, Moskau, Math. Samml. 25 (1905), p. 375. Vergl. auch IV ı (A. Voss) und die Anmerkungen 167 und 179.

37) Vgl. dazu H. W. Watson und H. S. Burbury, A treatise on the application of generalized coordinates to the kinetics of a material system, Oxford 1879, und P. Appell, M&canique, 1, chap. XVI; L. Boltzmann (Prinzipe, 2, p. 16) nennt die Koordinaten q, skleronom oder rheonom, je nachdem die Bedingungs- gleichungen zwischen den cartesischen Koordinaten die Zeit nicht enthalten oder enthalten.

4. Der einzelne Punkt: Aufstellung der Differentialgl. der Bewegung. 461

die letzteren Gleichungen betrachtet, die von der Jacobischen Schule auch als Lagrangesche Gleichungen zweiter Art bezeichnet werden. Die Differentialgleichungen für die Parameter q, kann man nach Lagrange sofort herstellen, wenn man die Ausdrücke für die leben- dige Kraft und die virtuelle Arbeit kennt, sie haben nämlich die Gestalt: m rn (L) di (u) Burn = (,; hierin bedeutet 7’ die lebendige Kraft des materiellen Punktes: T=-n@+P +29) = 330,44, während die Q, als die Koeffizienten der ögq, in dem Ausdrucke der virtuellen Arbeit 6W = Xör + Yöy-+ Zöe = IQ,5q, definiert sind. Die Q, werden auch als die Komponenten oder Koor- dinaten der verallgemeinerten Kraft bezeichnet. Die Koordinaten Q, der verallgemeinerten Kraft haben nicht immer die Dimensionen einer Kraft im gewöhnlichen Sinne des Wortes, wohl aber die Q,dq, immer die Dimensionen der Arbeit; ist z. B. g, ein Winkel, so hat Q, die Dimension eines Drehmomentes®’®). Die Ausdrücke

heissen die Koordinaten des verallgemeinerten Impulses.

Bei dieser Auffassung besagen die Gleichungen (L), dass die Änderung des Impulses sich zusammensetzt aus der während des Zeit- elementes dt wirkenden Stosskraft mit den Koordinaten Q,dt und

einer Kraft mit den Koordinaten 3 dt, die von der Änderung des

instantanen Axenkreuzes während des Zeitelementes dt herrührt. Hat man zum Beispiel Polarkoordinaten

C=1T(c08Sp, Yy=rsinp,

37®) Schon J. L. Lagrange bezeichnet die Q, als Kraftkomponenten oder auch unmittelbar als Kräfte, was gelegentlich zu Missverständnissen Anlass ge- geben hat. Das Wort „Koordinate“ wird hier, wohl nach dem Vorgange von F. Klein, in dem Sinne A. Plückers, gebraucht, der unter Koordinate jegliche Grösse versteht, die dazu verhilft, ein Objekt mathematischer Betrachtung fest- zulegen. Dieses Objekt, das System der Grössen Q,, Vektor zu nennen, wie es H. Hertz, Mechanik, p. 137 vorgeschlagen hat, erscheint nicht als zweckmässig. Vielmehr wird man, hier wie bei den Koordinaten der verallgemeinerten Ge- schwindigkeit und des verallgemeinerten Impulses, zwischen den Elementargrössen, die bei einem materiellen Punkte und gewöhnlichen cartesischen Koordinaten auftreten, und den Systemgrössen, die sich bei beliebigen Positionskoordinaten ergeben, scharf zu unterscheiden haben.

462 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

so wird

T=4m(f? + r99), 69W = Rör + Dböpy, und die Lagrangeschen Gleichungen lauten: m—mo=R, nr’po=6.

Das Glied mr? bedeutet hier die Zentrifugalkraft, die den wirkenden Kräften hinzuzufügen ist, wenn man die Bewegung des Punktes auf dem beweglichen Radiusvector betrachten will; vergl. Fr. Slate, Mechanics 1, p. 42 und A. @. Webster, Dynamics, p. 119.

5. Diskussion der Differentialgleichungen der Bewegung. Die Integration der Differentialgleichungen (1) ergiebt x, y, 2 als Funk- tionen der Zeit, die sechs Integrationskonstanten enthalten. Diese Konstanten können durch Anfangsbedingungen bestimmt werden, in- dem der Bewegungszustand des Punktes zu einer Anfangszeit f, ge- geben wird; vgl. auch IV 1, Nr. 21 (A. Voss)°®). Erste Integrale der Differentialgleichungen (1) heissen Gleichungen der Form

F(z,y, 2; 3,9%, 2; t) = const.

von der Beschaffenheit, dass

tisch verschwindet. Hat man sechs von einander unabhängige erste Integrale ermittelt, so ergeben sich daraus x, y, z als Funktionen von t und sechs willkürlichen Konstanten, und die Integration ist vollendet.

Theoretisch ist es stets möglich, sechs erste Integrale zu er- mitteln, indem man zum Beispiel Reihenentwicklungen zu Hilfe nimmt. Wenn man aber sagt, dass es bei den Gleichungen: (1) ein erstes Integral gebe, so meint man damit meistens, dass sich eine Funktion F(x,y,2;&,%,2;t) angeben lässt, die in einfacher Weise aus elemen- taren Funktionen ihrer Argumente aufgebaut ist, wobei häufig auch noch die Operation der Quadratur zugelassen wird, und in weiten Kreisen, besonders unter den Physikern, ist das Vorurteil verbreitet, als ob bei Problemen, die sich nicht in einer solchen „geschlossenen Form“ integrieren lassen, die Hilfe der Mathematik versage®®*); dass in Wahrheit die Mittel der modernen Mathematik erheblich weiter reichen, ist schon in Nr.1 dieses Artikels auseinandergesetzt worden. Freilich wird man es mit Freude begrüssen, wenn es bei einem Problem

vermöge der Gleichungen (1) iden-

38) Nicht immer wird der Bewegungszustand zu einer Anfangszeit gegeben. Bei der Bestimmung der Planeten- und Kometenbahnen ist zum Beispiel der scheinbare Ort zu verschiedenen Zeiten bekannt; vgl. VI2 9 (G. Herglotz). Ebenso ist beim Zielen der Anfangs- und der Endpunkt der Bahn gegeben.

38%) So sagt A. Gray, Physik 1, p. 266: „Es ist nicht immer möglich, die Bewegungsgleichungen zu lösen“; vgl. auch I. Mach, Mechanik, p. 294.

5. Der einzelne Punkt: Diskussion der Differentialgl. der Bewegung. 463

ein erstes Integral giebt oder einige erste Integrale in dem engeren Sinne des Wortes vorhanden sind, denn schon daraus lassen sich häufig wichtige Schlüsse auf den Verlauf der Bewegung ziehen. Ähn- liche Betrachtungen gelten für die Gleichungen (2), (3) und (4).

Um erste Integrale zu finden, bedient man sich mit Vorteil folgender Methoden.

1) Wird die Bogenlänge der Bahn bis zum Punkte P(z, y, 2) mit s, der Krümmungsradius der Bahn in P mit o bezeichnet und sind Fr, Fy, Fz die Komponenten der wirkenden Kraft ?% nach der Tangente, Hauptnormale und Binormale der Bahn, so gelten die von L. Euler®®) herrührenden „natürlichen“ Gleichungen der Bewegung®®):

2 ms = Fr, mo Fr, 0= Fr.

Im Allgemeinen kann man diese Gleichungen nur aufstellen, wenn man die Bahn des Punktes schon kennt, in manchen Fällen gelingt es aber, sie unmittelbar zu finden und für die Ermittlung von ersten Integralen zu verwerten; besonders P. Serret hat von ihnen schöne Anwendungen gemacht?!").

2) Sind &, 9, 3 die Komponenten des Impulsvektors % nach den Axen der x, y, z, so lassen sich die Gleichungen (1) auf die Form bringen:

a ur,

der Endpunkt des von einem festen Punkte abgetragenen Vektors % bewegt sich also mit der Geschwindigkeit %. Verschwindet bei ge- eigneter Wahl der Koordinatenaxen etwa X, so folgt aus der ersten Gleichung (1*) die erste Integralgleichung £=( (Satz von der Erhaltung der Projektion der Bewegungsgrösse), und hieraus durch eine neue Integration mx = Ct + C’, wo C und C’ Konstanten bedeuten.

3) J. Keplers Gesetz, dass der von dem Planeten nach der Sonne gezogene Leitstrahl in gleichen Zeiten gleiche Flächenräume beschreibt,

39) Mechanica, 1736, sowie St. Petersbourg Nova Acta 3 ad ann. 1785, p. 111.

40) P. Appell, Mecanique 1, p. 304. Sehr einfach und durchsichtig gestaltet sich die Herleitung der natürlichen Gleichungen bei Anwendung der Vektor- rechnung; vgl. R. Marcolongo, Meccanica 1, p. 34. Bei englischen, französischen, italienischen Autoren heissen diese Gleichungen intrinsic equations, &quations intrinseques, equazioni intrinseche. Der Terminus intrinsic scheint von W. W hewell herzurühren, Cambridge Phil. Soc. Trans. 9 (1851), p. 150; vgl. E. Wölffing, Bibl. math. (8) 1 (1900), p. 143.

41) Theorie nouvelle mecanique et geomätrique des lignes de double cour- bure, Paris 1860.

464 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

war von J. Newton auf beliebige Zentralkräfte verallgemeinert worden *?). Dass ein entsprechender Satz auch bei anderen Kräften gelten kann, haben ziemlich gleichzeitig L. Euler“), Daniel Bernoulli‘‘) und P. d’Arcy*°) erkannt. Besteht nämlich die Gleichung sY—yX=0,

so folgt aus den Gleichungen (1), dass die Projektion des von dem Anfangspunkte nach dem bewegten Punkte gezogenen Radiusvektors auf die xy-Ebene in gleichen Zeiten gleiche Flächen beschreibt (Flächensatz).

Eine neue Auffassung dieses Satzes verdankt man L. Poin3ot*®). Hat das Drehmoment 8 der wirkenden Kraft % in Bezug auf den Anfangspunkt der Koordinaten die Komponenten nach den Axen der Ze

L=yZ—ı:Y, M=:X—ıZ, N=ıx2Y—yX, und sind = m(y —2j), M=m(sı 22), N= m(ey yx)

die Komponenten des Drehmomentes ll des Impulses % in bezug auf dieselben Axen, so gelten vermöge (1) die Gleichungen: daR AM AN

Gag) re Te a der Endpunkt des von einem festen Punkte aus abgetragenen Vektors ll bewegt sich also mit der Geschwindigkeit 8. Ist 8 = 0, so bleibt der Endpunkt von U fest; der materielle Punkt bleibt dann in einer auf diesem Vektor senkrechten Ebene, und für seine Bewegung in dieser Ebene gilt der Flächensatz. Verschwindet aber nur eine der Komponenten L, M, N, so gilt in Bezug auf eine der drei Koordinaten- ebenen der Flächensatz, der daher auch als Satz von der Erhaltung des Drehmomentes bezeichnet wird. Verschwinden zwei der Kom- ponenten ZL, M, N, so verschwindet auch die dritte, und der Flächen- satz gilt dann für jede beliebige, durch den Anfangspunkt gehende Ebene **).

42) Principia, lib. 1, sectio 2, prop. 1.

43) Opuscula varii argumenti 1, 1746, p. 1.

44) Berlin, M&m. annde 1745 (1746), p. 54.

45) Paris, M&m. annde 1747 (1752), p. 348.

46) J. €c. polyt. cah. 13 (1806), wieder abgedruckt als Anhang zu den späteren Auflagen seiner El6mens de statique. In der Sprache der Vektoren- rechnung bedeutet die Auffassung von Poinsot den Übergang von der Plangrösse zum ergänzenden Vektor; vgl. IV 2, Nr. 8 (H. E. Timerding).

46°) S. D. Poisson, J. de l’6c. polyt. cah. 15 (1809), p. 266; vergl. R. Marcolongo, Napoli Rend. (2) 2 (1888), p. 419.

5. Der einzelne Punkt: Diskussion der Differentialgl. der Bewegung. 465

4) Der Ausdruck T= mv? wird als die lebendige Kraft oder die kinetische Energie des bewegten Punktes bezeichnet?”). Aus den Gleichungen (1) bis (4) von Nr. 4 folgt:

dAT= Xdx + Ydy-+ Zdz,

das heisst der Zuwachs, den die lebendige Kraft während des Zeit- elementes di erfährt, ist gleich der elementaren Arbeit dW, die während dieses Zeitelementes von der Kraft % geleistet wird. Gleichzeitig er- giebt sich, dass die elementare Arbeit der Reaktionskräfte verschwindet. Über den Fall der Reibung vgl. Nr. 6.

Wenn X, Y, Z Funktionen von 2, y, 2; &, %, 2; t sind, so muss man, um die gesamte Arbeit W für den Zeitraum (f,...t) zu be- rechnen, 2, y, z als Funktionen der Zeit, d. h. die Bewegung des Punktes kennen. Wenn X, Y, Z Funktionen von x, y, 2 allein sind, also 75 eine reine Bewegungskraft ist, genügt es, die Bahn des Punktes zu kennen. Wenn endlich Xdz + Ydy-+ Zdz das vollständige Differential einer eindeutigen Funktion U(x, y, 2) ist, so genügt zur Berechnung von W die Kenntnis der Anfangs- und Endlage des Punktes. Die Funktion U heisst nach W. R. Hamilton“) Kräftefunk- tion. Existiert eine Kräftefunktion U, so wird

T-Uth

Die Konstante h heisst die Konstante der lebendigen Kraft; die Bahnen, bei denen h denselben Wert hat, vereinigt man häufig zu einer Familie von Bahnen“*®). Die Funktion V = U heisst die poten- tielle Energie des Punktes und die Gleichung T’+ Y=h giebt für ihn den Satz von der Erhaltung der Energie.

Aus der Gleichung der lebendigen Kraft lassen sich nicht selten

47) Vgl. IV 1, Nr. 46 (A. Voss). Es sei noch ausdrücklich hervorgehoben, dass @. W. Leibniz (Acta erud. Lips. 1695) als vis viva das Produkt mv? be- zeichnete. Erst @. Coriolis (Trait€E de mecanique, 1829) hat wegen der Be- ziehung zur Arbeit 4mv? als lebendige Kraft bezeichnet und H. v. Helmholtz (Erhaltung der Kraft, Berlin 1847) diese Bezeichnung in Deutschland eingeführt; vgl. IV 1 (A. Voss), Anmerkung 297. Die neuerdings vorgeschlagene, an sich gute Bezeichnung „Wucht“ für 4mv? zum Unterschiede von mv? (A. Föppl, Einleitung, p. 29) scheint sich nicht einbürgern zu wollen.

48) London Phil. Trans. 1834, p. 249 (force function, bei C. @. J. Jacobi, J. f. Math. 17 (1838), p. 97 Kräftefunktion).. Der Sache nach findet sich die Kräftefunktion schon bei J. L. Lagrange (M&canique analytique). Dass U(x, y, 2) eindeutig sein muss, wenn man die Arbeit berechnen will, scheint zuerst J. Bertrand, J. €c. polyt. cah. 28 (1841), p. 249 bemerkt zu haben. Vergl. auch E. Lemni, J. de math. (3) 2 (1876), p. 233.

48°) @. Darboux, Legons sur la theorie des surfaces 2, Paris 1889, p. 482.

466 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

wichtige Schlüsse auf den Verlauf der Bewegung ziehen. Da näm- lich T= 4mv? niemals negativ ist, so kann der bewegte Punkt im Laufe der Zeit nur solche Punkte des Raumes passieren, in denen U-+h positiv oder gleich Null ist, und man erhält, falls U+-h bei einem ge- gebenen Werte von h mit Zeichenwechsel verschwindet, bei der Bewegung im Raume eine „Grenzfläche“ und bei der Bewegung in der Ebene eine „Grenzkurve“, die der bewegte Punkt nicht überschreiten kann. @. W. Hill (1878) hat hieraus wichtige Folgerungen für die Bewegung des Erdmondes gezogen“), und die Grenzkurve ist dann auch bei anderen astronomischen Untersuchungen verwertet?®) worden. P. Stäckel hat dasselbe Prinzip für die Bewegung eines materiellen Punktes auf einer krummen Fläche verwertet?‘!). Hat die Kräftefunktion U an einer Stelle A* ein Maximum M und legt man der Konstanten Ah einen Wert bei, der wenig von M verschieden, sonst aber beliebig ist, so erhält man als Grenzfläche eine kleine, geschlossene, den Punkt A* umgebende Fläche und schliesst hieraus, dass der bewegte Punkt, wenn er von einer in der Nähe von A* gelegenen Stelle mit geringer Anfangsgeschwindigkeit ausgeht, immer in der Nähe von A* bleiben muss, und dass auch seine Geschwindigkeit stets gering bleibt. Da der Punkt, wenn er in A* ruht, immer in Ruhe bleibt, so ist eine solche Stelle, wo U ein Maximum hat, eine Stelle stabilen Gleich- gewichtes®?). Dieser Satz von der Stabilität rührt von J. L. Lagrange her. Den Beweis dafür gründete dieser jedoch auf Reihenentwick- lungen, bei denen er nur die Glieder bis zur zweiten Ordnung berück-

f x

49) Am. J. of math. 1 (1878), p. 5, 129, 245 (Abdruck einer 1877 in Boston erschienenen Monographie); Acta math. 8 (1886), p. 1. Hill zeigte auf diesem Wege, dass in dem System Sonne, Erde, Mond, wenn man annimmt, dass die Erdbahn kreisförmig ist, der Mond sich von der Erde niemals weiter als um den vierfachen Betrag seines jetzigen Abstandes entfernen kann.

50) K. Bohlin, Acta math. 10 (1887), p. 109; G. H. Darwin, Acta math. 21 (1897), p. 99; Math. Ann. 51 (1899), p. 523; C. V. L. Charlier, Die Mechanik des Himmels, 2, Leipzig 1905, p. 111, 290. Genaueres in VI2 12 (E. T. Whittaker).

51) Diss. Berlin 1885.

52) Instabil heisst das Gleichgewicht an einer Stelle P, wenn der Punkt von einer Stelle in der Nähe von P mit kleiner Geschwindigkeit ausgehend sich im Laufe der Zeit beträchtlich von P entfernt. Die Astronomen (vgl. H. Poincare, M6canique celeste 3, p. 140) sprechen auch von der Stabilität der Bewegung eines Punktes und meinen damit, dass der Punkt sich im Laufe der Zeit von einem festen Punkte niemals mehr als um eine bestimmte endliche Strecke ent- fernt, wie etwa der Mond von der Erde (vgl. Anmerkung 49); R. Clausius nennt solche Bewegungen stationär, vgl. E. J. Routh, Dynamik 1, p. 333. Das Wort Stabilität der Bewegung wird jedoch auch in einem anderen Sinne gebraucht, siehe Nr. 9 dieses Artikels.

5. Der einzelne Punkt: Diskussion der Differentialgl. der Bewegung. 467

sichtigte’®). Auf dem hier angegebenen Wege, den übrigens Lagrange selbst schon angedeutet hatte°*), haben dann F. Minding und P. Lejeune- Dirichlet den strengen Beweis durchgeführt?®).

Hat die Kräftefunktion U für eine Gleichgewichtslage B* kein Maximum, sondern entweder ein Minimum oder eine Stelle stationären Verhaltens, so lässt sich unter sehr allgemeinen Voraussetzungen beweisen, dass kein stabiles Gleichgewicht stattfindet°®®). Man hatte daher vielfach angenommen, dass nur bei einem Maximum von U stabiles Gleichgewicht möglich sei. Dass diese Annahme falsch ist, hat P. Painleve gezeigt?®”). Bewegt sich nämlich ein freier Punkt der Masse m unter dem Einflusse von Kräften, die von der Kräfte- funktion

U(z,y,2) = 4m(a? sin 2 2?)

herrühren, so ist die Stelle 2=0, y=0, 2=0 eine reguläre Gleichgewichtsstelle (regulär, weil U mit seinen Ableitungen erster und zweiter Ordnung in der Nähe der Stelle 0, 0,0 stetig ist), für die U kein Maximum hat, und dennoch findet stabiles Gleichgewicht statt.

Auch für quantitative Untersuchungen erweist sich der Satz von der lebendigen Kraft als nützlich; in vielen Fällen gelingt es nämlich, aus ihm, durch Verbindung mit den anderen Gleichungen der Be- wegung, eine Gleichung der Form

dg\2 (a) =f@ herzuleiten, in der q irgend eine Koordinate bedeutet. Bei der älteren Auffassung begnügt man sich zu sagen, dass t als Funktion

von gq durch eine Quadratur bestimmt sei; nach der neueren sucht man aus jener Gleichung Schlüsse auf den Charakter der Funktion q

53) M&canique 1, Section 3. Auch S. D. Poisson, Mecanique 2, p. 492 benutzt Reihenentwicklungen.

54) Mecanique 2, Section 6, $ 8.

55) F. Minding, Mechanik, Berlin 1838, p. 268; P. Lejeune-Dirichlet, Berlin Monatsber. 1846, p. 34; J. f Math. 32 (1846), p. 85 = Werke 2, p. 5. Vgl. auch P. Stäckel, Jahresber. d. D. M.-V. 14 (1905), p. 504.

655°) A. Kneser, J. f. Math. 115 (1895), p. 308; 117 (1897), p. 186; A. M. Ljapunoff, J. de math. (5) 3 (1897), p. 81; J. Hadamard, J. de math. (5) 3 (1897), p. 331; P. Painleve, Paris C. R. 125 (1897), p. 1021; @. Hamel, Math. Ann. 57 (1903), p. 541; P. Bohl, J. f. Math. 127 (1904), p. 179; Genaueres in IV 12 (P. Stäckel).

55®) Paris C. R. 138 (1904), p. 1555; allerdings ist hier die Stelle B* eine Häufunrgsstelle von Gleichgewichtsstellen; für eine isolierte Gleichgewichts- stelle scheint stabiles Gleichgewicht nur bei einem Maximum von U möglich zu sein.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV, ı. 31

468 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

von t zu ziehen. Lässt sich f(q) auf die Form bringen:

fd-b—- Na - sd), wo a und b (>a) Konstanten sind und g(g) eine stetige, im Inter- valle g=(a...b) wesentlich positive Funktion bedeutet, so wird nach K. Weierstrass q eine eindeutige, stetige Funktion der reellen Veränderlichen # mit der Periode

a da Va’

die sich durch eine a Reihe

nat - 704 3 sin’ OS ai areas

s=1 TE

20 —=2

darstellen lässt°®); nicht selten genügen schon die ersten Glieder dieser Reihe, um eine für praktische Zwecke ausreichende Annäherung zu geben. Da die Veränderliche qg zwischen den Grenzen a und 5 hin- und hergeht, hat ©. V. L. Charlier die Bewegung eine Librationsbewegung genannt°”). Ist die Wurzel b der Gleichung f(g) = 0 nicht einfach, sondern mehrfach, so geht g asymptotisch von a nach b; die Be- wegung heisst dann nach Charlier eine Limitationsbewegung°®).

Zur genaueren Diskussion der Bewegung wird man in den meisten Fällen numerische’) und graphische") und mechanische ®!)

56) Berlin Monatsber. 1866, p. 97, 185 = Werke 2, p. 1; vgl. jedoch schon N. H. Abel, Oeuvres, nouv. €d. 2, p. 40 und F. Minding, Mechanik, p. 222 und 317; eine interessante Anwendung auf die Störungen von Jupiter und Saturn machte @. W. Hill, Annals of math. 5 (1890), p. 177.

'67) St. Petersbourg Melanges math. 7 (1889), p. 1; St. Petersbourg Acad. Bull. 33 (1890), p. 9; Mechanik des Himmels 1, Leipzig 1902, p. 85.

58) Den allgemeinen Fall f(q) = (b q)?(q a)“ g(g), wo « und ß konstante Exponenten bedeuten und g(g) für q gleich a und g gleich b endlich und von Null verschieden ist, untersuchten P. Stäckel, Diss. Berlin 1885 und O0. V._L.Chorlier ; vgl. auch @. Diliner, Bordeaux M&m. (2) 5 (1883), p. 29.

59) Die numerischen Methoden der Astronomen werden hier vielfach mit Nutzen angewandt werden können; vgl. VIe.

60) Ueber die Litteratur bezüglich graphischer Methoden zur Lösung mechanischer Probleme findet man einen ausführlichen Bericht in den Brit. Ass. Rep. 1889, p. 322, 1892, p. 373, 1893, p. 573; vgl. auch Lord Kelvin, Phil. Mag. (5) 34 (1892), p. 443: Konstruktion der Bahn, wenn man aus den Differential- gleichungen der Bewegung ihren Krümmungsradius entnehmen kann; ferner F. Klein und A. ak Theorie des ng cs VII, $4: graphische

v). 61) W. Thomson und P.@. Tait, Treatise, 2. = 1, Appendix B’; A. Kriloff, St. P6etersbourg Acad. Bull. (5) 20 (1904), Nr. 1.

6. Der einzelne Punkt: Reibung. 469

Methoden zu Hilfe nehmen müssen. Auch werden sich die neueren Untersuchungen über die approximative Integration von Differential- gleichungen (vgl. II D 11, X. Heun) hierfür fruchtbar machen lassen; in der Dynamik muss man jedoch mit Vorsicht verfahren, da Realitäts-

und Stetigkeitsbedingungen hinzutreten ®1®).

6. Reibung. Die Annahme von konservativen Kräften, bei denen der Satz von der Erhaltung der Energie gilt, oder doch von reinen Bewegungskräften, die allein von den Koordinaten der bewegten Punkte abhängen, genügt nicht immer zur Lösung der Aufgaben der Dynamik. Man hat sich vielmehr häufig genötigt gesehen, zu diesem Zwecke den äusseren Kräften noch Kräfte hinzuzufügen, die von den Ge- schwindigkeiten der bewegten Punkte abhängen und als Reibungskräfte bezeichnet werden®?). Solche Kräfte treten auf, wenn die Bewegung eines Körpers in einem widerstehenden Medium vor sich geht, oder wenn sich feste Körper bei ihrer Bewegung in Punkten, Linien oder Flächen unter Druck berühren; auch die viel behandelte Steifigkeit der Seile ist hier zu nennen. Für die in Wirklichkeit bei der Be- wegung in einem widerstehenden Medium stattfindenden Vorgänge vergleiche man die Artikel IV 17 Aerodynamik (8. Finsterwalder), IV 18 Ballistik (O. Cranz) und IV 22 Schiffsbewegung (A. Kriloff‘), für die physi- kalisch-technische Theorie der Reibung fester Körper und die Steifigkeit der Seile den Artikel IV 10 Dynamische Probleme der Maschinentechnik (K. Heun). Neben die Lehre von den Erscheinungen bei der Reibung ist aber eine umfangreiche mathematische Theorie der Reibung ge- treten, man hat zum Beispiel bei der Bewegung eines materiellen Punktes in einem widerstehenden Medium den Widerstand gleich einer solchen Funktion der Geschwindigkeit v gesetzt, dass sich die Integration der Differentialgleichungen der Bewegung in eleganter Form durch- führen liess®®), oder bei der unter Druck erfolgenden Berührung fester

61°) E. B. Christoffel, J. f. Math. 66 (1866), p.1; @. Koenigs, Bull. soc. math. de France 22 (1894), p. 25; L. Lecornu, ebenda p. 81.

62) Für die Einführung der Reibungskräfte vgl. auch Nr.2 dieses Artikels sowie H.v. Helmholtz, Dynamik, p. 31. Welche Rolle die Reibungskräfte bei den wirklichen Bewegungen spielen, zeigt etwa das Beispiel des deutschen Infanterie- gewehrs, Modell 88, bei dem das Geschoss eine Anfangsgeschwindigkeit von ungefähr 620 m in der Sekunde erhält. Nach den Gesetzen der parabolischen Wurfbewegung würde sich die grösste Schussweite bei einem Abgangswinkel von 45 Grad ergeben und ungefähr 40 km betragen; in Wirklichkeit wird nach der „Schiessvorschrift für die Infanterie‘ die grösste Schussweite bei einem Ab- gangswinkel von etwa 32 Grad erreicht und beträgt etwa 4 km.

63) Solche Gesetze stellten auf und behandelten: I. Newton, Principia Lib. II, wo das Widerstandsgesetz f(v) = av + bv? ist; Joh. Bernoulli, Parıs

B1*

470 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Körper für die Reibung einfache Gesetze angenommen %). In manchen Fällen gelingt es, auf diese Weise ein Bild der Vorgänge zu gewinnen, das als erste Annäherung brauchbar ist, und das ist um so wertvoller, als es sich bei der Reibung um ausserordentlich verwickelte Vorgänge handelt, die bereits ausserhalb des Gebietes der Mechanik liegen; denn bei der Reibung werden thermische, elektrische und magnetische Kräfte ausgelöst, die einen Teil der kinetischen Energie absorbieren (Zerstreuung der Energie)®). In anderen Fällen aber, zum Beispiel bei dem Bremsen der Eisenbahnzüge‘), ergiebt sich auf diesem Wege nicht einmal eine erste Annäherung an die wirklichen Vor- gänge, und man ist, wo es auf den genauen Wert der in einem ge gebenen Falle zu erwartenden Reibung ankommt, darauf angewiesen, Versuchsergebnisse heranzuziehen, die unter ähnlich liegenden Ver- hältnissen erhalten wurden, oder, wenn solche nicht vorliegen, selbst Versuche anzustellen ®”).

Die Reibung zweier festen Körper, die aneinander vorbeigleiten,

Me&m. annde 1711, p. 47 = Opera 1, p. 502, f(v) = avr; dasselbe Gesetz hat L. Euler, Mechanica, 1736, 1, p. 444; J. d’Alembert, Trait& de l’&quilibre et du mouvement des fluides, Paris 1744, p. 359: fw) = a + bv”; A. M. Legendre, Berlin M&m. 1782, p. 59 für n = 2; weitere ältere Litteratur bei M. Jullien, Problömes 1, p. 281, 350. Aus neuerer Zeit sei hier nur genannt: (©. @. J. Jacobi, J. f. Math. 24 (1842), p. 5 = Werke 4, p. 286; P. Appell, M&canique 1, p. 332, 351 und im übrigen auf IV 18 (C. Cranz) verwiesen.

64) Monographie von @. H. Jellett, Reibung, nal 1872, mit sehr vielen Aufgaben aus der Statik und Kinetik.

65) Wenn neben den von einer Kräftefunktion U(&, y, z) herrührenden äusseren Kräften noch Reibungswiderstände auftreten, so lassen sich die La- grangeschen Gleichungen in manchen Fällen auf die Form bringen:

d (7) - LER aa on wo F eine von den q, und 4, abhängende Funktion bedeutet, die in den 4 homogen und von der zweiten Dimension ist. Lord Rayleigh hat die Funktion F die Dissipationsfunktion genannt (London Math. Soc. Proc. 1873; Theory of sound, 2.ed. London 1894, 1, p. 136); aus den Lagrangeschen Gleichungen folgt näm-

lich durch das Verfahren, das bei konservativen Kräften die Gleichung von der Erhaltung der lebendigen Kraft liefert, hier die Relation:

d

sodass F' die halbe Geschwindigkeit darstellt, mit der die Energie das System verlässt. Für die Dissipationsvorgänge vgl. auch V4 (E. W. Hobson und H. Diesselhorst).

66) A. Föppl, Einführung, 1. Aufl., p. 225.

67) Ebendaselbst, p. 221.

6. Der einzelne Punkt: Reibung. 471

(gleitende Reibung)®) ist bereits im 18. Jahrhundert vielfach theore- tisch und experimentell untersucht worden®). @G. Amontons (1699) kam zu dem Ergebnis, dass die aus der Reibung hervorgehende, in der Berührungsebene der beiden Körper liegende, der Richtung der Bewegung entgegengesetzte Kraft R dem Normaldrucke N proportional, aber unabhängig von der Grösse der Berührungsfläche sei’). Es ist also

R=fN;

f heisst der Reibungscoeffieient; er ist zum Beispiel bei Eisen auf Eisen etwa 0,1, bei Holz auf Holz schwankt er zwischen 0,3 und 0,5. A. Parent (1700, 1704) bestätigte diese Sätze und fügte hinzu, dass die Grösse des Reibungswiderstandes auch von der Geschwindigkeit der relativen Bewegung der beiden Körper gegeneinander unabhängig sei”'); er hat auch den Reibungswinkel eingeführt, dessen Tangente das Verhältnis zwischen der Grösse der Reibung und der Grösse des Druckes ist”?). Endlich entdeckte F. J. des Camus (1722) den Unterschied zwischen der Reibung in der Ruhe (statische Reibung) und der Reibung in der Bewegung (kinetische Reibung)’”®). Diese Ergebnisse, die man zum Beispiel in L. Eulers Mechanik der festen Körper (1765) ausführlich dargestellt und auf eine Reihe besonderer Bewegungs- erscheinungen angewandt findet”t), werden gewöhnlich Ch. A. Coulomb

68) Bei beliebiger Bewegung eines festen Körpers auf einer Unterlage tritt zu der gleitenden Reibung noch die rollende und die bohrende Reibung hinzu, für die auf den zweiten Abschnitt dieses Artikels verwiesen werden muss.

69) Diese Untersuchungen haben noch keine ausreichende historisch-kri- tische Darstellung erfahren. Einige Angaben, die jedoch der Nachprüfung be- dürfen, findet man in J. Gehlers physikalischem Wörterbuch 4, Leipzig 1795, Artikel Reibung, bei A. Brix, Verh. d. Ver. z. Förderung des Gewerbefleisses in Preussen 16 (1837), p. 130 und bei M. Rühlmann, Vorträge zur Geschichte der technischen Mechanik, Leipzig 1885, p. 498.

70) Paris Mem. annede 1699, p. 206.

71) Paris M&m. annde 1700, p. 145; annde 1704, p. 195.

72) Wenn die Bewegungen nach allen möglichen Richtungen betrachtet werden, ergiebt sich daraus der zu einem Punkte gehörige Reibungskegel, der in der Statik reibender Körper nützliche Verwendung gefunden hat; vgl. G. Herrmann, Der Reibungswinkel, Festschrift zum Universitätsjubiläum von Würzburg 1882.

73) Traite des forces mouvantes, Paris 1722; vgl. auch J. A. Segner, De affrietu solidorum, Halle 1758.

74) Von der Reibung handelt das ganze Supplementum der ersten Ausgabe, p-449—513. Euler betrachtet hier zuerst die Reibung im allgemeinen, dann dıe gleitende Bewegung eines schweren Körpers auf rauher Unterlage, die drehende Bewegung eines schweren Körpers um ein reibendes Lager, die Be- wegung der Kreiselspitze auf rauher Unterlage und zum Schluss die Bewegung

472 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

(1781) zugeschrieben, dessen grosses Verdienst in Wahrheit darin besteht, dass er mit einer bis dahin unbekannten Präzision ex- perimentiert und durch seine Versuche die von Amontons, Parent und Camus aufgestellten Reibungsgesetze wiedergefunden hat).

Um so auffallender ist es, dass J. L. Lagrange in seiner Meca- nique amalytique, die auch aus den achtziger Jahren des 18. Jahr- hunderts stammt, die Bewegung eines Punktes in einem widerstehen- den Medium nur flüchtig gestreift, die Reibung fester Körper gegen einander aber ganz unberücksichtigt gelassen hat”°). Seinem Beispiel sind dann in der mathematischen Behandlung C. @. J. Jacobi und G. Kirchhoff gefolgt; aber auch die Physiker haben während des 19. Jahrhunderts den Reibungserscheinungen nur geringes Interesse zugewandt. Bei den Mathematikern lag dies teils daran, dass für die Entwicklung der rationellen Mechanik die Mechanik des Himmels vor- bildlich wirkte, teils daran, dass auch schon bei einfachen Ansätzen

homogener Kugeln auf einer rauhen horizontalen Ebene. Auch zahlreiche Ab- handlungen Eulers beziehen sich auf die Reibung; siehe J. Hagen, Index operum Leonhardi Euleri, Berlin 1896, p. 43—45.

75) Paris M&m. de math. et de phys. pres. par div. sav. 10 (1786), p. 161; Preisaufgabe für 1781, auch selbständig erschienen: Theorie des machines simples, en ayant €egard au frottement de leurs parties et ä la roideur des cordages, Paris 1809, 2. &d. 1820. In neuester Zeit ist P. Painleve zu dem überraschenden Ergebnis gekommen, dass das Coulombsche und sogar allgemeiner jedes Reibungs- gesetz der Form

R= Nf{f(N,v)

zu logischen Widersprüchen führt. Es lassen sich nämlich Fälle angeben, bei denen mit dieser Annahme keine Bewegung verträglich ist oder wo zwei ver- schiedene Bewegungen in gleicher Weise stattfinden könnten; letzteres tritt zum Beispiel ein, wenn eine kreisförmige Scheibe, deren Schwerpunkt nicht in ihrem Mittelpunkte liegt, auf einer stark reibenden Unterlage rollt. Versuche von H. Chaumat, Paris C. R. 136 (1903), p. 1634, haben diese Schlüsse bestätigt und. gezeigt, dass Painleves Vorschlag Annahme verdient, die Reibung als die geo- metrische Differenz der wirklichen Reaktion und der Reaktion zu definieren, die stattfindet, wenn die Körper vollkommen glatt sind; bei dieser Annahme hängt die Reibung nicht nur von der Natur der Flächen ab, die sich berühren, sondern auch von der Verteilung der Drucke in den berührenden Körpern in der Nähe des Berührungspunktes. Vergl. P. Painleve, Paris U. R. 80 (1895), p. 596, 81 (1895), p. 112; Legons sur le frottement, Paris 1895; Paris C. R. 140 (1905), p. 702; 141 (1905), p. 401, 546; A. Mayer, Leipzig Ber. 1901, p. 235; L. Lecornu, Paris C. R. 140 (1905), p. 635, 847; M. de Sparre, Paris C. R. 141 (1905), p. 310; E. Daniele, Nuovo Cimento (5) 7 (1904), p. 109; (5) 9 (1905), p. 174, 266, 289; @. A. Maggi, Nuovo Cimento (5) 10 (1905), p. 240.

76) M&canique 2, p. 4, 154; einen Beitrag zur Ballistik enthält die aus dem Nachlass von $. D. Poisson herausgegebene Abhandlung J. &c. polyt. cah 21 (1832) Oeuvres 7, p. 603.

7. Punktsysteme: Die Differentialgleichungen der Bewegung. 473

für die Reibungskräfte die Durchführung der Integration in ge- schlossener Form, die man bis gegen das Ende des 19. Jahrhunderts immer anstrebte, sich als undurchführbar erwies; die Physiker aber verhielten sich, trotzdem Coulomb einen vielversprechenden Anfang ge- macht hatte, ablehnend, weil es sich bei der Reibung nicht um „reine“ Versuche handelt ’®). So ist die genauere Erforschung der Erscheinungen bei der Reibung schliesslich den Technikern zugefallen’”). Erst als die Erforschung der Reibungserscheinungen in der technischen Mechanik unumgänglich geworden war, hat man angefangen, die Reibung auch bei den mathematisch-physikalischen Untersuchungen in gebührender Weise zu berücksichtigen. Wie die Theorie des Kreisels von F\. Klein und A. Sommerfeld zeigt”), eröffnet sich hier für die Anwendung der Methoden der neueren Approximationsmathematik, die sich von der ausschliesslichen Herrschaft der „Integration in geschlossener Form“ frei gemacht hat und alle Hilfsmittel der Geometrie und Analysis heranzieht, ein höchst fruchtbares Gebiet, dessen Bearbeitung freilich nicht nur mathematische Geschicklichkeit, sondern ebenso Sinn für die physikalisch-technische Wirklichkeit verlangt; für diese Methoden vergl. III D 11 (K. Heun).

b) Systeme diskreter Punkte.

7. Die Differentialgleichungen der Bewegung. Bei Systemen von materiellen Punkten wiederholen sich die Betrachtungen der Nummern 3, 4, 5. Die Punkte des Systems können erstens im Raume frei beweglich sein und Kräfte auf einander ausüben, die von ihrer gegenseitigen Lage, ihren Geschwindigkeiten und der Zeit abhängen. Zweitens können zwischen den Punkten oder doch einem Teile der Punkte Bedingungen stattfinden, so dass Zwangsbewegungen eintreten. Es ist nicht möglich aufzuzählen, was alles an solchen Verbindungen

76*) Jedoch hat M. Brillouin, Paris C. R. 128 (1899), p. 354, Ann. chim. phys. (7) 16 (1899), p. 433 eine rein mechanische Theorie der Reibung auf- zustellen versucht. Er will alles auf die Einwirkung zentraler Kräfte zurück- führen, die allein Funktionen der gegenseitigen Entfernung je zweier Molekeln sind; bei dem relativen Gleiten zweier polierten festen Körper soll sich nämlich ein Teil der Arbeitsleistung in die lebendige Kraft oscillatorischer Bewegungen von Molekeln verwandeln, ähnlich wie man eine Magnetnadel durch Verrückung eines in der Hand gehaltenen Magneten in Schwingungen versetzen kann; vgl. auch A. Korn, Mechanische Theorie der Reibung, Berlin 1901.

77) Litteratur in IV 10 (K. Heun); hier sei nur verwiesen auf J. Perry, Ap- plied mechanies, New York 1898 und F. Masi, Le nuove vedute nelle ricerche teoriche ed sperimentali sull’ attrito, Bologna 1897.

78) Heft 3, Kapitel 7.

474 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

durch Stangen und Fäden, Ringe und Rollen und dergleichen die Phantasie der Mathematiker ersonnen hat, bis zur „Mechanik lebender Wesen“, in der man zum Beispiel punktförmige Affen an massen- losen Seilen klettern sieht”®). Zu den äusseren Kräften, die auf die Punkte des Systems wirken, treten dann Kräfte, die von der Reaktion der Verbindungen herrühren. Es ist üblich zu postulieren, dass für diese das Gesetz von der Gleichheit der Aktion und Reaktion gilt, und man hat bei dieser Auffassung die von der Reibung und dem Widerstande eines Mediums herrührenden Kräfte den äusseren Kräften zuzurechnen.

Handelt es sich um ein System von n Punkten P,(x,, Yw, 2.) mit den Massen m, («e=1,2,...,n), so wird der Bewegungszustand des Systems zur Zeit t charakterisiert durch die Angabe der Lage der Punkte des Systems zu dieser Zeit und der Geschwindigkeitsvektoren der Punkte, oder auch durch die Angabe der Konfiguration des Systems und der Impulsvektoren der Punkte.

Unter dem Gesamtimpulse des Systems versteht man einen Linien- tel®), dessen sechs Koordinaten die Summen der betreffenden Ko- ordinaten der sämtlichen als Linienteile aufgefassten Einzelimpulse sind: also:

Dmi,, Dmi,, DS mi,; m (y.b, oo 2 Va)» Sm, (0,8, a Kuda) md. TE Yaka)-

Im allgemeinen ist durch die Angabe der Konfiguration des Systems und der sechs Koordinaten des Gesamtimpulses der Bewegungszustand noch nicht vollständig bestimmt; wohl aber gilt das zum Beispiel für ein System von beliebig vielen, starr mit einander verbundenen Punkten, und es besitzt daher der Gesamtimpuls, als Linienteil aufgefasst, für die Mechanik des starren Körpers eine ähnliche Bedeutung wie der Impulsvektor für den einzelnen materiellen Punkt®!).

Im Falle äusserer Einwirkungen ändern sich die Einzelimpulse der Punkte eines Systems ebenso, wie das für den einzelnen Punkt dargelegt worden ist. Wirken etwa kontinuierliche Kräfte, (X, ,Y»Z,), so kann man sie als Linienteile auffassen und zu einem Linienteile vereinigen, dessen Koordinaten die Summen

79) A. Love, Mechanics; E. J. Routh, Dynamik; W. Walton, Problems; F. Kraft, Sammlung. Etwas ganz anderes ist die physiologische Mechanik, vgl. IV 8 (O0 Fischer).

80) IV 2, Nr. 8 (H. E. Timerding).

81) F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, p. 115.

7. Punktsysteme: Die Differentialgleichungen der Bewegung. 475

X=-$X, Y—=>T7, Zz=2Z, L = I (yZ.— 2% 2 M=2I(,X,— 3,2) N=N(2,Y,—y.X,)

werden. Man erbält so die Gleichungen:

dD'm &,— Xdt, daD m (2,8%. %2,) = Mdt, (A) dDmy. E52 Yat, dm (Yekı Fi: ZU) FR Lat, dD'm,:, = Zdt, dDm (I. Ya) = Nil,

die angeben, wie sich der Gesamtimpuls in dem Zeitelement dt ändert. Diese Gleichungen gelten zunächst nur für frei bewegliche Punkte; sie bleiben aber auch bei solchen holonomen Bewegungen bestehen, bei denen das Gesetz von der Gleichheit der Aktion und Reaktion erfüllt ist.

Wenn einzelne der Grössen X, Y, Z; L, M, N verschwinden, so erhält man aus den betreffenden Gleichungen (A) erste Integral- gleichungen, die sich als Verallgemeinerungen der in Nr.5 formu- lierten Sätze von der Erhaltung der Komponenten des Impulses und von der Erhaltung der Komponenten des Drehmomentes des Im- pulses bezeichnen lassen. Verschwinden X, Y, Z alle drei, so ge- statten die drei ersten Gleichungen von (A) alle eine weitere Inte- gration, und man gelangt zu dem Satze von der Erhaltung der Be- wegung des Schwerpunktes des Systems®?).. Verschwinden aber L, M, N alle drei, so gilt die Verallgemeinerung des Flächensatzes für jede durch den Anfangspunkt gelegte Ebene, und bei jeder bestimmten Bewegung des Systems giebt es unter diesen Ebenen eine, bei der die Konstante des Flächensatzes den grössten Wert annimmt. Diese Ebene heisst die invariable Ebene des Systems, sie steht senkrecht auf der konstanten Richtung des Gesamtimpulses; vgl. auch Nr. 10 dieses Artikels.

Zu diesen Integralgleichungen tritt in vielen Fällen der Satz von der Erhaltung der lebendigen Kraft hinzu, der, je nachdem man die Kräftefunktion U(...,2,9,2,...) oder auch die potentielle Energie V(...,2,y, 2...) einführt, die Form

T=-4 DImp?=U+h T+V/=h annimmt; h heisst die Konstante der lebendigen Kraft.

oder

82) Die Keime dieses Satzes finden sich schon bei @. Galilei und I. Newton, Prineipia, lib. 1, Prop. 64, aber in seiner allgemeinen Fassung hat ihn erst J. L. Lagrange ausgesprochen, Mecanique 2, sect. 3, $ 1.

476 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Die so gewonnenen Gleichungen ermöglichen es in vielen Fällen, die Diskussion der Bewegung des Systems vollständig durchzuführen, oder gestatten doch wichtige Schlüsse auf den Verlauf der Bewegung, die für die weiteren Untersuchungen die Grundlage abgeben. Im be- sonderen lässt sich der Satz von der Erhaltung der lebendigen Kraft ganz wie bei dem einzelnen Punkte zur Ermittlung von Grenzen be- nutzen, innerhalb deren die Bewegung des Systems sich vollziehen muss, und es ergiebt sich wie beim einzelnen Punkt (Nr. 5), dass eine Konfiguration des Systems, bei der die Kräftefunktion ein Maximum hat, eine Lage stabilen Gleichgewichtes ist.

Erst wenn man auf dem im Vorhergehenden angegebenen Wege nicht zum Ziele gelangt ist, wird man dazu schreiten müssen, die Differentialgleichungen der Bewegung selbst aufzustellen. Aus dem d’Alembertschen Prinzipe in der Lagrangeschen Form ergeben sich unter der Annahme von m holonomen oder nichtholonomen Bedingungs- gleichungen der Form:

=\ RE N WR BERATEN) EN GR Ds Be SA + hal 2 Yyr pda) = B=42...,m) die Differentialgleichungen der Bewegung: mi, X, + S,Aofap (B) mi Yo + ZgRz9apr m, 2, + Zphghep-

Hierin sind die LM Euler-Lagrangesche Multiplikatören, die den von den Bedingungen herrührenden Drucken proportional sind. Falls Bedingungsungleichheiten auftreten, bedarf es besonderer Unter- suchungen, vgl. die in Nr. 4 angeführte Litteratur.

In vielen Fällen ist es zweckmässig, an Stelle der cartesischen Koordinaten ... &,, Yas 2a .. Positionskoordinaten 9, 93 ---, Q, einzuführen. Die Gleichungen \|B) gehen alsdann in Differential- gleichungen für die q, über, die im Allgemeinen auch von der zweiten Ordnung sind. Diese Gleichungen hat man als die Lagrangeschen Differentialgleichungen im allgemeinsten Sinne des Wortes zu be- zeichnen. Sobald es gelingt, die q,,...,g, so zu wählen, dass gewisse der m Bedingungsgleichungen oder auch bei holonomen Systemen alle Bedingungsgleichungen identisch erfüllt sind, wenn gewissen Koordinaten konstante Werte beigelegt werden, so dient ein Teil der Lagrangeschen Differentialgleichungen zur Bestimmung der von den Bedingungen herrührenden Drucke (Reaktionen), während die übrigen

7. Punktsysteme: Die Differentialgleichungen der Bewegung. 477

Gleichungen die übrigen Koordinaten als Funktionen der Zeit definieren (vergl. Nr. 4 dieses Artikels).

Bei holonomen Bedingungsgleichungen, die auch die Zeit enthalten dürfen, ist es vielfach üblich, Positionskoordinaten q,, 95, .,q, genau in der Anzahl r der Grade der Freiheit einzuführen, die dem Systeme zukommen. Wird dann der Ausdruck der lebendigen Kraft

T= +3a,; 4,9; und der virtuellen Arbeit des Systems

$W = D0Q,5q, gebildet, so lauten die Lagrangeschen Differentialgleichungen für die Koordinaten 9, ., 9,: (L) . (4) m: En =Q, k=12,...,r). Diese Gleichungen (L) werden von der Jacobischen Schule als Lagrangesche Gleichungen zweiter Art bezeichnet. Die Bestimmung der Reaktionen muss bei Benutzung der Gleichungen (L) entweder direkt geschehen, oder sie ergiebt sich, nachdem die qg als Funktionen der Zeit ermittelt sind, durch Einsetzen dieser Ausdrücke in die Gleichungen (B)®).

Aus den Gleichungen (B) erhält man auch die Bedingungen für das Gleichgewicht. Bei holonomen Systemen empfiehlt es sich, zunächst die Gleichungen (A) anzusetzen, die zu den sechs notwendigen Bedingungen des Gleichgewichtes X = (),...,..., N = 0 führen; diese Gleichungen sagen aus, dass bei einer Lage des Gleichgewichtes die äusseren Kräfte ein System von Vektoren bilden, das äquivalent Null ist. Um zu hin- reichenden Bedingungen zu gelangen, denkt man sich das betrachtete System durch einen Schnitt in zwei Teilsysteme zerlegt, die dann auch im Gleichgewicht sein müssen. Die auf jedes der beiden Systeme wirkenden äusseren Kräfte genügen dann wiederum den sechs not- wendigen Bedingungen des Gleichgewichtes, wobei aber jetzt die äusseren Kräfte teils aus den auf das ganze System wirkenden äusseren Kräften, teils aus den Reaktionen vermöge der Bedingungen bestehen. Indem man solche Schnitte in hinreichender Zahl vornimmt, erhält man die Bedingungen für das Gleichgewicht. Es ist jedoch hervor- zuheben, dass die so gewonnenen Gleichungen in manchen Fällen

83) Für Aufgaben aus der technischen Mechanik ist die von den Mathe- matikern lange Zeit vernachlässigte Bestimmung dieser Drucke von entscheiden- der Wichtigkeit. Neuerdings hat K. Heun diese Probleme unter dem Namen der Kinetostatik zusammengefasst, Jahresbericht der D. M.-V. 9, Heft 2 (1900), p. 5.

478 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

nicht ausreichen, um die Reaktionen zu ermitteln; man spricht dann von statisch unbestimmten Systemen; vergl. Nr. 17 dieses Artikels sowie IV 5 (L. Henneberg).

Entsprechende Überlegungen gelten, wenn nicht kontinuierlich wirkende, sondern momentane Kräfte vorhanden sind; die ausführliche Behandlung findet man in Nr. 18 dieses Artikels.

8. Mechanische Ähnlichkeit. Schon Aristoteles hat in den „Mechanischen Problemen“ das Verhalten von geometrisch ähnlichen Körpern, nämlich Holzstäben, gegen Biegung betrachtet. Die Bruchfestig- keit geometrisch ähnlicher Zylinder untersuchte G. Galilei, der daran Spekulationen über die mögliche Grösse der Tiere knüpfte%). I. Newton ist dann zu dem Begriff der mechanischen Ähnlichkeit gelangt und hat ihn für die Bewegung von Körpern in Flüssigkeiten verwendet®); aber erst J. Bertrand hat 1847 das Prinzip der mechanischen Ähnlich- keit in voller Strenge und Allgemeinheit ausgesprochen®). Werden nämlich in den Differentialgleichungen der Bewegung

mi=X die Längen x, die Zeit t, die Kräfte X, die Massen m durch propor- tionale Grössen

zB=ar, ı=bi, N =cX, m=/fm

ersetzt, wo also a, b, c, f Konstanten bedeuten, so bleiben die Diffe- rentialgleichungen der Bewegung ungeändert, wenn nur zwischen den Konstanten die Relation

af = b!c besteht, sodass die Integration dieser Differentialgleichungen zugleich die Lösung des „ähnlichen“ Problems liefert. Zu beachten ist, dass man hierbei Länge, Zeit, Kraft, Masse alle vier als selbständige Grössen aufzufassen hat, also im besonderen nicht etwa die Kräfte als Funktionen der Koordinaten der bewegten Punkte ansehen darf.

Einen noch allgemeineren Ansatz zu einer rationellen Klassi- fikation geometrischer und mechanischer Grössen hat F. Klein an- gegeben. Als Hauptgruppe der Mechanik bezeichnet er die Gruppe, die entsteht, wenn zu der Hauptgruppe der räumlichen Aenderungen, also zu dem Inbegriff der Bewegungen, der Umlegungen und der Ähnlichkeitstransformationen noch die Gleichungen '

84) Discorsi, 1638, Ostwalds Klassiker Heft 11, p. 106—109.

85) Principia, 1687, liber II, sectio VII, propositio 32; vgl. auch Joh. Ber- noulli, Acta erud. Lips. 1713, p. 77 = Opera 1. p. 514 und E. Mach, Mechanik, p- 169.

86) Paris C R. 25 (1847). p. 163; J. &c. polyt. cah. 32 (1848), p. 189.

8. Punktsysteme: Mechanische Ähnlichkeit. 479

u=btl, X, =cX, m=fm hinzugenommen werden, und er schlägt vor, die mechanischen Grössen nach dem Verhalten einzuteilen, das sie gegenüber den Öperationen der Hauptgruppe zeigen ®).. Bei der mechanischen Aehnlichkeit hat man es also mit einer Untergruppe der Kleinschen Hauptgruppe zu tun.

J. Bertrand hat bereits auf die Wichtigkeit des Prinzips der mechanischen Aehnlichkeit für die Anfertigung von Maschinenmodellen hingewiesen®®). Freilich lässt sich bei solchen Modellen strenge mechanische Ähnlichkeit meist nicht praktisch durchführen; eine weitere Schwierigkeit beruht darauf, dass bei einem widerstehenden Medium eine plötzliche Änderung des Widerstandes eintritt, wenn sich die Geschwindigkeit des bewegten Körpers der Geschwindigkeit der Eigenschwingungen des Mediums, also etwa bei der Luft der Schallgeschwindigkeit nähert, sodass hier der absolute Wert der Ge- schwindigkeit von wesentlicher Bedeutung wird. Immerhin hat man damit in vielen Fällen ganz befriedigende Ergebnisse erzielt, zum Bei- spiel beim Schiffsbau, wo man Schleppversuche mit Paraffinmodellen anstellt®®). R. E. Froude hat hier folgende Regel gegeben: Wenn die linearen Dimensionen eines Schiffes a-mal so gross als die des Modells sind, die mittleren Dichtigkeiten dagegen gleich, und wenn w der bei der Geschwindigkeit v gemessene, dem Modell geleistete Widerstand ist, dann erfährt das Schiff bei der Geschwindigkeit vya ungefähr den Widerstand wa?.

Auch sonst hat das Prinzip der mechanischen Ähnlichkeit wieder-

87) F. Klein, Zeitschr. Math. Phys. 47 (1902), p. 239. In engem Zusammen- hange hiermit steht die Theorie der Dimensionen, die J. Fourier, Theorie ana- lytique de la chaleur, Paris 1822, $ 160 = Oeuvres 1, p. 137 entwickelt und S. D. Poisson in die Mechanik aufgenommen hat (M&canique 2. ed. 1833, 1, p. 23); vgl. auch für die physikalische Durchführung W. Voigt, Kompendium; F. Neesen, Ann. der Physik (2) 7 (1879), p. 329; und J. Pionchon, Introduction & l’etude des systemes de mesures usitees en physique, Bordeaux Me&m. (4) 2 (1891), p. 1—252, auch erschienen als selbständiges Werk, Paris 1901, sowie V1 (0. Runge).

88) Genaueres bei E. J. Routh, Dynamik 1, p. 327; A. Föppl, Dynamik, 1899, p. 321; P. Appell, M&canique 2, p. 532; H. Leaute, Cours &c. polyt. 1901/02.

89) W. H. White, Manual of nautical architecture, 3. ed., London 1894, deutsch von O. Schlick und A.van Hüllen: Handbuch für Schiffbau, Leipzig 1879; aber auch schon J. d’Alembert, Ch. Bossut et M. Condorcet, Nouvelles experiences sur la resistance des fluides, Paris 1777; vgl. auch J. Schütte, Jahrbuch der Schiff- bautechnischen Gesellschaft 2 (1901), p. 331: Untersuchungen über Hinterschiffs- formen, ausgeführt in der Schleppversuchstation des Norddeutschen Lloyd. Ge- naueres in IV 22 (A. Kriloff)

480 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

holt Anwendung gefunden®). Dass man dadurch aus der Lösung eines dynamischen Problems mit einem Schlage die Lösung einer ganzen Mannigfaltigkeit solcher Probleme gewinnt, ist eine Eigenschaft, die sich verallgemeinern lässt, indem man überhaupt die Frage nach der Äquivalenz dynamischer Bo stellt, das heisst die Frage, wann zwei solche Probleme bei Einführung geeigneter Veränderlichen auf dieselben Differentialgleichungen führen °!).

9. Kleine Schwingungen ohne Reibung. Wenn man ein System materieller Punkte, zwischen denen irgend welche Bedingungs- gleichungen bestehen, auf eine beliebige Art, aber hinreichend wenig aus einer Lage stabilen Gleichgewichtes entfernt und den Punkten hinreichend kleine, mit den Bedingungen verträgliche Geschwindig- keiten giebt, so bewegt sich das System in der Weise, dass seine Lage der stabilen Gleichgewichtslage stets benachbart bleibt und die Geschwindigkeiten der einzelnen Punkte immer kleine Werte behalten. Solche Bewegungen werden, insofern es sich um Näherüngsrechnungen handelt, als Aleine Schwingungen um die betreffende Gleichgewichtslage bezeichnet; es giebt jedoch auch Fälle, in denen die sogenannte Theorie der kleinen Schwingungen die genaue Darstellung der Bewegungen ergiebt (cycloidal systems bei Thomson und Tait). Ein einfaches Bei- spiel sind die von @. Galilei betrachteten kleinen Schwingungen eines Pendels, dessen Stange ein wenig aus der vertikalen Lage entfernt wird. Später haben die Beziehungen zur Elastizitätstheorie und im besonde- ren zur Akustik die Veranlassung zu der Ausbildung der Lehre von den kleinen Schwingungen durch D. Bernoulli”?) und J. L. Lagrange®?)

90) F. Savart, Annales de chimie 29 (1825); A. L. Cauchy, Paris Mem. 9 (1829), p. 117, vergl. W. Schell, Bewegung 2, p. 514; $. D. Poisson, M&canique, 2. ed. 1, 1833; E. Reech, Mecanique, 1852, p. 265; de Brettes, Paris C. R. 66 (1868), p. 657; 67 (1868), p. 896; 68 (1869), p. 1336; 69 (1869), p. 394, 1239; 70 (1870), p. 1400 (Anwendung auf Ballistik); W. Walton, Quart. J. of. math. 9 (1868), p. 179; (2) 17 (1868), p. 167; J. de Tilly, Brux. Bull. de l’Acad. (2) 36 (1878), p. 160; H. v. Helmholtz, Berlin Ber. 1873, p. 501 = Wiss. Abh. 1, p. 158 (lenk- bare Luftballons); Lord Rayleigh, Theory of sound 2, London 1878, p. 287; O. Reynolds, London Phil. Trans. 174 (1883) = Papers 2, p. 51; E. Jouguet, J. 6c. polyt. (2) cah. 10 (1905), p. 79; Paris C. R. 141 (1905), p. 346.

91) P. Stäckel, J. f. Math. 107 (1891), p. 328 sowie IV 11 (P. Stäckel).

92) Berlin M&m. annde 1753, p. 173.

93) Vielfach findet man die irrtümliche Behauptung, Lagrange habe die allgemeine Theorie der kleinen Schwingungen erst in der zweiten Ausgabe seiner Me&canique analytique 1 (1811), 2. partie, section VI gegeben. In Wahr- heit findet sie sich schon in den Miscellanea taurinensia 3 (1762—1765) = Oeuvres

p. 520 und auch in der ersten Auflage der M&canique (1788), p. 241—262; in der zweiten Ausgabe sind nur verschiedene Anwendungen hinzugekommen.

9. Punktsysteme: Kleine Schwingungen ohne Reibung. 481

gegeben. Im Laufe des 19. Jahrhunderts sind diese Untersuchungen nach verschiedenen Richtungen weitergeführt worden und haben in der Physik und in der Technik mannigfache Anwendung gefunden. Hier soll allein die allgemeine Theorie für den Fall, dass keine Rei- bungsglieder vorhanden sind, dargestellt werden; für den Fall der Reibung (gedämpfte Schwingungen) vgl. Nr. 20 dieses Artikels.

Als Näherung stellen sich die kleinen Schwingungen folgender- massen ein. Man betrachte ein holonomes System mit r Graden der Freiheit, die Bedingungen seien von der Zeit unabhängig, und es exi- stiere eine Kräftefunktion, die in der Lage stabilen Gleichgewichtes ein reguläres Maximum besitzt. Die r Positionskoordinaten des Systems q,, ..., q, mögen in der Gleichgewichtslage die Werte 4=0,..., q,=0 haben. Dann sind für die Anfangszeit {= 0 die Grössen q,, ---, 95 > ---, 9, Kleine Grössen erster Ordnung, und man darf sich unter der Annahme, dass für eine erste Näherung die Grössen dritter und höherer Ordnung keinen Einfiuss haben, in den Ausdrücken der lebendigen Kraft T und der Kräftefunktion U auf die Glieder niedrigster Dimension beschränken, sodass

r Ze 3 Aazdadr U= = S Buplap

wird; die A,,=4,. und B,,—= B,. sind Konstanten und die Aus- drücke T und U definite positive quadratische Formen der q, bezw. g, Bei diesem Ansatze verwandeln sich die r Lagrungeschen Differential- gleichungen

d ,eT oT U a (0) 00, 24. in ein System von r linearen Differentialgleichungen zweiter Ordnung mit konstanten Koeffizienten, nämlich:

(1) (Aurdet B,39«) Fe 0.

Nach einem Satze aus der Theorie der quadratischen Formen°*) lassen sich, sobald die Determinanten der Formen 7T und U von Null ver- schieden sind, was im Folgenden vorausgesetzt werden soll, r lineare

94) IB 2 Nr. 3 (F. W. Meyer); man vergleiche ferner für die Anwen- dungen: E. B. Christoffel, J. f. Math. 63 (1864), p. 273; K. Weierstrass, Berlin Ber. 1858, p. 207 = Werke 1, p. 233; C. Jordan, Paris C. R. 74 (1872) p. 1395; G. Darboux, Note VII seiner Ausgabe der M&canique analytique von Lagrange, Paris 1888; F. Pockels, Über. die partielle Differentialgleichung Au+k?u=0, Leipzig 1891, p. 44; E. J. Routh, Dynamik 2, Kap. 2 und 7; Lord Rayleigh, Theory of sound, 2. ed. 1, London 1894; E.- T. Whittaker, Dynamics, p. 173 und A. @. Webster, Dynamics, p. 572.

482 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Funktionen s,, ..., s, der q,,...., q, So bestimmen, dass gleichzeitig SA, 59045 _ 5, SI B,5004; = 0,35, wird. Die Grössen o,?,...., o,? sind die (reellen) Wurzeln der Gleichung DB OA, - () (e, p=12,..., r),

deren linke Seite als Lagrangesche Determinante bezeichnet wird *®); diese Wurzeln mögen alle von einander verschieden sein). Bei Ein- führung der Hauptkoordinaten s,”) treten an die Stelle der Glei- chungen (1) die einfachen Gleichungen:

(2) 5 + 04 5a FE 0; denen man durch 5. = 4, sin (0,2 + 6,)

genügt; W, ---, 4,5 64, ..., 6, sind die 2r Integrationskonstanten. Die allgemeine Schwingung des Systems ist daher das Ergebnis der

Superposition von r Hauptschwingungen (harmonischen Schwingungen) mit den Perioden n, er =.) Die Grösse dieser Perioden ist voo 1 T:

der Wahl der Anfangsbedingungen unabhängig; wenn diese geändert werden, ändern sich nur die Amplituden w,,..., u, und die Phasen 6,, -.-, 6, der Einzelschwingungen. Die Gesamtschwingung ist im allgemeinen nicht periodisch; soll sie es sein, so müssen die Ver- hältnisse der o,, ..., g, ganze Zahlen sein.

Erhebliche analytische Schwierigkeiten ergeben sich, wenn man

bei den Lagrangeschen Gleichungen auch die Glieder zweiter oder

94°) Für die Bezeichnung der Determinante vergl. IA 2, Nr. 15 (E. Netto).

94P) Lagrange hatte geglaubt, dass bei gleichen Wurzeln in den Integralen der Gleichungen (2) die Zeit ausserhalb der trigonometrischen Funktionen auf- treten müsse, sodass man keine Schwingungen erhält. Diesen Irrtum, in den auch P. $. Laplace.und D. $. Poisson verfallen waren, hat Weierstrass (in der Anmerkung 94 angeführten Abhandlung) aufgedeckt; später hat unabhängig von ihm E. J. Routh (Stability of motion, Smith price paper, Cambridge 1877) die- selbe Entdeckung gemacht. Das Auftreten gleicher Wurzeln bewirkt nur, dass die Perioden der entsprechenden Hauptschwingungen einander gleich werden; Systeme, bei denen alle Hauptschwingungen dieselbe Periode haben, hat Lord Rayleigh, Phil. Mag. (5) 46 (1898), p. 567 isoperiodische Systeme genannt.

95) Der Sache nach hat schon Lagrange die Hauptkoordinaten; sie heissen auch harmonische, einfache, normale Koordinaten.

96) Das Prinzip der Superposition der Schwingungen verdankt man Daniel Bernoulli, Berlin Mem. annde 1753, p. 173: in jedem System sind die gegen- seitigen Bewegungen der Körper immer eine Mischung von einfachen, regel- mässigen und permanenten Schwingungen verschiedener Arten ;vgl.auch D. Bernoulli, Petersburg Nov. Comment. 19 ad annum 1775, p. 239.

9. Punktsysteme: Kleine Schwingungen ohne Reibung. 483

höherer Ordnung berücksichtigen will; hierfür möge auf IV 12, (P. Stäckel) verwiesen werden.

Neben den freien Schwingungen hat man erzwungene Schwingungen betrachtet”). Wenn zu den Kräften, die von der Kräftefunktion U her- rühren, noch periodisch wirkende „störende“ Kräfte hinzukommen, die man in erster Näherung proportional trigonometrischen Funktionen linearer Funktionen der Zeit annimmt, so lauten bei Benutzung von Hauptkoordinaten die Differentialgleichungen der Bewegung:

(3) (7 E 02a IA cos (a,t r P,);

und zu den vorher für die Hauptkoordinaten gefundenen Ausdrücken treten noch Glieder der Gestalt hinzu: 4m) FE sin (a,t + p,).

Sie ergeben Bewegungen, die man als erzwungene Schwingungen bezeichnet. Diese Schwingungen haben dieselbe Periode wie die störenden Kräfte, und ihre Amplituden sind ebenfalls von der Wahl der Anfangsbedingungen unabhängig”); je nachdem das Vorzeichen von 0, a,? positiv oder negativ ausfällt, ist die Phase der er- zwungenen Schwingungen dieselbe wie die der störenden Kräfte oder um 180° verschoben (Youngsche Gesetz). Nähert sich a, dem Werte e,, d. h. nähert sich die Periode einer der störenden Kräfte der Periode einer der Hauptschwingungen, so wird die Amplitude einer der hinzutretenden erzwungenen Schwingungen sehr gross. Was dann in Wirklichkeit eintritt, bleibt zweifelhatt, weil die Voraussetzung des ganzen Ansatzes, dass die Schwingungen sehr klein sein sollen, nicht mehr erfüllt ist; man wird daher die Untersuchung von vorn anzufangen haben®®). Die Erfahrung zeigt,

97) Der Sache nach hat die Unterscheidung von freien und erzwungenen Schwingungen schon Th. Youny, Course of a natural and experimental philo- sophy, London 1802. Die Namen rühren nach E. J. Routh, Dynamik 2, p. 245 von @. B. Airy her (Tides and waves, London 1842, p. 278).

98) Theorem von F. W. Herschel, Artikel: On sound in der Encyclopaedia metropolitana, London 1830.

98*) Wenn man in den Differentialgleichungen (3) a,—=e, setzt, so lässt sich die Integration ausführen, und man erhält als Zusatzglied statt des im Texte angegebenen Ausdruckes:

an Pag >} so dass also die Zeit ausserhalb der trigonometrischen Funktion auftritt. Man darf jedoch nicht hieraus ohne weiteres Folgerungen auf die in Wirklichkeit stattfindende Bewegung ziehen. Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1, ı. 32

484 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

dass in manchen Fällen eine kleine störende Kraft, die annähernd die Periode einer freien Schwingung des Systems hat, beträchtliche Abweichungen von der Gleichgewichtslage hervorrufen kann. Bekannt sind die Erscheinungen der Resonanz in der Akustik. Ferner ver- meidet man es, Truppen, die über eine Brücke gehen, in gleichem Tritt marschieren zu lassen. Eine Anwendung auf die Bewegung einer Lokomotive gab F. Redtenbacher (Gesetze des Lokomotivbaus, Mannheim 1855). Indem er voraussetzte, es sei gestattet, allein die relative Bewegung zwischen dem Radrahmen und dem Kessel der Lokomotive in Betracht zu ziehen, kam er zu dem Schluss, dass die Geschwindigkeit der Lokomotive stets unterhalb sechs bestimmten kritischen Geschwindigkeiten bleiben müsse; vgl. indessen K. Heun, Kinetische Probleme der wissenschaftlichen Technik, Jahresber. d. D. M.-V. 9, Heft 2 (1900), p. 82.

In ähnlicher Weise wie freie oder erzwungene Schwingungen um einen stabilen Gleichgewichtszustand, kann man auch freie oder er- zwungene Schwingungen um gewisse Bewegungen eines Systems untersuchen, die man auch stabil genannt hat). Das älteste Bei- spiel hierfür sind wohl die Störungsrechnungen der Astronomen, bei denen die Bahn des gestörten Planeten als eine erzwungene Schwingung um eine Bewegung in einer Keplerschen Ellipse angesehen wird.

Kennt man von den Lagrangeschen Gleichungen eine partikuläre Lösung q,=f,(t), so kann man setzen:

u—fl)+

und erhält für die r Grössen e, eben so viele Gleichungen der Form

d 7 oT,

2) 5 Bas in denen 7, einen Ausdruck derselben Form wie 7 bezeichnet. Unter der Annahme, dass die e, und &, stets klein bleiben, einer Annahme, deren Berechtigung freilich in jedem besonderen Falle erst nachge- wiesen werden muss, ergeben sich für die Schwingungen um die Be- wegung q,—=f,(t) Gleichungen der Gestalt (1), bei denen jedoch die Koeffizienten A,, und B,, Funktionen der Zeit werden; entsprechend gestaltet sich die Untersuchung bei erzwungenen Schwingungen. Ge- naueres hierüber wie über die Lehre von den gestörten Bewegungen findet man in IV 12 (P. Stäckel).

99) Über den Begriff der Stabilität der Bewegung vgl. W. Thomson und P. @. Tait, Handbuch 1, p. 317; E. J. Routh, On stability of motion, Cambridge 1877, F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, Heft 2, Leipzig 1898, Kap. 5; T. Levi-Civita, Ann. di mat. (3) 5 (1901), p. 221.

10. Punktsysteme: Relative Bewegung. 485

Zum Schluss sei noch für die ganze Nummer auf den Bericht von H. Burkhardt über Entwicklungen nach oscillierenden Funktionen verwiesen, der als 10. Band des Jahresberichtes der Deutschen Mathematiker-Vereinigung seit 1901 erscheint, aber zur Zeit nicht abgeschlossen ist.

10. Relative Bewegung. Der Begriff der relativen Bewegung '®) tritt schon bei Erscheinungen auf, die sich auf der als ruhend ge- dachten Erdoberfläche abspielen; so bei den Vorgängen auf Fahr- zeugen und Schiffen, wo man von einer „scheinbaren Schwere“ ge- sprochen hat!%). Prinzipielle Wichtigkeit gewann dieser Begriff aber, seit N. Kopernikus die fortschreitende und drehende Bewegung der Erde erkannt hatte; gerade die in dem Begriff der relativen Bewegung steckenden Schwierigkeiten haben die Haupteinwände gegen die Koper- nikanische Lehre geliefert !°®). Bei den meisten Problemen der irdischen Mechanik darf man freilich wegen der beschränkten Genauigkeit von der Bewegung der Erde absehen; allein es muss doch nachgewiesen werden, dass und warum man dazu berechtigt ist, und ausserdem giebt es sehr wohl Fälle, in denen man die Bewegung der Erde berücksichtigen muss. Hierzu gehört z.B. die vielfach behandelte Frage nach der Bahn des Schwerpunktes eines aus geringer Höhe zur Erde fallenden Körpers. Schon I. Newton hatte 1679 Versuche hierüber veranlasst, und während des 18. und 19. Jahrhunderts hat dieser Gegenstand immer wieder die Aufmerksamkeit auf sich gezogen !"). Die Theorie !%) lässt nämlich auf der nördlichen Halbkugel eine östliche Abweichung von der Lotlinie und daneben eine ausserordentlich kleine südliche Abweichung erwarten. Trotzdem haben sorgfältige Beobachter immer wieder südliche Abweichungen von geringem, aber merklichem Betrage

100) Vgl. IV 1, Nr. 18 bis 17 (A. Voss).

101) E. Guyou, Theorie du navire, Paris 1887, 2. ed. 1894 und sonstige Veröffentlichungen. Vgl. auch H. Lorenz, Mechanik, 3. Kap.

102) N. Kopernikus, De revolutionibus, Nürnberg 1543, lib. I, cap. 5; siehe auch @. Galileis Schriften.

103) G. B. Guglielmini, De diurno terrae motu experimentis physico-mathe- maticis confirmato, Bologna 1792; J. Fr. Benzenberg, Versuche über die Gesetze des Falles, Dortmund 1804 (mit einem Beitrag von ©. F. Gauss, Werke 5, p. 495); Versuche über die Umdrehung der Erde, Düsseldorf 1845; A. Tadini, Quotidiana terrae conversio, Mailand 1815; F‘. Reich, Fallversuche über die Umdrehung der Erde, Freiberg 1832; Ann. Phys. (1) 29 (1833), p. 494. Weitere Litteratur bei H. Bertram, Programm Berlin 1869; @. Pesci, Sulla deviazione meridionale dei gravi, Livorno 1887 und F. Rosenberger, Geschichte der Physik 3, Braunschweig 1887, p. 96, 432; vgl. auch IV 7 (Ph. Furtwängler).

104) $. D. Poisson, J. &c. polyt. cah. 26 (1838), p. 15.

32*

486 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

gefunden !®); ob sich diese nach A. Föppl!%®) durch „Geschwindigkeits- kräfte“, d. h. durch Kräfte erklären lassen, die von der Geschwindig- keit der Erde gegen das Inertialsystem abhängen, oder ob Beobach- tungsfehler vorliegen, wird abzuwarten sein.

Nachdem Chr. Huygens mit der Einführung der Zentrifugalkraft bei kreisförmiger Bahn eines Punktes, I. Newton bei beliebiger Bahn vorangegangen waren, erfuhr die Lehre von der relativen Bewegung eine methodische Ausgestaltung durch A. COlairaut (1742) 1), dessen Abhandlung jedoch in Vergessenheit geriet. Erst 1831 hat dann G. Coriolis diese Untersuchungen wieder aufgenommen und weiter- geführt 1%),

Auf das im Raume feste Koordinatensystem (Inertialsystem) der £, n, & bezieht sich die absolute, auf das im Raume bewegliche Koor- dinatensystem der x, y, 2 die relative Bewegung eines Punktes oder eines Systems von Punkten. Dann ist die absolute Geschwindigkeit eines Punktes die Resultante aus der relativen Geschwindigkeit und der Fortführungsgeschwindigkeit, d. h. der Geschwindigkeit, die er- halten würde, wenn man sich den Punkt mit dem beweglichen Koordi- natensysteme fest verbunden denkt. Dagegen ist die absolute Be- schleunigung die Resultante aus der relativen Beschleunigung, der Fortführungsbeschleunigung und einer „komplementären Beschleuni- gung“. Die Richtung dieser komplementären Beschleunigung steht senkrecht auf der relativen Geschwindigkeit und auf der instantanen Axe der Drehung des beweglichen Koordinatensystems gegen das feste, der Sinn ist der Drehungsrichtung entgegengesetzt, und ihre Grösse ist das doppelte Produkt aus der Winkelgeschwindigkeit dieser Drehung und der Projektion der relativen Geschwindigkeit auf eine zu der instantanen Axe senkrechte Ebene; die komplementäre Be- schleunigung ist also das doppelte Vektorprodukt aus der Relativ- geschwindigkeit und der Winkelgeschwindigkeit. Anders ausgedrückt: trägt man den Vektor der relativen Geschwindigkeit von einem Punkte der instantanen Axe aus ab, so ist die komplementäre Beschleunigung

105) So neuerdings E. H. Hall, Phys. Review 17 (1903), p. 179, 245; Am. Acad. Proc. 29 (1904), p. 329; bei einer Fallhöhe von 23 m beträgt die südliche Abweichung 0,005 cm, während der wahrscheinliche Fehler ebenso gross war.

106) München Ber. 44 (1904), p. 390.

107) Paris M&m. annde 1742, p. 1. Clairauts allgemeine Ausführungen sind stellenweise zu beanstanden, aber die Aufgaben, die er behandelt, sind richtig gelöst; er verwendet dabei die Kraft, die man später als „Coriolissche Kraft“ bezeichnet hat. Vgl. J. Bertrand, J. de math. (1) 24 (1847), p. 1.

108) Paris M&m. sav. 6tr. 3 (1832); J. 6c. polyt. cah. 21 (1832), p. 260; cah. 24 (1835), p. 142; vgl. auch J. Bertrand, J. €c. polyt. cah. 32 (1848), p. 149.

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10. Punktsysteme: Relative Bewegung. 487

die doppelte Geschwindigkeit, mit der der Endpunkt dieses Vektors um die instantane Axe rotiert. Die der komplementären Beschleunigung entsprechende Kraft hat man Coriolissche Kraft genannt; Coriolis selbst bezeichnet sie ihrer geometrisch-mechanischen Bedeutung wegen als „force centrifuge composee“ 109).

Besteht die relative Bewegung in einer Translation gegen das Inertialsystem, so besitzt ein im Raume fester Punkt, von dem be- wegten Punkte aus beobachtet, eine relative Geschwindigkeit und eine relative Beschleunigung, die der absoluten Geschwindigkeit und der absoluten Beschleunigung der Translation entgegengesetzt gleich sind. Ist die relative Bewegung überdies gleichförmig, so behalten die Diffe- rentialgleichungen der Bewegung die Form, die sie bei dem Inertial- system hatten.

Besteht die relative Bewegung in einer gleichförmigen Rotation um die $-Axe mit der Winkelgeschwindigkeit w, und enthält die &Axe die zAxe in sich, so ergeben sich für den Punkt x, y, 2 als die Komponenten der relativen Beschleunigung &, y, Z, der Fortführungsbeschleunigung w®x, w?y, 0, der komplementären Beschleunigung 2wY, +2wä, 0, also als die Komponenten der ab- soluten Beschleunigung & w?z 2wy, y —w?’y +2wä, 2. Hieraus ergiebt sich, dass auf der Erde bei einer relativen Geschwindigkeit von 10 m in der Sekunde senkrecht zur Erdaxe die Coriolissche Kraft rund Y,ooo des Gewichtes beträgt, dass diese also unter gewöhnlichen Umständen unmerklich ist!!%), Wohl aber scheint sie sich bei den Flüssen bemerkbar zu machen; viele Flüsse der nördlichen Halbkugel (Gironde, Oder, Weichsel, Niemen, Donau, Wolga, Ganges u. s. w.) verlegen ihren Unterlauf nach rechts, ihr rechtes Ufer ist von Hügel- reihen begrenzt, während das linke von einem ziemlich breiten Streifen flachen Landes umgeben ist (Baersches Gesetz) !!!).

Um allgemein die Bewegung eines materiellen Punktes oder eines Systems solcher Punkte in Bezug auf das bewegliche Koordinaten- system zu bestimmen, hat man den eingeprägten Kräften Trägheitskräfte hinzuzufügen, die den Produkten der Massen in die Fortführungsbe-

109) Über die Methoden der Herleitung, die in gewissem Sinne in die Kine- mıatik gehören, vgl. IV 3, Nr. 26 (A. Schoenflies und M. Grübler).

110) A. Föppl, Dynamik, 1. Aufl., p. 274.

111) K. E.v. Baer, St. Petersbourg Bull. del’Acad. 2 (1860), 7 (1864), 21 (1876). Vergl. dazu N. Braschmann, Paris C. R. 53 (1861), p. 1068; B. Hoffmann, Das Baersche Gesetz, Halle 1878; A. Sprung, Ann. d. Phys. (2) 14 (1881), p. 128; F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, p. 184; $. Günther, Handb. d Geophysik, Stuttgart 1897.

488 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

schleunigungen bezw. in die komplementären Beschleunigungen ent- gegengesetzt gleich sind!'”). Es kann sich ereignen, dass die so ge- wonnenen Kräfte vermöge der Bedingungen des Systems im Gleich- gewicht stehen, und man gelangt so zu dem Begriff des relativen Gleichgewichtes‘'®). Besteht z. B. die Bewegung des Systems der x, y, 2 wie vorhin in einer Drehung um die $-Axe mit der unveränderlichen Winkelgeschwindigkeit w, und wirken auf den Punkt x, y, z der Masse m die Kräfte X, Y, Z, so herrscht relatives Gleichgewicht, wenn die Be- dingungen X+tmwz=0, Y+mwy=0, Z=0 erfüllt sind. Die für die Diskussion der Differentialgleichungen der Bewegung so wichtigen Prinzipe: der Schwerpunktssatz, der Flächensatz, der Satz von der lebendigen Kraft verlieren im allgemeinen ihre Gültig- keit bei der relativen Bewegung. Sie bleiben jedoch bestehen, wenn die beweglichen Axen gegen die festen eine gleichförmige Translation ausführen, und sie gelten ebenfalls, abgesehen vom Schwerpunktssatze, wenn der Anfangspunkt der beweglichen Axen der Schwerpunkt des Systems ist und die Axen irgend eine Translation ausführen. Aus diesem Grunde lässt sich der Flächensatz auf das Sonnensystem bei einem Koordinatensysteme anwenden, dessen Anfangspunkt der Schwer- punkt des Sonnensystems ist, und man gelangt so zu dem Begriffe der invariablen Ebene des Sonnensystems, den P. S. Laplace eingeführt und L. Poinsot verschärft hat!!). Bei der Erörterung der lebendigen Kraft gelangt man zu dem Satze von S. König‘), nach dem die lebendige Kraft eines Systems gleich ist der lebendigen Kraft der im Schwerpunkte konzentrierten Gesamtmasse vermehrt um die lebendige Kraft für die relative Bewegung um den Schwerpunkt. Für beliebige relative Be- wegung hat @. Coriolis ein modifiziertes Prinzip der lebendigen Kraft aufgestellt, von dem er sogleich wichtige Anwendungen auf Probleme der technischen Mechanik machte. Bildet man nämlich den Ausdruck der lebendigen Kraft, indem man die relativen Geschwindigkeiten be- nutzt, so ist ihr Differential gleich der elementaren Arbeit der wirken-

112) Diese Kräfte werden häufig als „fingierte Kräfte“ bezeichnet. Auf die prinzipiellen Fragen, die sich daran knüpfen (H. Hertz, Mechanik, p. 7; L. Boltz- mann, Prinzipe 1, p. 45), kann hier nicht eingegangen werden.

113) T. Levi-Civita, Meccanica, p. 177.

114) Note zur 5. Ausgabe der Elömens de statique, Paris 1830.

115) Acta erud. Lips. 1751: De universali principio aequilibrii et motus in vi viva reperto, deque nexu inter vim vivam et actionem. Vergl. J. H. Graf, Der Mathematiker Johann Samuel König und das Prinzip der kleinsten Aktion, Bern 1889.

11. Punktdynamik und Gleichgewichtsgestalt der Fäden. 489

den Kräfte, vermehrt um die elementare Arbeit von Kräften, die den Kräften entgegengesetzt gleich sind, die auf das System wirken müssen, um es zu zwingen, sich so zu bewegen, als ob es mit den beweg- lichen Axen fest verbunden wäre; dabei fallen die Coriolisschen Kräfte ganz heraus ''P),

c) Beziehungen zu Nachbargebieten.

ll. Beziehungen zur Lehre von der Gleichgewichtsgestalt der Fäden. Nachdem Joh. Bernoulli gelehrt hatte, dass man die kürzeste Linie zwischen zwei Punkten einer krummen Fläche erhalte, indem man zwischen ihnen einen Faden ausspanne, und nachdem von L. Euler die kürzesten Linien als die Trägheitsbahnen eines auf der Fläche beweglichen Punktes erkannt worden waren!!”), hat ©. Maclaurin die Beziehung zwischen den Gleichgewichtsgestalten von Fäden und den Bahnkurven von Punkten genauer untersucht!!?). Im 19. Jahrhundert beschäftigte sich besonders A. F. Möbius mit diesem Gegenstande "?) und entwickelte die folgenden beiden Analogien:

Die Masse des Fadenelementes ds sei dm, die zugehörige spezi- fische (auf die Längeneinheit bezogene) Kraft % und die in dm statt- findende Spannung %. Dann lautet die Gleichgewichtsbedingung in der Sprache der Vektorrechnung:

(a) dT + Gdam=d. Betrachtet man andrerseits die Fadenkurve als Bahn eines Punktes der Masse u, auf den die Kraft & wirkt, so gilt die Vektorgleichung: (b) d(uv) Gat—=0. Ist der Faden homogen, so ist dm proportional dem Linienelemente ds der Fadenkurve, und daher wird, wenn der Punkt diese durchläuft, dm proportional dem Produkte vdt.

Aus der Vergleichung von \a) und (b) folgt jetzt:

1. Sind die Kräfte 5%, welche auf einen homogenen Faden seiner ganzen Länge nach wirken, im Gleichgewichte, so wird ein materieller

116) Vgl. auch E. Lottner, J. f. Math. 54 (1857), p. 197; E. Bour, J. de math. (2) 8 (1863), p. 8; C. Neumann, Math. Ann. 1 (1869), p. 195; P. Glbert, - Bruxelles Ann. Soc. scient. 3 A. (1879), p. 58, 70, 80, 4. A. (1880), p.53; E. Padova, Ann. d. mat. (2) 12 (1884), p. 265; A. Astor, Bull. sciences math. (2) 15 (1891), p. 255; A. Legoux, Toulouse Ann. de la fac. 8 (1894); A. S. Chessin, Am. Math. Soc. Trans. 1 (1900), p. 116.

117) Joh. Bernoulli, Acta erud. Lips. 1698, p. 466 = Opera 1, p.262; L. Euler, Mechanica, 1736, 2; vgl. auch P. Stäckel, Leipzig Ber. 44 (1893), p. 444.

118) A complete system of fluxions, Edinburgb 1742.

119) Lehrbuch der Statik, Leipzig 1837, 2, Kapitel 7 = Werke3, p. 429.

490 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Punkt, der sich in der Fadenkurve zu bewegen anfängt, darin fort- gehen, und seine Geschwindigkeit d wird an jeder Stelle der Spannung T proportional sein, wenn auf ihn nach einer der Kraft am Faden ent- gegengesetzten Richtung eine beschleunigende Kraft & wirkt, die dem (skalaren) Produkte aus dieser Kraft % und der Spannung X proportional ist, und umgekehrt.

2. Aus jeder Bewegung eines durch eine beschleunigende Kraft & getriebenen Punktes kann man das Gleichgewicht an einem, im all- gemeineı nicht homogenen Faden ableiten, indem man die Bahn des Punktes eine Fadenkurve sein lässt, die Masse dm jedes Fadenteils der Zeit, in der er vom Punkte durchlaufen wird, proportional annimmt und auf jeden Punkt des Fadens eine Kraft % wirken lässt, die der be- schleunigenden Kraft & des Punktes proportional, aber entgegengesetzt gerichtet ist; dabei steht die Spannung © des Fadens in konstantem Verhältnisse zu der Geschwindigkeit vd des Körpers und umgekehrt.

Diese zweite Analogie von Möbius hat J. Petersen auf Systeme von Fäden verallgemeinert und so aus dem Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten, angewandt auf das Gleichgewicht von Fäden, für Punktbewegungen das Prinzip der kleinsten Aktion und das Hamsdl- tonsche Prinzip hergeleitet !?°).

Weitere Untersuchungen über Analogien zwischen Gleichgewichts- gestalten von Fäden und Bahnen von Punkten haben nach geometrisch- mechanischer Richtung besonders 0. Bonnet'?!) und P. Serret'”®), nach analytischer (Zusammenhang mit der Variation von Integralen, vgl. auch Nr. 12 dieses Artikels) besonders A. Clebsch'®) und P. Appell '*) angestellt.

12. Beziehungen zur Optik. Wenn in einem Medium von ver- änderlicher optischer Dichtigkeit der absolute Brechungsindex n eine

120) Dynamik, p. 83; vgl. auch A. F. Möbius, Werke 3, p. 441.

121) J. de math. (1) 9 (1844), p. 217.

122) Theorie nouvelle g&omätrique et mecanique des courbes de double courbure, Paris 1860; vergl. R. Townsend, Quart. J. of math. 13 (1874), p. 217; O. Staude, Leipzig Ber. 1886, p. 199.

123) J. f. Math. 57 (1860), p. 93.

124) Paris C. R. 96 (1883), p. 688, Toulouse Ann. de la fac. 1 (1887), Bull. soc. math. de France 19 (1891), p. 97; M&canique 1, p. 201, 578; vgl. auch D. Padeletti, Giorn. di mat. 14 (1876), p. 14; @. Kainz, Programm Münnerstadt 1885; A. Legoux, Toulouse M&m. (8) 7* (1885), p. 159; H. Andoyer, Paris ©. R. 100 (1885), p. 1577; R. Marcolongo, Napoli Acc. Rend. (2) 2 (1888), p. 363; G. Pennacchietti, Palermo Circ. mat. Rend. 6 (1892), p. 14, 26; Catania Acc. Gioenia Atti (4) 8, 4 (1892); C. A. Laisant, Nouv. ann. (4) 2 (1902), p. 343; A. Guldberg, Christiania Vidensk. Selsk. Skr. 1902, Nr. 9.

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12. Punktdynamik und Optik. 491

abteilungsweise stetige Funktion des Ortes n (x, y, 2) ist, so beschreibt ein in dem Medium von dem Punkte A nach dem Punkte B gehender Liehtstrahl gemäss dem Snellius-Descartesschen Brechungsgesetze eine solche Bahn, dass das von A nach B erstreckte Linienintegral (B)

(A) J— [nds,.

(4) in dem ds das Linienelement der Bahn bedeutet, ein Minimum wird. Hieraus ergeben sich, wenn n(x,y,z) stetig ist, nach den Regeln der Variationsrechnung für die Bahn die Differentialgleichungen:

e-i=0 2) ea) 2er

aus denen x, y, z als Funktionen von s zu bestimmen sind; ist die Funktion n(z, y, 2) abteilungsweise stetig, so erhält man für jedes Intervall ein System solcher Gleichungen, und der Uebergang von dem einen zum andern wird immer durch das Brechungsgesetz ver- mittelt.

Bei der Emissionshypothese ist n proportional der Lichtgeschwin- digkeit v an der betreffenden Stelle, und das Lichtteilchen bewegt sich daher in der Bahn, die ihm durch das Prinzip der kleinsten Wirkung vorgeschrieben wird, nämlich so, dass das von A nach B erstreckte Linienintegral

B) (3) ur vds (4) ein Minimum wird!®). P. S. Laplace hat versucht, diesen Ansatz auf die Doppelbrechung zu erweitern, indem er

v”—=a-+ bcoso setzte, wo » den Winkel des Lichtstrahles mit der optischen Axe bezeichnet!?); hiergegen hat jedoch C. F. Gauss eingewandt, dass bei

125) Dies hat schon M. de Maupertuis hervorgehoben, Berlin M&m. annee 1745, p. 276; die Widersprüche, die E. Mach, Mechanik, p. 394 bei Maupertuis tindet, erklären sich daraus, dass dieser die Emissionshypothese und nicht, wie Mach irrtümlich annimmt, die Undulationshypothese zugrunde legt. Noch 1833 vertritt $. D. Poisson in seiner M&canique 2. €d. 1, p. 301 die Emissionshypothese; vgl. auch F‘. Rosenberger, Geschichte der Physik, 3, Braunschweig 1887, p. 188 und H. Burkhardt, Bericht, p. 537, 563.

126) Paris M&m. (1) 10 (1810) = Oeuvres 12, p. 267.

492 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

der Anwendung des Prinzipes der kleinsten Aktion die Gültigkeit des Satzes von der Erhaltung der lebendigen Kraft vorausgesetzt werde, während dies hier nicht zutreffe?”).

Bei der Undulationshypothese ist n umgekehrt proportional der Lichtgeschwindigkeit v an der betreffenden Stelle, und man wird so

auf das Integral (B)

(4) = ® (4) geführt, das wegen v—=ds/dt mit dem Prinzip der schnellsten Ankunft von P. Fermat'?®) gleichbedeutend ist. Die hierin liegende Analogie veranlasste Joh. Bernoulli bei dem Problem der Brachistochrone die Fall- bewegung durch eine Lichtbewegung zu ersetzen!”), die in einem horizontal geschichteten Medium vor sich geht, dessen optische Dich- tigkeit sich stetig ändert und zwar so, dass die Lichtgeschwindigkeit in der Tiefe A unter dem Anfangspunkte A proportional Y2yh ist. Dieser Ansatz führt vermöge des Brechungsgesetzes sofort zur Diffe- rentialgleichung der Zykloide; er ist aber, wie schon Joh. Bernoulli bemerkt hat, ebenfalls anwendbar, wenn anstatt der Schwere irgend eine beschleunigende Kraft wirkt, für die der Satz von der Erhaltung der lebendigen Kraft gilt. Ist also

v=Uay2)+C, n=]1 :VY2(U +6)

zu setzen. Auch der Fall, dass die Brachistochrone auf einer ge- gebenen Fläche f(x, y, z) = 0 liegen soll, lässt sich auf diese Weise erledigen, denn diese Nebenbedingung bewirkt nur, dass in den Glei-

or ,0f ;00 chungen (2) auf den rechten Seiten noch die Glieder A Era Dy’ Lern

hinzutreten, wo A den Euler-Lagrangeschen Multiplikator berechne aus diesen Gleichungen in Verbindung mit f(z, y, z) = 0 ist die Bi auf der Fläche zu bestimmen.

Die durch die Gleichungen (2) definierten Kurven treten auch bei der Frage nach der Gleichgewichtsgestalt von Fäden auf, nämlich

so hat man

127) J. f. Math. 4 (1829) = Werke 5, p. 25.

128) P. Fermat, Varia opera, Toulouse 1779, p. 156 = Oeuvres 1, p. 175, 3, p. 153; Epistolae Renati Cartesii, 3 (1692), p. 128, 151; @. W. Leibniz, Acta erud. Lips. 1692, p. 185; Chr. Huygens, Traite de la lumiere, Paris 1690.

129) Acta erud. Mai 1697 —= Opera 1, p. 187, deutsch in Ostwalds Klassikern, Heft 46, wo man auch weitere geschichtliche Bemerkungen findet; vgl. auch C. @. Gerhard, Geschichte der Mathematik in Deutschland, München 1877 und E. Mach, Mechanik, 3. Kapitel $ 8, 4. Kapitel $ 1.

13. Der einzelne Punkt: Freie Bewegung in der Ebene und im Raume. 493

wenn ein Faden unter dem Einfluss einer Kraft, die von einer Kräfte- funktion » (x, y, 2) herrührt, in Gleichgewicht sein und die Spannung den Wert n(z, y, z) haben soll"?).

Die Kurven (2) sind der Gegenstand vieler Untersuchungen ge- wesen'?!). Hervorgehoben zu werden verdient eine von W. Thomson und P. @. Tait entdeckte Eigenschaft'??), die sich als Verallgemeine- rung eines berühmten Satzes von Ü. F. Gauss über geodätische Linien krummer Flächen auffassen lässt. Betrachtet man nämlich bei ge- gebenem n(x, y, 2) die Gesamtheit der Kurven (2), die auf einer festen Fläche $ senkrecht stehen, und trägt auf ihnen von den Punkten A aus, in denen sie $ treffen, solche Bogen AB ab, dass die Inte- grale J, über die Wege AB genommen, alle denselben Wert haben, so bilden die Punkte B eine zweite Fläche, die wieder auf allen durch sie gehenden Kurven (2) senkrecht steht.

Als Fortsetzung der Arbeiten von J. Bernoulli, M. de Maupertuis, P. $S. Laplace sind im 19. Jahrhundert R. Hamiltons dynamische Untersuchungen zu nennen, die durchaus ihre Wurzel in optischen Betrachtungen haben; Hamilton wurde dabei zu der glänzenden Ent- deckung der konischen Refraktion geführt'®?). Genaueres hierüber findet man in den Artikeln IV 11 und 12 (P. Stäckel).

B. Spezielle Ausführungen. a) Der einzelne Punkt.

13. Freie Bewegung in der Ebene und im Raume. Zahlreich sind die Versuche, die Ergebnisse der Mechanik des Himmels, die im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts mit Hilfe der höheren Analysis hergeleitet worden waren, einem grösseren Kreise durch elementare Darstellung zugänglich zu machen; im Besonderen tritt dabei das

130) W. Schell, Bewegung 2, p. 161 und P. Appell, Mecanique 1, p. 205.

131) Von der umfangreichen Litteratur seien hier nur angeführt: L. Euler, Petersburg Comment. ad annos 1734/35, p.135; Petersburg Acta ad ann. 1777, 2, p. 70, St. P&tersbourg M&m. 8 (1817/18), p. 17, 29, 41; E. Roger, J. de math. (1) 13 (1848), p. 41; E. Kummer, Berlin Monatsber. 1860, p. 405 = J. f. Math. 61 (1863), p. 263; O. Bonnet, Nouv. ann. (3) 6 (1887), p. 335, 554; E. Vicaire, Paris C.R. 106 (1888), p. 456; @. Darboux, Legons sur la theorie des surfaces, 2, Paris 1889, livre 5, chap. 6 u. 7; P. Appell, M&canique, 1, p. 201, 578; L. Fejer, Math. Ann. 61 (1905), p. 432.

132) Treatise on natural philosophy, 2. ed., 1!, p. 353; vgl. auch @. Dar- boux, Lesons sur la theorie des surfaces, 2, Paris 1889, p. 449.

133) Vgl. für das Physikalische H. Lloyd, Phil. Mag. (3) 2 (1832), p. 112, 207; Ann. Phys. 28 (1833), p. 91, 104, für das Dynamische F. Klein, Jahresber. ad. D. M.-V. 1 (1892), p. 35; E. Study, Jahresber. d. D. M.-V. 14 (1905), p. 424.

494 IV 5. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Bestreben hervor, im Gegensatz zu der rechnenden Astronomie geo- metrische Hilfsmittel zu verwenden und so wenigstens eine Einsicht in die qualitativen Verhältnisse der Erscheinungen, vor allem bei der Störungstheorie zu gewinnen. Um nur einige Namen zu nennen, so hat in Frankreich P. $. Laplace selbst eine populäre Darstellung seiner Mechanik des Himmels gegeben'#*). In England sind etwa Miss Mary Sommerville'®) ‚Sir John Herschel “) und G@. B. Aöry?”) anzuführen, in Deutschland A. F. Möbius"®®), in Österreich J. J. v. Littrow'8®); vgl. auch die Lehrbücher von K. Israel- Holtzwart'®), Th. Epstein“) und M. W. Meyer'*'). Eine zusammenfassende Darstellung dieser umfang- reichen elementar-astronomischen Litteratur wäre sehr erwünscht.

1. Newton hatte aus den Keplerschen Gesetzen sein Anziehungs- gesetz hergeleitet!#?)., Dass umgekehrt eine dem Quadrate des Ab- standes reziproke Zentralkraft stets zu einer Keplerschen Bewegung in einem Kegelschnitte führt, war dann von Joh. Bernoulli gezeigt worden '#). Einen ee in der Integration der hierbei auftreten- den Differentialgleichungen der Bewegung

134) Exposition du systeme du monde, Paris 1796, 6. &d. 1836 Oeuvres 6.

135) On the connexion of physical sciences, London 1834 (zahlreiche Auf- lagen), deutsch von K. F. Klöden, Berlin 1835.

136) A treatise on astronomy, London 1833, deutsch von Michaelis, Leipzig 1837; Outlines of astronomy, London 1849 (zahlreiche Auflagen).

137) Gravitation, an elementary explanation of the prineipal perturbations in the solar system, London 1834 (zahlreiche Auflagen), deutsch von K. F. v. Littrow, Stuttgart 1834, und R. Hoffmann, Leipzig 1891; vergl. auch B. Schöne, Programm Realgymn. Borna 1895, 1903.

138) Die Hauptsätze der Astronomie, Leipzig 1836, 5. Aufl. 1868, 10. Aufl. besorgt von W. F. Wislicenus 1903; Die Elemente der Mechanik des Himmels, Leipzig 1843 —= Werke 4, p. 1—138; vgl. auch J. f. Math. 31 (1846), p. 174 = Werke 4, p. 319. Möbius hat die Epizyklen der Alten wieder zu Ehren gebracht: sie sind das geometrische Äquivalent der Reihenentwicklungen nach trigono- metrischen Funktionen; vgl. auch @. Mansion, Bruxelles Soc. scientif. 25 A. (1901), p. 71 und E. Pasquier, ebenda p. 141.

138°) Theoretische und praktische Astronomie, Wien 1821—27 (zahlreiche Auflagen).

139) Elemente der theorischen Astronomie, Wiesbaden 1885; Elemente der Astromechanik, Wiesbaden 1886.

140) Geonomie, Wien 1888.

141) Das Weltgebäude, Leipzig. 1898.

142) Principia, lib. 1, sectio VII.

143) Paris M&m. anne 1710, p. 521 = Opera 1, p. 470; Bernoulli behan- delt hier auch den allgemeinen Fall, dass die anziehende Kraft irgend eine Funktion der Entfernung ist; vgl. aüch J. Hermann, Phoronomia, Amsterdam 1716, p. 73.

13. Der einzelne Punkt: Freie Bewegung in der Ebene und im Raume. 495

d’xz__d& x dy__dü d ar tn mean tn beit)

hat 0. @. J. Jacobi (1842) gemacht“), dessen Verfahren W. Thomson und P. @. Tait wieder aufgenommen und vereinfacht haben '#). Der Flächensatz ergibt nämlich

(2) 2y— yi = c,

und aus (1) folgt durch Multiplikation mit (2): da _ day dy_ de ee er

Diese Gleichungen lassen sich unmittelbar integrieren, und wenn man mit den so erhaltenen Ausdrücken für & und y abermals den Flächen- satz bildet, ergiebt sich sofort die Gleichung des Kegelschnittes. Die Methode von Jacobi führt auch dann zum Ziel, wenn die Grösse F der Zentralkraft irgend eine homogene Funktion der Dimension 2 von x und y ist!#°®). Eine andere Methode der Integration, die die Differentialgleichung der Bahn liefert, sobald F allein von = r cos p und y=rsing abhängt, also 2 und t nicht enthält, beruht auf der Formel von J. Binet'**):

‚t ae = = al tag)

Neben dem nach ihm benannten Anziehungsgesetze hatte J. Newton auch den Fall betrachtet, dass F' irgend einer Potenz von r proportional ist, und bewiesen, dass schon sehr kleine Abweichungen des Exponenten von 2 merkliche Perihelbewegungen zur Folge haben würden 7). Die Annahme F= ar” ist dann im 19. Jahrhundert wiederholt unter- sucht worden“). Im Besonderen hat J. Ol. Maxwell bei seinen Unter-

144) J. f. Math. 24 (1842) p. 5 = Werke, Bd.4, p. 281.

145) Treatise, p. 27; vergl. auch H. Hart, Messenger (2) 9 (1880), p. 131.

145°) Für den Fall, dass F ein homogene Funktion von x und y beliebiger Dimension ist, vergl. W. Stekloff, Moskau, Phys. Sect. 9, Heft 1, p.16; dort auch weitere Litteratur.

146) J. €c. polyt. cah. 20 (1831), p. 249; M. Jullien, Problömes 1, p. 312 und P. Appell, Mecanique 1, p. 370, 373; Verallgemeinerung von @. Pennacchietti, Catania Atti Acc. Gioenia (4) 14 (1901), Nr. 2. Die Anwendung der Binetschen Formel stösst auf Schwierigkeiten, wenn die Tangente der Bahn durch das An- ziehungszentrum geht oder wenn die Bahn einen Rückkehrpunkt besitzt, vgl. H. @. Zeuthen, Tidsskr. (4) 4 (1880), p. 3.

147) Principia, lib. 1, sectio 9, prop.45; vgl. auch M. Jullien, Problömes 1 p. 324.

148) Die Litteratur der älteren Zeit findet man bei P. van Geer, Onderzoek eener bijzondere Omstandigheid der centrale Bewegirg, Leiden 1872. Ferner

496 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

suchungen aus der kinetischen Gastheorie eine der fünften Potenz der Entfernung umgekehrt proportionale Anziehung der Gasmoleküle heran- gezogen '*?).

A. Olairaut hatte zuerst geglaubt, dass zur Erklärung der Be- wegung des Mondperigäums das Newtonsche Gesetz nicht ausreiche, da eine erste Näherung Werte ergab, die mit den Beobachtungen nicht übereinstimmten, und hat deshalb statt des Newtonschen Gesetzes ein Kraftgesetz der Form ar”? -+ br=°® angenommen (Paris Mem. 1743, 1745), er kehrte aber in der Theorie de la Lune, Paris 1752, zu den Newtonschen Gesetze zurück, da es bei genauerer Rechnung zu einer befriedigenden Darstellung der Erscheinungen führte. Die Form ar=? + br” ergibt sich als erste Näherung, wenn man die Anziehung eines abgeplatteten Rotationsellipsoides betrachtet und hat daher das Interesse der Astronomen erregt; es ist bemerkenswert, dass dabei kein säkulares Glied in der mittleren Bewegung auftritt!%). Allge- meine Untersuchungen über die Form ar” + br” hat @. Schouten an- gestellt!°). Man hat ferner die Form e-“":r? herangezogen, die einer Absorption der Gravitation in dem vermittelnden Medium ent- spricht?°°®), und es sind im Zusammenhange mit der Molekulartheorie und ihrer Verwendung für Optik und Kapillarität Sätze für beliebige F(r) aufgestellt worden'°°°). Endlich haben sich bemerkenswerte Be-

seien genannt: H. Th. Noth, Diss. Jena 1869; A. Legoux, Nouv. ann. (2) 19 (1880), p- 340; A. @. Greenhill, London Math. Soc. Proc. 22 (1891), p. 264 und P. @. Tait and W. J. Steele, Dynamics, Cambridge 1856. iR

149) Siehe etwa Theory of heat, London 1871.

. 150) P. A. Hansen, Astr. Nachr. 38 (1854); H. Seeliger, Astr. Nachr. 91 (1873), p. 198; H. Gylden, Paris C. R. 91 (1880), p. 957.

150*) Nieuw Archief 13 (1886), p. 11, 117, 14 (1887), p. 1; Amsterdam Versl. ed meded. (3) 3 (1887), p. 373; Arch. neerl. 22 (1887), p. 158, 392; vergl. auch H. Gylden, Stockholm Öfv. 17 (1879), p. 1.

150®) H. Seeliger, Astr. Nachr. 137 (1895), p. 129; München Ber. 26 (1896), p. 373; C. Neumann, Allgemeine Untersuchungen über das Newtonsche Prinzip der Fernwirkungen, Leipzig 1896; A. Korn, München Ber. 33 (1903), p. 383, 563.

150°) Auf die physikalische Litteratur kann hier nicht eingegangen werden. Von den zahlreichen mathematischen Untersuchungen seien nur angeführt: L. Euler, Petersburg Nov. Comment. ad annos 1752—1755, p.164; K. H.Schellbach, J.f. Math. 45 (1853), p. 255; J. Fr. Stader, J. f. Math.46 (1853), p. 262; A. Olebsch, Vorlesungen über Mechanik (autographiert), Karlsruhe 1858; M. Jullien, Problömes 1, p. 311 (hier auch weitere Litteratur); J. Boussinesq, Paris C. R. 84 (1877), p. 944; 85 (1877), p- 65, 538; D. J. Korteweg, Amst. Versl. ed meded. 20 (1884), p. 249; Arch. neerl. 21 (1886), p. 201; Wien Ber. 93 (1886), p. 995; O. Staude, Dorpat Nat. Ges. 10 (1893), p. 328; R. Lehmann-Filhes, Astr. Nachr. 145 (1898), p. 383; J. v. Vieth, Zeitschr. Math. Phys. 48 (1902), p. 249.

BE

13. Der einzelne Punkt: Freie Bewegung in der Ebene und im Raume. 497

ziehungen zwischen den Bewegungen ergeben, die zu verschiedenen Gesetzen der Anziehung gehören '°!).

Auch die Bewegungen eines Teilchens, die sich auf Grund elektrodynamischer Elementargesetze ergeben, sind genauer erforscht worden, jedoch ist die Hoffnung, die man daran knüpfte, zu einer elektromagnetischen Erklärung der Gravitation zu gelangen, nicht in Erfüllung gegangen"’?). In diesem Zusammenhange wären noch die modernen Untersuchungen über die Bewegung eines Elektrons zu nennen, die aber freilich aus dem Rahmen der elementaren Dynamik heraustreten; es möge genügen, hier die Namen M. Abraham, H. A. Lorentz, K. Schwarzschild, A. Sommerfeld zu nennen.

Viele Autoren haben sich mit dem Problem der Bewegung eines Punktes beschäftigt, der von zwei festen Zentren nach dem Newton- schen Gesetze angezogen wird. Für die Astronomie haben diese Untersuchungen bis jetzt keine Verwendung gefunden; für die Mathe- matik aber sind sie wichtig geworden, denn es ist bei ihnen das Addi- tionstheorem der elliptischen Integrale erster Gattung aufgetreten, und sie haben den Anstoss zu der Einführung der elliptischen und damit allgemeiner der krummlinigen Koordinaten gegeben"). Man hat das

151) L. Boltzmann, Prinzipe 1, 1897, p. 83; P. Stäckel, Gött. Nachr. 1898, p. 157; vgl. auch IV 11 (P. Stäckel), Abschnitt: 'Transformation der Be- wegungen.

152) C. Seegers, Diss. Göttingen 1864; W. Scheibner, Zeitschr. Math. Phys. 13 (1868), p. 37; Leipzig Ber. 49 (1897), p. 578; F. @. Holzmüller, Diss. Halle 1870 Zeitschr. Math. Phys. 5 (1870), p. 69; F. Tisserand, Paris C. R. 75 (1872), p. 760; E. Riecke, Gött. Nachr. 1874, p. 665; @. Lolling, Diss. Göttingen 1882; Nova Acta Leopold. 44 (1883), p. 273—336; M. Levy, Paris C. R. 95 (1882), p. 986; A. Servus, Diss. Halle 1885; O. Liman, Diss. Halle 1886; E. Ritter, Zeitschr. Math. Phys. 37 (1892), p. 8; S. Oppenheim, Jahresber. des k. k. Akad. Gymn. Wien 1894/95; vgl. auch V 2, Nr.21 bis 24 (J. Zenneck) und VI2 23 (S. Oppenheim).

153) L. Euler, Berlin M&m. annee 1760 (1767), p. 228; Petersburg Nov. Comment. 10 ad annum 1764 (1766), p. 207; 11 ad annum 1765 (1767), p. 152; J. L. Lagrange, Misc. Taur. 2 (1762) Oeuvres, 1, p. 363; Mecanique 2, sect. 7, chap. 3; A. M. Legendre, Exereices de calcul’ integral 2, Paris 1817; Traite des fonctions elliptiques 1, Paris 1827, p. 411; ©. @. J. Jacobi, Dynamik 1842/43, 29. Vorlesung; J. f. Math. 29 (1845) = Werke 4, p. 465; J. Liouville, J. de math. (1) 12 (1847), p. 410; A. Desboves, J. de math, (1) 13 (1848), p. 369; J. A. Serret, J. de math. (1) 13 (1848), p. 17; Note 2 zu Bd. 2 der Ausgabe der Me&canique von Lagrange, Paris 1853; O. Bonnet, Note 5 zu derselben Ausgabe; A. Desboves, Paris C. R. 47 (1858), p. 708; L. Königsberger, Diss. Berlin 1860; A. Cayley, Brit. Ass. 1862 Papers 4, p. 513; J. Prätorius, Diss. Breslau 1863; B. Th. Hülsen, Berlin 1869; P Perlewitz, Diss. Leipzig 1872 Zeitschr. Math. Phys. 18 (1873), p. 58; B. Closterhalfen, Diss. Bonn 1874; A. G. Greenhill, London Math. Soc. Proc. 11 (1880) p. 104; G@. Morera, Giorn.

498 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Problem auch durch Wahl anderer Anziehungsgesetze und durch Hin- zunahme weiterer fester oder nach gegebenem Gesetze beweglicher Zentren erweitert!t).

Die umgekehrte Aufgabe, aus bekannten Eigenschaften der Be- wegungen das Gesetz der Kraft zu ermitteln, hatte ]. Newton für die Keplerschen Bewegungen in einem Kegelschnitte gelöst. Zu einem allgemeineren Probleme dieser Art führte im 19. Jahrhundert die Theorie der Doppelsterne. Die Beobachtungen zeigen nämlich, dass die scheinbare Bahn eines Doppelsternes am Himmelsgewölbe um den anderen eine Ellipse ist, bei der sich der andere Stern jedoch nicht in einem Brennpunkte befindet, und dass diese Ellipse nach dem Flächensatze durchlaufen wird; der feste Endpunkt des Radiusvektors liegt dabei in dem zweiten Stern. Um das Gesetz der Kraft zu finden, mit der sieh die Doppelsterne anziehen, hat man also die Aufgabe zu lösen, alle Kraftgesetze zu ermitteln, die allein von der Lage des bewegten Punktes abhängen und, wie auch die Anfangs- bedingungen gewählt seien, eine Bewegung in einem Kegelschnitte ergeben. Dieses zuerst von A. Yvon Villarceau'”°) gestellte und ge- löste Problem ist dann von J. Bertrand‘) von neuem behandelt worden. Es hat sich ergeben, dass die Kraft, wenn sie nur von der Entfernung abhängen soll, entweder der Entfernung proportional oder

di mat. 18 (1880), p. 34; O. Staude, Dorpat Nat. Ges. 8 (1887), p. 249; Acta math. 10 (1887), p. 183; @. Darboux, Note in seiner Ausgabe der Mecanique von Lagrange 2, Paris 1889, p. 349; R. Haussner, Diss. Göttingen 1889 = Giorn. di mat. 29 (1891), p. 276, 379; P. Novikoff, Arbeiten d. 7., Vers. russ. Natf. u. Ärzte, St. Petersburg 1890, Math. Abt. p. 38; @. Bonacini, Giom. di mat. 26 (1889), p. 352; 28 (1890), p. 44, 132; J. Andrade, J. &c. polyt. cah. 60 (1890), p. 1; G. Mühle, Diss. Halle 1894; H. Franzen, Diss. Halle 1896; N. Saltykoff, Charkow Math. Ges. (2) 7 (1900), p.1; C.V.L.Charlier, Mechanik des Himmels 1, Leipzig 1902, p. 117; A. M. Hiltebeitel, Am. Math. Soc. Bull. (2) 11 (1905), p. 432.

154) J. L. Lagrange fügte ein in der Mitte der Verbindungsstrecke der Zentra liegendes drittes Zentrum hinzu, das proportional der Entfernung anzieht (vgl. C. @. J. Jacobi, Dynamik, 29. Vorlesung); O. Bonnet, Note in der Bertrand- schen Ausgabe der M&canique von Lagrange, Paris 1855; A. @. Wijthoff, Nieuw Archief (2) 3 (1896), p. 1. Andere Gesetze der Anziehung haben untersucht W. Velde, Programm Berlin 1889 und Fr. Wöller, Diss. Kiel 1905; dieser lässt das eine Zentrum anziehen, das andere abstossen, was für Ph. Lenards Theorie der Dynamiden, Ann. der Physik (4) 1 (1903), p. 714 von Bedeutung ist.

155) Connaissance des temps pour 1852; vgl. auch J. Casey, Quart. J. of math. 5 (1862). Aber schon J. Hermann, Phoronomia, Amsterdam 1716, p. 74, hatte gefragt, welches Anziehungsgesetz gewählt werden müsse, damit die Bahnen algebraische Kurven seien.

156) Paris C. R. 77 (1873), p. 849; 84 (1877), p. 671, 731, 944; 85 (1877), p. 65; 118 (1894), p. 13.

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14. Der einzelne Punkt: Bewegung auf einer Kurve. 499

ihrem Quadrate umgekehrt proportional sein muss; da aber bei dem ersten Gesetze der andere Stern stets im Mittelpunkte der Bahnellipse stehen müsste, so ist das zweite anzunehmen. J. Bertrand hat das Problem dahin erweitert, dass die Bahn, wenn nur die Anfangs- geschwindigkeit unter einer bestimmten Grenze liegt, immer eine ge- schlossene Kurve sein soll, und dieselben Gesetze gefunden. An Bertrands Veröffentlichungen®®) hat sich eine erhebliche Litteratur angeschlossen '”).

14. Bewegung auf einer Kurve. Dass sich ein materieller Punkt auf einer vorgeschriebenen ebenen Kurve bewegt, lässt sich erreichen, indem man ihn an einem gewichtlosen Faden befestigt und diesen über die Evolute der gegebenen Kurve spannt; Chr. Huygens ist sogar durch die Frage, wie man die Bewegung eines schweren Punktes auf einer Cykloide verwirklichen könne, zu seiner Theorie der Evoluten geführt worden'°®). Ist die vorgeschriebene Bahn eine Raumkurve, so hat man @. Monges Lehre von den Filarevoluten heranzuziehen, die kürzeste Linien der abwickelbaren Fläche der Krümmungsachsen sind 0); aber es genügt jetzt nicht ein einziger Faden, vielmehr muss man einen zweiten hinzunehmen, der bewirkt, dass der erste immer die Richtung der Tangente der Filarevolute beibehält!®). Bei dem Kreispendel kann man statt des Fadens auch eine gewichtlose Stange

157) G. Lespiault, Bull. sciences math. (1) 4 (1873), p. 393; M. Chevilliet, Nouv. ann. (2) 13 (1874), p. 97; @. Darboux, Paris C. R. 84 (1877), p. 760, 936; Bull. soc. math. de France 5 (1877), p. 100; Note XII in der M&canique von Ch. Despeyrous, 1, Paris 1884; G@. Halphen, Paris C. R. 84 (1877), p. 939; Bull. soc. philomat. (7) 1 (1878), p. 89; @. Battaglini, Rom Acc. Linc. Rend. (3) 2 (1877), p. 211; Giorn. di mat. 17 (1879), p. 43; J. W. L. Glaisher, Monthly Notices 39 (1878), p. 79; F. Siacei, Torino Atti 14 (1879), p. 759; Paris C.R. 88 (1879), p. 909; U. Dainelli, Giorn. di mat. 18 (1880), p. 271; 19 (1881), p. 171; R. Hoppe, Arch. Math. Phys. 56 (1880), p. 107, 328; H. Resal, Paris C. R. 90 (1880), p. 889, 937; V. Imsche- netzkij, Bordeaux M&m. soc. sci. phys. et nat. (2) 4 (1880), p. 31; P. Kindel, Diss. Halle 1884 = Archiv Math. Phys. (2) 15 (1895), p. 262; @. Koenigs, Bull. soc. math. de France 17 (1889), p. 153; P. Appell, Am. J. of math. 13 (1890), p. 261; Me&canique 1, p. 387; F. Porro, Palermo Circ. mat. Rend. 5 (1891), p. 51; S. Hirayama, Tokio Math. Ges. 4 (1891), p. 261; Ch. Cellerier, Bull. sciences math. (1) 15 (1891), p. 145; C. Stephanos, Archiv Math. Phys. (3) 2 (1901), p. 147 und Paris C. R. 140 (1905), p. 1318; P. J. Suchar, Paris C. R. 135 (1902), p. 679; Nouv. ann. (4) 2 (1902), p. 123, 248; V. Jamet, Nouv. ann. (4) 2 (1902), p. 348.

159) Horologium oscillatorium, Paris 1673; vgl. II D 1,2 Nr. 16 (H. v. Mangoldt).

160) Paris M&m. sav. etr. 10 (1785); vgl. IID 1,2 Nr. 33 (H.v. Mangoldt).

161) E. Budde, Mechanik 1, p. 186. Für die Cykloide, als Kurve im Raume aufgefaßt, hat bereits Ohr. Huygens zwei Fäden in Anwendung gebracht.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1, ı 833

500 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

nehmen. In anderen Fällen lässt sich die Bewegung durch Rinnen oder Röhren von der Gestalt der vorgeschriebenen Bahn erzwingen !#®), und man muss diese Art anwenden, wenn die Bewegung in einer Kurve erfolgen soll, die sich in vorgeschriebener Weise bewegt"). Man kann jedoch auch von einer solchen Realisierung der Bewegung ganz absehen und den in einer Kurve bewegten Punkt als den re- präsentierenden Punkt für eine Bewegung mit einem Grade der Frei- heit ansehen; solche Bewegungen kommen in der Technik sehr häufig vor, da die meisten praktisch verwendeten Mechanismen zwangsläufig sind. Bei einem Grade der Freiheit ist die Einführung des repräsentierenden Punktes schon sehr alt; denn nachdem @. Galilei die Bewegung eines schweren Punktes auf einem Kreise in einer Vertikalebene, also das mathematische Pendel, behandelt hatte!#), stellte M. Mersenne 1646 die Frage nach der Lage des Schwingungs- mittelpunktes eines physikalischen Pendels, das heisst nach dem mathe- matischen Pendel, das dieselbe Schwingungsdauer hat, wie der be- trachtete um eine horizontale Axe drehbare schwere Körper, eine Frage, die 1673 von Ch. Huygens beantwortet wurde!®).

Die Kurve heisst glatt, wenn ihre Reaktion entgegengesetzt gleich der Resultante aus der Zentrifugalkraft und der Normalkomponente der wirkenden Kraft ist, dagegen rauh, wenn die Reaktion noch eine Tan-

162) Der kleine Körper, der als materieller Punkt angesehen wird, darf in der Rinne oder Röhre nur gleiten, nicht rollen. Wenn also @. Galilei (Discorsi 1638) Kugeln die Fallrinne herabrollen lässt, so bewegen diese sich nicht wie ein schwerer Punkt auf einer schiefen Ebene, vielmehr wird ein Teil, nämlich ®,, der durch den Fall gewonnenen Energie in Energie der Drehung der Kugeln verwandelt.

163) Solche sich bewegende Röhren verwandten schon Joh. Bernoulli, Opera 4 (1742), p. 248 (Bewegung eines Punktes in einer schrägen geraden Röhre, die sich um eine vertikale Achse dreht); A. Clairaut, Paris M&m. annee 1742 (1745), p. 1; L. Euler, Opuscula varii argumenti 1 (1746), p. 1; Daniel Ber- noulli, Berlin M&m. annde 1745 (1746), p. 74; J. L. Lagrange, Misc. Taur. 2 (1760/61) = Oeuvres 1 (1867), p. 393; J. J. A. Ide, System der Mechanik, Berlin 1802; A. M. Ampere, Ann. de Gergonne 20 (1829), p. 37 und L. Euler, Opera posthuma 1862, 2, p. 74, 85, 114.

164) Dialogo sopra i massimi due sistemi del mondo, Florenz 1632 (deutsch von E. Strauss, Leipzig 1891); Discorsi 1638, erster Tag, Ostwalds Klassiker Heft 11, p. 75, 83: Isochronismus kleiner Pendelschwingungen; die im tiefsten Punkte erlangte Geschwindigkeit giebt den Impuls, der grade ausreicht zu der Erhebung auf die Höhe, aus der der Punkt gefallen war.

165) Horologium oscillatorium, Paris 1673. Huygens gab auch die Formel

für die Dauer kleiner Schwingungen T = -Y: (l Pendellänge); die Formel für endliche Schwingungen rührt von L. Euler her, Mechanica 1736.

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14. Der einzelne Punkt: Bewegung auf einer Kurve. 501

gentialkomponente besitzt, also Reibung stattfindet!®®). Einseitige Fesse- lungen, wie sie durch Fäden oder Rinnen bewirkt werden, erfordern, dass der Druck des bewegten Punktes gegen die Fessel gerichtet ist; verschwindet der Druck mit Vorzeichenwechsel, so verlässt der Punkt die Zwangsbahn und beginnt sich frei zu bewegen”),

Unter der Voraussetzung, dass die wirkende Kraft bei der Be- wegung auf einer festen, glatten Kurve eine Funktion des Ortes ist, lässt sich nach 0. @. J. Jacobi die Zeit als Funktion der Bogenlänge durch eine Quadratur ausdrücken!®). Dasselbe gilt nach A. Mayer für eine ebene rauhe Kurve, wenn die Reibung dem Normaldrucke proportional ist und die wirkende Kraft in der Ebene der Kurve liegt!°). Bei den rauhen Kurven und bei der Bewegung in einem wider- stehenden Mittel gewinnt auch das Problem des Gleichgewichtes ein gewisses Interesse!" Die kleinen Schwingungen um eine solche Gleichgewichtslage stehen in Zusammenhang mit der Konstruktion der Galvanometer, bei denen schwingende Magnetnadeln verwandt werden. Durch das Hinzutreten einer Reibungskraft kann sich näm- lich die periodische Bewegung in eine aperiodische verwandeln, bei der asymptotische Annäherung an die Gleichgewichtslage stattfindet?’%®).

Was die beweglichen Kurven betrifft, so sei auf die Angaben von M. Jullien!"‘) und P. van Geer''?) verwiesen. Noch allgemeiner ist die Annahme, dass die vorgeschriebene Bahn im Laufe der Zeit Lage und Gestalt 'ändere. Die Lagrangesche Gleichung für den Para- meter g behält dann ihre Form:

166) E. J. Routh, Dynamik 1, p. 450 nennt eine Kurve auch dann rauh, wenn die Bewegung in einem widerstehenden Mittel vor sich geht, so dass der Reibungswiderstand des Mittels eine tangentiale Komponente liefert; siehe auch IV ı (A. Voss) p. 68—69, Anm. 1852.

167) Ausführliche Untersuchung für das Kreispendel als Fadenpendel bei P. Nowvel, Programm Gymn. Cöthen 1886, E. Budde, Mechanik 1, p. 201 und O. Schütt, Diss. Kiel 1905; vgl. auch Anmerkung 179.

168) J. f. Math 24 (1842), p. 5 = Werke 4, p. 263; vgl. P. Appell, Me- canique 1, p. 422.

169) Leipzig Ber. 1893, p. 379.

170) M. Jullien, Problömes 1, p. 74; A. de Saint-Germain, Exercices, Paris 1877, p. 11.

170®) S. D. Poisson, M&canique 2. &d. 1 (1838), p. 351; C. F. Gauss, Werke 5, p. 394 (1837); E. du Bois-Reymond, Berlin Monatsberichte 1869, p. 807, 1870, p. 537, 1873, p. 748, 1874, p. 767; vgl. auch E. Riecke, Zur Lehre von der aperio- dischen Dämpfung und zur Galvanometrie, Göttingen 1883 sowie Nr. 20 dieses Artikels.

171) Problömes 2, p. 236.

172) Nieuw Arch. for wisk. 7 (1881), p. 164; dazu Ph. Gilbert, Bruxelles Ann. soc. scient. 6 (1882), p. 270, 7 (1882), p. 11.

88*

502 . IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

da (oT e.

a) a9 aber 7 wird eine Funktion zweiten Grades von g, deren Koeffizienten q und £ enthalten !’®).

Anstatt die Bewegung auf einer vorgeschriebenen Kurve zu unter- suchen, kann man auch nach den Kurven fragen, bei denen der Be- wegung gegebene Eigenschaften zukommen. Probleme dieser Art sind die der Brachistochronen‘"*) und der Tautochronen‘”®), die während des 18. Jahrhunderts längere Zeit im Mittelpunkt des mathematischen Interesses gestanden haben, aber auch noch im 19. Jahrhundert viel- fach behandelt worden sind. Hierhin gehört auch die Frage nach der Kurve gleichen Normaldruckes bei einem für den Raum gegebenen Gesetze der Kraft!'P),

15. Bewegung auf einer krummen Fläche. Wenn ein mate- rieller Punkt auf einer vorgeschriebenen krummen Fläche bleiben oder sich darauf bewegen soll, kann die Fessel, der die Zwangs- kraft entspringt, eine Schale von der Gestalt dieser Fläche sein (ein- seitige Bedingung), oder man kann zwei parallele Schalen nehmen, zwischen denen der Punkt gleitet. In manchen Fällen ist auch eine Realisierung der Bedingung durch Fäden oder Stangen möglich; eine allgemeine Konstruktion, die den Punkt mittels Fäden oder Stangen an die Fläche fesselt, ist noch nicht gegeben worden!””), Man kann jedoch auch allgemeiner den auf einer krummen Fläche bewegten Punkt als repräsentierenden Punkt für eine Bewegung mit zwei Graden der Freiheit auffassen, wobei der Ausdruck der lebendigen Kraft das Quadrat des Linienelementes der Fläche liefert!"?).

173) P. Appell, Mecanique 1, p. 454. 174) Genauere Angaben und Litteratur in Nr. 12 dieses Artikels.

175) Monographien über die Tautochronen gaben C. Ohrtmann, Programm Berlin 1872 und F. Amodeo, Monografia delle curve tautocrone, Avellino 1883. Seitdem ist wieder eine beträchtliche Litteratur zu verzeichnen, aus der nur an- geführt sei @. Koenigs, Paris C. R. 96 (1893), p. 969; J. Hadamard, Bordeaux Soc. sci. math. et nat. (8) 5 (1893), p. 195; P. Appell, M&canique 1, p. 443.

176) Joh. Bernoulli, Acta erud. Lips. 1695 = Opera 1, p. 132; @. F. de ’.Hos- pital, Paris Mem. annee 1700, p. 9; M. Jullien, Problemes 1, p. 405—410; L. Lecornu, Bull. soc. math. de France 32 (1904), p. 50 (Fall der Schwere: der Hodograph ist ein Kegelschnitt, die Bewegung in ihm eine Planetenbewegung).

177) E. Budde, Mechanik 1, p. 208. Für die Flächen zweiter Ordnung wird man die Fadenkonstruktionen von O. Staude, Math. Ann. 20 (1882), p. 147, 27 (1886), p. 253, Fokäleigenschaften der Flächen zweiter Ordnung, Leipzig 1896, heranzuziehen haben.

178) Vgl. Nr. 2 dieses Artikels. Ein schönes Beispiel hierfür ist das Problem von Glocke und Klöppel; vgl. A. Föppl, Dynamik, 1. Aufl., p. 290.

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15. Der einzelne Punkt: Bewegung auf einer krummen Fläche. 508

Bei einer einseitigen Fesselung, wie sie durch eine Schale oder bei dem Raumpendel durch einen Faden hervorgerufen wird, verlässt der Punkt die Zwangsbahn, falls die Reaktion mit Zeichenwechsel verschwindet, und beginnt sich frei zu bewegen; was bei einem aber- maligen Auftreffen auf die Fläche geschieht, lässt sich nur angeben, wenn Voraussetzungen über die physikalische Beschaffenheit von Punkt und Fläche gemacht werden !"°).

Die Fläche heisst glatt, wenn ihre Reaktion entgegengesetzt gleich der Resultante aus der Zentrifugalkraft des Punktes und der Normal- komponente der wirkenden Kraft ist, rauh, wenn die Reaktion noch eine Tangentialkomponente besitzt, also Reibung stattfindet.

Nachdem @. Galilei"), Ch. Huygens'®'), I. Newton'®?), Joh. Ber- noulli'3), A. Clairaut'**) besondere Fälle der Bewegung eines Punktes auf einer krummen Fläche betrachtet hatten, gab L. Euler eine syste- matische Darstellung '®); er zeigte, dass auf einer festen, glatten Fläche die Trägheitsbahn eine geodätische Linie der Fläche ist'#), er stellte dis Differentialgleichungen der Bewegung für einen schweren Punkt auf und integrierte sie für den Fall einer Rotationsfläche mit verti- kaler Axe; für Kreiscylinder'®’) und Kugel gab er eine genauere Dis-

179) Die Durchführung für das Raumpendel gab E. Chailan, Bull. soc. math. de France 17 (1889), p. 112; vgl. auch @. H. Halphen, Trait& des fonctions elliptiques 2, Paris 1888, p. 134; A. Hossfeld, Programm Realgymn. Hofgeismar 1889; A. de Saint-Germain, Bull. sciences math. de France (2) 20 (1901), p. 98. Für einen schweren Punkt auf einer Rotationsfläche siehe O. Schütt, Diss. Kiel 1905. In gewissen singulären Fällen hat man zur Entscheidung, wie sich der Punkt verhält, das Gausssche Prinzip des kleinsten Zwanges herangezogen, J. W. Gibbs, Amer. J. of math. 2 (1879), p. 49; L. Boltzmann, Prinzipe 1, p. 223.

180) Discorsi 1638, dritter Tag, Ostwalds Klassiker Heft 25, p. 39—59: schwerer Punkt auf schiefer Ebene.

181) Horologium oscillatorium 1673: Punkt auf Kugelfläche, wenn der Punkt sich in einem horizontalen Kreise bewegt.

182) Principia, lib. 1, sectio X, De motu corporum in superficiebus datis: Bewegung eines materiellen Punktes (corpus) auf einer Rotationsfläche, der von einem in der Axe befindlichen Punkte angezogen wird.

183) Acta erud. Lips. 1715, p. 242 Opera 2, p. 187: Punkt auf Kugel- fläche.

184) Paris M&m. annde 1735: Punkt auf Kugelflüche.

185) Mechanica 1736, 2, cap. 4: De motu puncti super superficie.

186) Weiteres über die Beziehungen der geodätischen Linien zur Mechanik bei P. Stäckel, Leipzig Ber. 45 (1893), p. 444.

187) Hier macht L. Euler die wichtige Bemerkung, dass die Bahn in eine Parabel übergeht, wenn man den Cylinder auf eine vertikale Ebene abwickelt; vgl. auch F. Wittenbauer, Wien Ber. 81 (1880), p. 697, P. Stäckel, J. f. Math. 107 (1891), p. 319 und P. Appell, Mecanique 1, p. 482.

504 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

kussion der Bahnen. In Betreff der weiteren Entwicklung der Lehre von den geodätischen Linien muss auf II D3, Nr. 14—18 (R. v. Lilienthal) verwiesen werden!®®). Die Bewegung eines Punktes auf einer Rotationsfläche mit vertikaler Axe,wenn die Schwere wirkt, und allgemeiner, wenn eine in den Parallelkreisen kon- stante Kräftefunktion existiert, ist dann seit J. L. Lagrange '®°) und ©. @. J. Jacobi!) Gegen- stand zahlreicher Untersuchun- gen geworden'?!). Als typische Formen der Bewegung ergaben sich Oscillationen zwischen zwei Parallelkreisen (Umkehr- oder Wendekreisen) und asympto- tische Annäherung an einen

188) Dazu W. Quidde, Diss. Kiel 1905.

189) M&canique 2, sect. VIII, chap. 2, $ 2.

190) J. f. Math. 24 (1842), p. 5 = Werke 4, p. 263.

191) Die ältere Litteratur bei P. Stäckel, Diss. Berlin 1885; dazu A. Tissot, J. de math. (1) (1852), p. 88; P. Serret, Theorie nouvelle me&canique et geome6- trique des courbes & double courbure, Paris 1860; J. Timmers, Diss. Leyden 1875; Th. Bertram, Arch. Math. Phys. (1) 59 (1876), p.193; @. Darboux, Bull. soc. math. de France 5 (1877), p. 100 (geschlossene geodätische Linien); J. Boussinesg, Paris C. R. 84 (1877), p. 65 (kleine Schwingungen auf einem Meridian); HM. Resal, J. de math. (3) 3 (1877), p. 75; J. Boussinesg, Paris C. R. 86 (1878), p. 959 (ge- schlossene Bahnen bei der Bewegung eines schweren Punktes giebt es nicht); R. Hoppe, Archiv Math. Phys. 70 (1884), p. 405; O. Brinckmann, Diss. Jena 1885 (Rotationsparaboloid); W. Werner, Diss. Marburg 1886 (Rotationsparabo- loid); G. Kobb, Stockholm Öfv. 1887, p. 159; Acta math. 10 (1887), p. 89 (fünf Flächentypen, bei denen die Bewegung eines schweren Punktes auf elliptische Integrale führt); O. Staude, Acta math. 10 (1887), p. 183; Dorpat Nat. Ges. 8 (1887), p. 249, 336; Acta math. 11 (1888), p. 303; Dorpat Nat. Ges. 1888, p. 399 (allgemeine Theorie der Bewegung, Bestimmung der Umkehrkreise durch die Wendefläche dritter Ordnung, die sich jedoch schon bei A. Tissot findet); W. Hoff- mann, Diss. Halle 1888 (Kreisring); R. Frantz, Programm Magdeburg 1891 (Rotationsellipsoid); C. Seidemann, Diss. Leipzig 1891; Ein mechanisches Doppel- problem, Halle 1896 (Diskussion des vierten Typus von Kobb); J. Tannery, Bull. sciences math. (2) 16 (1892), p. 190 (geschlossene Bahnen); O. Olsson, Stock- holm Vetensk. Bihang 17 (1892), Nr. 6; Stockholm Öfv. 1894, p. 437; P. Stäckel, Math. Ann. 41 (1893), p. 571 (fügt einen sechsten Typus zu den Kobbschen hinzu); J. Hinrichs, Diss. Marburg 1895 (Rotationshyperboloid); F. Schmidt,

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15. Der einzelne Punkt: Bewegung auf einer krummen Fläche. 505

Parallelkreis; dabei kann einer oder es können beide Kreise ins Un- endliche rücken. Besonders eingehend wurde die leicht realisierbare und physikalisch wichtige Be- wegung eines schweren Punktes auf einer Kugelfläche unter- sucht). A. G@. Webster hat die Horizontalprojektionen dieser Bewegungen photographisch re- gistriert; die nebenstehenden Figuren geben solche Kurven !?). Dass der Winkel AO B zwischen

Monatshefte für Math. 5 (1895), p. 109 (Diskussion des sechsten Typus von Stäckel); P. Stäckel, Gött. Nachr. 1896, p. 157 (Transformation der Bewe- gungen); M. Puglisi, Palermo Circ. mat. Rend. 12 (1898), p. 312; Sulla riduzione di un problema, Messina 1898 (Herleitung der Typen von Kobb und Stäckel); Palermo Circ. mat. Rend. 14 (1900), p. 180; @. Pennacchietti, Catania Acc. Gioenia Atti (4) 15 (1902); E. Salkowskı, Diss. Jena 1904 (findet dazu einen siebenten und letzten Typus); O. Olsson, Nyt Tidsskrift 15 (1904), p. 49 (Reihenentwicklungen). Die spezielle Litteratur über das sphärische Pendel findet man in den folgenden Anmerkungen.

192) Ausser A. Clairaut, L. Euler und J. L. Lagrange seien noch genannt: S. D. Poisson, M&canique, Paris 1811, 1, p. 385; Chr. Gudermann, J. f. Math. 38 (1849), p. 185; Fr. J. Richelot, J. f. Math. 45 (1853), p. 233; W. F. Donkin, Iondon Phil. Trans. 144 (1854) u. 145 (1855); H. Durege, Theorie der elliptischen Funktionen, Leipzig 1861; H. Resal, Me&canique 1, 1873, p. 180; L. Schleiermacher, Modelle der Bahnen in der Sammlung von Brill-Schilling 1877; Ch. Hermite, J. f. Math. 85 (1878), p. 246, Applications de la theorie des fonctions elliptiques, Paris 1883; F. Tisserand, Bull. sciences math. (2) 5 (1881), p. 448; M. de Sparre, Bruxelles Ann. soc. sci. 9B (1885), p. 49; 16B (1892), p. 181; 26B (1902), p. 133; Paris C. R. 114 (1892), p. 528; G. H. Halphen, Traite des fonctions elliptiques 2, Paris 1888, p. 126; E. Budde, Mechanik, 1, p. 209; A. @. Greenhill, The applications of elliptic functions, London 1892, p. 214; A. de Saint-Germain, Bull. sciences math. (2) 20 (1896), p. 114; (2) 22 (1898), p. 95; (2) 25 (1901) p. 98; P. Appell, M6canique 1, p. 494; F. Klein und A. Sommerfeld, 'Theorie des Kreisels, Heft 2, Leipzig 1898 (während Ch. Hermite für die rechtwinkligen Koordinaten x, y, 2 des bewegten Punktes, bez. für deren komplexe Verbindungen 2 +i1y, 2 iy, 2 elliptische Funktionen zweiter Art zweiten Grades findet, werden hier Formeln

gegeben, vermöge deren > eine elliptische Funktion zweiter Art ersten Grades

wird). Pendel von veränderlicher Länge betrachteten C'h. Bossut, Paris Mem. 1778, Ch. E. Delaunay, M&canique, Paris 1856; L. Lecornu, Paris C. R. 118 (1894), p. 132, Bull. soc. math. de France 24 (1896), p. 133; G. v. Grofe, Dorpat Nat. Ges. 1896, p. 176.

193) A. G@. Webster, Dynamics, Leipzig 1904, p 50.

506 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

den Projektionen der Radien nach dem oberen und dem unteren Um- kehrpunkt der Bahn stets grösser ist als 90°, hat V. Puiseux, und dass er kleiner ist als 180°, hat @. H. Halphen gezeigt'*).

Wenn der Punkt anfangs in Ruhe war und die Resultante der für die betrachtete Stelle der Fläche wirkenden Kraft normal zur Fläche steht, so herrscht Gleichgewicht; das Gleichgewicht ist stabil, wenn die Kräftefunktion an der Stelle ein Maximum besitzt. Die kleinen Schwingungen, die der Punkt auf der Fläche in der Nähe einer stabilen Gleichgewichtslage ausführen kann, haben $. D. Poisson!®), R. S. Ball‘®®) und P. Appell") untersucht; im Besonderen ergeben sich im Fall der Schwere für einen tiefsten Punkt der Fläche in erster Annähe- rung Bahnen, deren Horizontalprojektionen Lissajoussche Kurven!) sind, die also, allgemein zu reden, ein Rechteck überall dicht bedecken.

Anstatt nach den Bahnen auf vorgeschriebener Fläche und bei gegebenem Gesetze der Kraft zu fragen, kann man auch das Gesetz der Kraft suchen, das auf vorgeschriebener Fläche Bahnen von ge- gebenen Eigenschaften liefert. So hat ©. Neumann das Problem von Villarceau-Bertrand auf die Kugel übertragen '%). Verwandte Probleme behandelten A. de Saint-Germain?®) und P. Stäckel?'). Ebenso kann man die Flächen bestimmen, die bei vorgeschriebenem Gesetze der Kraft Bahnen mit gegebenen Eigenschaften besitzen ?%).

Das Verhalten eines Punktes auf einer rauhen Fläche ist unter der Voraussetzung behandelt worden, dass die Reibung dem Druck auf die Fläche proportional sei?) (vgl. Nr. 6 dieses Artikels). Wenn X,

194) V. Puiseux, J. de math. (1) 7 (1842), p. 517; vgl. A. Bravais, Note VI in Bertrands Ausgabe der Mecanique von Lagrange, Paris 1853, 2, p. 352. @. H. Halphen, Traite des fonctions elliptiques 2 (1888), p. 128. Einfache Beweise für beide Sätze gab A. de Saint-Germain, Bull. sciences math. (2) 20 (1896), p. 114, (2) 22 (1898), p. 95; Caen Mem. de l’Ac. 1901.

195) Me&canique, 2. Ed. 2, p. 439.

196) Quart. J. of math. 10 (1869), p. 220.

197) Mecanique 1, p. 487.

198) J. A. Lissajous, Ann. phys. chim. (3) 30 (1852); vgl. auch F‘ v. Strelecki, Wien Ber. 65 (1872), p. 189 sowie L. Boltzmann, Prinzipe 1, p. 53.

199) Leipzig Ber. 1886, p.1. J. Th. Graves, Dublin Proc. 1842 und T'. Preston, Dublin Irish Trans. 29 (1889), p. 321; H. Resal, Paris C. R. 90 (1880), p. 889, 987, J. de math. (3) 7 (1881), p. 33; vgl. H. Liebmann, Leipzig Ber. 1903, p. 146.

200) J. de math. (3) 2 (1876), p. 325; vgl. schon A. Enneper, Gött. Nachr. 1869, p. 62.

201) Diss. Berlin 1885.

202) E. Ch. Catalan, J. de math. (1) 11 (1898), p. 212.

203) J. Jellett, Reibung, Kap. 4; P. Appell, Paris C. R. 114 (1892), p. 331; 4A. Mayer, Leipzig Ber. 1893, p. 379.

15. Der einzelne Punkt: Bewegung auf einer krummen Fläche. 507

Y, Z die Komponenten der wirkenden Kraft, k, !, m die Richtungs- cosinus der Flächennormale bezeichnen, wenn ferner N der Normal- druck und f der Reibungskoeffizient ist, so lauten die Differential- gleichungen der Bewegung auf einer festen rauhen Fläche:

(mi—X+Nk—f|N|#,

(R) my-Y+N—f|N|f,

(mi=Z+Nm—f|N|%;

dazu kommt die Gleichung der Fläche.

Die Integration ist bis jetzt nur in wenigen Fällen gelungen ®%). Eine eigene Betrachtung erfordert die Bewegung aus der Ruhe. Sind Fr und F', die absoluten Werte der tangentialen und der normalen Komponente der wirkenden Kraft %, so bleibt der Punkt in Ruhe, wenn Fr<fFy ist, und er setzt sich in Bewegung, falls Fr>fFy ausfällt, dann aber sind die Gleichungen (R) nicht unmittelbar an- wendbar, weil der Nenner v verschwindet; wie man trotzdem eine der Anfangsbedingung v —= (0 genügende Lösung erhalten kann, hat T. Levi-Civita gezeigt?®).

Auch die Bewegungen auf beweglichen glatten oder rauhen Flächen haben Beachtung gefunden?®). Sie spielen eine gewisse Rolle in der Theorie der Turbinen, insofern man annımmt, dass die Wasserteilchen wie diskrete Teilchen, jedes für sich, auf den be- weglichen Rädern laufen”). Das grösste Interesse hat aber die Be- wegung eines schweren Punktes auf einer bewegten Kugelfläche erregt, weil es zu einem experimentellen Nachweise der Drehung

204) J. Jellett, Reibung, p. 107 (schwerer Punkte auf schiefer Ebene, vgl. dazu H. Lorenz, Mechanik, p. 189); A. de Saint-Germain, Bull. sciences math. (2) 16 (1892), p. 223 (schwerer Punkt auf vertikaleın Kreiszylinder); A. Mayer, Leipzig Ber. 1893, p. 379 (Trägheitsbewegung); @. Pennacchietti, Palermo Cire. mat. Rend. 7 (1893), p. 236; P. Stäckel, Leipzig Ber. 1894, p. 197 (Bewegungen auf Kreiszylinder und Kreiskegel; weitere Ausführungen bei W. Bahrdt, Diss. Kiel 1901); W.de Tannenberg, Nouy. ann. (3) 15 (1896), p.201 (Gausssche Koordinaten); A. Razzaboni, Giorn. di mat. 34 (1896), p. 37 (schwerer Punkt auf einem vertikalen Zylinder, dessen Querschnitt eine logarithmische Spirale ist).

205) Arch. Math. Phys. (3) 5 (1903), p. 28.

206) Historisches bei P. van Geer, Nieuw Arch. for wisk. 7 (1881), p. 164; 8 (1882), p. 1; Aufgaben bei M. Jullien, Problemes 2, p. 5 und P. Appell, Me&canique 1, chap. 13; für rauhe Flächen bei J. Jellett, Reibung, Kap. 4; siehe auch F'. Roth, Repert. d. Physik 22 (1886), p. 354 und W. Timpe, Diss. Halle 1889.

207) @. Herrmann, Die graphische Theorie der Turbinen und Kreiselpumpen, Berlin 1887; E. A. Breuer, Grundriss der Turbinentheorie, Leipzig 1899, p. 19.

508 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

der Erde geführt hat. Nachdem schon im 17. Jahrhundert zu Florenz Versuche nach dieser Richtung hin angestellt worden waren*®) und nachdem $. D. Poisson die Theorie, allerdings unter gewissen Vernach- lässigungen, aufgestellt hatte?0®), ist es zuerst L. Foucault nach jahre- langen Bemühungen gelungen, zum Ziel zu gelangen!°). Wegen der weiteren Litteratur und der experimentellen Einzelheiten sei auf IV 7 (Ph. Furtwängler) verwiesen.

Endlich kann sich Lage und Gestalt der Fläche mit der Zeit in vorgeschriebener Weise ändern. Die Lagrangeschen Gleichungen mit den Parametern q, und 4, behalten dann ihre Gestalt

d (oT ER a ran. ar.

a ae ae ah aber die lebendige Kraft 7’ wird eine Funktion zweiten Grades von q, und @,, deren Koeffizienten von q,, 9, und £ abhängen ?"!),.

16. Nichtholonome Bedingungen. Nichtholonome Bedingungen gewinnen eine anschauliche Bedeutung erst dann, wenn es sich um die Bewegung fester Körper handelt, die einander in ihren Bewegungen beeinflussen, zum Beispiel auf einander rollen oder gleiten. Sie haben jedoch auch eine Stelle in der Punktmechanik, da sich solche Be- wegungen nicht selten durch die Bewegungen repräsentierender Punkte ersetzen lassen. Auch ist es aus pädagogischen Gründen wünschens- wert, einfache Beispiele nichtholonomer Bewegungen zu haben. Ein solches Beispiel hat F. Klein angegeben?"?): es ist ein Karren, der sich auf einer horizontalen Ebene bewegt und wegen der Reibung an der Unterlage immer nur in der Richtung seiner Axe fortschreiten kann. Wenn der in der Axe befindliche Schwerpunkt des Karrens die Koordinaten x, y hat und der Winkel der Axe mit der positiven x-Axe oder kurz das Azimuth der Axe mit z bezeichnet wird, so er-

208) T. Bertelli, Bull. di bibl. di Boncampagni 6 (1873), p. 1; A. Genocchi, ebenda 15 (1882), p. 631.

209) J. &c. polyt. cah. 26 (1838), p. 15; vgl. die kritischen Bemerkungen von J. Binet, Paris C. R. 32 (1851), p. 157, 197; J. Liouville, ebenda, p. 159; L. Poinsot, ebenda, p. 206; O. Röthig, Zeitschr. Math. Phys. 24 (1879), p. 133. Wegen der neueren Litteratur vgl. IV 7 (Ph. Furtwängler).

210) Paris C. R. 32 (1851), p. 135; vgl. auch F. Rosenberger, Geschichte der Physik 3, Braunschweig 1887, p. 438.

211) P. Appell, Me&canique 1, p. 467; V. Amato, Catania Acc. Gioenia Atti (4) 14 (1901), Giorn. di mat. 39 (1901), p. 251; Catania Acc. Gioenia Atti (4) 17 (1904), Nr. 13; Palermo Circ..mat. Rend. 19 (1905), p. 57.

212) Zeitschr. Math. Phys. 47 (1902), p. 255; vgl. auch L. Maurer, Gött. Nachr. 1905, p. 91, wo jedoch der Einfluss der Reibung nicht berücksich-

tigt wird.

16. Der einzelne Punkt: Nichtholonome Bedingungen. 509

giebt sich die nichtholonome Bedingungsgleichung dy tgz-da =.

Ähnliche Betrachtungen würden sich auch für die Bewegung der Rolle bei einem Integraphen anstellen lassen.

Ein anderes lehrreiches Beispiel ist die Untersuchung der kürzesten Linien im Nullsystem, oder genauer, in der Schar aller Schrauben- linien desselben Parameters und derselben Axe, die A. Voss?'?) durch- geführt hat; vom Standpunkte der Flächentheorie handelt es sich da- bei um die Übertragung des Begriffes der kürzesten Linien auf nicht- integrable Pfaffsche Gleichungen zwischen drei Veränderlichen*!#).

Durch eine nichtholonome Bedingung wird nur die Beweglichkeit im Infinitesimalen beschränkt, aber nicht der Grad der Freiheit. Zum Beispiel kann der vorher betrachtete Karren von jeder Stelle der Ebene nach jeder anderen Stelle gebracht werden, und zwar so, dass das Azimut in beiden Punkten einen vor- geschriebenen Wert erhält; der Karren ist P, \ also ein System mit drei Graden der Freiheit, obwohl zwischen x, y, z die Gleichung dy tgz.dze = 0 besteht. Allerdings muss man es geschickt anfangen, um den Karren etwa in einer engen Strasse von einer Seite auf die andere (mit demselben Azimute) zu bringen; siehe die nebenstehende Figur.

Die Paradoxie dieser Erscheinung ver- schwindet, wenn man bedenkt, dass eine holonome Bedingung pdx + qgdy-+rdz = 0 Fig. 3. mit einer Bedingung f(x, y, 2) = const. äqui- valent ist, wo der Konstanten ein beliebiger Wert beigelegt werden darf. Die Differentialgleichungen der Bewegung

mki=X-+4p, my=Y-4Ag, mi=Z+Ar

sind daher, wenn man die Analogie mit dem nichtholonomen Fall aufrecht erhalten will, als die Gleichungen der Bewegung eines

213) Math. Ann. 25 (1885), p. 283; vgl. auch H. Liebmann, Math. Ann. 52 (1899), p. 120.

214) Ein Ansatz dazu schon bei E. Kummer, J. f. Math. 57 (1859), p. 189; vgl. ferner A. Voss, Math. Ann. 23 (1884), p. 45 und R.v. Lilienthal, Krümmungs- lehre der Kurvenscharen, Leipzig 1896 und Math. Ann. 52 (1899), p. 417; dieser unterscheidet bei den allgemeinen doppelt unendlichen Kurvenscharen kürzeste und geodätische Linien.

510 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Punktes auf der Flächenschar f(x, y, 2) = const. aufzufassen, und der Unterschied gegen den nichtholonomen Fall liegt darin, dass sich die oo‘ Bahnen jetzt zu je oo° auf die oo! Flächen der Schar ver- teilen, während sie in dem nichtholonomen Fall den Raum erfüllen.

Sind mehrere nichtholonome Bedingungen vorhanden, so kann sich der Grad der Freiheit erniedrigen; für die genauere Unter- suchung, die die allgemeine Theorie der Pfaffschen Gleichungen er- fordert, sei auf IV 12 (P. Stäckel) verwiesen.

b) Systeme materieller Punkte.

Bei der Dynamik des einzelnen Punktes durfte der Versuch ge- wagt werden, die zahlreichen speziellen Untersuchungen systematisch darzustellen, dagegen kann bei der Dynamik der Systeme nur eine Zusammenstellung von Einzelheiten gegeben werden, die sozusagen zufällig behandelt worden sind. In diesem Abschnitt sollen jedoch Systeme, deren Punkte starr miteinander verbunden sind, unberück- sichtigt bleiben; denn über die gesamte Dynamik starrer Körper wird wegen ihres eigenartigen Charakters und ihrer grossen Wichtig- keit in dem zweiten Teile des Artikels ein selbständiger Bericht er- stattet werden.

17. Spezielle Probleme aus der Statik der Systeme; statische Behandlung kinetischer Probleme.

17a. Statik der Systeme. Die Statik der Systeme lässt sich auf zwei wesentlich verschiedene Arten begründen, je nachdem man näm- lich von dem statischen oder dem dynamischen Kraftbegriff ausgeht; vgl. IV1, Nr. 18 und 23 (A. Voss). Bei der ersten Art erscheint die Statik als die selbständige science de l’equilibre des forces?), bei der zweiten dagegen als ein Grenzfall der Kinetik, insofern die relative Ruhe des Systems gegen das gewählte Bezugssystem als Grenzfall der Bewegung gegen das Bezugssystem aufgefasst werden kann?!)

215) J. L. Lagrange, M&canique 1, p. 1.

216) Während Lagrange zwischen Statik als der Lehre von dem Gleichgewichte der Kräfte und der Ruhe und Dynamik als der Lehre von den beschleunigenden Kräften und der Bewegung unterscheidet und Statik und Dynamik getrennt be- handelt, hat man im 19. Jahrhundert vielfach unter Dynamik, der Bedeutung des Wortes entsprechend, die gesamte Wissenschaft von den Kräften verstanden, von welcher Statik und Kinetik Unterabteilungen bilden; das Wort Kinetik scheint von W. Thomson (Handbuch 1, p. VI) herzurühren. Zu beachten ist auch, dass Statik und Dynamik oft schlechtweg Statik und Dynamik der Punktsysteme und starren Körper bedeuten, so dass man also kontinuierliche, deformierbare Systeme ausdrücklich ausschliesst; die von A. Maggi vorgeschlagenen Bezeichnungen

17. Spezielle Probleme aus der Statik der Punktsysteme. 511

Bei der statischen Behandlung wird häufig die Konfiguration des Systems als gegeben angesehen und nach den Kräftesystemen gefragt, unter deren Einwirkung das System keine Beschleunigungen erfährt. Bei der dynamischen Behandlung sieht man dagegen oft die Kräfte als gegeben an und untersucht, welche Konfiguration das System haben muss, damit es in Ruhe verharren kann. Ferner wird dort häufig die geometrische, hier die analytische Methode vorgezogen. Ein typischer Vertreter der statischen Auffassung ist etwa P. Varignon, Nouvelle mecanique, 1725, der dynamischen L. Euler, Mechanica sive motus scientia, 1736.

Die geometrische Seite der Statik haben, anknüpfend an die moderne Entwicklung der Statik des starren Körpers und der aus starren Körpern gebildeten Systeme, H. E. Timerding, @. Jung und L. Henneberg in den vorhergehenden Artikeln zur Geltung gebracht. Was die allgemeine Statik der Systeme anlangt, so muss für die Einzel- heiten auf die Werke von J. Todhunter (1853), @. M. Minchin (1877) und E. J. Routh (1892) verwiesen werden. Zur Ergänzung sollen nur noch einige Bemerkungen hinzugefügt werden.

Das Gleichgewicht bei Systemen, bei denen Bedingungsungleich- heiten bestehen, hat neuerdings eingehend P. Appell behandelt?!?). Für Probleme des Gleichgewichts, bei denen Reibung ins Spiel kommt, vergleiche man J. Jellett, Reibung, Kapitel 3 und, soweit technische Anwendungen in Frage kommen, den Artike IV 10 (K. Heun).

In die elementare Statik der Systeme gehören auch diejenigen Untersuchungen, bei denen Aufgaben der Attraktion anschauungsmässig und mit einfachen mathematischen Hilfsmitteln behandelt werden ?'8). Za nennen ist hier zunächst die Aufgabe, unter den homogenen Körpern derselben bestimmten Art und der gleichen Masse denjenigen zu bestimmen, bei dem die Maximalattraktion für einen Punkt der Oberfläche den grössten Wert hat. Wenn man gar keine Voraus- setzung über die Gestalt macht, ergiebt sich der Rotationskörper, dessen erzeugende Kurve in Polarkoordinaten die Gleichung:

r?— a?cos#

hat; unter der Annahme, dass eine Kugel derselben Masse auf einen Punkt

Stereostatik und Stereodynamik sind zweckmässig, haben aber bis jetzt noch keine grössere Verbreitung gefunden. 217) Mecanique 1, p. 253. 218) Die Litteratur über diesen Gegenstand ist sehr zerstreut; außer den Werken über Statik sei noch genannt J. Todhunter, History of the mathematical theories of attraction, 2 vol., London 1873.

512 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

der Oberfläche die Anziehung Eins ausübt, ist bei diesem Körper in dem Punkte r = 0, $ = 0 die Grösse der Anziehung 1,025986 .. .*?). Ferner gehört hierher der Satz von H. Cavendish, dass das einzige Anziehungsgesetz, für das eine homogene Kugelschicht keine Wirkung auf die Punkte ihres Innern ausübt, das Newtonsche Gesetz ist??°), und endlich ist W. T’homsons Lehre von den centrobaryschen Körpern zu erwähnen ??!).

17b. Statische Behandlung kinetischer Probleme. Bei manchen Bewegungen sind entweder die an den Massenpunkten auftretenden Beschleunigungen so gering oder die Massen so klein, dass man die beschleunigenden Kräfte näherungsweise gleich Null setzen kann. Man wird so zu der Betrachtung von beschleunigungslosen Bewegungen ge- führt, bei denen häufig einfache mathematische Hilfsmittel ausreichen.

Wenn es sich um ein Problem mit einem Grade der Freiheit handelt, und die Differentialgleichung der Bewegung die Form hat:

mgj=f (@ g) wo auf der rechten Seite das Argument g wirklich vorkommt, so giebt es bei geeigneten Annahmen über die Funktion f(g, 9) Bewegungen. bei denen immer mg = 0 ist; sie bilden sogar, allgemein gesprochen, eine von einem Parameter abhängende Schar.

Analoges gilt bei » Positionskoordinaten. Ein einfaches Beispiel liefert die Bewegung eines materiellen Punktes auf einer krummen Fläche. Wird die in der Tangentialebene der Fläche liegende Kompo- nente der eingeprägten Kraft in eine Komponente Fr nach der Tangente der Bahn des Punktes und eine Komponente Fy ‘senkrecht dazu zerlegt und die geodätische Krümmung der Bahn mit k, bezeichnet, so gilt die Relation

Fy= k,- Läßt man hierin über alle Grenzen wachsen, so muß %k, gegen Null geben, d.h. die Bahn verwandelt sich für v= oo in eine geodätische

219) Einen eingehenden Bericht über die zahlreiche Litteratur, die bis weit ins 18. Jahrhundert zurückgeht, gab E. Hoffmann, Bibl. math. (3) 5 (1904), p. 366. Hier seien nur angeführt J. Playfair, Edinburg Royal Soc. Trans. 6? (1809), p. 187; F. Keller, Ricerche sull’ attrazione delle montagne, 1, Rom 1872, Rom Ace. Linc. Mem. 9 (1881), p. 141; Rom Acc. Linc. Rend. (4) 2, (1886), p. 145; E. Lampe, Berlin Phys. Ges. Verh. 3 (1884), p. 46, 56; 15 (1896), p. 84; A. Sella, Rom Acc. Linc. Rend. (5) 1, (1892), p. 350; (5) 2,, p- 90.

220) Phil. Trans. 1798; vgl. W. Thomson und P. @. Tait, Handbuch 2, p. 66.

221) Edinburg Royal Soc. Proc. 5 (1866) (aus dem Jahre 1864); vgl. W. Thomson und P.G. Tait, Handbuch 2, p. 67 sowie. A. Wernicke, Programm Gymn. Braun- schweig 1892.

17. Spezielle Probleme aus der Statik der Punktsysteme. 513

Linie der Fläche??®). Lässt man aber v gegen Null abnehmen, indem man etwa die Fläche mit einer klebrigen Flüssigkeit überzieht, so wird in der Grenze auf der Bahn Fy=0; der Punkt läuft also näherungsweise in einer Kraftlinie der Fläche.

Beschleunigungslose Bewegungen treten immer ein, wenn Reibung stattfindet und der bewegte Körper nur so stark angetrieben wird, dass er die Reibung gerade überwindet und mit konstanter Ge- schwindigkeit vorwärts geht?®). Näherungsweise sind solche Be- wegungen z. B. verwirklicht bei einem Fallschirm oder bei den Regen- tröpfchen in der Luft; man denke auch an Bewegung vieler Maschinen- teile während des normalen Ganges der Maschine?*). Ebenso rechnet man bei Gas- und Wassermessern auf eine beschleunigungslose Be- wegung der hindurchwandernden Massen; plötzliche Geschwindigkeits- änderungen fälschen die Anzeige. Es wäre leicht, aus der Mechanik des täglichen Lebens noch weitere Beispiele anzuführen; wir würden jedoch alsdann aus dem Bereiche der abstrakten Dynamik in den Bereich der angewandten übertreten.

Ebenso kann hier nur angedeutet werden, dass beschleunigungs- lose Bewegungen auch in der modernen Physik eine Rolle spielen. Als Bewegungen durch Gleichgewichtslagen treten sie auf in der Thermo- dynamik reversibler Vorgänge, man findet sie ferner in der Elek- trizitätslehre bei den stationären Strömen und in der Theorie der chemischen Umsetzungen ?*).

Das Prinzip, einen Ansatz zu gewinnen, indem man die in dem Systeme auftretenden beschleunigenden Kräfte gleich Null setzt, lässt sich als statische Behandlung kinetischer Probleme bezeichnen. Die Rolle, die es in der Entwicklung der Mechanik gespielt hat, würde eine eingehende historische Untersuchung verdienen. Hier sei nur erwähnt, daß dieses Prinzip auch in Fällen angewandt worden ist, wo die Voraussetzung nicht zutrifft, dass man die Beschleunigungen ver- nachlässigen dürfe. Hat doch kein geringerer als I. Newton dieses Prinzip zur Erklärung der Ebbe und Flut und der Präzession der Tag- und Nachtgleichen benutzt. Ebenso ist, um ein Beispiel ganz

222) Genaue Durchführung des Grenzüberganges bei J. Andrade, Bull. soc. math. de France 22 (1894), p. 186.

223) Diese Geschwindigkeit kann beliebig gross sein; man darf daher die beschleunigungslosen Bewegungen nicht mit den langsamen Bewegungen ver- wechseln.

224) Vgl. P. Appell, Mecanique, 2, p. 519.

225) Vgl. etwa H. v. Helmholtz, Prinzipien der Statik monozyklischer Systeme, J. f. Math. 107 (1884), p. 111, 317 = Wiss. Abhandl. 3, p. 119.

514 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

anderer Art anzuführen, die Theorie der Dampfmaschinen lange Zeit statisch behandelt worden, und man hat erst, als schnelllaufende Maschinen gebaut wurden, die Massendrucke berücksichtigt). Auch wird noch heute bei der mathematischen Theorie der Bewegung fester Körper in Flüssigkeiten der Druck der Flüssigkeit auf den Körper meist statisch berechnet, was gewiss nur in besonderen Fällen näherungsweise richtig ist.

Umgekehrt giebt es, wie beiläufig bemerkt werden möge, auch eine kinetische Behandlung statischer Probleme; zum Beispiel wird in der kinetischen Gastheorie der statische Druck einer Gasmasse auf die Wandungen des sie einschliessenden Gefässes auf den Stoss der Mole- küle gegen die Wandungen zurückgeführt.

18. Stösse bei Systemen.

18a. Die Anfangswerte der Geschwindigkeiten nach dem Stosse. In der Systematik der Impulse handelt es sich zunächst um Stösse im Sinne der Präzisionsdynamik (vgl. Nr. 3 dieses Artikels, besonders Anmerkung 28). Die Impulse dienen aber auch vielfach als Mittel zur angenäherten Beschreibung von Bewegungsvorgängen, bei denen sehr grosse Kräfte während sehr kleiner Zeiträume wirken, und so kommt es, dass die im Folgenden zu entwickelnden Theorien für die Anwendungen der Dvnamik ganz besondere Wichtigkeit haben.

Wenn die Punkte eines Systems, das sich in Ruhe oder in Bewegung befindet, zur Zeit t, plötzliche Stösse erfahren, so ergiebt sich die Be- wegung, die das System nach der Zeit {, ausführt, wenn man die Differentialgleichungen der Bewegung mit den Anfangsbedingungen integriert, die dem Bewegungszustande nach dem Stosse entsprechen. Die Koordinaten der Punkte haben dabei dieselben Werte, wie vor dem Stosse, aber die Anfangswerte der Geschwindigkeiten sind andere als vorher. Auch erfahren die Werte der Reaktionen zur Zeit 4, plötzliche Änderungen, die man als Stösse der Reaktionen bezeichnet; diese Änderungen zu bestimmen, ist oft unerlässlich, weil die Vorrichtungen, mittels deren man die Bedingungen realisiert, wenn sie nicht zerbrechen oder zerreissen sollen, nur bis zu einer gewissen Grenze beansprucht werden dürfen.

Um die Anfangswerte der Geschwindigkeiten nach dem Stosse zu bestimmen, kann man bei einem holonomen Systeme mit r Graden der Freiheit folgendermassen verfahren. Die zugehörigen Lagrangeschen Gleichungen in den r Positionskoordinaten q,,...,9, seien (vgl.Nr. 7):

226) Vgl. K. Heun, Die kinetischen Probleme der wissenschaftlichen Technik, Jahresber. d. D. M.-V. 9, Heft 2.

18. Stösse bei Punktsystemen. 515

(1) mu en «=1,2,...,r).

In dem kleinen Zeitintervalle von £, bis {,+ r mögen so grosse Kräfte wirken, dass die sogenannten Zeitintegrale über die verallgemeinerten Komponenten der Kraft:

u+7

SQ

bo endliche Werte haben. Wenn man jetzt zur Grenze für r—= 0 über- geht, erhält man die verallgemeinerten Komponenten [Q,] des Stosses, den das System zur Zeit i, erfährt??”). Sie lassen sich aus den gewöhn- lichen Komponenten der Stösse, die auf die Punkte des Systems aus- geübt werden, genau ebenso berechnen, wie die Komponenten der ver- allgemeinerten Kraft aus den gewöhnlichen Komponenten der Kräfte, die auf die Punkte des Systems wirken; man hat zu dem Zwecke nur den Ausdruck der virtuellen Arbeit der Stosskräfte:

zu bilden und in ihm statt der Cartesischen Koordinaten die verall- gemeinerten Koordinaten einzuführen.

Nach diesen Vorbereitungen möge auch bei den Lagrangeschen Gleichungen (1) das Zeitintegral gebildet und zur Grenze fürr = 0

übergegangen werden. Die Glieder liefern dabei den Beitrag

Null, und man erhält daher, wenn die Werte vor und nach dem Stosse durch die Indizes Null und Eins charakterisiert werden, die Glei- chungen:

() u G) Den

Sie besagen, dass die Differenz der Werte der. verallgemeinerten Impulskomponente p, nach und vor dem Stosse gleich der ent- sprechenden verallgemeinerten Stosskomponente ist??”). Die Aufgabe

227) Die Voraussetzungen, die dieser Schlussweise zugrunde liegen, haben untersucht @. Darboux, Note 21 zu der Mecanique von M. Despeyrous und T. Levi-Civita, Meccanica, p. 410.

227°) Die Gleichungen (2) haben einen so anschaulichen Charakter, dass man auch umgekehrt von ihnen ausgehen und daraus die Lagrangeschen Glei- chungen (1) herleiten könnte. Indem man so von den Stößen zu kontinuierlich

T wirkenden Kräften übergeht, erhält man zunächst nur die Glieder d . dass in %”

oT (1) die Glieder ER dt hinzutreten, erklärt sich daraus, dass in dem Zeitelemente %*

dt das Axensystem eine Drehung erfährt; vgl. Nr. 4 und 7 dieses Artikels. Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1, ı. 34

516 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

ist damit zurückgeführt auf die Lösung der Gleichungen (2) nach den r Geschwindigkeitskomponenten (4,),; diese Gleichungen enthalten die Unbekannten in linearer Form.

18b. Die Anfangswerte der Reaktionen nach dem Stosse. Wenn man auf die angegebene Art die Anfangswerte der Geschwindig- keiten nach dem Stosse ermittelt hat, lassen sich auch die zugehörigen Anfangswerte der Reaktionen des Systems bestimmen, indem man das Verfahren benutzt, das bei den sogenannten Anfangsbewegungen (Nr. 19 dieses Artikels) angewandt wird. Auf diese Art erhält man gleichzeitig die Änderungen, die die Reaktionen infolge des auf das System ausgeübten Stosses erfahren haben.

Die von dem Stosse geleistete Arbeit ist:

W-4 3 + WE. Diese Gleichung lässt sich mit Hilfe der Identität Io), = Ze). und der Gleichungen (2) umformen in die Gleichung:

V= 32 (2,1 (ddı (Po) (Au)o}-

War das System zur Zeit i{, ursprünglich in Ruhe, so verschwinden alle Grössen (4,),, und die Arbeit des Stosses wird:

(3) W= + I(p,)ı (G, 1) die durch den Stoss erzeugte kinetische Energie ist also gleich der halben Summe aus den Produkten der Koordinaten des Stosses und der erzeugten Geschwindigkeiten.

Aus dem Ausdrucke (3) ergeben sich leicht folgende Theoreme:

1. Theorem von J. Bertrand: Ein holonomes System materieller Punkte werde dadurch in Bewegung versetzt, dass man auf einige Punkte Stösse ausübt, während die übrigen nur den Bedingungen unter- worfen bleiben. Alsdann ist die dem System zugeführte kinetische Energie grösser als für irgend eine andere Bewegung, die dem System durch dieselben Stösse erteilt werden könnte in Verbindung mit irgend welchen anderen Stössen, die dem System keine Arbeit zuführen ?*®).

2. Theorem von Lord Kelvin: Ein holonomes System materieller Punkte werde dadurch in Bewegung versetzt, dass einigen Punkten

228) J. Bertrand, J. de math. (1) 7 (1842), p. 166. Der Keim dieses Theorems findet sich bei J. Lagrange, Mecanique 1, partie, section 3, Nr. 37; vgl. auch Ch. Delaunay, J. de math. (1) 5 (1840), p. 255 und Ch. Sturm, Paris C. R. 13 (1841), p. 1046.

18. Stösse bei Punktsystemen. 517

und nur ihnen durch geeignete Stösse gegebene Geschwindigkeiten er- teilt werden, während die übrigen Punkte lediglich solche Geschwindig- keiten annehmen, wie sie sich aus den Bedingungen ergeben. Alsdann hat die kinetische Energie bei der wirklich stattfindenden Bewegung den kleinsten Wert, der sich mit den vorgeschriebenen Bedingungen verträgt??°).

A. Gray hat diese beiden Theoreme in das eine zusammengefasst, daß jeder einem holonomen Systeme auferlegte Zwang dessen Träg- heit vergrössert??). Was er darunter versteht, zeigt das Beispiel eines Systems mit einer einzigen Positionskoordinate g, bei dem

man den Quotienten r: als Trägheit bezeichnen kann, da er in die

Masse m übergeht, wenn g eine gewöhnliche Koordinate ist. Die kinetische Energie des Systems ist in diesem Falle gleich 497g. Wenn man also p festhält (Bertrand), so wird durch den Zwang die Energie,

mithin auch 9 verkleinert und z wächst. Wenn man aber 9 festhält

(Lord Kelvin), so wird durch den Zwang die Energie, mithin auch p vergrössert und T wächst wieder.

Ganz ähnliche Betrachtungen, wie sie im vorhergehenden für holonome Systeme durchgeführt wurden, gelten auch für nichtholo- nome Systeme?®!), Hat man nämlich ein solches System mit r Graden der Freiheit und führt r generalisierte Koordinaten q,,...,q, ein, die die Lage des Systems zur Zeit t festlegen, so genügen diese zwar nicht den gewöhnlichen Lagrangeschen Gleichungen, wohl aber Gleichungen der Form:

d oT oT (4) an matten Belhd.ıN

in denen die Zusatzglieder 4, quadratische Formen der 4,,...,9, sind, deren Koeffizienten die g,,...,g, enthalten?®?). Wird daher unter den vorher angegebenen Voraussetzungen das Zeitintegral von fi, bis ty + z gebildet, so liefern auch die Zusatzglieder bei dem Übergange

zu = (0 keinen Beitrag, und man gelangt so wieder zu den

Gleichungen (2).

229) W. Thomson und P. @. Tait, Handbuch, art. 317.

230) Physik 1, p. 264.

231) F. Klein, Zeitschr. Math. Phys. 47 (1902), p. 259; H. Beghin et Th. @. Rousseau, J. de math. (5) 9 (1903), p. 21; vgl. auch die Bemerkung von P. Appell, ebenda p. 27.

232) Vgl. etwa P. Appell, J. de math. (5) 7 (1901), p.5 und @. Hamel, Zeitschr. Math. Phys. 50 (1904), p. 1.

34*

518 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

18c. Ergänzende Bemerkungen. Bei den vorhergehenden Betrachtungen wurde vorausgesetzt, dass die Bedingungen, die vor dem Stosse galten, auch während des Stosses und nach dem Stosse gelten. Das trifft jedoch nicht immer zu. Zum Beispiel wird bei dem ballistischen Pendel von B. Robins das Geschoss im Augenblicke des Auftreffens mit dem Pendel zu einem Körper vereinigt, und es entsteht so eine neue Bedingung, die während des Stosses und nach dem Stosse gilt?®). Dagegen entsteht bei elastischen Kugeln im Augenblicke des Stosses eine neue Bedingung, die Be- dingung der Berührung, die sofort nach dem Stosse wieder aufgehoben ist. Endlich denke man sich zwei materielle Punkte, die durch eine gewichtlose Stange verbunden sind; wenn die Stange bei einem auf das System ausgeübten Stosse N. so ist die Bedingung kon- stanter Entfernung nach dem Stosse aufgehoben. Man hat demnach vier sich ausschliessende Möglichkeiten für die Art einer Bedingung:

1. Bedingungen, die vor dem Stosse, während des Stosses und nachher gelten;

2. Bedingungen, die vor dem Stosse und während des Stosses, aber nicht nachher gelten;

3. Bedingungen, die während des Stosses und nach dem Stosse gelten, aber vorher nicht galten;

4. Bedingungen, die nur während des Stosses gelten.

Bedingungen, die während des Stoßes und nachher gelten, werden auch als persistente Bedingungen bezeichnet; es sind die Arten 1 und 3.2%)

Wie sich die Behandlung von holonomen Problemen mit solchen Bedingungen. bei Anwendung der Lagrangeschen Gleichungen gestaltet, haben besonders Ch. Niven?”®), E. J. Routh??®) und P. Appell”””) unter- sucht; während aber in den Gleichungen von Niven und Routh noch die Stösse der Reaktionen auftreten, die im Augenblicke des Stosses entstehen, hat Appell das Ziel erreicht, alle Reaktionen zu eliminieren.

233) B. Robins, New principles of gunnery, London 1742, deutsch: Neue Grundsätze der Artillerie von L. Euler, Berlin 1745. Genauere Durchführung bei P. Appell, Mecanique 2, p. 493; vgl. auch IV 18 Ballistik (C. Cranz).

234) P. Appell, M&canique 2, p. 500.

235) Messenger of math. 4 (1868), p. 82.

236) Dynamik 1, Kap. 2, 4, 6, 7; dort auch viele Beispiele und Litteratur- angaben.

237) Paris C. R. 116 (1893), p. 1483; J. de math. (6) 2 (1896), p. 5; Meca- nique 2, p. 508.

18. Stösse bei Punktsystemen. 519

Diese Untersuchungen lassen sich auch ohne weiteres auf nichtholonome Systeme ausdehnen.

Auf den Fall, daß bei einem Systeme plötzlich neue Verbindungen eingeführt werden, die nachher erhalten bleiben, bezieht sich das so- genannte T'heorem von L.Carnot: In einem Systeme mögen zur Zeit i, plötz- lich neue Bedingungen eingeführt werden, so dass die Reaktionen des Systems plötzliche Änderungen oder Stösse erfahren. Wenn die ur- sprünglichen und die neuen Bedingungen nach diesen Stössen der Reaktionen fortbestehen, so erhält man den Betrag der lebendigen Kraft, den das System zur Zeit Z, verloren hat, indem man die leben- dige Kraft berechnet, die dem Systeme zukäme, wenn jeder seiner Punkte die Geschwindigkeit hätte, die er bei dem Stosse verloren hat ?®®).

Wenn die Punkte des Systems selbst zur Zeit , Stösse erfahren, bedarf das Carnotsche Theorem einer Modifikation, die @. Robin an- gegeben hat?®®).

Noch verwickelter wird die Untersuchung, falls die Bedingungs- gleichungen die Zeit enthalten oder Bedingungsungleichheiten bestehen; es möge hier auf die Abhandlungen von H. Beghin*®) und A. Mayer *!) verwiesen werden. Ebensowenig ist es möglich, hier auf Bedingungen mit Reibung einzugehen °*?),

Auch die Anwendung der Theorien, über die berichtet wurde, auf natürliche Körper kann hier nur gestreift werden; denn teils handelt es sich dabei um Untersuchungen, die vor dem 19. Jahrhundert an- gestellt worden sind?*?*), teils greift die Elastizitätstheorie ein. Es ge- nüge zu bemerken, daß bei dem physikalischen Stosse die absolute Grösse oder besser Ausdehnung der natürlichen Körper eine ent- scheidende Rolle spielt. Wenn nämlich die Fortpflanzungsgeschwindig-

238) Principes fondamentaux de l’&quilibre et du mouvement, Paris 1803; Bericht über die anschliessende ältere Litteratur bei J. M. C. Duhamel, J. &c. polyt. cah. 24 (1835), p. 1.

239) Paris C. R. 105 (1887), p. 61; vgl. auch P. Appell, Mecanique 2, p. 506.

240) J. de math. (5) 9 (1908), p. 29.

241) Leipzig Ber. 50 (1898), p. 246; 51 (1899), p. 245.

242) Vgl. etwa G. Darboux, Bull. sciences math. (2) 4 (1880), p. 126 und dessen Note 21 in der Me&canique von M. Despeyrous.

242®) Für das 17. Jahrhundert vgl. J. E. Montucla, Histoire des math6- matiques, 2. &d. 2 und E. Mach, Mechanik, Kap. 3, Abschnitt 4, wo über @G. Galilei, M. Marci, J. Wallis, Chr. Wren, Chr. Huygens, J. Newton berichtet wird. Eine Darstellung der Untersuchungen im 18. Jahrhundert, wo vor allen. Joh. Bernoulli und L. Euler zu nennen sind, steht noch aus; dabei würden auch die Versuche zu berücksichtigen sein, die man seit @. L. Lesage gemacht hat, die Gravitation auf Stösse zurückzuführen; vgl. V 2 (J. Zenneck).

520 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

keit der durch den Stoss im Körper hervorgerufenen Wellenbewegung nicht in Betracht kommt, wie bei dem Stosse kleiner Kugeln, lassen sich als Annäherung die Betrachtungen der Punktmechanik anwenden; wenn das aber nicht der Fall ist, wie etwa bei dem Stosse von langen Stäben, muss man seine Zuflucht zu den spezifischen Hilfsmitteln der Elastizitätstheorie nehmen; vgl. IV 26 (H. Lamb). Für den Stoss starrer Körper vgl. auch Nr. 43 dieses Artikels, für die technischen Anwendungen (Stossmaschinen) IV 10 (K. Heun) sowie IV 28 (L. Prandtl).

19. Sogenannte Anfangsbewegungen. Ein System von n mate- riellen Punkten, auf welche gegebene Kräfte wirken und zwischen deren Koordinaten r gegebene, holonome oder nicht holonome Bedingungs- gleichungen bestehen, möge sich in einer bestimmten, mit den Be- dingungen verträglichen Lage befinden, die aber keine Gleichgewichts- lage sei. Indem man geeignete Bedingungsgleichungen hinzufügt, kann man erreichen, dass das System vermöge der sämtlichen Be- dingungen im Gleichgewichte ist. Werden jetzt, etwa zur Zeit &,, die neuen Bedingungen plötzlich aufgehoben, so wird das System sich von der Ruhe aus in Bewegung setzen, und man wird zunächst wissen wollen, in welcher Richtung die einzelnen Punkte des Systems ihre Anfangslage verlassen.

Um die Anfangsrichtungen der Bewegung zu bestimmen, differen- tiiere man die r Bedingungsgleichungen (vgl. Nr. 7):

k ea dy er T,, Yyı By), +9» %,, Yy erg

4) ; dz

+ Ragk-- > 2 Yyr 2) 0 VE! einmal nach der Zeit # und setze = t,. Die Koordinaten X,, Ya, 2 werden alsdann gleich den bekannten Anfangswerten x,°, y,, z,°, ihre ersten Ableitungen nach der Zeit verschwinden. Zur Bestimmung der 3n unbekannten Anfangswerte der zweiten Ableitungen &,°, 3°, 2, setze man auch in den dynamischen Gleichungen:

ME BE a, + —hpfapı (2) MY org z, 2 = hp9apı mi, = Z + —hplap

t—=t,. Auf diese Art findet man +r Gleichungen zur Be- stimmung der 3#+r Unbekannten &,, %,°, 2,°, A,°; die Grössen hg bezeichnen die Anfangswerte der Reaktionen, die im allgemeinen von

19. Anfangsbewegungen. 20. Kleine Schwingungen der Punktsysteme. 521

den Reaktionen während der Ruhe verschieden sein werden, so dass Unstetigkeiten in den Drucken eintreten. Während also bei den Stössen die ersten Ableitungen der Koordinaten Unstetigkeiten erleiden, bleiben diese bei den Anfangsbewegungen stetig, aber die zweiten Ableitungen ändern sich sprungweise. Jetzt erhält man aus den Gleichungen: + (8) Pe ine Al Enz u ar 42,( Fe + 2 die Anfangsrichtungen der Bewegung des Punktes P,, es sei denn, daß für ihn alle drei Grössen &,°, y,°, 2,° verschwinden; sollte das der Fall sein, so hat man in den Taylorschen Entwicklungen nach Po- tenzen von # t, die Glieder dritter Ordnung herzustellen und nötigen- falls noch weiter zu gehen. Der Krümmungsradius g, der Bahn des Punktes P, hat im allgemeinen den Anfangswert Null, das heisst, die Bahn beginnt mit einer Spitze.

In vielen Fällen lassen sich die Rechnungen dadurch abkürzen, daß man Positionskoordinaten einführt, deren höhere Potenzen in den Entwicklungen weggelassen werden dürfen, weil sie zu den gesuchten Anfangswerten keinen Beitrag liefern. Genaueres hierüber findet man bei E. J. Routh (Dynamik 1, p. 180, 420); dort werden auch zahl- reiche Beispiele gegeben, meist in der Form, daß bei einem gegebenen System, das sich in Ruhe befindet, Bedingungen plötzlich aufgehoben werden, indem etwa eine Stütze bricht oder ein Faden reisst, und nun nach der Anfangsbewegung des Systems und nach den Ände- rungen der Drucke gefragt wird.

20. Ausführungen über kleine Schwingungen der Systeme, insbesondere über solche mit Reibung.

In Nr. 9 ist bereits hervorgehoben worden, dass die Lehre von den kleinen Schwingungen in der Physik und in der Technik mannigfache Anwendungen gefunden hat. Für die Einzelheiten möge auf die betreffenden Artikel, vor allen auf IV 26 Schwingungen elastischer Systeme (H. Lamb) und IV 10 Dynamische Probleme der Maschinentechnik (K. Heun) verwiesen werden. Hier soll auf die Abänderungen eingegangen werden, die die Lagrangesche Theorie für die Zwecke der Anwendungen er- fahren hat. Es hat sich nämlich als notwendig erwiesen, dabei neben den Kräften, die von der Lage des Systems abhängen (positional forces bei W. Thomson und P. G. Tait) Widerstandskräfte einzuführen, die bei kleinen Geschwindigkeiten den Geschwindigkeitskomponenten proportional angenommen werden dürfen (motional forces). Man be-

522 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

zeichnet diese Kräfte auch als Reibungskräfte; jedoch ist damit nicht die Coulombsche Reibung gemeint, sondern die Verzögerung (Dämp- fung), die die Bewegung durch den Einfluss von Medien erfährt %®),

20a. Gedämpfte Schwingungen bei Systemen mit einem Frei- heitsgrade. Die erste Veranlassung zur Untersuchung solcher gedämpften Schwingungen scheinen die Oszillationen einer Magnetnadel gegeben zu haben, die in ihrem Schwerpunkte unterstützt ist und aus der Ruhe- lage durch die Einwirkung magnetischer oder elektrischer Kräfte ent- fernt wird (Lehre vom Erdmagnetismus: A. v. Humboldt, Chr. Hansteen (1819), ©. F. Gauss; Elektromagnetismus: H. Chr. Oersted (1820), Er- findung des Multiplikators durch J. S. Schweigger und J. Ch. Poggen- dorff, 1821—22). Bezeichnet qg den Bogen, den das eine Ende der Nadel durchläuft, m ihr Trägheitsmoment, N die magnetische Direktions- kraft, 2% die verzögernde (dämpfende) Kraft, so erhält man die Diffe- rentialgleichung:

(1) mg+ 29 + Ng=(,

die 8. D. Poisson***) und ©. F. Gauss*°) ausführlich behandelt haben.

Wenn zur Abkürzung v. (+) - « gesetzt wird, so ergiebt sich als allgemeines Integral:

g = Ae":r sina(t b), wo A und 5 Integrationskonstanten bedeuten. Es finden also Schwingungen der Periode T= u statt?°), deren Amplituden in geometrischer Progression abnehmen. Die konstante Differenz ihrer Loga- rithmen, die proportional k ist, nannte ©. F. Gauss das logarithmische

Dekrement”*"), es lässt sich unmittelbar aus den Beobachtungen be- stimmen und dient zur Berechnung der Dämpfung Ah.

248) J. L. Lagrange selbst hat solche Widerstandskräfte noch nicht berück- sichtigt, aber auch viele spätere Werke über theoretische Mechanik, so zum Bei- spiel die M&canique von A. Appell, zeigen hier eine Lücke.

244) Me&canique 2. @d. (1833) 1, p. 349. In der ersten Auflage (1811) 1, p. 405 behandelte Poisson den Fall, dass der Widerstand dem Quadrate der Geschwindigkeit proportional ist, einen Fall, den schon I. Newton, Principia, pars 2, sectio 6 untersucht hatte.

245) Anleitung zur Bestimmung der Schwingungsdauer einer Magnetnadel 1837 = Werke 5, p. 389.

246) Ist die Dämpfung so stark, dass Nm h? negativ ausfällt, so erhält man statt der Schwingungen asymptotische Annäherung an eine Ruhelage. Die Möglichkeit einer solchen aperiodischen Bewegung erkannten schon $._D. Poisson, Me&canique 2. €d. (1833) 1, p. 351 und CO. F.Gauss, Werke 5, p. 394; für die weitere Litteratur siehe Anmerkung 170*®. -

247) O. F. Gauss, Werke 5, p. 383.

20. Kleine Schwingungen der Punktsysteme. 523

Ebenso wie für die ungedämpfte harmonische Bewegung läßt sich für die gedämpfte eine einfache geometrische Darstellung geben. Ein materieller Punkt P bewege sich mit gleichförmiger Winkelgeschwin- digkeit auf einem Kreise mit dem Halbmesser u und dem Mittel- punkte 0. Wenn man den Radiusvektor auf irgend einen Durchmesser projiziert, wird die Projektion OQ=s als Vektor durch die Gleichung gegeben:

s= usin(et-+ 6), in der og und 6 Konstanten bezeichnen. Falls Dämpfung stattfindet, tritt an die Stelle des Kreises eine logarithmische Spirale, auf der sich wieder P mit gleichförmiger Winkelgeschwindigkeit, in Bezug auf den Pol der Spirale, bewegt*’®). Für die Projektion OQ=s des Radius- vektors OP auf irgend eine durch den Pol gehende Gerade gilt dann die Gleichung: s= Ace": sin(gt-+ 0).

Erzwungene gedämpfte Schwingungen entstehen, wenn man noch eine periodisch wirkende störende Kraft hinzunimmt, also etwa, im ein- fachsten Falle, C cosat. Das allgemeine Integral der Differential- gleichung:

(2) mg + 2hg + Ng=( cosat

setzt sich aus zwei Summanden zusammen, von denen der erste die für C=0 stattfindenden Eigenschwingungen, der zweite *—= P cos (at-+b) die durch die störende Kraft erzwungenen Schwingungen darstellt; P und 5b bedeuten Konstanten, die bestimmte Werte haben. Man hat also jetzt zwei interferierende Schwingungen?*?). Wenn Dämpfung vorhanden ist, erlöschen jedoch nach einiger Zeit die Eigenschwin- gungen und es bleiben die erzwungenen Schwingungen g* allein übrig; dagegen kommt es am Anfange, wenn die Perioden der beiden Schwingungen nahezu gleich sind, zu Schwebungen**®).

Vielfach ergiebt sich eine Vereinfachung in der Behandlung solcher Schwingungen, wenn man g und die störende Kraft als die reellen Teile von komplexen Grössen z und Ce'“'! auffasst, so dass an die Stelle von (2) die Gleichung tritt:

(3) LZ+2M3 + Ns = (ed. Man genügt der Gleichung (3) im besonderen durch z = z* = Be*',

247°) Vgl. P.@. Tait, Edinburg Roy. Soc. Proc. 6 (1869), p. 221 [1867] = Scientific papers 1, Cambr. 1898, p. 78.

248) Die Ausdrücke interferieren, Interferenz rühren von Th. Young her, Phil. Trans. 1802 (interfere), 1804 (interference).

249) Vgl. etwa die Darstellungen bei A. Föppl, Dynamik, erster Abschnitt, $6 und H. Lorenz, Mechanik, Kap. 4.

524 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

wo B eine komplexe Konstante bedeutet, deren Wert sofort zu be- rechnen ist; bei den elektrischen Anwendungen ist L die Selbst- induktion, M der Ohmsche Widerstand, N das Reziproke der Kapazität, Ce*—= die (vektoriell aufgefasste) elektromotorische Kraft. Die neuere Elektrotechnik hat diese Auffassung den graphischen Methoden zu Grunde gelegt, die bei der Behandlung von sogenannten quasistationären Wechselströmen zur Anwendung gelangen, d.h. von Wechselströmen, die im ganzen Stromkreise näherungsweise gleichzeitig verlaufen; mittels der bekannten geometrischen Darstellung der komplexen Grössen lassen sich nämlich z* und & durch die Punkte von zwei konzentrischen Kreisen darstellen, und hieraus folgen einfache Kon- struktionen für den induzierten Strom 2°).

20b. Gedämpfte Schwingungen bei Systemen mit mehr als einem Freiheitsgrade. Weit schwieriger gestaltet sich die Behandlung der ge- dämpften Schwingungen bei Systemen von mehr als einem Grade der Freiheit, die ziemlich gleichzeitig E. J. Routh?°®) und W. Thomson ?®!) in Angriff genommen haben und mit denen sich später besonders Lord Rayleigh?°”) beschäftigt hat. Die ungedämpften Schwingungen eines Systems, bei dem die Kräfte eine Kräftefunktion haben, lassen sich nämlich in die Reihe der Hauptschwingungen zerlegen, die unabhängig voneinander erfolgen, so dass durch Einführung der Hauptkoordinaten das Problem auf die wiederholte Untersuchung von Systemen mit einem Grade der Freiheit zurückgeführt ist. Sobald jedoch Dämpfung stattfindet, sind die Veränderungen der einzelnen Positionskoordinaten untrennbar miteinander verknüpft; man hat sich also vorzustellen, dass das betrachtete System aus einer Reihe von gekoppelten zwangläufigen Systemen besteht.

Wenn ein System durch periodische störende Kräfte in Bewegung versetzt wird, so entstehen freie und erzwungene Schwingungen. Sind keine Widerstandskräfte vorhanden, so bleiben beide Arten von Schwingungen nebeneinander bestehen, treten aber solche Kräfte hin-

250) Die Benutzung komplexer Grössen findet sich schon in den Arbeiten von A. L. Cauchy, vgl. auch H.v. Helmholtz, Berlin Ber. 1878, p. 488 Wiss. Abhandl. 1, p. 463 und Lord Rayleigh, Phil. Mag. 1886; für die elektrotech- nischen Anwendungen vgl. C. P. Steinmetz, Elektrotechn. Zeitschr. 1893, p. 597, 631, 641, 653, Theorie und Berechnung der Wechselstromerscheinungen, Leipzig 1900, sowie J. L. la Cour, Theorie der Wechselströme und Transformatoren, Berlin 1902, p. 46..

250°) Dynamik 2, Kap. 7.

251) Treatise (1867), $ 343.

252) Scientif. papers 2, p. 188; Theory of sound, London 1877/78, 2. ed. London 1894/95.

20. Kleine Schwingungen der Punktsysteme. 525

zu, so nimmt die Amplitude der freien Schwingungen beständig ab, und diese werden schliesslich unmerklich. Dagegen sind die erzwungenen Schwingungen permanent, und die Wirkung der Dämpfung zeigt sich darin, daß sich die Amplituden der permanenten Schwingungen in festen Grenzen halten. Sind die Perioden der permanenten Schwingungen alle sehr gross, so werden diese für das Auge kaum wahrnehmbar sein; nach E. J. Routh heisst die Bewegung des Systems in diesem Falle ruhig. Giebt es aber unter den Perioden solche von kurzer Dauer, so scheint die mittlere Bewegung zitternd zu sein.

Als Beispiel sollen hier die Lagrangeschen Differentialgleichungen der Bewegung für den Fall von zwei Graden der Freiheit aufgestellt werden. Die kinetische Energie 7, die Zerstreuungsfunktion F'®) und die potentielle Energie V seien der Reihe nach durch die Aus- drücke dargestellt:

T=%(a,2° + 20,82% + 431?), F=3(,3°+ 25,24 + b2 3°), V=tlen® +22 + a Y}). Bedeuten X und Y die störenden Kräfte, so lauten die gesuchten Gleichungen: (4) | titten tt y— X, tt tt ay—=T; dabei gelten die Symmetriebedingungen a; = Ay, dis = by, As = Car Wenn X und Y verschwinden, erhält man die Eigenschwingungen des Systems, zu denen alsdann die erzwungenen Schwingungen additiv

hinzutreten. Zur Ermittelung der Eigenschwingungen dient der von J. d’Alembert?°?*) angegebene Ansatz. == Act, y Be,

aus dem für die Konstante A eine Gleichung zweiten Grades folgt. Für die Durchführung im einzelnen sei auch eine Abhandlung von M. Wien genannt, die zahlreiche physikalische Anwendungen ent- hält); zu diesen ist in neuester Zeit die drahtlose Telegraphie hinzugetreten ?°°®).

Die Gleichungen (4) behalten einen dynamischen Sinn, wenn man darin den Konstanten b,, und b,, beliebige Werte beilegt. Die

252°) Berlin, M&m. 4 annde 1748 (1752), p. 289.

253) Ann. Phys. Chem. (2) 61 (1897), p. 151; vgl. auch A. @. Webster, Dy- namics, $ 45 und A. Sommerfeld, Elektrotechn. Zeitschr. 25 (1904), p. 273, 291, 469; Wüllner-Festschrift, Leipzig 1905, p. 162.

253°) Vgl. etwa J. Zenneck, Elektromagnetische Schwingungen und draht- lose Telegraphie, Stuttgart 1905.

526 IV 6. P. Stäckel.‘. Elementare Dynamik.

Glieder mit © und % lassen sich alsdann in der Form schreiben: db, a 3 (bis ie b2,)% = 3 (bis ns b4)9, lbs + da) 4 59:9 3 (die ba); die schiefsymmetrischen Glieder + $ (bj; b,,)% und 3 (bj, by) heissen nach W. Thomson und P. @. Tait gyroskopische Terme; sie treten nämlich auf, weun man die relative Bewegung von Systemen betrachtet und rühren von der Drehung des Systems gegen ein festes System her”). Solche gyroskopische Terme ergeben sich auch, wenn die Bedingungen von der Zeit abhängen, oder wenn dem Systeme Gyrostaten angehören; vgl. Nr. 44 dieses Artikels.

20c. Stabilität des Gleichgewichts. In engem Zusammenhange mit der Lehre von den kleinen Schwingungen steht die Frage nach der Stabilität des Gleichgewichts. Da jedoch die elementaren Mittel nur selten zu einer Entscheidung über die Stabilität ausreichen, genüge hier folgende Bemerkung. Wenn ein System, auf das gegebene Kräfte wirken, im Gleichgewicht ist, so bleibt das Gleichgewicht erhalten, falls man zu den vorhandenen Verbindungen neue Verbindungen hinzufügt. Dass aber auch die Stabilität erhalten bleibt, gilt ohne Weiteres nur dann, wenn die Kräfte von einer Kräftefunktion herrühren. Ist das jedoch nicht der Fall, so kann es sehr wohl eintreten, dass durch die Hinzufügung von Verbindungen die Stabilität nicht verstärkt, sondern zerstört wird ?°*#),

21. Sonstige Probleme aus der Kinetik der Systeme.

21a. Freie Systeme. Bei der freien Bewegung eines einzelnen Punktes in der Ebene oder im Raume (Nr. 13) betrachtet mar mit Vorliebe Kraftfelder, die von festen Attraktionszentren herrühren. In Wirklich- keit werden sich jedoch diese Zentren ebenfalls bewegen, wenn auch unter Umständen sehr langsam, und man wird so zu dem Problem geführt, die Bewegung eines Systems freier materieller Punkte zu er- mitteln, die sich gegenseitig anziehen). Hierher gehört im Be-

254) Treatise, $ 345 VI; zuerst in der Ausgabe vom Jahre 1883.

254°) J. Andrade, Bull. soc. math de France 25 (1897), p. 49; Paris C. R. 127 (1898), p. 712; L. Lecornu, Paris C. R. 126 (1898), p. 1777; Bull. soc. math. de France 26 (1898), p. 163.

255) Für die kinematische Betrachtung bieten solche Systeme freier Punkte gegenüber dem einzelnen Punkte kaum etwas Neues. Höchstens wäre das Problem des Zusammenstosses zu nennen, das jedoch sofort aus der Punktmechanik hinausführt, da es sich bei dem Zusammenstosse nur um Körper endlicher Aus- dehnung handeln kann. Dagegen spielt die Dynamik solcher Systeme nicht nur in der Astronomie, sondern auch in der Physik eine grosse Rolle; man denke nur an die zahlreichen Versuche, die Atomistik streng durchzuführen.

21. Sonstige Probleme aus der Kinetik der Punktsysteme. 527

sonderen das astronomische Vielkörperproblem; ein Bericht über die umfangreiche Litteratur wird nach der mathematischen Seite hin in IV 12 (P. Stäckel), nach der spezifisch astronomischen hin in VI 2 12 (E. T. Whittaker) gegeben werden.

Hier ist nur zu erwähnen, dass das astronomische Zweikörper- problem sich sofort auf das Problem der Anziehung eines einzigen Punktes durch ein festes Zentrum zurückführen lässt?°°), dass dagegen das astronomische Dreikörperproblem nur in ganz speziellen Fällen eine elementare Behandlung gestattet, nämlich in den beiden von J. L. Lagrange entdeckten Fälle, dass die drei Punkte immer in einer Geraden liegen oder immer ein gleichseitiges Dreieck bilden®”), „Diese Lösungen scheinen beim ersten Anblick nur oberflächliches Interesse zu haben; verschiedene Untersuchungen haben indessen gezeigt, dass sie von der grössten Bedeutung für das allgemeine Problem sind, und dass sie wahrscheinlich in engem Zusammenhange mit den wesentlichen Singu- laritäten der Integrale stehen“ ?°®). A. Lehmann-Filhes hat entsprechende Untersuchungen für vier Punkte angestellt, die stets ein regelmässiges Tetraeder bilden, und für beliebig viele Punkte, die stets in einer Geraden liegen®®). Auch die „numerischen Experimente“ von @. H. Darwin sind hier insofern anzuführen, als die mathematischen Hilfs- mittel, deren Darwin sich zur Berechnung der Bahn eines Satelliten um zwei Hauptkörper bedient hat, wesentlich elementarer Art sind ?°).

Was andere Kraftgesetze betrifft, so lässt sich das Vielkörper- problem für Anziehung proportional der Entfernung auf elemen- tarem Wege lösen®®!). Femer ist die Bewegung von drei Punkten,

256) I. Newton, Principia, lib. I, sectio 11.

257) Paris Prix de l’acad. 9 (1772) = Oeuvres 6, p. 227; vgl. auch L. Euler, Petersburg Nov. Comment. 11 ad annum 1765, p. 144 und Nova acta 3 ad annum 1785, p.126; P. $. Laplace, M&canique celeste 4, p. 307; J. Liouville, Connais- sance des temps 1845, Additions, p.3; E. J. Routh, Dynamik 1, p. 257; A. Ljapunoff, Charkow Ges. (2) 2 (1889), p. 1; P. Pizzetti, Rom Acc. Linc. Rend. (5) 13! (1904), p. 17. Den speziellen Fall, dass zwei der drei Punkte gleiche Masse haben und der dritte mit ihnen immer ein gleichschenkliges Dreieck bildet, betrachtete D. Gorjatschef', Moskau Ges. der Freunde der Naturkunde, Phys. Section, 7 (1895), 8 (1896).

2568) C.L.V.Charlier, Die Mechanik des Himmels 2, Leipzig 1905, p. 89; hier findet man auch einen Bericht über die Untersuchungen, die @. W. Hill und H. Poincare in diesem Zusammenhange angestellt haben.

259) Astr. Nachr. 127 (1891), p. 137; vgl. W. Veltmann, Astr. Nachr. 86 (1875), p. 17 und die Bemerkungen, die H. Bruns dazu gemacht hat, Fortschr. d. Math. 7 (1875), p. 568, sowie R. Hoppe, Arch. Math. Phys. 64 (1879), p. 218.

260) Acta math. 21 (1897), p. 99; Math. Ann. 51 (1899), p. 523.

261) H. Pfaff, Progr. Holzminden 1887, wo auch der Fall behandelt wird,

528 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

die sich auf einer Geraden bewegen und einander umgekehrt propor- tional dem Kubus der Entfernung anziehen, mittels Quadraturen gelöst worden ?°?).

21b. Gebundene Systeme. Seitdem J. d’Alembert 1743 in dem Traite de dynamique den Weg gebahnt hatte, sind kinetische Probleme, bei denen zwischen den Punkten des Systems Verbindungen bestehen, in so grosser Anzahl untersucht worden, dass hier nur einige Beispiele angeführt werden können und im übrigen auf die Lehrbücher und Aufgabensammlungen verwiesen werden muss.

An erster Stelle sei die Atwoodsche Fallmaschine genannt, die zwar aus dem 18. Jahrhundert stammt), aber als einfachster Typus eines gebundenen Systems auch im 19. Jahrhundert vielfach behandelt worden ist?%),

V. Puiseux hat die Bewegung einer homogenen, schweren Kette betrachtet, die auf einer festen, ebenen oder räumlichen Kurve gleitet?®). Es sei 2! die Länge der Kette, und man bezeichne mit s die von dem festen Punkte O der Kurve aus bis zu dem Punkte P gemessene Bogenlänge, bei deren Einführung als Parameter die Höhe z von P über der Horizontalen gleich f(s) wird, mit q aber die Bogen- länge von O bis zu dem Mittelpunkte M der Kette, von dem aus sie sich also nach beiden Seiten in der Länge ! erstreckt. Alsdann liefert der Satz von der lebendigen Kraft für die Bewegung des Systems mit dem Freiheitsgrade Eins die Differentialgleichung:

= —3lfa+d—fa—D),

die der Differentialgleichung für die Bewegung eines materiellen Punktes analog ist. Die Bewegung ist von der Länge 2! der Kette unabhängig, wenn die feste Kurve entweder eine Schraubenlinie auf einem vertikalen Zylinder oder eine Zykloide mit vertikaler Achse

daß die Punkte gezwungen sind, in festen Ebenen zu bleiben; vgl. jedoch schon I. Newton, Principia, lib. I, prop. 64.

262) C. @. J. Jacobi, J. f. Math. 29 (1845) Werke 4, p. 478; dazu eine nachgelassene Abhandlung Werke 4, p. 533; vgl. H. Eggers, Arch. Math. Phys. (1) 12 (1849), p. 314; E. J. Routh, London Math. Soc. Proc. 6 (1875), p. 86; F. Rudio, J. f. Math. 100 (1887), p. 442; 102 (1888), p. 8; J. Meschtscherskij, Bull. sciences math. (2) 18 (1894), p. 170.

263) G. Atwood, On the rectilinear motion and rotation of bodies, London 1784.

264) Vgl. etwa E. Mach, Mechanik, p.149; es sei auch auf andere Apparate hingewiesen, die zur Veranschaulichung des d’ Alembertschen Prinzips dienen, ebendaselbst, p. 368.

265) J. de math. (1) 8 (1843), p. 71.

21. Sonstige Probleme aus der Kinetik der Punktsysteme. 529

oder deren Abwicklung auf einen vertikalen Zylinder ist. In dem zweiten und dritten Falle ergiebt sich für die Spannung der Kette, wie P. Appell bemerkt hat, ein negativer Wert; man müsste die Kette also in eine Röhre von der Gestalt der festen Kurve ein- schliessen ?*®). Die feste Kurve darf auch Ecken haben, und man findet daher auf dem angegebenen Wege zum Beispiel die Bewegung einer Kette, die von einem Tische herabgleitet.

Vielfache Bearbeitung hat seit dem 18. Jahrhundert die Frage nach der Bewegung zwei- und mehrgliedriger Pendel gefunden ?®”). Als ein zweigliedriges Pendel lässt sich auch das System von Glocke und Klöppel auffassen, das die Aufmerksamkeit erregte, als im Jahre 1875 bei der im Dom zu Cöln aufgehängten Kaiserglocke sich der Klöppel gar nicht relativ zur Glocke bewegte, sondern in deren Mittel- linie verharrte; als Bedingung des Versagens ergab sich, dass der Schwingungsmittelpunkt des Klöppels mit dem Schwingungsmittel- punkt des Systems zusammenfällt, das entsteht, wenn Klöppel und Glocke starr mit einander verbunden werden ?*®),

Endlich möge noch eine irrtümliche Anwendung des Flächen- satzees auf die Bewegungen lebender Wesen erwähnt werden. Wenn sich ein Tier, so argumentierte man?®), ruhend im Raume befindet und keine äusseren Kräfte darauf wirken, so behält sein Schwer- punkt stets dieselbe Lage. Es kann aber auch keine Drehung um den Schwerpunkt ausführen; denn wie es auch seine Muskeln spielen lässt, so werden nur innere Kräfte entwickelt, die nach dem Gesetze der Aktion und Reaktion paarweise gleich und entgegengesetzt sind, und die Summe der Drehungsmomente ist Null. War also die Konstante des Flächensatzes zu Anfang Null, so muss sie stets verschwinden. Das- selbe gilt auch, wenn das Tier aus der Ruhe auf die Erde fällt; denn

266) Me&canique, p. 51.

267) Die ältere Litteratur über zweigliedrige Pendel bei M. Luzxenburg, Zeitschr. Math. Phys. 28 (1883), p. 309; dazu E. Jackwitz, Programm Posen 1881. Für mehrgliedrige Pendel W. Dumas, Festschrift Berlin 1874; @. Lehmann, Programm Rudolstadt 1881.

268) W. Veltmann, Dinglers polyt. J. 220 (1876), p. 481; A. Föppl, Tech- nische Mechanik 4 (1899), p. 290; R. Skutsch, Berlin Math. Ges. Ber. 4 (1905), p. 54. Diese theoretischen Untersuchungen erklären übrigens nur den Vorgang des Ausläutens, nämlich der Bewegung von dem Zeitpunkte ab, wo keine perio- dischen Anstösse von aussen mehr erfolgen. Der eigentliche Läutevorgang verlangt ganz andere Ansätze, namentlich die Berücksichtigung der Erscheinungen bei dem Stosse zwischen Klöppel und Glocke; vgl. IV 10 (K. Heun).

269) Vgl. etwa Ch. Delaunay, Mecanique 1856, deutsche Ausgabe, p. 333. Wegen der richtigen Auffassung siehe auch IV 9 (@. T Walker) Anhang, p. 150.

530 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

die Wirkung der Schwere kommt allein bei der Bewegung des Schwer punktes zur Geltung, und für die Drehung um diesen sind keine äusseren Kräfte zu berücksichtigen.

Dass diese Ausführungen, die in viele Lehrbücher überge- gangen sind, einen Fehler enthalten, zeigt die nicht zu bezweifelnde Tatsache, dass eine Katze, die mit den Beinen nach oben aus hinreichender Höhe fallen gelassen wird, doch auf ihre Füsse zu stehen kommt. Diese Drehung rührt nicht etwa von einem Drehmoment her, das der Katze im Augenblick des Absturzes erteilt worden ist; denn die photographischen Momentaufnahmen, die J. Marey 1894 auf Veranlassung von M. Deprez hergestellt?) hat, zeigen, dass die Katze zunächst so fällt, als ob sie ein starres System mit reiner Translation wäre. Darauf streckt sie ihre Hinter- beine senkrecht zur Körperachse aus und zieht die Vorderbeine dicht an den Nacken; gleichzeitig dreht die Katze ihr Vorderteil um einen möglichst grossen Winkel, wodurch bewirkt wird, dass ihr Hinterteil sich, im entgegengesetzten Sinne, um einen kleineren Winkel dreht. Nunmehr schmiegt die Katze die Hinterbeine dicht an den Körper, streckt die Vorderbeine senkrecht zur Körperachse aus und dreht ihr Hinterteil, in demselben Sinne, wie vorher ihr Vorderteil, um einen möglichst grossen Winkel, wodurch bewirkt wird, dass ihr Vorderteil sich, in entgegengesetztem Sinne, um einen kleineren Winkel dreht. Auf diese Weise hat sie sich als Ganzes um den Unterschied der beiden Winkel gedreht und kommt durch Wiederholung dieses Verfahrens in die gewünschte Lage mit dem Rücken nach oben. Daraus, dass die Konstante des Flächensatzes Null ist, darf man also nicht schliessen, daß keine Drehung statt- findet; nur bei einem starren Körper wäre dieser Schluss erlaubt?").

Dass der Trugschluss, die fallende Katze könne sich, von der Ruhe aus, nicht drehen, so lange unbemerkt geblieben ist, erklärt sich, nach einer Bemerkung von F. Klein, wohl aus dem Umstande, dass es sich dabei im Grunde um das Auftreten einer nichtholonomen Be- dingung handelt. Der analytische Ansatz führt nämlich in seiner

270) Paris C. R. 119 (1894) p. 714; dort auch Reproduktionen der Aufnahmen.

271) E. Guyou, Paris C. R. 119 (1894), p. 717; vgl. auch die Ausführungen ebenda von M. Levy, p. 718, M. Deprez, p. 767, L. Lecornu, p. 899 sowie P. Appell, Bull. soc. math. de France 22 (1894), p, 190; E. Picard, ebenda p. 195; A. de Saint-Germain, Nouv. ann. (8) 14 (1895), p. 184. Nach P. Painleve, Paris C. R. 189 (1904), p. 1170 gilt dieser Schluss auch für jedes System mate- rieller Punkte, bei dem die inneren Kräfte von einer eindeutigen Kräftefunktion herrühren, die allein von den Entfernungen der Punkte abhängt.

22. Übergang zu Systemen von unendlich vielen Punkten. 531

einfachsten Form auf ein System mit vier Graden der Freiheit, bei dem zwischen den Koordinaten r,,r,, #,, ®, die nichtholonome Be- dingung besteht: m,r,d®d, + mr,dd, = 0;

diese Gleichung, in der m, und m, Konstanten bezeichnen, ist nichts anderes als der Flächensatz. Ein solches System kann sich von der Ruhe aus sehr wohl so bewegen, dass es in eine beliebig gegebene Konfiguration übergeht; allein man muss, wie es in Nr. 16 dieses Artikels auseinandergesetzt worden ist, den Übergang geeignet wählen.

C. Zwischenstück: Zusammenhang mit der Mechanik der Kontinua.

22. Übergang zu Systemen von unendlich vielen Punkten. Es giebt zwei wesentlich verschiedene Methoden, die Dynamik der Kon- tinua anzugreifen, die direkte Methode und die Methode des Grenz- überganges; die Geschichte der Mechanik zeigt, dass diese beiden Methoden von Anfang an nebeneinander hergegangen sind?”?).

Die direkte Methode besteht darin, dass man die Grundbegriffe und die Prinzipien der Punktdynamik in sinngemässer Weise auf Kontinua überträgt. Was die Verallgemeinerung der Grundbegriffe angeht, deren Notwendigkeit nicht überall genügend hervorgehoben wird, so wird man zum Beispiel schon bei der direkten Untersuchung der Gleichgewichtsgestalt eines absolut biegsamen, unausdehnbaren Fadens zu dem Begriff der auf die Längeneinheit bezogenen Kraft geführt; ebenso ist der auf die Flächeneinheit bezogene Druck eine Grösse anderer Dimension als der Druck, den ein materieller Punkt auf eine Unterlage ausübt?) In Bezug auf Prinzipien aber ist zu bemerken, dass die Anwendung des d’Alembertschen oder des soge- nannten Hamiltonschen Prinzips auf kontinuierlich ausgedehnte Systeme nur dadurch ermöglicht wird, dass man eine Erweiterung der Gültig- keit postuliert 2%).

Bei der Methode des Grenzüberganges betrachtet man zuerst ein System von einer grossen Anzahl materieller Punkte, auf die teils eingeprägte Kräfte wirken, teils Kräfte, die aus Verbindungen ent- springen; diese Verbindungen denkt man sich durch masselose Fäden

272) Die direkte Methode findet sich schon bei Brook Taylor, Phil. Trans. 28 (1713), p. 26, Methodus incrementorum, London 1715, p. 88; die Methode des Grenzüberganges bei Daniel Bernoulli, Petersburg Comment. 6 ad annos 1732/33 (1738), p. 116; vgl. auch H. Burkhardt, Bericht, erster Abschnitt.

273) Vgl. etwa P. Appell, M&canique 1, p. 177.

274) Vgl. IV 1, Nr. 42 (A. Voss).

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1, r. 35

532 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

oder Stangen realisiert?”°). Von einem solehen Systeme diskreter Massen punkte geht man darauf zu einem Systeme über, das einen Teil des Raumes kontinuierlich erfüllt. Dieser Grenzübergang kann wiederum auf zwei verschiedene Arten vollzogen werden. Man kann erstens in dem Ansatz die Anzahl der bewegten Punkte über alle Grenzen wachsen lassen; dabei gehen die Summen in Integrale über”), und an die Stelle der Differenzengleichungen treten Differentialgleichungen, an die Stelle der gewöhnlichen Differentialgleichungen partielle Diffe- rentialgleichungen?””), Während man aber im 18. Jahrhundert mit solchen Grenzübergängen naiv und sorglos umging?”®), sind sie im 19. Jahrhundert bewusst und mit voller Strenge vorgenommen worden?”®), Zweitens kann man zuerst die Gleichungen für die Be- wegung oder das Gleichgewicht des Systems diskreter Punkte lösen und nachträglich in den Schlussergebnissen die Anzahl der Punkte ins Unendliche wachsen lassen. So ist man zum Beispiel im 18. Jahr- hundert bei der Frage nach den kleinen Schwingungen eines Fadens vorgegangen; der Faden wurde durch » Massenpunkte ersetzt, die durch masselose Fäden verbunden sein sollten, und in der Lösung dieses Problems liess man »n über alle Grenzen zunehmen #9).

Die Durchführung der Mechanik der Kontinua muss fast ganz dem zweiten Teile dieses Bandes (Hydrodynamik, Elastizitätstheorie) sowie dem Bande V (Mathematische Physik) anheimfallen. Für den vor- liegenden Artikel kommen zunächst die Fälle in Betracht, bei denen man zu kontinuierlichen Systemen mit einer endlichen Anzahl von Graden der Freiheit gelangt; im wesentlichen handelt es sich dabei um den starren Körper und Systeme, die aus starren Körpern zusammengesetzt sind (Körperketten)?®'); diese Theorie wird den Gegenstand des zweiten Teiles des Artikels bilden. Dazu kommen aber an deformierbaren

275) Wie man die Verbindungen realisiert, ist insofern gleichgiltig, als die aus den Verbindungen entspringenden Reaktionen nicht in Frage kommen.

276) Den Übergang von den endlichen Summen zu den Integralen unter- sucht ausführlich Ph. Gübert, Mecanique, Paris und Brüssel 1891.

277) Vgl. H. Poincare, Am. J. of math. 12 (1890), p. 283.

278) Bedenken freilich erhob schon J.d’Alembert, Opusc. 1, Paris 1761, p. 45.

279) Vgl. IV 1, Nr. 11 (A. Voss).

280) So zum Beispiel J. L. Lagrange, Misc. Taur. 1 (1759) = Oeuvres 1, p. 37, ebenda 3? (1762/65) = Oeuvres 1, p. 539.

281) Auch die affin veränderlichen Systeme besitzen nur eine endliche Anzahl von Graden der Freiheit; sie haben jedoch lediglich ein abstrakt-theoretisches Interesse, und dasselbe würde von Systemen gelten, deren Veränderlichkeit durch irgend eine andere endliche kontinuierliche Gruppe des Raumes als die der starren Bewegungen gegeben wird; vgl. über solche Systeme auch IV 3, Nr. 31 (A. Schoenflies und M. Grübler.)

23. Gleichgewichtsgestalten von Fäden. 533

kontinuierlichen Systemen noch die unausdehnbaren Fäden und die unausdehnbaren Membranen, die man seit J. L. Lagrange”®?) im Anschluss an die Punktdynamik zu behandeln pflegt. Über die betreffenden Untersuchungen soll in den beiden folgenden Nummern berichtet werden.

23. Gleichgewichtsgestalten von Fäden. Während @. Galilei ge- glaubt hatte, eine „feine Kette“, die an ihren Endpunkten aufgehängt wird, nehme unter der Wirkung der Schwere die Gestalt einer Parabel an2®), haben gleichzeitig Jac. und Joh. Bernoulli, Chr. Huygens und @. W. Leibniz die richtige Bestimmung der Kettenlinie:

y-tale+ ee). gegeben ?*). Jacob Bernoulli erweiterte das Problem sofort auf Fäden (Seile), deren Dicke eine Funktion der Bogenlänge ist, und liess be- liebige Kräfte wirken*®®), Johann Bernoulli aber nahm die Bedingung hinzu, dass der Faden auf einer gegebenen krummen Fläche liegen sollte2°); hieran haben sich im 18. Jahrhundert zahlreiche weitere Untersuchungen geschlossen ?®7).

Im 19. Jahrhundert hat man bei freien Fäden zunächst Fälle betrachtet, in denen die wirkenden Kräfte parallel sind; die Faden- kurve (Seilkurve) ist dann eben“). Wirkt auf den Faden ausser der eigenen Schwere noch eine konstante Belastung, so erhält man die Kettenbrückenlinie”®®). Ebenso ist die Fadenkurve eben, wenn die

282) Mecanique, 1. partie, sect. 5, chap. 3.

283) Discorsi, 1638, zweiter Tag, Ostwalds Klassiker, 11, p. 123.

284) Acta erud. Lips. 1691, p. 273—282; einen Beweis für die dort mitge- teilten Konstruktionen lieferte zuerst D. Gregory, Phil. Trans. 19 (1697), p. 637.

285) Acta erud. Lips. 1691, p. 289; genauere Ausführung in den Lectiones mathematicae Johann Bernoullis aus den Jahren 1691/92 = Opera 3, p. 491.

286) Acta erud. Lips. 1698, p. 466 Opera 1, p. 262.

287) Genannt seien etwa: J. Hermann, Phoronomis, Amsterdam 1716, lib.1, cap. 3; P. Varignon, Paris M&m. annee 1717, p. 251; J. A. Segner, Antrittspro- gramm, Göttingen 1735 (linease quietis auf Drehungsflächen); Joh. Bernoulli, Opera 4 (1742), p. 234 (hier werden zuerst die Gleichgewichtsbedingungen für einen Faden allgemein hergeleitet); A. Clairaut, Berlin .Miscellanea 7 (1743), p. 270; @. W. Krafft, Petersburg Nov. Comment. ad annos 1754/55, p. 143; L. Euler, Petersburg Nov. Comment. 15 ad annum 1770, p. 381; 20 ad annum 1775, p. 286; J. L. Lagrange, Me&canique 1 (1788); N. Fuss, Petersburg Nova acta 12 (1801), p. 145.

288) Viele Beispiele bei M. Jullien, Problömes 2, p. 139; J. Finger, Mechanik, Wien 1886 (in der zweiten Auflage ist dieser Abschnitt gekürzt worden); R. Marcolongo, Meccanica, Mailand 1905.

289) L. Navier, M&emoire sur les ponts suspendus, Paris 1823, p. 64.

35*

534 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Kräfte von einem anziehenden oder abstossenden Zentrum herrühren ?®). Vielfach behandelt wurde auch die Gestalt eines Fadens, der mit den Endpunkten an einer gleichförmig rotierenden Achse befestigt ist; je nachdem der Faden die Achse kein-, ein-, zwei-,..., n-mal schneidet, ergiebt sich jedesmal eine besondere Gleichgewichtslage?”). Physika- lische Bedeutung hat der Fall, dass ein biegsamer Metalldraht von einem elektrischen Strome durchflossen und gleichzeitig von einem festen Magnetpole beeinflusst wird; nach @. Darboux hat er die Form einer geodätischen Linie eines Kreiskegels, dessen Spitze der Magnetpol rd

Was Fäden auf krummen Flächen betrifft, so hat man vorzugs- weise Kettenlinien, d. h. schwere Fäden, auf Drehungsflächen mit vertikaler Achse betrachtet?”?) und daneben auch begonnen, rauhe Flächen zu untersuchen ?*).

Bei dem analytischen Ansatz ersetzt man in der Methode des Grenzüberganges die Fadenkurve durch ein Polygon und denkt sich die Masse der Polygonseiten in deren Schwerpunkten kon- zentriert. Als Gleichgewichtsbedingungen ergeben sich alsdann Differenzengleichungen. In manchen Fällen, z. B. bei dem Problem der Hängebrücke ?%®), gelingt es, diese Gleichungen Schritt für Schritt zu lösen, und indem man nachträglich die Anzahl der Seiten des Polygons über alle Grenzen wachsen lässt, entsteht die Fadenkurve. Im allgemeinen aber wird man in den Differenzenglei-

290) Litteratur siehe Anmerkung 287; dazu A. F. Möbius, Statik, Leipzig 1837 (das Moment der Spannung in Bezug auf das Zentrum ist konstant) und O. Bonnet, J. de math. (1) 9 (1844), p. 97.

291) A. Clebsch,- J. f. Math. 57 (1860), p. 93; Ottomar Müller, Programm Magdeburg 1875; P. Plettenberg, Diss. Halle 1882; R. Hoppe, Arch. Math. Phys. 70 (1883), p. 90; R. Marcolongo, Napoli Acc. Rend. (2) 6 (1892), p. 71.

292) Bull. sciences math. (2) 2 (1878), p. 433; vgl. auch J. Larmor, London, Proc. Math. Soc. 15 (1884), p. 158.

293) Sphärische Kettenlinie: Chr. Gudermann, Grundriß der analytischen Sphärik, Cöln 1830; J. f. Math. 11 (1834), p. 394; 33 (1846), p.189, 281; F. Min- ding, J. f. Math. 12 (1834), p. 179; A. Olebsch, J. f. Math. 57 (1860), p. 93; W. Biermann, Diss. Berlin 1865; M. Schlegel, Programm Wilhelms-Gymnasium Berlin 1884; R. Marcolongo, Napoli Rend. (2) 6 (1892), p. 89; P. Appell, Bull. soc. math. de France 13 (1885), p. 65; A. @. Greenhill, Lond. Math. Soc. Proc. 27 (1896), p. 123 (im Anschluß hieran hat J. Dewar ausgezeichnete Stereoskop- bilder sphärischer Kettenlinien angefertigt). Kreiskegel: B. Peirce, Astron. J. 4 (1856). Kreiszylinder, Kreiskegel, Rotationsparaboloid: H. Dannehl, Diss. Königsberg 1887.

294) J. H. Jellett, Reibung, p. 62; F. August, Arch. Math. Phys. 70 (1883), p. 225.

294*) Vgl. P. Appell, Mecanique 1, p. 169.

2. 1 28 $ 1 Pal saah E VE RL a Zu a a a dal,

23. Gleichgewichtsgestalten von Fäden. 535

chungen selbst zur Grenze übergehen und wird so dieselben Diffe- rentialgleichungen finden, die sich bei der direkten Methode ergeben.

Diese Differentialgleichungen (vgl. Nr. 11 dieses Artikels) lauten bei freien homogenen Fäden:

a(TE)+ Xas=0, ar) + Yas=0, alt %)+Zas—0,

und bei homogenen Fäden, die auf einer krummen Fläche f(x, y, 2) = 0 liegen:

Ariane, Ariarraiee

Ta) +ztr =

dazu trıtt noch die Relation:

dıx\? dy\? dz\? ++ Die Integration liefert sechs Konstanten, zu deren Bestimmung Grenzbedingungen dienen. Ursprünglich hatte man angenommen, dass die Enden des Fadens fest sind?®), später aber wurden auch andere Grenzbedingungen gewählt: ein Endpunkt kann an einem Ringe über eine feste Kurve gleiten oder sich, indem etwa eine Kugel daran be- festigt ist, über eine feste krumme Fläche bewegen®®). Man hat ferner beachtet, dass eine Lösung der Aufgabe nur dann auf einen Faden anwendbar ist, wenn der erhaltene Wert der Spannung 7 positiv ist. Wenn aber 7 auf einem Kurvenbogen negativ ausfällt, so gewinnt die Lösung eine mechanische Bedeutung, indem man den Faden durch eine Reihe fester Kügelchen ersetzt, die auf Druck be- ansprucht werden ?°”); die so gewonnenen Kurven heissen auch Druck- oder Stützlinien und spielen in der Lehre von den Gewölben eine Rolle ®®). Wie schon das Beispiel der Drucklinien zeigt, lässt sich die Fragestellung auf mannigfache Art abändern und verallgemeinern. So hat man angenommen, dass die Kräfte nicht auf die Elemente

295) Dabei findet man für den Fall der Kettenlinie transzendente Gleichungen, die zuerst B. Goldschmidt, Preisschrift Göttingen 1831, untersucht hat; vgl. F. M. Moigno und L. Lindelöf, Calcul des variations, Paris 1861, sowie P. Appell, Mecanique 1, p. 188.

296) @. Schubring, Programm Erfurt 1880; P. Appell, M&canique 1, p. 181.

297) A. M. Legendre, Paris Mem. de math. et phys., annde 1786 (1783) = Ostwalds Klassiker, Heft 47, p. 77.

298) Vgl. IV 5, Nr. 10 (L. Henneberg), sowie für die technischen Anwen- dungen IV 27 (H. Reissner) und beispielsweise Fr. J. Gerstner, Handbuch der Mechanik, Prag 1831, 1, p. 415.

536 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

ds des Fadens wirken, sondern an Ringen angreifen, die über den Faden gezogen sind und auf ihm gleiten können®®). Bei ungleich- mässig dicken Ketien hat man gefragt, wie die Massenverteilung ein- zurichten ist, damit eine gegebene Fadenkurve bei gegebenen Kräften Gleichgewichtsgestalt wird®®), oder damit bei gegebenen Kräften in der Gleichgewichtslage die Dicke proportional der Spannung ist), so dass die Kette überall gleiche Zugfestigkeit besitzt (Kettenlinie gleichen Widerstandes). Endlich hat man anstatt der absolut bieg- samen, unausdehnbaren Fäden elastische Fäden betrachtet).

In einigen Fällen ist es gelungen, die Frage nach der Stabilität des Gleichgewichtes zu erledigen, z. B. bei der gewöhn- lichen Kettenlinie®®). Diese Frage leitet über zu der Lehre von den kleinen Schwingungen und allgemeiner von den Be- wegungen der Fäden, auf die hier nicht eingegangen werden kann; da es jedoch zweifelhaft ist, ob sich an andrer Stelle der Eney- klopädie dafür Platz finden wird, sei wenigstens unten einiges aus der umfangreichen Litteratur angeführt°®). Für die Bewegungen

299) @. Emery, Modena Mem. (3) 7 (1889), Nr. 8.

300) F'. Studskij, Lehrbuch der theoretischen Mechanik (russisch), Moskau, 1881.

301) E. E. Bobillier, Ann. de Gergonne 17 (1829), p. 61; D. Gilbert, Phil. Trans. 1826°, p. 225; G. Coriolis, J. de math. (1) 1 (1836), p. 175; @. M. Minchin, Statics, Oxford 1872.

302) Joh. Bernoulli, Opera 3, p. 505; M. Jullien, Problömes 2, p. 167. Hierher gehören auch die Untersuchungen über den Einfluss der Steifigkeit der Fäden.

303) A. Mayer, Math. Ann. 13 (1878), p. 65; A. Kneser, J. f. Math. 125 (1903), p. 189. Eine besondere Behandlung erfordern die rauhen Flächen, bei denen F. August, Arch. Math. Phys. 70 (1883), p. 225 den Begriff des zähen Gleichgewichtes eingeführt hat. Hierbei wird der Faden einerseits wegen der Rei- bung durch ein System sehr kleiner Kräfte nicht in Bewegung gesetzt, andererseits hat er aber auch, falls er durch grössere Kräfte in eine Nachbarlage gebracht worden ist, nicht das Bestreben, in die ursprüngliche Lage zurück- zukehren. Ehe solch ein zühes Gleichgewicht aufhört, tritt eine Grenzlage ein, bei der der Faden sich gewissen Antrieben gegenüber zäh verhält, während andere beliebig kleine Antriebe eine endliche Bewegung einleiten; vgl. auch J. H. Jellett, Reibung, Kap. 3: Äusserste Gleichgewichtslagen.

304) Kleine Schwingungen eines Fadens um eine Gleichgewichtslage be- handelten: J. L. Lagrange, Misc. Taur. 3 (1763), p. 243 = Oeuvres 1, p. 539; L. Euler, Petersburg Comment. 8 ad annum 1736, p. 30, Nov. Comment. 9 ad annos 1762/63, p. 215; F. Minding, J. f. Math. 50 (1855), p. 243; H. Resal, M&canique 1 (1873), p. 821; L. Henneberg, Ann. di mat. (2) 9 (1878), p. 58; H. Leaute, Paris C. R. 90 (1880), p. 290, 354; J. de math. (3) 6 (1880), p. 215; @. A. Maggi, Giorn. di mat. 19 (1881), p. 1; Milano Ist. Lomb. Rend. (2) 19 (1886), p. 682; E. Padovd', Giorn. di mat. 23 (1885), p. 235. Für endliche Be-

24. Gleichgewichtsgestalten von Membranen. 537

der elastischen Fäden oder der schwingenden Saiten kann dagegen auf IV 26 (H. Lamb) verwiesen werden.

24. Gleichgewichtsgestalten von Membranen. Von dem Bestreben beseelt, die Kurven zu bestimmen, „que la nature nous met tous les jours devant les yeux“ stellte Jacob Bernoulli bald nach der Ermitte- lung der Kettenlinie die Aufgabe, man solle die Gestalt eines Segels finden, das vom Winde aufgebläht wird; er dachte sich das Segel an zwei vertikalen Stangen befestigt und nahm an, dass alle Flächenteile durch den Wind gleich grosse, gleich gerichtete Drucke erfahren. Als erzeugende Kurve der so entstehenden Zylinderfläche ergiebt sich wieder die Kettenlinie®®). Eine andere Aufgabe betraf die Gestalt eines Tuches, das den Boden eines kastenförmigen, mit Wasser gefüllten Gefässes bildet; die sc entstehende Zylinderfläche hat zur erzeugen- den Kurve die sogenannte elastische Kurve, die ein in zwei Punkten aufliegender, elastischer, gleichförmig belasteter Stab annimmt").

Einen neuen Anstoss zur Untersuchung der Gestalt von biegsamen Flächen oder Membranen gaben E. F. Chladnis Experimente über Klang- figuren®””), die am Anfange des 19. Jahrhunderts grosses Aufsehen er- regten. Auf Veranlassung Napoleons stellte das Institut national im Jahre 1808 die Preisaufgabe, man solle eine mathematische Theorie der Schwingungen elastischer Platten entwickeln®®), und hierdurch wurde J. L. Lagrange angeregt, in der zweiten Auflage der Me&canique analytique die Frage zu behandeln, welche Gestalt eine elastische

wegungen sind zu nennen: J. L. Lagrange, Misc. Taur. (2) (1762) = Oeuvres 1, p. 405 (Herleitung der Differentialgleichungen der Bewegung mittels des Prinzips der kleinsten Wirkung); $S. D. Poisson, J. €c. polyt. 7 (1807), p. 385; H. Resal, Paris C. R. 75 (1872), p. 1010; P. Appell, Paris C. R. 103 (1886), p. 991; Acta math. 12 (1888), p. 1; @. Flocquet, Paris C. R. 108 (1889), p. 661; 115 (1892), p. 449; 130 (1900), p. 1745; 131 (1900), p. 27, 97, 666. Für den ganzen Gegenstand vgl. auch den Bericht bei E. J. Routh, Dynamik 2, Kapitel 13; hier wird zum Beispiel der Fall der stationären Bewegungen eines Fadens betrachtet, bei denen der Faden immer dieselbe Gestalt behält, und eine Anwendung gemacht auf die Frage, welche Gestalt ein elektrisches Kabel annimmt, das von einem gleichförmig fortschreitenden Schiffe verlegt wird.

305) Paris, J. des savans 1692, p. 189; vgl. auch die Lectiones mathematicae von Joh. Bernoulli (1692), veröffentlicht Opera 3 (1742), p. 510.

306) Acta erud. Lips. 1694 —= Opera, p. 639; Paris M&m. annee 1705 = Opera, p. 976; vgl. auch Joh. Bernoulli, Opera 3, p. 512—516 und L. Euler, Methodus inveniendi, Lausanne 1744, p. 241 und Appendix I.

307) Akustik, Leipzig 1802; Traite d’acoustique, Paris 1809.

308) Den Preis erhielt 1816 Sophie Germain. Vgl. im Übrigen H. Burk- hardt, Bericht, p. 447, sowie die Artikel IV 25 (0. Tedone und A. Timpe) und IV 26 (H. Lamb).

538 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Membran annimmt, um sich gegen gegebene Kräfte ins Gleich- gewicht zu setzen. Er spezialisierte die erhaltenen Gleichungen auch dahin, dass das Oberflächenelement bei den Deformationen denselben Flächeninhalt bewahren solle®®®), und bald darauf untersuchte $. D. Poisson die Gleichgewichtsgestalt einer biegsamen unausdehnbaren Fläche, bei der also die Länge der Linienelemente erhalten bleibt!). Biegungen krummer Flächen mit Erhaltung des Linienelementes be- handelte von geometrischen Gesichtspunkten aus Ü. F. Gauss; über die umfangreiche geometrische Litteratur, die sich an seine Dis- quisitiones generales circa superficies curvas (1827) angeschlossen hat, vgl. II D 6a Abbildung und Abwicklung zweier Flächen auf- einander (A. Voss). Aber auch die Statik biegsamer Flächen ist im 19. Jahrhundert gefördert worden; so hat z. B. F. Kötter die Gestalt eines Tuches bestimmt, das der Schwere unterworfen und an zwei parallelen oder sich schneidenden Geraden befestigt: ist®!). Es ist nicht möglich, in dem vorliegenden Referate über elementare Dynamik auf diesen Gegenstand genauer einzugehen, der grosse mathematische Schwierigkeiten bietet; einige Litteraturangaben findet man unten®"?). Ebenso können auch die Untersuchungen S. Finsterwalders über Netze von Fäden und im besonderen über die T'schebyschoff- Vossschen Rhombennetze hier nur erwähnt werden°'?). Für die Verallgemeine- rungen auf die Gleichgewichtsgestalten und die Schwingungen elastischer Platten oder Membrane möge auf IV 25 (O. Tedone und A. Timpe) und 1V 26 (H. Lamb) verwiesen werden.

309) Ausgabe von Darboux, 1, p. 112.

310) Paris, M&m. de l’Institut 1812, Part. 2 (1814), p. 173; Bull. soc. philomat. 1814, p. 47; vgl. @. Lame, Legons sur l’elastieite, 2. ed., Paris 1866, p. 107.

311) Diss. Halle 1883; J. f. Math. 103 (1888), p. 44; 121 (1901), p. 300.

312) ©. F. Mossotti, Meccanica, Florenz 1851; F'. Brioschi, Ann. di mat. (1) 3 (1852), p. 322; L. Lecornu, J. ec. polyt. cah. 48 (1880), p. 1; Paris C. R. 122 (1896), p. 218; Ann. &c. norm. (3) 17 (1900), p. 501; A. Cayley, Lond. Math. Soc. Proc. 12 (1881), p. 103 = The collected math. papers 11, London 1896, p. 317; E. Beltrami, Bologna Mem. (4) 3 (1882), p. 218; G@. Morera, Rom Acc. Linc. Atti (3) 7 (1883), p. 268; Torino Atti 20 (1884), p. 43 (Ausdehnung auf unausdehnbare dreidimensionale Gebilde); V. Volterra, Rom Acc. Linc. Atti (3) 8 (1884), p. 214, 244; @. A. Maggi, Lomb. Rend. (2) 17 (1884), p. 683; Rom Acc. Linc. Rend. (4) 1 (1885), p. 269, 306; G. Picciati, Giorn. di mat. 30 (1892), p. 1; J. Rachmaninoff, Moskau Math. Sammlung (russisch) 19 (1896), p. 110; @. Pennacchietti, Palermo Circ. mat. Rend. 9 (1895), p. 87; Catania Acc. Gioenia Atti (4) 8 (1895); M. Levy, Paris ©. R. 126 (1898), p. 1844; D. de Francesco, Napoli Acc. Rend. (3) 9 (1903), p. 227; Napoli Ace. Atti (2) 12 (1905), Nr. 5, 6.

313) Jahresber. d. D. M.-V. 6?, 45; nach der statischen Seite hat diese Untersuchungen weitergeführt W. Schlink, Diss. München 1902; Jahresber. d. D. M.-V. 12 (1903), p. 309.

25. Dynamik starrer Körper: Allgemeine Bemerkungen. 539

II. Dynamik starrer Körper.

25. Allgemeine Bemerkungen und Geschichtliches über die Dynamik starrer Körper.

25a. Allgemeine Bemerkungen. In der Erfahrung sind uns zahlreiche Körper gegeben, die mannigfaltige Bewegungen ausführen, ohne dass sich dabei ihre Gestalt, das heisst die relative Lage ihrer einzelnen Teile gegen einander, in merkbarer Weise änderte Man nennt solche Körper fest. Aus der Vorstellung von festen Körpern hat sich der Begriff von starren, das heisst ihrer Gestalt nach völlig unveränderlichen Körpern entwickelt ®#).

Da jeder wirkliche Körper durch die an ihm angreifenden Kräfte Formänderungen erfährt, so ist der starre Körper, um einen Ausdruck A. Föppls zu gebrauchen®®®), ein zur Abkürzung und Vereinfachung eingeführtes Bild der Mechanik"). Auch eine Äusserung L. Poinsots verdient hier angeführt zu werden: Ma canne n’est pas un corps solide; non-seulement elle peut rompre, mais elle plie ce qui est cent fois pis. Deux molecules d’un corps solide sont plac&es par la rigidite ä distance invariable l’une de l’autre; nulle force n’est capable de les ecarter ou des les rapprocher, nulle influence ne peut les faire vibrer. Les corps elastiques ou ductiles ne sont pas des solides; leur definition grossiere ne peut s’exprimer par des @quations; elle est incompatible avec la purete geometrique. Le vrai geometre doit s’etablir solidement sur un terrain inebranlable et ne pas heurter ses instruments delicats ä une realite confuse et mal definie, qui se derobe et se dissipe quand on veut la serrer de pres®!”).

Das Bild des starren Körpers ist zunächst geometrischer Natur und hat daher zu der Ausbildung umfangreicher geometrischer Theorien Anlass gegeben. Hierher gehört die sogenannte Geometrie der Be- wegung, aber auch umfangreiche Gebiete der Statik und der Kinematik

314) Vgl. etwa L. Boltzmann, Mechanik 1, p. 115. Die Begriffe: starrer, fester, elastischer Körper haben wohl erst im 17. Jahrhundert eine bestimmtere Bedeutung bekommen; eine historisch-kritische Darstellung dieser Entwicklung steht noch aus.

315) Einführung, p. 110.

316) Man könnte sogar den starren Körper als das Bild bezeichnen, das sich bei der Betrachtung der Örtsveränderungen der Körper zuerst einstellt. Einen Versuch, von diesem Bilde ausgehend die ganze Mechanik zu entwickeln, hat L. Boltzmann gemacht, Populäre Schriften, Leipzig 1905, p. 273; vergleiche jedoch schon F. Reech, Mecanique, Paris 1852.

317) Bull. science. math. (1) 4 (1873), p. 23.

540 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

tragen einen rein geometrischen Charakter; vgl. IV 2 (H. E. Timerding) und IV 3 (A. Schoenflies und M. Grübler); für den Zusammenhang der Lehre vom starren Körper mit den Untersuchungen über die Grund- lagen der Geometrie vgl. III A 1 (F. Enriques). Aber auch die Lehre von der Zusammensetzung der auf einen starren Körper wirkenden statischen Kräfte hat insofern einen geometrischen Charakter, als der Begriff der Masse dabei unmittelbar gar nicht in Frage kommt°!®); denn diese Lehre beruht auf dem Prinzip, dass eine Kraft, die auf eineı Punkt eines starren Körpers wirkt, ohne Änderung ihrer Wirkung in ihrer Richtungslinie beliebig verlegt werden darf°'°). Bei der Zu- sammensetzung der am starren Körper wirkenden Kräfte tritt also das Prinzip der Verlegbarkeit des Angriffspunktes geradezu an die Stelle der Definition des starren Körpers.

In der Kinetik des starren Körpers tritt der Begriff der Masse hinzu, jedoch ist die Massenverteilung insofern gleichgiltig, als es hier nur auf die Werte von sieben bestimmten Summen ankommt, nämlich auf die Gesamtmasse und die Trägheits- und Deviations-

318) Dementsprechend unterscheidet A. Voss (IV 1, Nr. 18) eine statische und eine dynamische Vorstellung des starren Körpers. Die statische Vorstellung beruht lediglich auf dem Axiom von der Verlegbarkeit des Angriffspunktes der Kraft in ihrer Richtungslinie; für die dynamische Vorstellung vergleiche die weiteren Ausführungen in dieser Nummer.

319) P. Varignon scheint dieses Axiom zuerst klar formuliert zu haben; in der Bezeichnung von E. Budde (Mechanik 2, p. 556) sind also die an einem starren Körper wirkenden Kräfte linienflüchtige Vektoren. Der dabei gebrauchte Ausdruck Wirkung einer Kraft bedarf allerdings einer Erläuterung, da unter Wirkung in der Dynamik sehr verschiedene Dinge verstanden werden (Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung, Prinzip der kleinsten Wirkung). Hier bedeutet Wirkung die Arbeit, die von der Kraft bei einer elementaren Verrückung des betrachteten Systems geleistet wird; vgl. M. Grübler, Taschenbuch der Hütte, 16. Aufl., Berlin 1896, p. 155.

320) Die für die ganze Dynamik grundlegende Lehre von der Zusammen- setzung der Kräfte, die auf einen starren Körper wirken (vgl. IV 2, H. E. Timer- ding, Abschnitt II), wird nicht selten schlechthin als Lehre von der Zusammen- setzung der Kräfte bezeichnet, während doch die Linienflüchtigkeit nicht eine Eigenschaft der Kräfte, sondern eine Eigenschaft des starren Körpers darstellt. Hieraus sind manche Unklarheiten entstanden, besonders in den Lehrbüchern der graphischen Statik; so heisst es, um ein Beispiel anzuführen, bei J. Schlotke, Graphische Statik, 2. Aufl, Dresden 1902, p. 1: „Der Angriffspunkt einer Kraft kann in der Richtungslinie beliebig verlegt werden“ Aber auch E. Dühring (Prineipe, 1. Aufl., p. 370) verwechselt gelegentlich die Gleichgewichtsbedingungen für einen starren Körper mit denen für ein beliebiges System, und dieselbe Verwechslung findet sich in modernen Lehrbüchern der Mechanik (vgl. etwa H. Lorenz, Mechanik, p. 583).

25. Dynamik starrer Körper: Allgemeine Bemerkungen. 541

momente in bezug auf irgend einen Punkt der Körpers; die zahl- reichen Untersuchungen über diese und über ähnlich gebildete Summen, die man jetzt unter dem Namen einer Geometrie der Massen zusammen- zufassen pflegt, haben in dem Artikel IV 4 (G. Jung) eine ausführ- liche Darstellung gefunden. Es ist charakteristisch für die Kinetik des starren Körpers, dass sie durchaus unabhängig von jeglicher An- nahme über die physikalische Konstitution des starren Körpers aufgebaut wird; wenn man bei der Methode des Grenzüberganges (vgl. Nr. 22 dieses Artikels) von einem System mit einer endlichen Anzahl mate- rieller Punkte ausgeht, die starr mit einander verbunden sind, so ist es für das Endergebnis der Rechnung gleichgültig, wie man sich diese starren Verbindungen realisiert denkt, bei den Rechnungen hat man es nämlich lediglich mit den Gleichungen zu tun, die ausdrücken, dass der Körper sich genau wie ein Raumteil bewegt, dessen Punkte mit Masse belegt sind. Die Frage nach der Konstitution eines festen Körpers gehört demnach nicht mehr in die abstrakte, sondern in die physikalische Mechanik°®'); sie leitet über zu der Untersuchung der Grenzen, innerhalb deren das Bild des starren Körpers zur Be- schreibung der Erscheinungen ausreicht, und man gelangt so aus der Stereodynamik?”?) in die Festigkeitslehre.

Eine solche Grenze tritt bereits in der Statik des starren Körpers auf, weil man selbst in einfachen Fällen die Reaktionen, die ein starrer Körper von seiner Unterlage erfährt, allein unter Benutzung der Gleichungen, die die Stereostatik®??) liefert, nicht berechnen kann. Diese Schwierigkeit löst sich, wenn man die Unterlage bez. den auf- liegenden Körper als elastisch ansieht; durch die Auflagerdrucke ent- stehen nämlich Deformationen, die etwa nach dem Hookeschen Ge- setze ermittelt werden können; Näheres in Nr. 27 dieses Artikels. Ebenso wie von kleinen Formänderungen sieht man in der Stereo- dynamik ab von den Einflüssen der Wärme, der Elektrizität, des

321) Vgl. IV 23 (C. H. Müller und A. Timpe). Man kann zum Beispiel an- nehmen, dass der Körper ein System von sehr vielen, dichtgedrängten Molekülen sei, die man als materielle Punkte ansehen, darf, und dass bei einer Normal- lage dieser Punkte die Resultierende aller inneren Kräfte für jeden der Punkte verschwinde, dass aber, sobald die Entfernung zweier Punkte nur ein wenig geändert wird, sofort ausserordentlich grosse innere Kräfte auftreten, die sie wieder in die Normalentfernung zurücktreiben. Man kann aber auch eine stetige Erfüllung des Raumes mit starrer Materie annehmen; vgl. hierfür etwa die Mechanik von @. Kirchhoff sowie IV 1, Nr. 11 (A. Voss).

322) Diese sehr zweckmässigen Ausdrücke für Statik und Dynamik eines starren Körpers hat A. @. A. Maggi eingeführt (Prineipii di stereodinamica, Mailand 1903).

542 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Magnetismus, Einflüssen, die sich unter Umständen sehr wohl bemerk- lich machen können.

25b. Zur Entstehungsgeschichte der Dynamik starrer Körper. Die Statik des starren Körpers ist schon im Altertum in gewissem Masse entwickelt worden (Archimedes, Hero: Hebelgesetz, einfache Maschinen). Anders steht es mit der Kinetik des starren Körpers, die erst im 17. Jahrhundert in Angriff genommen worden ist. Nicht lange, nachdem @. Galilei die Kinetik des materiellen Punktes begründet hatte, stellte M. Mersenne im Jahre 1646 die Aufgabe, man solle den Schwingungsmittelpunkt eines physikalischen Pendels bestimmen, das heisst den Punkt eines um eine feste horizontale Axe drehbaren schweren Körpers, der auf dem vom Schwerpunkte auf die Drehaxe gefällten Lote liegt und dessen Entfernung von der Axe die Länge des isochronen mathematischen Pendels angiebt. Nachdem R. Descartes einen vergeb- lichen Versuch gemacht hatte, wurde die Aufgabe 1673 von Ohr. Huygens gelöst, der sich, nicht ohne Widerspruch zu erfahren, des Prinzips von der Erhaltung der lebendigen Kraft bediente®®). Huygens wurde dabei auf die Ausdrücke geführt, die man jetzt, nach dem Vorgange von L. Euler, als Trägheitsmomente bezeichnet°*), und hat auch die wichtige Beziehung zwischen Trägheitsmomenten in Bezug auf parallele Axen abgeleitet; ebenso hat er schon die Vertauschbarkeit von Schwin- gungsmittelpunkt und Aufhängungspunkt erkannt.

Das Problem des Schwingungsmittelpunktes hat die Geometer noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein beschäftigt, und indem es von den verschiedensten Seiten her betrachtet wurde, hat es be- fruchtend auf die ganze Dynamik gewirkt?®); im besonderen hat man dabei gelernt, das Prinzip von der Gleichheit der Aktion und Reaktion, das I. Newton (1687) bei freien Punktsystemen betrachtet hatte, auf gebundene Systeme anzuwenden, und es ist so die Aufstellung des d’ Alembertschen Prinzips (1743) vorbereitet worden, auf dem die weiteren Fortschritte in der Kinetik des starren Körpers beruhen?*). In die

323) Horologium oscillatorium sive de motu pendulorum ad horologia aptato, Paris 1673; ein Patent auf Pendeluhren hatte Huygens schon am 16. Juni 1657 genommen.

324) Scientia navalis, Petersburg 1749, 1, p- 70: Momentum inertiae cor- poris respectu axis cuiusdam fixi voco aggregatum omnium corporis particularum per suarum respective ab hoc axe distantiarum quadrata multiplicatarum; vgl. auch Eulers Vorrede, p. 25.

325) Für diese Untersuchungen, an denen sich zum Beispiel Jacob und Johann Bernoulli und Brook Taylor beteiligten, vgl. etwa E. Mach, Mechanik Kapitel 3.

326) Neben J.d’Alembert selbst ist hier A. Fontaine zu erwähnen, der in

25. Dynamik starrer Körper: Entstehungsgeschichte. 543

Zwischenzeit fällt die Ausbildung der Statik des starren Körpers, die besonders durch P. Varignon gefördert worden ist??”). Varignon hat die Lehre von den einfachen Maschinen in grösster Allgemeinheit aufgefasst und ist dazu gelangt, die Mittel zu entwickeln, die man zur Zusammensetzung beliebiger, auf einen starren Körper wirkender Kräfte nötig hat, also im besonderen die Zusammensetzung der Momente; er hat diese Untersuchungen in geometrischer Form und unter aus- schliesslicher Benutzung des statischen Kraftbegriffes durchgeführt. Wenn hiernach Varignon auch alle Mittel besass, die zur Aufstellung der sechs Bedingungen für das Gleichgewicht eines starren Körpers erforderlich sind, so hat er doch diese Bedingungen niemals analytisch formuliert. Diesen wichtigen Schritt hat erst J. d’Alembert (1749) gethan°®®). Freilich hat es auch dann noch erheblicher Anstrengungen bedurft, bis die Statik des starren Körpers ausgestaltet wurde; so be- wies erst L. Euler (1765), dass man das System der auf einen starren Körper wirkenden Einzelkräfte stets durch ein System von zwei Kräften ersetzen könne°®®), und @. Monge (1786) fügte die Einsicht hinzu, dass diese Reduktion sich stets so ausführen lässt, dass die beiden Kräfte senkrecht auf einander stehen®®®),. Welche Schwierig- keiten hier zu überwinden waren, zeigt sehr deutlich der Umstand, dass d’Alembert es 1749 noch für angebracht hielt, ausführlich aus- einander zu setzen, wie es möglich sei, dass auf einen starren Körper wirkende Kräfte, deren Resultante verschwindet, trotzdem eine Be- wegung, nämlich eine Drehung des Körpers, hervorrufen ??}).

Den Anstoss zu ihrer weiteren Entwicklung hat die Stereokinetik von drei Seiten erfahren: von Seiten der Astronomie, der Lehre von der Schiffsbewegung und der Kreiseltheorie.

einem 1739 „allen Mathematikern mitgeteilten“, aber erst 1764 veröffentlichten Abriss einer Mechanik (M&moires des math@matiques, Paris 1764, p. 305) die Kinetik eines Systems starr miteinander verbundener Punkte (points massifs dans un espace roide) mittels derselben Überlegungen aufzubauen versucht hat, die dem d’Alembertschen Prinzipe zu Grunde liegen.

327) Projet d’une nouvelle mecanique, Paris 1687; Nouvelle mecanique ou statique, Paris 1725 (posthum).

328) Recherches sur la pr&cession des &quinoxes, Paris 1749.

329) Theoria motus, Rostock und Greifswald 1765, $ 620.

330) Traite elementaire de statique, Paris 1786.

331) Recherches, p. 120. Zu diesen Schwierigkeiten in der Dynamik kam, daß auch die Kinematik des starren Körpers damals noch ganz unausgebildet war; hat doch erst L. Euler den Begriff der instantanen Drehaxe bei der Drehung um einen festen Punkt zu voller Klarheit herausgearbeitet, und erst A. L. Cauchy (1827) bewiesen, dass jede unendlich kleine Bewegung eines starren Körpers eine Schraubenbewegung ist; vgl. IV 2, Nr. 11 (H. E. Timerding).

544 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Bei der Astronomie war es das Problem der Präzession der Tag- und Nachtgleichen, das schon I. Newton (1687) behandelt hatte, ohne jedoch zu einer befriedigenden Lösung zu gelangen ®#®), und das be- sonders dringend wurde, nachdem J. Bradley (1748) durch seine genauen Fixsternbeobachtungen das Vorhandensein der Nutation ent- deckt hatte®®®), Schon ein Jahr darauf gab J. d’Alembert in seinen Ftecherches die mechanische Erklärung dieser Erscheinungen und zwar im wesentlichen in der Form, die noch heute als gültig angesehen wird. Er leistete dies, indem er die sechs Bedingungsgleichungen für das Gleichgewicht eines starren Körpers aufstellte und zeigte, wie man daraus auf Grund des Prinzipes, das er 1743 in seiner Dynamik dargelegt hatte, die Differentialgleichungen für die Be- wegung des Körpers unter dem Einflusse gegebener Kräfte herleiten könne; freilich erscheinen diese der Sache nach einfachen Gleichungen bei d’Alembert in einer recht unübersichtlichen und schwerfälligen Form®*#). Das Problem der Bewegung der Erde, als eines starren Körpers, um ihren Schwerpunkt hat auch im 19. Jahrhundert förderlich auf die Stereodynamik eingewirkt; es genüge, an die Bestrebungen L. Poinsots zu erinnern, dessen anschauliche Auf- fassungen der Bewegungen eines starren Körpers in dem Wunsche wurzelten, eine gute Beschreibung der Präzessionserscheinungen zu gewinnen.

Nicht minder wichtig sind die Anregungen, die die Lehre von den Schiffsbewegungen geliefert hat. Hierbei ist man wohl zuerst auf die Trennung der Bewegung eines starren Körpers in eine Trans- lationsbewegung und eine Drehung um den Schwerpunkt geführt worden. P. Bouguer®®°) und L. Euler®®°) sind unabhängig von einander zu dieser grundlegenden Einsicht gelangt; sie haben ohne Weiteres angenommen, dass man diese beiden Bewegungen getrennt von einander behandeln dürfe, was allerdings bei einem allein der Schwere unterworfenen Körper

332) Principia, liber 3, sectio 4; eine eingehende Kritik findet man in den Recherches von d’Alembert und bei P. $. Laplace, Mecanique celeste 5, p. 275.

333) Phil. Trans. 45 (1748), p. 1: On the apparent motion observed in some of the fixed stars.

334) A. Cayley (Collect. math. papers 4, p. 567) sagt von ihnen: the equations of motion are obtained in a cumbrous und unmanageable form.

335) Trait€ du navire, de sa construction et de ses mouvements, Paris 1746 (verfasst 1735 auf der Reise zur Gradmessung in Peru).

336) Scıentia navalis, 2 Bünde, Petersburg 1749 (fertiggestellt bereits Ende 1738, siehe Eulers Brief an Johann Bernoulli vom 20. Dezember 1788, Bibl. math. (8) 5 (1904), p. 287; Mitteilungen über Eulers Ergebnisse finden sich schon in den Opera Johann Bernoullis 4 (1742), p. 288).

25. Dynamik starrer Körper: Entstehungsgeschichte. 545

gestattet ist, aber nicht mehr richtig ist, wenn Reibungskräfte oder Druckkräfte einer umgebendenden Flüssigkeit ins Spiel kommen. Euler erkannte zunächst, dass ein freier Körper sich beständig um eine freie Axe durch den Schwerpunkt drehen kann, wenn sich nämlich die Zentri- fugalkräfte, die die Stellung der Axe zu ändern streben, gegenseitig aufheben, und legte den weiteren Betrachtungen die folgende Hypothese zu Grunde: Bei einem jeden auf dem Wasser schwimmenden Körper giebt es drei auf einander senkrechte, durch den Schwerpunkt gehende Axen, um die eine freie, beständige Drehung möglich ist; eine,beliebige (kleine) Schwingung um den Schwerpunkt lässt sich in drei Schwingungen um je eine dieser drei Axen zerlegen, und jede dieser drei Schwingungen ver- läuft unabhängig von den beiden anderen®”'). Euler meinte, diese Hypo- these gelte bei den Schiffen, mit denen er sich beschäftigte, immer genau oder doch mit grosser Annäherung. Damit aber war die Dreh- bewegung eines Schiffes auf das Problem des Schwingungsmittelpunktes für eine einzelne Drehachse, also die Ermittelung isochroner Pendel zurückgeführt worden.

Die Abhandlungen Eulers aus den Jahren 1749 und 17503) sind beeinflusst von den inzwischen erschienenen Recherches von d’Alembert. Im besonderen gelingt es ihm, zu einer durchsichtigeren Form der Differentialgleichungen der Bewegung zu gelangen. Diese Gleichungen sagen aus, dass die Komponenten der Resultante und des resultierenden Momentes der eingeprägten Kräfte bezogen auf im Raume feste Koordinatenaxen gleich sind den entsprechenden Kom- ponenten der Effektivkräfte?®*). Auffallend ist, dass Euler es nicht versucht hat, aus diesen Gleichungen seine Hypothese von der Existenz der drei freien, unabhängigen Drehaxen abzuleiten. Diesen Schritt tat erst J. A. Segner (1755), und zwar veranlasst durch die Beschäf- tigung mit der Kreiseltheorie°??).

Die Erscheinungen, die das Kinderspielzeug des Kreisels darbietet, dass er sich, in Drehung versetzt, der Schwere entgegen aufrichtet, und dass er in dieser Stellung verharrt, so lange die Drehung anhält, dann aber umfällt, diese paradoxen Erscheinungen sind geeignet, die

337) Scientia navalis 1, p. 76.

338) Berlin M&m. Annee 1749 (1751), p. 289; Annee 1750 (1752), p. 185, 412.

338®) Für diese Formulierung vgl. etwa J. Petersen, Dynamik, p. 58°

339) Specimen theoriae turbinum, Halle 1755. Unter turbo versteht Segner allgemein einen um einen festen Punkt drehbaren starren Körper; der Ausdruck turbinari für die kreiselnde Bewegung eines starren Körpers tritt schon bei Johann Bernoulli auf, Acta Erudit., Lips. 1715, p. 242 = Opera 2, p. 187: De centro turbi- nationis inventas nova (J. Bernoulli beweist hier die von Huygens am Schlusse des Horologiums ohne Beweis aufgestellten Sätze über das konische Pendel).

546 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Aufmerksamkeit eines jeden zu erregen, der ein offenes Auge für die mechanischen Vorgänge in seiner Umgebung hat. Eine wissenschaft- liche Behandlung scheint der Kreisel zuerst durch J. A. Segner erfahren zu haben, der schon die Bedeutung der Reibung für das Aufrichten der Kreiselachse richtig erkannte. Veranlassung zu seinen Untersuchungen hatte die Bemerkung eines Engländers Serson gegeben, dass man die spiegelnde Oberfläche eines rasch gedrehten Kreisels auf Schiffen als künstlichen Horizont benutzen könne®*°). Segner hat auch den um seinen Schwerpunkt drehbaren starren Körper betrachtet und als Be- dingung für das Verschwinden des Momentes der Zentrifugalkräfte, die die Stellung einer freien Axe zu verändern streben, oder, wie man jetzt nach W. J. M. Ranl:ine sagt, des betreffenden Deviationsmomentes**'), eine Gleichung dritten Grades gefunden; er hat mit Hilfe dieser Gleichung bewiesen, dass die so gefundenen drei Axen senkrecht auf einander stehen®?). In zwei Abhandlungen aus dem Jahre 1758 hat L. Euler diese Ergebnisse Segners von neuem abgeleitet und Segners Haupt- axen in die allgemeine Kinetik des starren Körpers eingeführt *®). Die Benutzung dieser im Körper festen Axen führte Euler auf die fundamentalen Differentialgleichungen für die Drehungskomponenten nach den Hauptaxen, die jetzt seinen Namen tragen®*). Auf diese Weise gelang es ihm nunmehr, die Differentialgleichungen für die Be-

340) Phil. Trans. 47 (1752), p. 352; Segner erhielt davon Kenntnis durch eine Notiz in der Zeitschrift The Gentleman’s Magazine, October 1754. Der Gedanke ist im 19. Jahrhundert von @. Fleuriais verwirklicht worden, Revue maritime et coloniale 91 (1886), p. 412; 94 (1887), p. 225 (auch als besondere Schrift Gyroscope collimateur, Paris 1887), Horizon gyroscopique, modele defi- nitif, Paris 1891; vgl. ferner VI» 3, Nr. 89 (0. W. Wirtz).

341) A manual of applied mechanics, London 1858; von anderen Autoren werden die Deviationsmomente nach dem Vorgange von @. Coriolis auch Zentri- fugalmomente genannt.

342) Dass diese Gleichung dritten Grades, die im wesentlichen mit der Gleichung dritten Grades identisch ist, welche bei der Bestimmung der Hauptaxen der Flächen zweiter Ordnung auftritt, stets drei reelle Wurzeln hat, hat in voller Strenge erst J. L. Lagrange gezeigt, Berlin M&m. Annde 1773 = Oeuvres 3, p. 605; vgl. R. Baltzer, Theorie und Anwendung der Determinanten, 5. Aufl., Leipzig 1881, p. 212.

343) Berlin M&m. Annde 1758 (1765), p. 132: Recherches sur la connaissance mecanique des corps; mit dieser Abhandlung beginnt die sogenannte Geometrie der Massen, vgl. IV 4 (G. Jung); ebenda, p. 154: Du mouvement de rotation des corps solides autour d'un axe variable; diese Abhandlung ist auf Veran- lassung von A. Cayley wiederabgedruckt worden in dem Quarterly Journ. 9 (1868), p- 361.

344) Berlin M&m. Annde 1758 (1765), p. 170.

25. Dynamik starrer Körper: Entstehungsgeschichte. 547

wegung eines kräftefreien Kreisels mittels elliptischer Integrale zu lösen, was er nach seinem Geständnis vorher für unmöglich gehalten hatte.

Damit war der Grund für die Stereodynamik als einer selb- ständigen Wissenschaft gelegt worden, und Euler beeilte sich, sie in der Theoria motus corporum solidorum seu rigidorum ausführlich dar- zustellen; dieses Werk hatte er schon 1760 vollendet, es ist aber erst 1765 zum Druck gelangt®®). In einer Reihe von Abhandlungen ist Euler auf den Gegenstand zurückgekommen und hat Ergänzungen zu dem Hauptwerke gegeben ®**).

Da in den folgenden Nummern dieses Artikels ein eingehender Bericht über die Fortschritte gegeben werden soll, die die Dynamik starrer Körper durch und seit J. L. Lagrange gemacht hat, so möge es genügen, hierüber nur einige orientierende Bemerkungen vorauszu- schicken.

Was die Anregungen von aussen betrifft, so ist vor allem L. Fou- caults Gyroskop (1851) anzuführen. Ferner haben am Schlusse des 19. Jahrhunderts Probleme der angewandten Mechanik dazu geführt, dass die Dynamik der Systeme starrer Körper erheblich gefördert wurde, und es ist zu erwarten, dass bei der weiteren Entwicklung diese Systeme immer mehr in den Vordergrund treten und die jetzt erst vorhandenen zerstreuten Ansätze zu einer umfassenden 'Theorie vereinigt werden.

Was die theoretische Dynamik selbst betrifft, so hat Lagrange nicht nur einen neuen Spezialfall gefunden, in dem sich die Diffe- rentialgleichungen der Bewegung eines starren Körpers durch Quadra- turen integrieren lassen, nämlich die Drehung eines der Schwere unter- worfenen, homogenen Rotationskörpers um einen beliebigen Punkt seiner Axe, sondern auch die prinzipielle Seite tiefer erfasst und im besonderen bei der Herleitung der Eulerschen Gleichungen nicht- holonome Differentialausdrücke mit voller Erkenntnis des Sachverhalts benutzt. Neben Lagrange ist 8. D. Poisson zu nennen, der die Dynamik des starren Körpers mit zahlreichen Einzeluntersuchungen bereichert hat; um einiges anzuführen, hat er unabhängig von Lagrange denselben Sonderfall des Rotationsproblems erledigt*?®), die Theorie des Kreisels, der auf der Ebene spielt, nachdem sich Euler daran versucht hatte

345) Siehe die Vorrede zur Theoria motus von W.J.@. Karsten, der den Druck besorgt hatte.

346) Hier sei nur genannt Berlin M&m. Annee 1760 (1767), p. 176; Peters- burg Nov. Comment. 20 ad annum 1775, p. 189, 208; weitere Angaben bei J.@. Hagen, Index operum L. Euleri, Berlin 1896, p. 35—45.

346°) J. de l’&c. polyt. cah. 16 (1813), p. 247.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1, ı. 36

548 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

(Theoria motus p. 377, 538 der Ausgabe von 1790), mit Erfolg in Angriff genommen und zuerst eine allgemeine Theorie der Stösse starrer Körper aufgestellt.

Gegenüber dem vorwiegend analytischen Verfahren von Lagrange und Poisson kommt bei L. Poinsot (1834) die geometrische Anschau- ung zu ihrem Rechte; er hat, um nur das Wichtigste zu nennen, die Begriffe des Kräftepaares, des Impulses, des Trägheitsellipsoides und der auf einander rollenden Kegel zur Geltung gebracht; eine weitere Ausbildung dieser Gedanken ist R. Balls Schraubentheorie Auch in dem Werke von F. Klein und A. Sommerfeld über die Theorie des Kreisels®°) wird auf die anschauliche Erfassung des Bewegungsver- laufes in Raum und Zeit grosser Wert gelegt und eine Übersicht über die Anwendungen des Kreisels gegeben; aber dieses Werk geht insofern weiter als das Poinsotsche Vorbild, als auch die numerische Berechnung der Lage mit den Methoden der Präzisions- und der Approximationsmathematik durchgeführt wird. Eine andere Ergänzung zu Lagrange bilden die Untersuchungen, die V. Poncelet*”) und $. D. Poisson®®) über die bei Systemen starrer Körper auftretenden Span- nungen und Auflagerdrucke angestellt haben. Später traten solche Betrachtungen in den Hintergrund; sie sind aber neuerdings, ver- anlasst durch die Bedürfnisse der Technik, besonders von K. Heun®**?) wieder aufgenommen worden. Für die Dynamik der Systeme starrer Körper kommen endlich auch die Begriffsbildungen in Betracht, die H. Hertz in seinen Prinzipien der Mechanik, Leipzig 1894 gegeben hat.

Einen gewissen Gegensatz zu den im Vorhergehenden charakte- risierten Bestrebungen bilden die rein analytischen.‘Untersuchungen zur Dynamik starrer Körper, die mit A. St. Rueb (1834) und C. @. J. Jacobi (1849) beginnen und für die aus dem Ende des 19. Jahr-

346’) Unter einem Kreisel wird in diesem Werke ein der Schwere unter- worfener starrer Körper verstanden, dessen Masse symmetrisch um eine Axe des Körpers verteilt ist, und bei dem mittels einer geeigneten Vorrichtung ein auf der Symmetrieaxe gelegener Punkt im Raume festgehalten wird. Der wohl- bekannte, als Spielzeug benutzte Kreisel ist in diesem Sinne des Wortes kein Kreisel; seine Bewegung ist jedoch auch von Klein und Sommerfeld ausführlich betrachtet worden. In neuester Zeit hat man begonnen, unter Kreisel einen be- liebigen starren Körper zu verstehen, auf den irgend welche Kräfte wirken, wenn nur mittels geeigneter Vorrichtungen ein beliebiger Punkt des, Körpers im Raume festgehalten wird, und hat zum Unterschiede den Klein-Sommerfeldschen Kreisel als schweren symmetrischen Kreisel bezeichnet.

347) Cours de mecanique appliquee, Metz 1826.

348) J. de l’&c. polyt. cah. 21 (1832), p. 187.

349) Jahresber. d. D. M.-V. 9 (1901), Heft 2; Arch. Math. Phys. (3) 2 (1901/1902), p. 57, 298.

26. Bedeutung d. Mechanik starrer Körper f. d. gesamte Mechanik u. Physik. 549

hunderts besonders Sonja Kowalewski (1888) und ihre Nachfolger zu nennen sind. Sie erfordern jedoch so erhebliche funktionentheoretische Hilfsmittel, dass sie die Grenzen einer elementaren Dynamik über- schreiten; vgl. für sie IV 13 (P. Stäckel).

26. Bedeutung der Mechanik starrer Körper für die gesamte Mechanik und Physik. Wenn der Punktmechanik eine weitgehende Bedeutung für die gesamte Mechanik und Physik zukommt (vgl. Nr. 2 dieses Artikels), so gilt dasselbe für die Mechanik starrer Körper.

Diese Bedeutung zeigt sich zunächst in der Mechanik der defor- mierbaren Kontinua, in der man sich vielfach auf die Mechanik der starren Körper stützt. Hat nämlich ein deformierbarer Körper unter dem Einflusse der von Aussen her auf ihn wirkenden Kräfte solche Formänderungen vollzogen, dass Gleichgewicht eingetreten ist, so denkt man sich zur Bestimmung des Gleichgewichtszustandes aus dem Körper einen beliebig begrenzten Teil abgesondert und sieht diesen vorübergehend als starr an. Wenn der herausgegriffene Teil starr gemacht wird, so erfährt in der Tat das Gleichgewicht keine Störung, und die Bedingungen für das Gleichgewicht des erstarrten Teiles sind daher notwendige Bedingungen für das Gleichgewicht des betrachteten Kontinuums®”®). Die Hauptaufgabe bei der Anwendung dieses Prin- zipes der Solidifikation besteht in der Bestimmung der Kräfte, die auf den herausgegriffenen, als starr gedachten Teil des Kontinuums wirken. Vielfach macht man die Annahme, dass für diesen Teil zu den von Aussen her wirkenden Kräften nur noch Kräfte hinzutreten, die ihren Sitz in der Oberfläche des abgegrenzten Teiles haben, und die man als Spannungen bezeichnet, oder dass dies doch gilt, wenn man den herausgegriffenen Teil unendlich klein werden lässt®5").

Betrachtet man zum Beispiel das unendlich kleine Parallelepiped, das sich ergiebt, wenn man von dem Punkte x, y, z in der Richtung der Koordinatenaxen beziehungsweise um dx, dy, dz fortgeht, so er- hält man die sechs Grundgleichungen, die in der Statik der deformier- baren Körper zwischen den neun Komponenten der Spannungen in den von dem Punkte x, y, z ausgehenden Seitenflächen des Parallel-

350) Dass man notwendige Gleichgewichtsbedingungen eines beliebigen Systems erhält, wenn man es starr macht, wird schon von J. L. Lagrange in der Mecanique analytique benutzt. Das Herausgreifen eines Teiles des be- trachteten Körpers aber scheint zuerst A. L. Cauchy angewandt zu haben, Bull. soc. philomath. 1823, p. 9; Exerc. de math. 2 (1827), p. 108; vgl. auch W. Thom- son und P. @. Tait, Handbuch 2, p. 96.

351) Vgl. IV 23 (C. H. Müller und A. Timpe), sowie etwa A. Föppl, Festig- keitslehre, 3. Aufl. Leipzig 1905, erster Abschnitt.

36*

550 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

epipeds bestehen. Sind o,, 6,, 6, die Normalspannungen, wobei die Indizes die Richtungen angeben, in denen sie stattfinden, .. Ty 4, Tr} Tu) T,, die Tangential- oder Schubspannungen, a die ersten Indizes die Normale des betreffenden Flächenelementes, die zweiten die Richtungen angeben, in denen sie stattfinden, und bezeichnet man noch mit X, Y, Z die Komponenten der im Punkte x, y, z von

Aussen her wirkenden Kraft, so lauten die Grundgleichungen: (1) nn Tui Tut

Bedingungen für das Gleichgewicht gegen Drehung;

ae +2 se -X=0,

(2) reizen

xz 0 z +55 ern 20,

>

Bedingungen für das Gleichgewicht gegen Verschiebung ’®?!®).

Aus diesen Gleichungen gewinnt man sofort die Grundgleichungen der Kinetik der deformierbaren Körper, indem man postuliert, dass auf jeden einzelnen Massenpunkt das d’Alembertsche Prinzip anwendbar sein soll:

06, 0 T zz

+ ge + GEH X - usa, r) oT, OTr

(3) a

ER Ofyz AL Gr + Ge + a ie WErTTE)

Ef

in denen u die spezifische Masse im Punkte x, y, z bedeutet).

Die sechs Gleichungen (1) und (2) sind für sich allein nicht ausreichend zur Bestimmung der neun unbekannten Spannungskom- ponenten, und man hat daher in jedem einzelnen Falle zu fragen, wie sich aus der besonderen Beschaffenheit des betrachteten Kontinuums weitere Gleichungen für die Spannungskomponenten gewinnen lassen, und dasselbe gilt in der Kinetik für die Gleichungen (1) und (3);

351°) Man vergleiche auch die ausführlichere Darstellung bei W. Voigt, Kompendium der theoretischen Physik 1, Leipzig 1895, p. 219—225.

352) Wesentlich verschieden von der im Texte dargelegten Betrachtungs- weise sind die Untersuchungen, bei denen man aus dem Ausdrucke der kinetischen Energie eines deformierbaren Systems die zugehörigen Lagrangeschen Differential- gleichungen ableitet; vgl. Nr. 2 dieses Artikels.

26. Bedeutung d. Mechanik starrer Körper f. d. gesamte Mechanik u. Physik. 551

auch treten noch Aönematische Bedingungsgleichungen hinzu, die den Zusammenhang des Kontinuums zum Ausdruck bringen.

In der Elastizitätslehre besteht die besondere Voraussetzung über die Beschaffenheit der betrachteten Körper darin, dass zwischen den Spannungen und den mit ihnen verknüpften Deformationen lineare Beziehungen angenommen werden, also im einfachsten Falle das Hookesche Gesetz; vgl. IV 23 (©. H. Müller und A. Timpe). Dasselbe gilt für die klassische Optik, die ja durchweg auf Betrachtungen aus der Elastizitätstheorie beruht, und auch die Gleichungen für die Polarisationen des Äthers, die in der Faraday-Maxwellschen Theorie des Elektromagnetismus auftreten, lassen sich in das Schema der Gleichungen (3) einordnen; für die Einzelheiten muss auf Band V (Mathematische Physik) verwiesen werden.

Aber nicht nur bei der Untersuchung kontinuierlich ausgedehnter Körper, sondern auch bei den Molekulartheorien der Materie kommt die Mechanik der starren Körper zur Geltung. In der Elastizitäts- theorie hat sich die Annahme, dass ein elastischer Körper ein dicht- gedrängter Haufen punktförmiger Anziehungs- und Abstossungszentren sei, als unzureichend erwiesen®®®), und es hat daher schon $. D. Poisson die Vorstellung ausgebildet, dass man die Moleküle als starre Körper anzusehen habe, zwischen denen nicht nur Zentralkräfte, sondern auch Kräftepaare wirken°’*); diesen Gedanken hat neuer- dings W. Voigt mit Erfolg wieder aufgenommen°®°), Zu erwähnen ist ferner, dass man das Bild, die kleinsten Teilchen der Materie seien Drehkreisel, zur Erklärung der Elastizitätserscheinungen®®‘) und der optischen Erscheinungen, im besonderen der Drehung der Polarisations- ebene des Lichtes im magnetischen Felde benutzt hat”). Auch

353) Die Entwicklungsgeschichte dieser Ideen findet man in dem Artikel IV 23 (C. H. Müller und A. Timpe).

354) J. de l’&c. polyt. cah. 20 (1831), p. 1; Paris M&em. 18 (1842), p. 3.

355) Gött. Abh. 34 (1887), p. 1.

356) W. J. M. Rankine, Edinburgh Roy. Soc. Trans. 20 (1850), part. 2; Phil. Mag. (4) 2 (1851), p. 509.

357) Auf dieser Grundlage hat W. J. M. Rankine, Phil. Mag. (4) 6 (1853), p. 403 = Misc. scient. papers, London 1881, p. 156 im Gegensatz zu der alten Vibrations- theorie eine Oszillationstheorie des Lichtes entwickelt. Für die Anwendung auf die magnetische Drehung der Polarisationsebene des Lichtes siehe ©. Neumann, Die magnetische Drehung der Polarisationsebene des Lichtes, Halle 1863 und W. Voigt, Ann. d. Phys. 23 (1884), p. 493; für diese Auffassung überhaupt vgl. die populäre Darstellung bei J. Perry, Spinning tops, London 1890, deutsch von A. Waleel: Drehkreisel, Leipzig 1904, sowie O. J. Lodge, Neueste Anschauungen der Elek- trizität, deutsche Ausgabe, Leipzig 1896 und H. E. J. @. du Bois, Ann. d. Phys. (4) 18 (1904), p. 289.

552 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

W Thomsons kinetische Theorie der Materie ist hier zu nennen; dieser konstruierte Systeme durch Gelenke verbundener Gyrostaten, die sich äusserlich genommen wie elastische Körper verhalten, und stellte ähn- liche Betrachtungen für die Gravitation an®®®). Endlich werden in der neuesten Phase der theoretischen Physik die Elementarbestandteile der Materie, die Elektronen, gelegentlich wieder als starre Körper (Kugeln oder Ellipsoide) angesehen.

A. Der einzelne starre Körper; Allgemeine Theorie.

Vorbemerkung. Da es leider in der Dynamik des starren Körpers keine allgemein angenommenen Bezeichnungen giebt, sollen die hier benutzten Bezeichnungen vorweg übersichtlich zusammen- gestellt werden; für die genauere Erklärung werde auf die folgenden Nummern 28 und 29 verwiesen.

1) Die im Raume festen rechtwinkligen Cartesischen Koordinaten heissen &, n, &, die im Körper festen Koordinaten x, %, 2; ihre An- fangspunkte X und brauchen nicht zusammenzufallen. Die gegen- seitigen Richtungscosinus zeigt das folgende Schema:

Ei a0.0. 0 U RE IE Pe?

& 9 6

Die neun Richtungscosinus sind Funktionen der drei Eulerschen Winkel 3, y, p, und zwar bedeutet (wenn die Anfangspunkte 2 und zusammenfallen):

9 die Neigung der &-Axe gegen die z-Axe,

y die sogenannte Länge der Knotenlinie, nämlich den Winkel, den die Schnittgerade der &n- und der xy-Ebene mit der &-Axe bildet,

'@ das Azimut des Körpers, nämlich den Winkel, um den man die Knotenlinie drehen muss, damit sie mit der z-Axe zusammenfällt.

Für alle konkreten Anwendungen ist es unerlässlich, Ver- abredungen über den Sinn dieser Drehungen zu treffen; in der theoretischen Mechanik ist es üblich, den Sinn des Uhrzeigers zu wählen, und an dieser Gewohnheit soll auch hier festgehalten werden; die Astronomen bevorzugen den umgekehrten Sinn.

358) Brit. Ass. Reports (Montreal 1884), London 1885, p. 613; vgl. auch V ı, Nr. 26 (A. Voss) sowie V 27 (A. Sommerfeld und @. Mie).

27. Der einzelne starre Körper: Bemerkungen zur Statik. 553

Mit den Ewulerschen Winkeln sind die neun Richtungscosinus durch die Gleichungen verbunden:

4,= C08p cosy sin p sinY cos®, Ag = SINP COSY COS sin Y cos®, = sinysind;

b,= cospsindy + sin@ cosYy cos®, b, = sing sind —+ c03@ cosY cos®, b, = cosY sind;

= Sinpsin®,

G= 008p5in®,

gG= cos®.

Dreht sich der starre Körper um einen im Raume festen Punkt, so heisse dieser immer O; wenn nicht ausdrücklich etwas anderes verabredet wird, sollen alsdann die Axen der x, y, z immer die Hauptaxen des Körpers für den Punkt O sein.

2) Die Gesamtmasse des Körpers sei m. Ferner seien die Koordi- naten seines Schwerpunktes $S gleich &,, 70, &05 os Yo, Zu, und seine Hauptträgheitsmomente in bezug auf O gleich A, B, ©.

3) Die Schraubungsgeschwindigkeit des starren Körpers habe in bezug auf die &, n, & die Koordinaten En, E; z, x, o und in bezug auf die x, y, z die Koordinaten u, v, w; p, q, r. $Sie setzt sich aus der Translationsgeschwindigkeit v und der instantanen Drehgeschwin- digkeit w zusammen.

4) Die Impulsdyname habe beziehungsweise die Koordinaten Us 2 N EM Nun 02 MN der Impuls setzt sich aus dem Schiebestoss © und dem Drehstoss D zusammen.

5) Die Dyname der äusseren Kräfte habe beziehungsweise die Koordinaten =, H, Z; A,M, N und X, Y, Z; L, M, N; diese Dy- name setzt sich aus der resultierenden Einzelkraft & und dem resul- tierenden Drehmomente M zusammen.

27. Bemerkungen zur Statik des starren Körpers. Da über die elementare Statik des starren Körpers bereits in dem dritten Ab- schnitt des Artikels IV 2 (H. E. Timerding) berichtet worden ist, sollen hier nur einige ergänzende Bemerkungen hinzugefügt werden.

In der elementaren Statik wird gelehrt, wie man bei gegebenen Bedingungen die Gleichgewichtslagen des starren Körpers bestimmen kann. Aus den Gleichungen, die sich dabei ergeben, kann man jedoch

554 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

schon bei einfachen Aufgaben die zugehörigen Reaktionen nicht be- rechnen. Dies gilt zum Beispiel bei dem Gleichgewicht eines mit Gewichten belasteten vierbeinigen Tisches für die Reaktionen, die zwischen den Tischbeinen und dem Fussboden stattfinden®). Früher hat man sich öfters bemüht, diese Unbestimmtheit durch die Auf- stellung besonderer Gesetze, zum Beispiel in der Gewölbetheorie durch das sogenannte Gesetz des kleinsten Widerstandes, zu beseitigen, ohne das Bild des starren Körpers aufzugeben; heute weiss man, dass alle solche Bemühungen, wenigstens in dieser Form, verfehlt waren®‘®). Bei den sogenannten statisch unbestimmten Problemen hat man eben die Idealisierung zu weit getrieben, und die Lösung ergiebt sich, wie schon L. Euler erkannt hat, wenn das betrachtete System nicht als starr, sondern als elastisch angesehen wird, wenn man also zum Beispiel bei dem vierbeinigen Tische annimmt, der Fuss- boden erfahre Deformationen, die den Drucken proportional sind®), Dabei ist der Umstand von besonderer Wichtigkeit, dass die Glei- chungen zwischen den Reaktionen, die die Statik des starren Körpers liefert, auch wenn man das betrachtete System als elastisch ansieht, als notwendige Bedingungen des Gleichgewichtes bestehen bleiben; der Ausdruck statisch unbestimmt bedeutet also nicht etwa, dass man über die Reaktionen beim starren Körper gar nichts aussagen kann, vielmehr ist, wie es der Natur des starren Körpers entspricht, die resultierende Einzelkraft und das resultierende Moment der Reaktionen stets voll- ständig bestimmt.

Dass man sich bei gewissen Problemen aus der Statik des

359) Dass die Statik des starren Körpers versagt, wenn sich ein schwerer starrer Körper in mehr als drei Punkten auf eine horizontale Ebene stützt, und bei drei Punkten, wenn diese in gerader Linie liegen, hat wohl zuerst J. d’Alem- bert bemerkt, Opuscules math. 8, Paris 1780, p. 36—40. Das im Text angeführte Beispiel des mit Gewichten belasteten vierbeinigen Tisches ist schon von L. Euler untersucht worden, Hindenburgs Archiv der reinen und angewandten Mathematik 1 (1795), p. 74. Dann hat N. H. Abel, J. f. Math. 1 (1826) Oeuyres, 2. ed. 1, p. 95, im Anschluss an eine Abhandlung von 4. L. Crelle, von neuem darauf hingewiesen, dass die Aufgabe, den Druck in den drei Stützpunkten einer mit Gewichten belasteten horizontalen Ebene zu finden, keine bestimmte Lösung habe, sobald die drei Stützpunkte in eine Gerade fallen. Es verdiente genauer festgestellt zu werden, wie sich die Lehre von den sogenannten statisch un- bestimmten Systemen im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt hat; eine uner- lässliche Vorbedingung dafür wäre freilich, dass erst einmal eine Geschichte der Statik des starren Körpers im 18. Jahrhundert geschrieben würde.

360) Vgl. etwa A. Föppl, Festigkeitslehre, 3. Aufl., Leipzig 1905, p. 4. 361) Vgl. die Darstellung bei P. Appell, Mecanique 1, p. 148, wo sich auch noch andere Beispiele finden.

27. Der einzelne starre Körper: Bemerkungen zur Statik. 555

starren Körpers genötigt sieht, die Elastizitätstheorie heranzuziehen, wird manchmal mit der Behauptung begründet, bei absolut festen Körpern könne von Reaktionen überhaupt nicht die Rede sein; denn die Begriffe starr und reagieren widersprächen einander. Hier liegt jedoch eine Verwechslung zwischen Mechanik (im engeren Sinne des Wortes) und Physik vor. In die Physik gehört nämlich die Frage, wie die Reaktionen eines festen Körpers, den man zu einem starren idealisiert hat, tatsächlich zustande kommen. In der Mechanik aber liegt gerade der grosse Fortschritt, den wir d’Alembert verdanken, darin, dass die aus den Verbindungen hervorgehenden Reaktionen eingeführt werden, ohne dass nach ihrer physikalischen Legitimation gefragt wird.

E. Budde hat die Lehre von den Fällen, in denen das Gleich- gewicht eines starren Körpers statisch unbestimmt wird, in grosser Allgemeinheit behandelt?®), Zwischen den sechs Lagrangeschen Koordinaten eines starren Körpers, etwa den drei Cartesischen Ko- ordinaten seines Schwerpunktes und den drei Eulerschen Winkeln, mögen n voneinander unabhängige Bedingungsgleichungen bestehen, wo n kleiner als sechs ist; sie mögen dadurch realisiert werden, dass vorgeschrieben wird, n im Körper feste Flächen (die sich auch auf Punkte reduzieren können) sollen stets n im Raume feste Flächen berühren. Jede dieser Bedingungen liefert eine Zwangskraft, so dass man Zwangskomponenten zur Verfügung hat. Als Bedingungen des Gleichgewichts (ohne Reibung) ergeben sich aber 6 + 2n Glei- chungen, und da in diesen die Werte der 6 n freien Koordinaten und der Zwangskomponenten als Unbekannte anzusehen sind, so hat man ein statisch bestimmtes Problem.

Jetzt kann man weitere Bedingungsgleichungen in endlicher oder auch unendlicher Zahl hinzufügen, die, analytisch betrachtet, bereits aus den » ursprünglichen Bedingungsgleichungen folgen, also keine neue Beschränkung der Beweglichkeit des Körpers be- deuten, die aber, mechanisch gedeutet, die Forderung enthalten, dass gewisse neue, im starren Körper feste Flächen stets gewisse im Raume feste Flächen berühren. Derartige Bedingungen bezeichnet Budde. als tautologische Kontakte. Sie liefern je drei Zwangskom- ponenten. Die Gleichgewichtsbedingungen ergeben jedoch immer nur 6 2n Gleichungen zwischen den freien Koordinaten und den Zwangs- kräften, und man hat daher jetzt mehr Unbekannte als Gleichungen. Aus diesen Gleichungen lassen sich stets die Gleichungen herleiten,

362) Mechanik 2, p. 930.

556 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

die zwischen den 6 n freien Koordinaten bestehen und die Gleich- gewichtslagen liefern ?%?*). Die übrigen Gleichungen zwischen den Zwangskomponenten reichen zu deren vollständiger Bestimmung nicht aus. Da jedoch in dem System dieser Gleichungen Untersysteme enthalten sein können, in denen ebensoviele Unbekannte wie Glei- chungen vorkommen, so kann es sich im Falle tautologischer Kon- takte ergeben, dass ein Teil der Zwangskomponenten bestimmte Werte hat; allein es muß stets wenigstens bei einem Teil der Zwangskompo- nenten Unbestimmtheit eintreten.

Auch bei Aufgaben mit Reibung wird durch tautologische Kon- takte im allgemeinen Unbestimmtheit der Reaktionen hervorgerufen °®?).

28. Vorbereitungen zur Kinetik des starren Körpers.

In dieser Nummer sollen die Begriffe und Lehrsätze aus der Geo- metrie, Massengeometrie und Kinematik, die zum Aufbau der Kinetik des starren Körpers erforderlich sind, übersichtlich zusammengestellt werden. Dabei wird sich zugleich die Möglichkeit ergeben, diese Dis- ziplinen, über die in den Artikeln IV 2 (H. E. Timerding), IV 3 (A. Schoen- flies und M. Grübler) und IV 4 (G. Jung) getrennt berichtet worden ist, miteinander in Verbindung zu bringen; auch sollen einige Ergän- zungen hinzugefügt werden.

28a. Lage und Beweglichkeit. Die Lage eines Massenpunktes P, des starren Körpers lässt sich durch seine rechtwinkligen Cartesischen Koordinaten in bezug auf ein im Raume festes System der &, m, & mit dem Anfangspunkte & bestimmen. Wenn man drei Punkte des starren Körpers durch ihre Koordinaten festlegt, ergiebt die Forderung der Starrheit drei Bedingungsgleichungen zwischen den neun Koor- dinaten, und da für jeden weiteren Punkt drei Koordinaten und drei Bedingungsgleichungen der Starrheit hinzutreten, so hat ein starrer Körper höchstens sechs Grade der Freiheit, d.h. die Mannigfaltigkeit der mit den etwa vorgeschriebenen Zwangsbedingungen verträglichen Lagen im Raume, die er einnehmen kann, hängt höchstens von sechs unabhängigen Veränderlichen oder Lagekoordinaten ab; ist der Körper im Raume frei beweglich, so sind es genau sechs. Die Mannigfaltig- keiten der zulässigen Lagen liefern einen ersten Grund zur Einteilung der Probleme der Stereokinetik.

362°) Diese Gleichgewichtsiagen können in der Mannigfaltigkeit der 6—n freien Koordinaten diskrete Stellen bilden; es giebt aber auch Fälle, wo kon- tinuierliche Folgen von Gleichgewichtslagen vorhanden sind, so dass schon bei der Bestimmung der Gleichgewichtslagen eine gewisse Unbestimmtheit eintreten kann

363) Über die Schwierigkeiten bei der Reibung vgl. E. Budde, Mechanik 2, p. 934.

28a. Der einzelne starre Körper: Lage und Beweglichkeit. 557

Einer jeden Mannigfaltigkeit von zulässigen Lagen entspricht eine Schar von Bewegungen des freien starren Körpers. Aus diesen Scharen wird man diejenigen herausheben, denen die „Gruppeneigenschaft“ zu- kommt; das gilt zum Beispiel für die Gesamtheit aller Translationen und für die Gesamtheit aller Drehungen um einen festen Punkt. C. Jordan hat alle kontinuierlichen Gruppen aufgestellt, die sich aus reellen Bewegungen des Raumes bilden lassen®°*), und F. Klein ein- pfiehlt, bei einem jeden Problem aus der Kinetik des gebundenen starren Körpers zunächst die kleinste Gruppe von Bewegungen zu ermitteln, die die zugehörige Schar zulässiger Bewegungen umfasst, und bei der Aufstellung der kinetischen Gleichungen jeweils von dieser Gruppe auszugehen ®°).

Während die grosse Menge von Möglichkeiten, die bei den end- lichen Bewegungen eines starren Körpers vorhanden siud, bisher noch keine systematische Untersuchung erfahren hat, ist die Lehre von den infinitesimalen oder, wie man hier zu sagen pflegt, den elementaren Be- wegungen zu einem gewissen Abschlusse gelangt, wenigstens soweit die linearen Glieder ausschlaggebend sind. Bei dieser wesentlichen Beschrän- kung bildet die Gesamtheit der mit den Bedingungen verträglichen in- finitesimalen Bewegungen, die ein starrer Körper von einer gegebenen Lage aus vollführen kann, im Sinne von R.St. Ball ein lineares Schrauben- system erster bis sechster Stufe ?%); die von Ball begonnene Diskussion der linearen Schraubensysteme ist neuerdings von E. Study vollständig erledigt worden®”). F. Klein hatte eine Ausgestaltung dieser geo- metrischen Untersuchung nach der mechanischen Seite hin angeregt *®®®), indem er auf den Mechanismus hinwies, durch den W. Thomson und P. G. Tait die elementaren Bewegungen eines stärren Körpers mit fünf Graden der Freiheit realisiert haben °®°®”), und aufforderte, ähn- liche Konstruktionen für die anderen Fälle anzugeben. In der Tat hat A.Grünwald bald darauf einfache Mechanismen konstruiert, mittels deren

364) Ann. di mat. (2) 2 (1868), p. 168, 320; vgl. E. Study, Math. Ann. 39 (1891), p. 486 und S. Lie, Theorie der Transformationsgruppen 3, Leipzig 1893, p. 385.

365) Zeitschr. Math. Phys. 47 (1902), p. 265.

366) Eine zusammenfassende Darstellung seiner Untersuchungen hat R. St. Ball in dem Werke: Theory of screws, Cambridge 1900, gegeben; vgl. im übrigen IV 2, Abschnitt II (E. H. Timerding).

367) Geometrie der Dynamen, Leipzig 1903 (die erste Lieferung, auf die es hier ankommt, war schon 1901 erschienen); vgl. für die linearen Schraubensysteme auch A. Grünwald, Zeitschr. Math. Phys. 48 (1902), p. 48; 49, (1903), p. 211.

368) Zeitschr. Math. Phys. 47 (1902), p. 253.

369) Treatise, 2. ed. 1, p. 155.

558 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

man die linearen infinitesimalen Bewegungen für alle Freiheitsgrade erhält; es sind für den Grad 1: Schraubenmutter und Schieber, für den Grad 2: Schraubenzwilling, Schraubenschieber und Doppelschieber, für den Grad 3: Schraubendrilling, flacher Drilling und Schraubenzwillings- schieber, für den Grad 4: Muff am Stift, Kreuzdoppelschieber und Muffdoppelschieber, für den Grad 5: Mutter am Doppelstift und Prisma am Doppelstift?”°).

H. Hertz hat die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass ie Grad der Beweglichkeit im Unendlichkleinen mit dem Grade der Beweglich- keit im Endlichen nicht notwendig übereinstimmt?"!), Die Überein- stimmung findet statt, wenn sich die Zwangsbedingungen durch endliche Gleichungen zwischen den Lagekoordinaten des Körpers ausdrücken lassen (holonome Systeme). Wenn jedoch, wie beim Rollen eines starren Körpers auf einer Unterlage (siehe Nr. 31 und 38 dieses Ar- tikels) die Bedingungen in der Form nichtintegrabler linearer Glei- chungen zwischen den Differentialen der Lagekoordinaten erscheinen (nichtholonome Systeme), wird durch die Beschränkung im Infinitesi- malen keine Verminderung der Grade der Freiheit im Endlichen bewirkt; durch den Zwang wird dann nur die Art der Überführung des Körpers von einer zulässigen Lage in eine andere beschränkt, vgl. Nr. 16 dieses Artikels. In der Unterscheidung zwischen holonomen und nichtholonomen Problemen liegt ein zweiter Einteilungsgrund für die Probleme der Stereokinetik.

Es wäre unzweckmässig, als Lagekoordinaten eines frei beweglichen starren Körpers sechs unabhängige Koordinaten aus den neun Koordi- naten der vorher erwähnten drei Punkte zu nehmen, Bei den Pro- blemen der elementaren Kinetik pflegt man vielmehr in dem Körper zunächst einen Bezugspunkt O zu wählen, dessen Koordinaten nach den Axen der &,7,$ nit &*, y*, £* bezeichnet werden mögen. Kennt man die Bewegung des Bezugspunktes, so bleibt es übrig, die Lage des Körpers gegen ein Koordinatensystem der &,, n,, & zu bestimmen, dessen Anfangspunkt der Punkt O ist, und dessen Axen den Axen der &, n, & parallel laufen. Zu diesem Zwecke betrachtet man ein im Körper festes System der x, y, z mit dem Anfangspunkte O und be- stimmt seine Lage gegen die Axen der &, », & durch die sogenannten Eulerschen Winkel &, y, p; vgl. die Vorbemerkung zu diesem Abschnitt. L. Euler, der dieses Verfahren in einer Abhandlung aus dem Jahre 1758 angegeben hat°”?), war übrigens zu den Winkeln, die die gegenseitige

370) Zeitschr. Math. Phys. 52 (1905), p. 229.

371) Mechanik, Leipzig 1894. 372) Berlin M&m. Annde 1758 (1765), p. 154.

28a. Der einzelne starre Körper: Lage und Beweglichkeit. 559

Lage zweier rechtwinkliger Koordinatensysteme mit demselben An- fangspunkte festlegen, schon 1748 bei der Lehre von der Koordinaten- transformation im Raume gelangt?”®).

Die Eulerschen Winkel lassen sich sehr einfach durch die sogenannte Cardanische Aufhängung veranschaulichen ’”*), vermittels deren sich ein starrer Körper um einen festen Punkt beliebig drehen kann?”°).

Als Lagekoordinaten des frei beweg- lichen starren Körpers erscheinen bei dem soeben entwickelten Verfahren die drei Koor- dinaten des Bezugspunktes &*, n*, &* und die drei Eulerschen Winkel ®, %, 9; sind Zwangsbedingungen vorhanden, so hat man diese durch Gleichungen zwischen den Ver- änderlichen allein oder zwischen den Ver- änderlichen und deren Differentialen aus- zudrücken.

Statt der drei Eulerschen Winkel hat J. L. Lagrange 1773 die neun Richtungs- cosinus der beiden Koordinatenkreuze a,,..., | c, eingeführt®”s). In der elementaren Kinetik U des starren Körpers wird man bei der Ver- anschaulichung des Bewegungsverlaufes mit Vorteil die Eulerschen Winkel beibehalten; dagegen ist es nützlich, die in der Vor- | bemerkung zu diesem Abschnitt angegebenen Gleichungen zwischen den Richtungscosinus und den Eulerschen Winkeln zu kennen.

Statt des im Körper festen Koordinatensystems der x, y, z führt man auch gelegentlich Koordinatensysteme ein, die gegen den Körper

373) Introductio in analysin infinitorum, Lausanne 1748, Appendix, cap. 4: De immutatione coordinatarum; die Eulerschen Winkel ergeben sich, indem das System der &,, n,, & in das System der x, y, z durch drei auf einander folgende Drehungen um eine Axe übergeführt wird.

374) Vgl. H.v. Helmholtz, Dynamik, p. 331.

375) H. Cardanus, De subtilitate, Nürnberg 1550, liber 17, bezeichnet die Aufhängung als eine alte Erfindung. Nach M. Berthelot, Paris C. R. 111 (1890), p. 935, ist sie schon im 12. Jahrhundert nachzuweisen; vgl. auch M. Cantor, Vor- lesungen über Geschichte der Mathematik 2, 2. Aufl., Leipzig 1900, p. 516.

376) Berlin Nouv. M&m. annee 1773 = Oeuvres 2, p. 579; vgl. auch L. Euler, Petersburg Nov. Comment. 20 ad ann. 1775 (1776), p. 189 = Theoria motus, deutsche Übersetzung von J. Ph. Wolfers, p. 557.

560 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

eine bekannte Bewegung haben, zum Beispiel sich um eine im Körper feste Axe mit konstanter Winkelgeschwindigkeit drehen; vgl. Nr. 30 und 38. An die Stelle der Eulerschen Winkel treten dann andere Grössen, die die Lage des beweglichen Koordinatensystems gegen das im Raume feste System der &, n, & festlegen.

28b. Massenverteilung, Zu den geometrischen Begriffen tritt jetzt der Begriff der Masse hinzu; vgl. IV 4, Nr. 1, 2, 21 (@. Jung). Befindet sich im Punkte P, das Massenelement dm,, so liefert das über den Körper zu erstreckende Integral

fin.

die Gesamtmasse m des Körpers®””). Die Momente erster Ordnung in Bezug auf den Punkt 0:

Sa.dm,, Sy.dm,, Sz.1m,

verschwinden für den Massenmittelpunkt oder Schwerpunkt S des Körpers®’®). Bildet man die Momente zweiter Ordnung in Bezug auf O:

Swr+:Dam,—4A, [@’+2Dam,—B, [@+ dm, —6, Syez.dm.—D, Sz,2.0m,—E, Sz,y.dm, = F,

so ist das Trrägheitsmoment K des Körpers in bezug auf eine beliebige durch O gehende Axe gleich dem reziproken Quadrat des auf der Axe liegenden Halbmessers des Cauchyschen Ellipsoides:

(1) Aa? + By? + 022 2Dyz 2Esz 2Fry = 22)

377) Das Zeichen m ist gewählt worden, weil M bereits eine Komponente des resultierenden Drehmomentes M der äußeren Kräfte bedeutet. Bei manchen Autoren ist dieser Umstand übersehen worden, und es finden sich alsdann Glei- chungen, wie

M = Mglsin® sing (A. @. Webster, Dynamics, p. 276, Gl. 66), in denen derselbe Buchstabe auf der linken und auf der rechten Seite zwei ganz verschiedene Bedeutungen hat.

378) Die französischen Autoren sagen häufig centre d’inertie,; centrum inertiae scheint von S. König, Nova Act. Erudit. Lips. 1738, p. 34, eingeführt worden zu sein, der sich für den Ausdruck inertia auf J. Kepler und Chr. Wolf beruft; auch L. Euler gebraucht in seiner grundlegenden Abhandlung Berlin M6m. annee 1758 (1765), p. 134, die Bezeichnungen centre d’inertie und centre de masse. Eng- lische Autoren sagen centre of mass oder auch centroid.

379) Exercices de math. 2. annde, Paris 1827 Oeuyres (2) 7, p. 127; wie es scheint, ist L. Poinsot unabhängig von Cauchy ebenfalls zu diesem Ellipsoid ge- langt, siehe Theorie nouvelle de la rotation des corps, Paris 1834 J. de math. (1) 16 (1851), p. 58.

28b. Der einzelne starre Körper: Massenverteilung. 561

Bei dem einzelnen starren Körper ist es vorteilhaft, als Axen der x, Y, drei auf einander senkrechte Hauptazxen des Ellipsoids zu nehmen, sodass die A, B, C die Hauptträgheitsmomente für O werden, während die D, E, F verschwinden; wenn dagegen der Körper als Glied eines Systemes auftritt, so ist diese Wahl im Allgemeinen nicht zweck- mäßig. Nach dem Vorgange von L. Euler”) setzt man häufig K=mi?;, k wird als Gyrationsradius, Trägheitsradius oder auch, nach L. Poinsot, als Trägheitsarm bezeichnet°*!).

Im folgenden sollen die Ausartungen der Massenverteilung aus- geschlossen werden, bei denen eines oder mehrere der Hauptträgheits- momente verschwinden; Körper dieser Art sind etwa eine unendlich dünne Scheibe oder ein unendlich dünner Stab. In diesen Grenz- fällen, die für die Elastizitätstheorie von Bedeutung sind, lässt sich das stereodynamische Problem leicht durch ein äquivalentes Problem der Punktdynamik ersetzen.°*?)

Die Grössenbeziehungen zwischen den Hauptträgheitsmomenten liefern einen dritten Einteilungsgrund für die Probleme der Kinetik des starren Körpers, der besonders bei der Bewegung um einen festen Punkt zur Geltung gelangt. Abweichend von dem Sprachgebrauche des täglichen Lebens bezeichnet man in der Dynamik einen solchen Körper als einen Kreisel®*®); um Verwechslungen zu verhüten, soll im Gegensatze hierzu der auf horizontaler Ebene spielende, unten in eine Spitze auslaufende Rotationskörper ein Spielkreisel genannt werden.

Nach den Grössenbeziehungen zwischen den Hauptträgheits- momenten A, B, C in bezug auf den festen Punkt O unterscheidet man drei Arten von Kreiseln.

It A=B=(, so hat man einen Kugelkreisel®®) vor sich. Man sagt dann auch, der Körper besitze kinetische Symmetrie in bezug auf den Punkt 0°). Körper dieser Art sind, in bezug auf ihren Mittel- punkt, die homogene Kugel und die homogenen regulären Körper. Mit ihnen sind jedoch die Fälle der kinetischen Symmetrie noch nicht erschöpft. Bei der Untersuchung der Frage, ob ein gegebener Körper Punkte besitzt, in bezug auf die die Gleichung A= B= ( gilt, kommt

380) Theoria motus, cap. 5.

381) Theorie nouvelle, Paris 1834 J. de math. (1) 16 (1851), p. 73.

382) Vgl. etwa P. Stäckel, J. f. Math. 107 (1890), p. 343.

383) Der Sache nach tritt der Kugelkreisel schon bei L. Euler auf, der ihm die Kapitel 11 und 14 der Theoria motus gewidmet hat; der Name aber scheint zuerst von F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, p. 234, eingeführt worden zu sein.

384) W. Thomson und P. @. Tait, Handbuch 1, p. 223.

562 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

es auf die Hauptträgheitsmomente für den Schwerpunkt an. Sind diese ungleich, so giebt es überhaupt keinen solchen Punkt. Sind alle drei einander gleich, so ist der Schwerpunkt der einzige Punkt der verlangten Art®®). Sind aber nur zwei einander gleich, so giebt es solche Punkte dann und nur dann, wenn das ungleiche Moment grösser ist als die beiden gleichen, wie das z. B. bei dem homogenen ab- geplatteten Rotationsellipsoid zutrifft, und zwar erhält man zwei Punkte, die auf der Axe des grösseren Moments in gleicher Entfernung zu beiden Seiten des Schwerpunkts liegen ?%).

Sind nur zwei der Hauptträgheitsmomente für O einander gleich, also etwa A= B, so heisst der Kreisel ein symmetrischer Kreisel; ist A grösser als C, so hat man einen verlängerten, ist A kleiner als C, einen abgeplatteten Kreisel. Die Axe des Moments C wird die Figurenaxe des symmetrischen Kreisels genannt, die darauf senk- rechte Ebene, in der der Büschel der Axen gleichen Monents liegt, die Äquatorebene®). Man sagt auch, dass der Kreiselkörper kinetische Symmetrie in bezug auf die Figurenaxe besitze. Körper dieser Art sind alle homogenen Rotationskörper in bezug auf die Rotationsaxe und für jeden Punkt dieser Axe. Bei einem beliebigen starren Körper sind die geometrischen Orte der Punkte, in denen zwei der Haupt- trägheitsmomente einander gleich werden, nach J. Binet?®®) je eine Ellipse und eine Hyperbel, die demselben konfokalen Systeme an- gehören. |

F. Klein und A. Sommerfeld gebrauchen den Ausdruck symmetri- scher Kreisel in dem engeren Sinne, dass auch noch der Schwerpunkt auf der Figurenaxe liegen soll®®®); in dieser Bedeutung soll in Nr. 35 dieses Artikels von symmetrischen Kreiseln geredet werden.

Sind endlich die Hauptträgheitsmomente alle von einander ver- schieden, so hat man es mit einem unsymmetrischen Kreisel zu tun. Spricht man aber Sätze aus, die gelten, gleichgültig, wie sich die

385) Die Gestalt solcher Körper untersuchten J. d’Alembert, Opusc. math. 4, Paris 1768, p. 20; 5, Paris 1768, p. 501; P. $. Laplace, Paris M&m. annde 1783 (1786), p. 17; A. M. Legendre, Paris M&m. annde 1789 (1793), p. 372; R. Mayr, Diss. München 1901, Zeitschr. Math. Phys. 47 (1902), p. 479.

386) S. D. Poisson, M&canique, 1. €d., Paris 1811, p. 496; J. Binet, J. de l’&c. polyt. cah. 16 (1813), p. 41 (lu 1811); _L. Poinsot, Theorie nouvelle, Paris 1834 J. de math. (1) 16 (1851), p. 71.

387) S. D. Poisson, M&canique 2, 2. ed., Paris 1833, p. 168.

388) Theorie des Kreisels, p. 1; vgl. auch Anmerkung 346°. Ein Beispiel für einen symmetrischen Kreisel im weiteren Sinne des Wortes ist der Kowa- lewskische Kreisel, bei dem der Schwerpunkt in der Äquatorebene ausserhalb der Figurenachse liegt; vgl. Nr. 86 dieses Artikels.

28c. Der einzelne starre Körper: Geschwindigkeitszustand. 563

Grössenbeziehungen der Hauptträgheitsmomente gestalten, so wird der Kreisel als allgemeiner Kreisel bezeichnet.

28c. Geschwindigkeitszustand. 1) Zu den Lagekoordinaten und der Massenverteilung treten jetzt die Begriffe hinzu, die sich auf den Verlauf der Bewegung in der Zeit beziehen, und zwar handelt es sich hier zunächst um die Bestimmung der Geschwindigkeit v,, mit der sich ein beliebiger Punkt P,(&,, Y., 2.) des Körpers zur Zeit t bewegt. Zu diesem Zwecke genügt es, die vektoriell aufgefasste Geschwindigkeit vd des Bezugspunktes O und die vektoriell aufgefasste instantane Drehungs- geschwindigkeit 2°) des Körpers um diesen Punkt zu kennen.

Werden die Komponenten jener vektoriell aufgefassten Geschwin- digkeiten v und w nach den Axen der 2, y,z mit u, v, w und 9, q, r bezeichnet, so sind die Komponenten der Geschwindigkeit des Punktes P, nach denselben Axen: (2) uU + 42, N! Yar 9a U = E79 P2g WW +29, 1%a3 vgl. IV 2, Nr. 11 (H.E. Timerding). Wird noch der Vektor OP,=t, eingeführt, so erscheint der Geschwindigkeitsvektor v, als die Summe der Vektoren vd und [wr,], wo die eckige Klammer das vektorielle Produkt bezeichnet.

Verlegt man den Bezugspunkt nach einer anderen Stelle des Körpers, so bleibt der Drehvektor w ungeändert, während der Vektor der Translationsgeschwindigkeit übergeht in

8) v_v+ [wa]; hierin soll a den Vektor OO’ bedeuten. Bei geeigneter Wahl von 0’ fällt der Vektor. v’ in die Axe des Vektors w, und man erhält so die Axe der unendlich kleinen Schraubung, die der Körper im Zeit- elemente dt vollführt. ö

Da durch die Grössen p, q, r; u, v, w der Geschwindigkeitszustand des Körpers vollständig bestimmt ist, werden sie auch als ‚seine @e- schwindigkeitskoordinaten bezeichnet. Das System der sechs Grössen

389) Die Darstellung der instantanen Drehgeschwindigkeit durch einen Vektor verdankt man L. Poinsot, Theorie nouvelle, Paris 1834 = J. de math. (1) 16 (1851), p. 13. Neben dem Vektor w gebraucht man häufig die instantane Winkel- geschwindigkeit o der Drehung um die Axe, in der dieser Vektor liegt. Dem . Betrage nach stimmt o mit dem Betrage (der Länge) des Vektors w, also mit 'm| überein, & ist jedoch je nach dem Sinn der Drehung positiv oder negativ zu nehmen. Es wäre vielleicht zweckmässig, solche Skalare wie o, bei denen in der Axe des Vektors ein Sinn gegeben ist, zum Unterschiede von den stets positiven Beträgen der betreffenden Vektoren als Intensitäten zu bezeichnen; jedenfalls ist es erforderlich, die drei Begriffe m, !w| und ® genau aus einander zu halten.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1, ı. 37

564 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

2,9,r; u,v, w soll die Schraubungsgeschwindigkeit des Körpers heissen. In der Bezeichnung von R. St. Ball?®) wird durch die Verhältnisse der 2, q, r; u, v, w eine Schraube (screw) festgelegt. Zu einer solchen Ballschen Schraube gehören unendlich viele Schraubungen (twists on a screw), die sich von einander durch ihre Intensität unterscheiden und auch verschiedenen Sinn (Rechts- oder Linksschraubung) haben können. Die Axe der infinitesimalen Schraubung pdt, qdt, rdt; udt, vdt, wdt im Zeitelemente dt hat die Linienkoordinaten

p:q:ır:(w— kp): (v kg): (w kr), wo der Parameter (pitch): DR pu+gv+rw a ist; die Winkelgeschwindigkeit w der Drehung um die Axe ist gleich Vp’+ + r? und die Translationsgeschwindigkeit v* längs der Axe der Grösse nach gleich ko. Betrachtet man im besonderen die drei Punkte, die auf den Axen der &,, 71, & in der Entfernung Eins liegen, die also im Systeme der x, y, z der Reihe nach die Koordinaten:

bi, bu, b

an & haben, und drückt aus, dass die absoluten Geschwindigkeiten dieser Punkte gleich Null sind, so ergeben sich für die neun Richtungscosinus die oft benutzten neun Differentialgleichungen ®”"): un a BI tn HE AR VEN Werden hierin für die Richtungscosinus ihre Ausdrücke mittels der Eulerschen Winkel eingesetzt, so erhält man für die Komponenten p, q, r der Winkelgeschwindigkeit w nach den Axen der x, y, 2 die sogenannten kinematischen Gleichungen:

(4) T=ar ag,

p=Üsin®sing + 8 c0sg, (5) q= %sin® cosp sin p, r=dbco#-+9;

390) Vgl. die zusammenfassende Darstellung der Untersuchungen Balls: Theory of screws, Cambridge 1900.

391) 8. D. Poisson, Me&canique 2, 1. &d., Paris 1811, p. 185. Die Herleitung ist hier rein rechnerisch. Die im Texte gegebene kinematische Herleitung scheint von P. Saint-Guilhem, J. de math. (1) 16 (1851), p. 364 herzurühren; sie findet sich auch zum Beispiel bei P. Appell, Mecanique 2, p. 200 und A. G. Webster, Dynamics, p. 248.

28c. Der einzelne starre Körper: Geschwindigkeitszustand. 565

man kann diese Gleichungen auch leicht unmittelbar durch geome- trische Überlegungen ableiten ??).

Für die Komponenten x, x, og von w nach den Axen der &,n,& erhält man aus (5) die Werte:

a= osin®siny-+ ®#cosy, (5*) »=— psin®cosp + sin y, e>= 9Pcsd + Vi.

2) Ist der Geschwindigkeitszustand des Körpers durch die Ge- schwindigkeitskoordinaten p, q, r; u, v, w als Funktion der Zeit ge- geben, so hat man, um seine Lage zu ermitteln, zunächst aus den kinematischen Gleichungen die Eulerschen Winkel zu bestimmen. Nach @. Darboux geht man jedoch hierfür besser zu den Gleichungen (4) zurück, die zeigen, dass alles auf die Integration der drei simultanen Differentialgleichungen erster Ordnung

d d ep—-p, m—pr —MI— MP ankommt. Diese besitzen immer das Integral

+ 92° + 95 const.

Da in dem vorliegenden Falle die Konstante den Wert Eins haben muss, setze man .1+% x Yegag [, 5. Alsdann sind x und y Integrale der Riccatischen Differentialgleichung

d 1 i i 1 N; =,“ ap) wor „id Tip)e

diese lässt sich durch Quadraturen integrieren, sobald ein partikuläres Integral von ihr bekannt ist?°®).

Kennt man die Eulerschen Winkel als Funktionen der Zeit, so ergeben sich die Koordinaten &*, n*, &* des Berugspunktes O durch Quadraturen aus den Gleichungen:

a 2 3

HT m tRV + mw, dn* (6). I GG mbutrbotbw, d To aut U + GW.

8392) L. Euler, Berlin M&m. annde 1760 (1767), p. 205; vgl. auch P. Appell, M&canique 2, p. 144. 393) Legons sur la theorie generale des surfaces 1, livre 1, Paris 1887. 87*

566 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Dieser analytischen Behandlung tritt die synthetische zur Seite; vgl. IV 3, Nr. 15—17 (A. Schoenflies und M. Grübler). Nach A. L. Cauchy°®*) betrachtet man hierbei die Gesamtheit der Axen, die zu den instantanen Schraubungen des Körpers gehören. Diese bilden, allgemein gesprochen, im Raume und im Körper zwei windschiefe Regelflächen, die Asxenflächen, die sich in jedem Augenblicke be- rühren und dabei eine erzeugende Gerade, nämlich die betreffende Schraubungsaxe, gemeinsam haben. Während der Bewegung des Kör- pers wickeln sie sich gleitend und rollend in der Weise auf einander ab, dass die Gleitung immer längs der gemeinsamen erzeugenden Geraden erfolgt; diese Bewegungsart wird auch eine Schrotung genannt?®).

Sehr einfach gestaltet sich dieses Bild, wenn der Körper ein Kreisel ist. Die Axenflächen sind alsdann zwei Kegel, deren gemein- samer Scheitel in dem festen Punkte O des Körpers liegt. Der eine Kegel geht durch die Kurve hindurch, die der Endpunkt P des von O aus abgetragenen Vektors w der Drehgeschwindigkeit im Körper, oder, nach L. Poinsot, der Drehpol P beschreibt, und die Polweg oder Polhodie genannt wird; der andere Kegel geht durch die Kurve, die der Drehpol P im Raume beschreibt und die Herpolhodie heisst. Diese beiden Kurven und ebenso die beiden Kegel rollen während der Bewegung auf einander ab°°).

Ebenso wie man in der Kinetik des materiellen Punktes berüh- rende und oskulierende Bewegungen betrachtet, wird man auch in der Kinetik des starren Körpers vorgehen. Die berührende Bewegung ist beim Kreisel die gleichförmige Drehung um die instantane Axe mit der Winkelgeschwindigkeit ®, als oskulierende Bewegung aber ergiebt sich das Abrollen von zwei Kreiskegeln, Krümmungskegeln, um die sich die Polhodie und Herpolhodie in immer weiter bezw. immer enger werdenden Windungen herumziehen. Wenn man jedoch darauf verzichtet, die Grösse der vektoriellen Drehgeschwirdigkeit w wiederzugeben, und nur ein Bild von ihrer Richtung zu haben wünscht, kommt man mit zwei Kreiskegeln aus, die sich in gleichförmiger Drehung auf einander abwickeln. Man hat in diesem Falle die Bewegung der regulären Prä- zession, die schon in der Astronomie der Griechen eine Rolle spielt. Diese lässt sich auch so beschreiben, dass, bei geeigneter Wahl der Koor- dinaten, die z-Axe um die $-Axe mit der gleichförmigen Präzessions- geschwindigkeit v einen Kreiskegel, den Präzessionskegel, beschreibt,

394) Exercices annde 2, Paris 1827, p. 87 = Oeuvres (2) 7, p. 140.

395) F. Reuleaux, Theoretische Kinematik, Braunschweig 1877; @. Koenigs, Legons de cin&matique, Paris 1897, übersetzt Schrotung mit viration.

396) L. Poinsot, Theorie nouvelle, Paris 1834 —=J.de math. (1) 16 (1851),p. 89,303.

28d. Der einzelne starre Körper: Lebendige Kraft und Impuls. 567

während gleichzeitig der Körper sich mit der konstanten Eigengeschwin- digkeit u um die z2-Axe dreht. Bei dieser Bewegung ist $—=#,, Y!=vt, y = ut und die Komponenten der Drehgeschwindigkeit w werden p= v sin 9, sin ut (7) q= v sin 9, cosut r=vcosd,- u; mithin ist © = u?+ v”+ 2uv cos d,. Beispiele für die reguläre Präzession liefern Bewegungen des kräftefreien symmetrischen und des schweren symmetrischen Kreisels; auch die Bewegung der Erde um ihren Schwerpunkt gehört hierher.

Die Präzession heisst progressiv, wenn u und v dasselbe Vor- zeichen haben, retrograd, wenn ihr Verhältnis negativ ist. Eine genaue Diskussion aller möglichen Fälle hat L. Poinsot gegeben”); die Figuren 5—8 veranschaulichen die vier Hauptfälle der regulären Präzession.

Fig. 8.

28d. Lebendige Kraft und Impuls. Indem man die Geschwindig- keiten mit den Massenelementen in Verbindung bringt, wird man zu den Begriffen der lebendigen Kraft und des Impulses geführt.

1) Die lebendige Kraft T des starren Körpers erscheint zunächst in der Form des über den Körper zu erstreckenden dreifachen Inte-

397) J. de math. (1) 18 (1853), p. 41; vgl. auch F! Klein und A. Sommer- feld, Theorie des Kreisels, p. 47.

568 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

grals über das halbe Produkt aus dem Massenelement dm, und dem Quadrate der zugehörigen Geschwindigkeit; das Integral wird jedoch vermöge der Ausdrücke (3) für die Komponenten dieser Geschwindig- keit nach den im Körper festen Axen eine quadratische Form, deren Koeffizienten absolute Konstanten sind, d. h. auch die Lagekoordinaten des Körpers nicht enthalten.

Diese quadratische Form erhält eine sehr einfache Gestalt, wenn

man als Bezugspunkt 0 den Schwerpunkt 5 und als Axen der x, y, z die Hauptaxen von S$ nimmt; es wird nämlich (8) T=$%(Ap?+ Bf? + Or?) + $m(wW + v + w?). Das zweite Glied Zm(u?+v?+w?) ist die lebendige Kraft der im Schwerpunkte vereinigten Gesamtmasse des Körpers, wenn ihr die Translationsgeschwindigkeit d des Schwerpunktes S erteilt wird; durch das erste Glied 4(Ap?+ Bq? + Cr?) wird die lebendige Kraft der Kreiselung um $ dargestellt. Man hat also hier einen besonderen Fall des Satzes von Samuel König; vgl. Nr. 10 dieses Artikels.

Bedeuten &,, %,, 2, die Koordinaten des Schwerpunktes in bezug auf die Axen der x, y, 2, deren Anfangspunkt und deren Richtungen im Körper willkürlich gewählt worden sind, so gilt für die lebendige Kraft die verwickeltere Gleichung:

| T= $(Ap? + Bq? + Or? 2 Dgqr 2Erp 2 Fpg) (8*) + m[(wy, v2,)p + (u2, wa,)q + (v2, uYo)r] | + $m(u? + v?+ w?). 2) Unter dem Gesamtimpuls eines Systems materieller Punkte

versteht man die Dyname, deren sechs Koordinaten:in bezug auf die Axen der &, n, & durch die Summen

=, Ar ZE,m,, N, ee CHE Ber Ne) M ar

H, Fe ZNMe, M, u it, IE &.&.)m..

Z, = Ze,m,; N, ner (5,0. au Nabe), dargestellt werden; vgl. Nr. 7 dieses Artikels. Bei dem starren Körper werden aus den Summen dreifache Integrale, die über alle Massen- elemente dm, zu erstrecken sind. Bildet man die sechs Koordinaten der so entstehenden Impulsdyname nach den im Körper festen Axen der z, y, z, so erhält man mit Hülfe des Ausdruckes (8*) der leben- digen Kraft die einfachen Formeln:

oT

01 oT

(9*) Lern Hopgı Amge oT eT 201 Lea: M=77 at Tai

28d. Der einzelne starre Körper: Lebendige Kraft und Impuls. 569

Im besonderen ist, wenn 7 durch den Ausdruck (8) dargestellt wird: 9 | X=Mu Y,=HMv, Z= Hu; m) Lh=4Ap, :M =Be N = or

Verlegt man den Bezugspunkt von O nach einer anderen Stelle 0’ des Körpers, so bleibt der Vektor © des Schiebestosses (X,, Yı, Zı) ungeändert, während der Vektor ® des Drehstosses (L,, M,, N,) über-

geht in d—-D+ [6a],

wo a wieder den Vektor O0’ bezeichnet. Bei geeigneter Wahl von O’ fällt der Vektor D’ in die Axe des Vektors ©, und man erhält die Axe des Schraubestosses, der dem Gesamtimpuls des starren Körpers äquivalent ist. Der Schraubestoss setzt sich aus dem Schiebestoss & mit den Komponenten X,, Y,, Z, und einem Drehstoss ®* mit den Komponenten kX,, kY,, kZ, zusammen, wobei der Parameter

X,ZL, +HM,+Z,X:

> En Aue

ist; die Linienkoordinaten der Zentralaxe, in die die beiden Vektoren © und D* fallen, werden durch die Verhältnisse

X%,:Y1:2,:(, —KkX,):(M, —kY): (N KZ,) gegeben.

Auf diese Art werden der Ballschen Schraube, die durch die Ver- hältnisse der sechs Grössen X,, Y,, Z,, Li, Mı, X,, also durch Axe und Parameter, festgelegt ist, unendlich viele Schraubestösse (wrenches about a screw) et die sich durch ihre Intensität unterscheiden und auch verschiedenen Sinn haben können.

Der Schraubestoss des Gesamtimpulses und die Schraubungs- geschwindigkeit des Körpers sind Grössen ähnlicher Art. Wenn man sie mit einander vergleicht, hat man die Vektoren S und w, D und v in Parallele zu stellen, und es ist daher ein Missverständnis, wenn manche Autoren es so darstellen, als ob es sich bei dieser Zuordnung um einen kausalen Zusammenhang handle°®”).

In der That besteht zwischen Schraubungsgeschwindigkeit und Schraubestoss derselbe Unterschied, wie zwischen Vektoren, die Trans- lations-- und Drehungsgeschwindigkeiten oder die Einzelkräfte und Momente darstellen. Die Vektoren der ersten Art (polare Vektoren) wechseln bei einer Inversion des Koordinatensystems das Vorzeichen, während die Vektoren der zweiten Art (axiale Vektoren) unverändert

398) Vgl. die Ausführungen in IV 2, Nr. 27 (H. E. Timerding).

570 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

bleiben®®®). Dem entsprechend gehören, nachdem Zeit- und Kraftein- heit festgesetzt sind, zu einem Schraubestosse noch immer zwei ent- gegengesetzt gleiche Schraubungsgeschwindigkeiten, und die Zuordnung wird erst dann eindeutig, wenn man noch eine Verabredung getroffen hat, welcher Sinn um die Axe einem die Axe entlang weisenden Sinn entsprechen soll. Um diesem Unterschiede einen Ausdruck zu geben, hat F. Klein vorgeschlagen, den Inbegriff der (p, q, r; «4, v, w) eine Schraubengrösse erster Art, den Inbegriff der (X,, Y,, Z,;L,, M,, N,) eine Schraubengrösse zweiter Art zu nennen *).

Dem starren Körper kommt die Eigentümlichkeit zu, dass um- gekehrt aus dem Gesamtimpuls die Geschwindigkeitskoordinaten und insbesondere auch die lebendige Kraft berechnet werden können, und es hat daher die Impulsdyname für den starren Körper eine ähnliche Bedeutung, wie der Impulsvektor für den einzelnen materiellen Punkt; wirken zum Beispiel keine äusseren Kräfte, so wird der Gesamtver- lauf der Bewegung durch die Angabe bestimmt, dass beim materiellen Punkte der Impulsvektor und beim starren Körper die Impulsdyname im Raume stehen bleiben. Auf dieser Eigenschaft des starren Körpers beruht die synthetische Ableitung der Differentialgleichungen der Be- wegung, die in Nr. 29 gegeben werden wird. '

Beim Kreisel wird der Vektor des Drehstosses D für den festen Punkt O, der für ihn allein in Betracht kommt, häufig einfach als Impulsvektor des Kreisels bezeichnet. Dieser Impulsvektor, der von O aus abgetragen werden möge, beschreibt bei irgend einer Bewegung des Kreisels einen Kegel, den Impulskegel, und der geometrische Ort seiner Endpunkte ist eine Kurve, die Impulskurve heißt.

Aus den Eigenschaften des Impulses ergiebt sich ein vierter Ein- teilungsgrund für die Bewegungen starrer Körper. Man wird vor allem nach solchen Bewegungsformen fragen, bei denen die Impuls- dyname einfach ausfällt. Allerdings wird man dabei vielfach auf Fälle zurückgeführt, die schon bei den drei anderen Einteilungsgründen aufgetreten waren; es hat sich aber auch Neues ergeben. In dieser Beziehung seien genannt die Untersuchungen L. Poinsots“) über die Bewegungen, die ein kräftefreier Körper bei einem Anfangsstosse an- nimmt, und der Hesssche Fall bei dem schweren symmetrischen

399) Vgl. IV 14, Nr. 2 und 3 (M. Abraham).

400) Zeitschr. Math. Phys. 47 (1902), p. 242; vgl. IV 2, Nr.13 und 28 (H. E. Timerding).

401) J. de math. (2) 2 (1857), p. 281; (2) 4 (1859), p. 161, 171, 421; vgl. auch Nr. 44 dieses Artikels.

29. Der einzelne starre Körper: Allgemeine Kinetik. 571

Kreisel, der dadurch charakterisiert ist, dass der Impulsvektor stets in einer Ebene liegt, die im Körper fest bleibt).

3) Bei den Gleichungen (9) tritt eine Beziehung zwischen der instantanen Schraubungsgeschwindigkeit und der Impulsdyname zu Tage. Für den entsprechenden Zusammenhang zwischen den Ballschen Schrauben, die zu der Schraubungsgeschwindigkeit und der Impuls- dyname des Körpers gehören, hat R. St. Ball den Namen der chiasti- schen Homographie eingeführt‘®). Ferner wird die lebendige Kraft mit den beiden genannten Begriffe verknüpft durch die Gleichung:

(10) T= 4(uX, +vY, + wZ,+prL+ qM, + rN,),

die aussagt, dass die lebendige Kraft gleich dem halben Momente jener beiden Schrauben auf einander ist; im besonderen wird beim Kreisel

(10) T=}pLl,+gqM, + rN,),

d.h. T ist das halbe skalare Produkt der Vektoren w und ®. Für die elementare Arbeit dW der Dyname X, Y, Z, L, M, N im Zeit- elemente dt hat man endlich die häufig benutzte Gleichung

1) dAW=(uX+zY+wZ+pL+gM+rN)dt.%)

29. Allgemeine Kinetik des starren Körpers.

Die in der vorhergehenden Nummer dargelegten Begriffe und Sätze ermöglichen es, die Differentialgleichungen der Bewegung für den starren Körper aufzustellen. Das soll zunächst in synthetischer und darauf in analytischer Behandlung geschehen. Bei der üblichen Form dieser Differentialgleichungen sind die aus den Bedingungen ent- springenden Reaktionen eliminiert worden, und es folgt daher hinter- her zur Ergänzung ein kurzer Bericht über die Kinetostatik des starren Körpers. Den Schluss der Nummer bilden Ausführungen über die Bedeutung der Schraubentheorie für die Kinetik des starren Körpers.

29a. Aufstellung der Differentialgleichungen der Bewegung in synthetischer Behandlung. In der Kinetik der Systeme materieller Punkte wird gezeigt, dass sich bei einem Stosse, der auf das System ausgeübt wird, die Dyname der Stosskräfte mit der Dyname des Gesamtimpulses additiv zusammensetzt. Erfährt also ein freier starrer Körper mit der Impulsdyname (Z,, H,, Z,; A,, M,, N,) einen Stoss,

402) W. Hess, Math. Ann. 37 (1894), p. 318; näheres in Nr. 36 dieses Artikels. 403) Vgl. IV 2, Nr. 19 (H. E. Timerding). 404) Vgl. IV 2, Nr. 14 und 26 (H. E. Timerding).

572 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

der durch die Dyname ([=], [H], [Z]; [A], [M], [N]) dargestellt sein möge, so hat seine Impulsdyname nach dem Stosse die Koordinaten

Ss, +l[=, H +[H), A+l2; A+[Al, M+[M, N, + [N].

Auf die Frage, wie sich ein solcher Stoss realisieren lässt, kann hier nicht eingegangen werden, da ihre Beantwortung auf die Lehre von dem Stosse fester Körper führen würde.

Wirken kontinuierliche Kräfte, die sich in bezug auf den Punkt & und die Axen der &, n, & zu einer resultierenden Einzelkraft $ mit den Komponenten =, H, Z und einem resultierenden Kräftepaare des Momentes M mit den Komponenten A, M, N vereinigen lassen, so setzt sich im Zeitelemente dt die Impulsdyname mit der unendlich kleinen Stossdyname Zdt, Hat, Zdt; Adt, Mdt, Ndt zusammen; für den Übergang von endlichen zu unendlich kleinen Stössen vgl. Nr. 18 dieses Artikels. Dieser Impulssatz gilt zunächst für den freien starren Körper; wenn zu den gegebenen Kräften noch Bedingungen hinzutreten, so hat man die Reaktionen hinzuzunehmen.

Der genannte Impulssatz findet beim freien starren Körper seinen analytischen Ausdruck in den fundamentalen Gleichungen:

(1) dz,==dt, dH,=Hdt, dZ, = Zdt;

(2) aN,=Ndt, dM,=Mdt, dN,=Ndt. Man kann sie auch zu den beiden vektoriellen Gleichungen (la) dS = Sat,

(2a) AD Mat

vereinigen; die Nummern der vektoriellen Gleichungen sollen hier, wie im Folgenden, durch den Zusatz des Buchstabens a gekenn- zeichnet werden. Die Differentialgleichungen (1) und (2) bestimmen die Änderung der Impulsdyname im Laufe der Zeit; da aber beim starren Körper durch die Impulsdyname die Schraubungsgeschwindig- keit eindeutig festgelegt wird (siehe Nr. 28d), bestimmen sie auch die Änderung des Geschwindigkeitszustandes im Laufe der Zeit. Die Gleichungen (1) und (2) in Verbindung mit den Gleichungen (9) von Nr. 28d sind somit als die Differentialgleichungen der Bewegung des freien starren Körpers anzusprechen.

Die Impulsgleichungen (1) und (2) gelten unter der Voraus- setzung, dass die Dynamen auf den im Raume festen Punkt 2 und die im Raume festen Axen der &, n, & bezogen werden; für die An- wendungen ist es jedoch erforderlich, Gleichungen "herzustellen, die für einen beweglichen Anfangspunkt O und für die beweglichen Axen der

29. Der einzelne starre Körper: Allgemeine Kinetik. 573

x, y, # gelten. Der Einfachheit halber soll im folgenden nur der wichtigste Fall betrachtet werden, dass O ein bestimmter Punkt des Körpers und die Axen der x, y, z im Körper feste Axen sind. Zunächst sei nur der Anfangspunkt O0 beweglich, nämlich als Bezugspunkt des Körpers; durch ihn mögen die Axen der &,, n, parallel zu den im Raume festen Axen der &, n, & gelegt werden. Wenn der Punkt O während des Zeitelementes dt in die Lage 0” übergeht, so ist der Vektor O0’ gleich vdt; der Vektor © bleibt bei dieser Verlegung ungeändert, der Vektor D aber geht in D + [Sv]dt über. Wenn man Änderungen im Zeitelemente dt relatir zu dem beweg- lichen Punkte O durch das Symbol d’ bezeichnet, so ist daher:

AS— Rd, AD + [vSjat Mat.

Nunmehr werde statt des Systems der &,, n,, & das im Körper feste System der x, y, 2 eingeführt, das um den Punkt O die Drehgeschwindigkeit ww hat. Denkt man sich von O aus die Vek-

toren 0OS=6& und OD=D abgetragen, so sind die Differential-

i d& AD quotienten —, und re Punkte S und D, bei festgehaltenem O, zur Zeit # bewegen. Nach der Lehre von den relativen Bewegungen (siehe IV 3, Nr. 26 (A. Schoen- fies und M. Grübler) sowie Nr. 10 dieses Artikels) setzen sich diese Geschwindigkeiten aus den Fortführungsgeschwindigkeiten der Punkte S und D im Körper und ihren relativen Geschwindigkeiten gegen den Körper zusammen. Die Fortführungsgeschwindigkeiten sind aber (siehe Nr. 28c) gleich [0S&] und [wD], und als die relativen Geschwindig- keiten ergeben sich, wenn Änderungen im Zeitelemente dt relativ

gegen den Körper durch das Symbol d* bezeichnet werden, die

die Geschwindigkeiten, mit denen sich die

Differentialquotienten und —_ Hieraus folgen die vektoriellen Gleichungen: d*& (3a) a trmsi=8, d* (48) u +FPIHLSI-M,

die in der Sprache der analytischen Geometrie so lauten:

dX,

dt =-X+rY,—qgZ,, day,

8) er Te Y+pZ,—rX, aaa

574 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Aa—=L+Wwn—wZA+rM,—gN, am,

(4) ET =M+tuZ,—wX,+pN, —rL,, ea =N+vX, —uY, +q1,,—pMl:.:

Wählt man im besonderen als Bezugspunkt O den Schwerpunkt S

des Körpers, so ist S=mv,

und die Gleichung d’& = fdt geht über in den Schwerpunktssatg: (da) m“ ——_.

Da ferner das vektorielle Produkt [vv] verschwindet, so lautet jetzt die Gleichung (4a):

(62) FL mI-M,

d. h. es gilt der Satz von L. Euler, dass sich der Körper so um den Schwerpunkt bewegt, als ob dieser fest wäre*®). Kinematisch ist es bei jedem Bezugspunkte O0 möglich, die Bewegung des Körpers in die Translation des Bezugspunktes und die Drehung um den Bezugspunkt zu zerlegen, aber nur der Schwerpunkt besitzt die kinetische Eigen- schaft, dass die Bewegung um ihn so erfolgt, als ob er ruhte. Der Satz von Euler wird häufig so ausgelegt, als könne man die Integration der Differentialgleichungen der Bewegung (8) und (4), wenn der Schwerpunkt als Bezugspunkt gewählt wird, in der Weise ausführen, dass man die Bewegung des Schwerpunktes und die Drehung um ihn jede für sich ermittelt. Diese Auslegung trifft allerdings in einigen be- sonderen Fällen zu, zum Beispiel, wenn auf den Körper als äussere Kraft nur die Schwere wirkt. Allein sie enthält einen prinzipiellen Irrtum; denn im allgemeinen werden die Differentialgleichungen (da) und (6a), sobald darin die Lagekoordinaten eingeführt werden, ein irreduzibles simultanes System in allen sechs Veränderlichen bilden.

Eine ähnliche Vereinfachung der Gleichung (4a) wie beim Schwer- punkte ergiebt sich auch bei dem Kreisel, d. h. bei einem starren Körper, der sich um einen festen Punkt dreht®®). Da nämlich die in dem festen Punkte O angreifende Reaktion keinen Beitrag zu dem Momente M liefern kann, so darf man von ihr absehen, und erhält jetzt, indem vd —0 ist, wieder die Gleichung (6a).

405) Dieser Satz findet sich schon in L. Eulers Scientia navalis, 1, $ 128, Petersburg 1749.

SITES

29. Der einzelne starre Körper: Allgemeine Kinetik. 575

In der Sprache der analytischen Geometrie tritt an die Stelle der einen Vektorgleichung (6a) das System der drei Gleichungen:

ha, u -L +rM,—gqN,, dM, r (6) —p=M+pN, tl; IN, em Ntah—pM

Wenn man hierin für die Komponenten des Drehstosses D ihre Werte

u, nn einsetzt, so entstehen die sogenannten Eulerschen Gleichungen: eo. (6°) uhr, \ or == +95, —05,,

die bei Einführung von Hauptawen für den Schwerpunkt des freien starren Körpers bez. für den festen Punkt des kreiselnden starren Körpers die einfache Gestalt annehmen:

[

d

w dq (6”) | BÜ=M+(C— An,

d y | = N-+ (A B)pg.

Über die verschiedenen Methoden, diese Eulerschen Gleichungen her- zuleiten, wird in Nr. 30 ausführlich berichtet werden.

Der Bedeutung der Gleichungen (2) entsprechend lassen sich die Eulerschen Gleichungen auffassen als die F’lächensätze, bezogen auf bewegliche Axen; nur hat man dabei den Ausdruck Flächensatz nicht, wie es vielfach üblich ist, in dem Sinne der Erhaltung der Flächen zu verstehen (vgl. Nr. 5, p. 464 dieses Artikels), sondern so, dass sich der elementare Drehstoss des Impulses zu dem Drehstoss der äusseren Kräfte geometrisch addiert. Es findet also eine genaue Analogie mit den Schwerpunktssätzen statt, die aussagen, dass der Schiebestoss des Impulses zu dem Schiebestoss der äusseren Kräfte hinzutrittt%),

406) Vgl. F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, p. 110—115. Statt der dort gebrauchten Ausdrücke Impulsschraube und Stossschraube sind hier,

576 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Aus dem Vorhergehenden ergiebt sich, dass man die allgemeine Kinetik des starren Körpers auch aufbauen kann, indem man von den Schwerpunktssätzen und den allgemeiner aufgefassten Flächensätzen ausgeht. Bei speziellen Problemen wird diese Art des Vorgehens besonders dann von Nutzen sein, wenn aus diesen Sätzen folgt, dass eine oder mehrere der Komponenten der Impulsdyname während der Bewegung konstant bleiben. Indem man noch den Satz von der Er- haltung der lebendigen Kraft hinzunimmt, der fast bei allen Pro- blemen der theoretischen Mechanik gilt, ist es häufig möglich, Glei- chungen zu erhalten, durch die man auf elementare Art zur Integra- tion der Bewegungsgleichungen gelangt oder aus denen man doch Schlüsse auf den Verlauf der Bewegung ziehen kann.

29b. Aufstellung der Differentialgleichungen der Bewegung in analytischer Behandlung. Die Verheissung J. L. Lagranges, dass seine Methode, ohne Konstruktionen oder geometrische Überlegungen zu erfordern, alle Gleichungen liefere, die zur Lösung einer jeden Auf- gabe der Dynamik nötig sind, geht auch bei der Kinetik des starren Körpers in Erfüllung. Der Ansatz der Differentialgleichungen der Bewegung gestaltet sich sogar bei diesem analytischen Verfahren sehr einfach.

Es handle sich zunächst um den freien starren Körper. Nach der Vorschrift von Lagrange hat man zuerst Lagekoordinaten einzu- führen. Das seien die in Nr. 28a definierten Grössen &*, n*, &*; 9, %, p, also die Koordinaten des Bezugspunktes O und die Eulerschen Winkel. Darauf hat man die Ausdrücke der lebendigen Kraft'7T und der ele- mentaren Arbeit dW der äusseren Kräfte zu bilden. Nach Nr. 28d wird 7 eine quadratische Form der Grössen p, g, r; u, v, w mit ab- solut konstanten Koeffizienten. Wenn man nun aus den kinematischen Gleichungen für p, q, r, Nr. 28c, Gleichungen (5), und aus den Gleichungen für die Ableitungen der Koordinaten &*, 7*, &* nach der Zeit, Nr. 28c, Gleichungen (6), die Werte für p, g, r; u, v, w einsetzt, so ergiebt sich 7 als eine quadratische Form der verallgemeinerten Geschwindigkeitskoordinaten &*, n*, &, $, %, $, deren Koeffizienten von den Lagekoordinaten &*, n*, 6*; ®, v, g abhängen. Die elementare Arbeit dW der Dyname der äusseren Kräfte (X, Y, Z; L, M, N) bei der unendlich kleinen Schraubung des Körpers im Zeitelemente dt, nämlich (udt, vdt, wdt; pdt, gdt, rdt), ist aber nach Gleichung

damit das Wort Schraube den Ballschen Schrauben vorbehalten bleibt, die Aus- drücke Impulsdyname und Stossdyname benutzt worden.

29. Der einzelne starre Körper: Allgemeine Kinetik. 577

(11) in Nr. 28d: dAW=(Xu+Yv+Zw+Lp+ Mg-+ Nr)dt.

Werden wiederum hierin für u, v,w; p, q, r ihre Ausdrücke in den Geschwindigkeits- und Lagekoordinaten eingesetzt und noch die Zeichen d durch die Zeichen ö ersetzt, so ergiebt sich ein Ausdruck der Form: 6W = 2085*+H07®+ 26% + 09058 + Yöy + Pdp;

hierin bedeuten ©, Y, ® die senkrechten Projektionen des Vektors M auf die £-Axe, die Knotenlinie und die z-Axe.

Nach diesen Vorbereitungen kann man sofort die Lagrangeschen Differentialgleichungen aufstellen, und zwar erhält man:

oma wor dor

_ Sulz. ; dto&* dton* atio6e Mann anni, aan a PET TE Tee ee OL 01.07

Die Glieder 38’ du’ dp lassen sich deuten als die Komponenten

des Vektors nach der &-Axe, der Knotenlinie und der z-Axe.

Wählt man im besonderen als Bezugspunkt O den Schwerpunkt

und als Axen der x, y, z die zugehörigen Hauptaxen, so wird T— 4m(# + 5*2 4 €) + 4(Ap°+ Bg?+ 073), und die erste Zeile der Gleichungen (7) geht über in den Schwer- punktssatz: met =, mıi’=-H, mit 2;

die zweite Zeile aber liefert Gleichungen, in denen auf den linken Seiten nur die Eulerschen Winkel und deren Ableitungen nach der Zeit auftreten. Wie man aus den Gleichungen der zweiten Zeile die Eulerschen Gleichungen ableiten kann, wird in Nr. 30 gezeigt werden.

Ebenso schnell führt das Lagrangesche Verfahren zum Ziele, falls Zwangsbedingungen vorhanden sind, die sich durch holonome oder nichtholonome Gleichungen der Form

0W.= 2,85*+ H,ön% + Z,86* + 0,89 + Yöy + 0,89 0 (e=1,2,3,...)

407) Auf die im Texte angegebene Art hat Lagrange die Differentialglei- chungen der Bewegung schon 1760 hergeleitet, Misc. Taur. 2 (1760/61) = Oeuvres 1, p. 417; er hat hier auch schon den Fall betrachtet, dass Bedingungsgleichungen vorgeschrieben sind. Später hat Lagrange in der M&canique analytique die An- wendung seiner Methode auf den starren Körper ausführlich dargestellt; vgl. auch Nr. 80 dieses Artikels.

578 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

darstellen lassen; man hat dann nur bei der Bildung der Gleichungen (7) statt 6W den Ausdruck

o9W +RIW, + IW, + 409W, +:

zu benutzen. Hierin bedeuten A,, A,, A,,... die Euler- Lagrangeschen Multiplikatoren, die den aus den Bedingungen entspringenden Drucken entsprechen. Es möge noch ausdrücklich hervorgehoben werden, dass bei diesen Verfahren d’Alembertsche Reaktionen vorausgesetzt werden, die keine Arbeit leisten oder absorbieren; falls Dissipation der Energie stattfindet, sind die Reibungswiderstände den äusseren Kräften zuzu- rechnen, siehe Nr. 31 dieses Artikels.

In den Differentialgleichungen der Bewegung, die man auf diese Art erhält, kommen Multiplikatoren vor, die man erst eliminieren muss, wenn man Gleichungen für die Lagekoordinaten allein oder die so- genannten reinen Gleichungen erhalten will. Bei holonomen Bedingungen kann man sich die Eliminationen ersparen, indem man von vornherein Lagekoordinaicn einführt, bei denen die Gleichungen d W,—= 0 identisch erfüllt sind. Wie man die reinen Gleichungen in allen Fällen un- mittelbar erhalten kann, hat neuerdings P. Appell gezeigt‘”).

Bestent die Zwangsbedingung im besonderen darin, dass ein Punkt O des Körpers festgehalten wird, so nehme man ihn zum Be- zugspunkt. Dann sind die Koordinaten &*, 7*, $* konstant, und man kann daher den Ansatz der Lagrangeschen Gleichungen von vorn herein unter der Voraussetzung vornehmen, dass die Eulerschen Winkel die drei Lagekoordinaten des Kreisels sind. Wählt man noch als Axen der x, y, z drei auf einander senkrechte Hauptaxen des Punktes O, so ist: z

(8) T=$(4APP + BP+ Or),

und man wird daher beim Kreisel Differentialgleichungen genau der- selben Form erhalten, wie bei der Kreiselung eines freien starren Körpers um seinen Schwerpunkt.

29c. Kinetostatik. Aufgabe der Kinetostatik ist es, die Drucke und die Mittelwerte der inneren Spannungen zu bestimmen, die bei einem in Bewegung befindlichen Systeme auftreten; siehe Nr. 42 dieses Artikels.

Es möge hier genügen, als Beispiel die Bestimmung des Kineto- statischen Druckes R zu geben, den beim Kreisel der feste Punkt O erfährt. Die Komponenten dieser Einzelkraft A nach den Axen der x, y,z seien U, V, W. Wäre der Kreisel in Ruhe, so wären die Kom-

408) M6canique 2, p. 374; siehe auch Nr. 80 dieses Artikels.

29. Der einzelne starre Körper: Allgemeine Kinetik. 579

ponenten von R der Reihe nach gleich X, Y, Z, da ja der feste Punkt die Wirkung der resultierenden Einzelkraft X der äusseren Kräfte aufhebt; dieser Druck wird daher als statischer Druck bezeichnet. Bei der Bewegung kommt aber zu dem statischen Druck (X, Y, Z) ein kinetischer Druck hinzu, den man folgendermaßen findet. Wird den äusseren Kräften die Einzelkraft R hinzugefügt, so darf man den Körper als frei beweglich ansehen, und es gelten daher für ihn die Differentialgleichungen (3), die in dem vorliegenden Falle so lauten:

(9) Ian Ze

die linken Seiten dieser Gleichungen sind, abgesehen vom Vorzeichen, die Komponenten des kinetischen Druckes.

Um die hier auftretenden Impulskoordinaten X,, Y,, Z, aus den Gleichungen (9), Nr. 28d zu berechnen, hat man in ihnen zunächst für die lebendige Kraft 7 den Ausdruck zu benutzen, der bei einem freien starren Körper mit beliebigem Bezugspunkt O gilt, von diesem die partiellen Ableitungen nach «u, v, w zu nehmen und erst hinter- her, wie es der Bewegung des Kreisels entspricht, u=v—=w=0 zu setzen. Auf diese Art findet man die Werte:

X, = m ry), (10) Y, = mu P%); Z, = m(py I%);

in denen &9, Yo, 2, die Koordinaten des Schwerpunktes S bedeuten. Berechnet man jetzt U, V, W, so ergiebt sich für den kinetostatischen Druck R die Vektorgleichung:

(11) R-R+wW.a—n-(wo)+[Fa];

hierin bezeichnet a den Vektor OS, und es ist, wie üblich, das skalare Produkt durch runde Klammern, das vektorielle durch eckige Klammern gekennzeichnet worden*).

Nicht weniger wichtig für die Anwendungen wäre die Ermitte- lung der inneren Spannungen, die in dem Kreiselkörper eintreten; denn wenn diese bei rascher Drehung eine gewisse Grenze übersteigen,

409) P. Appell, Mecanique 2, p. 151; A. Legoux, Toulouse Ann. (1) 8 (1894), I, p. 13. Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1, ı. 38

580 TV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

wird der Kreisel zerspringen. Hierfür möge jedoch auf die Angaben in Nr. 42 verwiesen werden.

Ebenso wie in der Statik des starren Körpers ereignet es sich auch in der Kinetik, dass die vollständige Bestimmung der aus den Be- dingungen entspringenden Drucke mittels der hier gegebenen Gleichungen nicht gelingt; das tritt zum Beispiel ein, wenn ein starrer Körper ge- zwungen ist, sich um eine im Raume feste Axe zu drehen, siehe Nr. 32 dieses Artikels. Wie schon in Nr. 27 bemerkt wurde, muss man, um ein bestimmtes Resultat zu erhalten, in solchen Fällen die Annahme der Starrheit aufgeben und den Körper als elastisch ansehen.

29d. Bedeutung der Schraubentheorie für die Kinetik des starren Körpers. Nachdem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Statik des starren Körpers bei der Zusammensetzung der Kräfte und der Momente, die Kinematik bei der Darstellung der Drehungen Veranlassung zur Ausbildung der Vektorentheorie gegeben hatte, ist am Anfange seiner zweiten Hälfte durch J. Plücker und F. Klein die Theorie der Linienkomplexe und Linienkongruenzen begründet und so- gleich für die Dynamik des starren Körpers verwertet worden. Daneben kam es in England zu der Ausbildung der sogenannten Schraubentheorie durch R. St. Ball, der namentlich den Impulsproblemen einen ungeahnten Grad der Anschaulichkeit gegeben hat. Während dementsprechend in der allgemeinen Kinetik des einzelnen starren Körpers die Begriffe der Schraubentheorie, allerdings in beschränktem Masse, herangezogen worden sind, wird diese bei den speziellen Ausführungen, die den Gegen- stand des Abschnittes IIB bilden, ganz zurücktreten. Bei den elemen- taren Problemen der Stereokinetik ist es nämlich immer möglich, die translatorische Bewegung und die rotatorische Bewegung jede für sich zu behandeln, und es entfällt daher die Notwendigkeit, im Sinne der Schraubentheorie eine Synthese dieser Bewegungen vorzunehmen. Anders steht es bei höheren Problemen, wo die Differentialgleichnngen der Bewegung ein irreduzibles simultanes System in sechs Veränder- lichen bilden. Das gilt zum Beispiel, wenn ein freier starrer Körper sich in einem widerstehenden Mittel bewegt. Auf Gleichungen dieser Art führt auch das Problem der Bewegung eines starren Körpers in einer reibungslosen inkompressiblen Flüssigkeit; analytische Entwicklungen, die den geometrischen Entwicklungen der Schraubentheorie entsprechen, waren hier schon vor Ball von Lord Kelvin und @. Kirchhoff gegeben worden‘!°). Übrigens hat sich Ball selbst mit solchen höheren Pro- blemen nicht beschäftigt. Er beschränkt sich vielmehr, dem anschau-

410) Vgl. IV 16, Nr. 2 (4. E. H. Love).

80. Der einzelne starre Körper: Die Eulerschen Gleichungen. 581

lichen und elementaren Charakter seiner Darlegungen entsprechend, auf solche Fragen, bei denen die Koordinaten der Schraubungsgeschwindig- keit wie Lagrangesche Geschwindigkeitskoordinaten gebraucht werden können; hierbei denkt sich Ball irgend welche Bedingungsgleichungen für den starren Körper vorgeschrieben, die dessen Bewegungsfreiheit einschränken. Man vgl. hierzu auch Nr. 7, 18 und 31 dieses Artikels*!').

30. Drehung um einen festen Punkt: DieEulerschen Gleichungen. Die schon in der vorhergehenden Nummer unter (6”) angegebenen Eulerschen Gleichungen

AG +(C—-Ber=L, (1) BR +A—-On-—M,

d CE +rB-Drı—=N

haben wegen ihrer eigenartigen Stellung unter den Differential- gleichungen der analytischen Mechanik seit ihrer Entdeckung leb- haftes Interesse erregt. Man hat sich mit ihnen immer wieder be- schäftigt und ihnen in der Tat bis in die neueste Zeit neue Seiten ab- gewonnen. Es scheint daher angebracht, in zusammenhängender Weise über die Methoden zu der Aufstellung der Eulerschen Gleichungen zu berichten, soweit diese einen elementaren Charakter haben; für die Methoden, die der höheren Dynamik angehören, vgl. IV 13 (P. Stäckel).

1) L. Euler ist im Jahre 1758 zu den Differentialgleichungen, die jetzt seinen Namen tragen, durch folgende Überlegung gelangt*'?). Ist P_(&,, Nu, &) ein materieller Punkt des Kreisels mit der Masse dm,, so hat seine Geschwindigkeit die Komponenten

(2) - 1 Pen Nas 71= 05, Fu „ern, Ber an, und hieraus folgen durch Differentiation die Komponenten der Be- schleunigung:

7 FE nL, Eu ON. = x, we ON (3) Ne = 08, Ber a‘, ar 08, vera IR 5 =7E Na u #5, = IN Ei Kb,

411) Eine ausführliche Analyse dieser Untersuchungen Balls gab F. Klein, Zeitschr. Math. Phys. 47 (1902), p. 259.

412) Berlin M&m. annde 1758 (1765), p. 154. Die Eulerschen Gleichungen findet man Seite 170; die Komponenten der Winkelgeschwindigkeit werden dabei auffallenderweise mit x, %, z bezeichnet. In der Theoria motus, $ 792, hat Euler diese Herleitung mit dem Unterschiede wiederholt, dass er statt. p, q, r die

Grössen » cosa, cos, »cosy zu Grunde legt; für ©, «, ß, y erhält er natür-

lich recht verwickelte Differentialgleichungen. 38*

582 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Vermöge dieser Gleichungen werden die Momente (Nabe Er Eee) AM, , (GE Bi &.E)am,, (ENe ZI Na&)dm,

quadratische Formen der &,, na, &: Aus ihnen gehen durch Inte- gration über alle Punkte des Körpers Momente hervor, die nach dem d’Alembertschen Prinzip den Drehmomenten der äusseren Kräfte A, M,N gleich sind. Jetzt nehme man an, dass zur Zeit t das System der &, n, & mit den im Körper festen Hauptaxen von O0, also den %, y, 2, zusammenfalle und ersetze dem entsprechend &,n, 8; 7,x,0; A,M,N durch 2, y,2; 2,9, r; L,M,N. Da nun:

Sa +»Ddm-4, [e+m)am—-B, [(®+yP)dm=C,

JSyzam = 9, Szxdm = 0, Szyam 0

ist, so ergeben sich für L, M, N die Werte Ap+(C—B)gar, Bg+(A— Oyrp, Or + (B— C)pg

und damit hat man die Eulerschen Gleichungen erhalten.

Nach einer Bemerkung von P. Saint-Guilhem*'?) gelangt man kürzer zum Ziel, wenn man davon ausgeht, dass zwischen den Kom- ponenten des Drehimpulses A, M, N nach den im Raume festen Axen und den Komponenten Z,=4Ap, M, = Ba, N, =Ür nach den im Körper festen Hauptaxen die Gleichungen bestehen:

N, Apa, + Bga, + Ora,,

(4) M, = Apb, + Bgb, + Orb, N, = Apc, + Bag + Org;.

Nach dem Impulssatze gelten nun die Gleichungen

an. aM AN (5) Fre dt N; dt EN

in denen A, M, N die Komponenten des resultierenden Momentes der äusseren Kräfte bezeichnen. Auf den linken Seiten möge man die Werte der A,, M,, N, aus (4) einsetzen und die Differentiation aus- führen. Jetzt lasse man die Hauptaxen mit den im Raume festen Axen zusammenfallen. Dann wird

a=1, =0, =. Ferner ist nach den Formeln Nr. 28c, Gl. 4) für die Ableitungen der 413) J. de math. (1) 19 (1854), p. 363; benutzt von Ch. Sturm, Mecanique,

ed. Paris 1875, p. 250. Vgl. auch D. Chelini, Bologna Mem. 10 (1860) und Ph. Grlbert, Bruxelles Soc. scientif. Ann. 2B (1878), p. 287.

80. Der einzelne starre Körper: Die Eulerschen Gleichungen. 583

Richtungscosinus nach der Zeit: =0, ur, up, und es entsteht daher aus der ersten der Gleichungen (5) die erste Eulersche Gleichung A+(C— Bar—L u. 8. w.

Euler selbst scheint Bedenken gegen sein Verfahren gehegt zu haben; denn er rechtfertigt den Übergang von den im Raume festen Axen zu den im Körper festen Hauptaxen mit den Worten differen- tiatione rite instituta®'*). In der Tat könnte man dagegen einwerfen, dass bei der Identifizierung von &, n, & mit x, y, z die Geschwindig- keiten &, n, £ nicht in die Geschwindigkeiten &, ij, 3 übergehen, die ja gleich Null sind. Eulers Verfahren, auf beliebige im Raume beweg- liche Axen angewandt, würde in der Tat zu falschen Ergebnissen führen, vgl. Abschnitt 5 dieser Nummer. Dass Euler trotzdem zu richtigen Gleichungen gelangt ist, beruht auf dem Umstande, dass bei den im Körper festen Axen nicht nur die x, x, o in 9, g, r übergehen, son- dern auch die #7, %, a in pP, %, #5 die Gleichungen z=p, *=4, oe=r besagen nämlich, dass zur Zeit # der Herpolhodiekegel den Pol- hodiekegel und gleichzeitig die Herpolhodiekurve die Polhodiekurve berührt.

Bald darauf hat Euler einen zweiten einwandfreien Beweis ge- liefert‘!?). Mittels des d’Alembertschen Prinzips stellt er nämlich die Differentialgleichungen auf, denen die drei Eulerschen Winkel &, y, genügen. Alsdann setzt er

vsin®sinpg+Pcospg=p, (6) vsin®cosp—Psinpy=gq,

bcs# +9 =r, und zeigt durch eine umständliche Rechnung, dass jene drei Differential- gleichungen für $, dv, @ bei Einführung der „Abkürzungen“ p, q, r den Eulerschen Gleichungen äquivalent sind; dass die p, g, r die Kom- ponenten der Drehgeschwindigkeit w sind, wird erst achträglich heraus-

gebracht. 2) J. L. Lagrange*'*) bewies (1788) in wenigen Zeilen, was

414) Theoria motus, $ 792; Ausgabe von J. Ph. Wolfers, p. 429.

415) Berlin M&m. annee 1760 (1767), p. 176.

416) Mecanique analytique, 1. ed. Paris 1788, p. 380; Ausgabe von J. Ber-, trand 2, p. 205, 228. Vgl. auch E. J. Routh, Dynamik 1, p. 365; P. Appell, Me&canique 2, p. 314; F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, p. 154; L. Boltzmann, Prinzipe 2, p. 60.

584 IV 6, P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Euler mühsam errechnet hatte. Mittels der kinematischen Gleichungen (6) lässt sich die lebendige Kraft des starren Körpers T=}(Ap+ Be’ + Or‘) durch 9, %, 9; 9, b, 9 ausdrücken; es ist jedoch gar nicht erforder- lich, diese Funktion von ®, %, 9; ®, %, 9 wirklich herzustellen. Der Ausdruck der virtuellen Arbeit sei oW = 0959 + YWöv + Pöp. Dann lautet die dritte der Differentialgleichungen der Bewegung

deoT oT re ee Es ist aber: oT oT Or er here OT _OTOp , OT da_(4_ 09 °p 89 + q dp EZ: (A B)pg,

folglich hat man Cr +(B— A)pga=®.

Nun bedeutet aber dp eine elementare Drehung um die z-Axe, mit- hin ist

® —- (z,Y, EEE Ya‘) =N. Durch zyklische Vertauschung der Buchstaben ergeben sich hieraus die beiden anderen Eulerschen Gleichungen.

Da die Winkel $, %, p in den Eulerschen Gleichungen nur in- sofern vorkommen, als sie implizite in Z, Mi, N enthalten sind, so wird man wünschen, dass bei der Herleitung dieser Gleichungen jene Winkel ebenfalls nicht auftreten. Um dieses zu erreichen, liegt es nahe:

(7) ydt=dr, göt=du, röt—= dv

zu setzen und die Lagrangesche Methode auf die Koordinaten A, u, v anzuwenden. Man erkennt jedoch sofort, dass dieses Verfahren zu der falschen Gleichung Cr = N führen würde. Der Grund hierfür liegt darin, dass öA, öu, dv keine exakten Differentiale von Funktionen der Veränderlichen $, %, @ sind, und dass daher im besonderen die Gleichungen

dda=ddi, ddu=ddu, ddv=bdr,

die bei der Herleitung jenes Verfahrens vorausgesetzt werden, nicht erfüllt sind. In einem der nachgelassenen Fragmente, die der zweiten Auflage der Mecanique analytique beigefügt sind, hat Lagrange an- gedeutet, wie man trotzdem mittels der sogenannten Transitivitäls-

30. Der einzelne starre Körper: Die Eulerschen Gleichungen. 585

gleichungen ÖdA ddA = dudv dvöu, ödu ddu= dvd) didv, ödv döv = dAdu dudı

zum Ziele kommen kann*!”). In engem Zusammenhange mit diesem Ansatze von Lagrange stehen Untersuchungen, die neuerdings P. Appell über die Herleitung der Differentialgleichungen der Bewegung bei ganz allgemeinen Annahmen über die vorkommenden Variationen an- gestellt hat und die ihn zu dem Begriffe der Beschleunigungsenergie geführt haben; P. Appell hat auch im besonderen gezeigt, wie man auf diesem Wege zu den Eulerschen Gleichungen gelangt‘"®).

3) 8. D. Poisson*!?) hat 1811 einen elementaren Beweis für die Eulerschen Gleichungen gegeben, bei dem die Winkel #, v, p nicht auftreten.

Die Komponenten der Geschwindigkeit des Punktes P, (%,, Yu, 24) nach den im Körper festen Axen der x, y, 2 sind:

IH) WI. 1 Var Ya TU Pdar Wa = DYa TVo, folglich sind die Komponenten nach den im Raum festen Axen der &, 7, &

= 0,(92,— U) + ara P2e) + a (PYa 4%): 9) a = di(a2. Ya) + belrza P2u) + ds(PYa 42)ı

= a. —ry) + ara —P3r) + SPY 1%): Durch Differentiation findet man hieraus die Werte der Beschleuni- gungen E&,, a, &0; dabei sind die &,, Y., 2, als konstant anzusehen. Werden die so gewonnenen Werte von $,, j., &, in die Ausdrücke

a &, +57. + 4 &, Gg£, +bn.t Bi Gg$, +bn7.+ en

für die Komponenten der Beschleunigung von P, nach den Axen der x, y, 3 eingesetzt und für die Ableitungen der Richtungscosinus die Gleichungen Nr. 28c (4):

(10) a, nl 5 6 =49—@P

benutzt, so werden diese Komponenten der Beschleunigung beziehungs-

417) Me6canique analytique, Ausgabe von J. Bertrand 2, p. 200, 375; vgl: auch @. Kirchhoff, Mechanik, 6. Vorl., $ 2; K. Heun, Arch. Math. Phys. (3) 2 (1902), p. 298, Nr. 17, von dem der Ausdruck Transitivitätsgleichungen herrührt und @. Hamel, Zeitschr. Math. Phys. 50 (1904), p. 1.

418) Möcanique 2, p. 374—380; vgl. auch Anmerkung 451.

419) M&canique, &d. 2, p. 136, Paris 1811.

586 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

weise gleich:

2,9 a: Yor 7; (pz, ER r%,)r fr (PY. Er 9%.)9;

Zur we 24D + (q%, py,)P-+ (q2, TE ry)r,

YaD dt (FYa— 92)1 + ("Eu P2u)P, und man braucht jetzt nur das d’Alembertsche Prinzip auf die Dreh- momente nach den im Körper festen Axen anzuwenden, um sofort die Eulerschen Gleichungen zu erhalten.

Nach einer Bemerkung von 7. Levi-Civita*?®) lassen sich die Rechnungen erheblich abkürzen, wenn man von den Impulsgleichungen (5) ausgeht und bei der Differentiation nach t die Gleichungen (10) benutzt. Ebenso wie bei der Umgestaltung des ersten Eulerschen Beweises durch P. Saint-Guilhem erkennt man auch hier, daß die Betrachtungen umständlich ausfallen, wenn man von der Drehaxe ausgeht, sich dagegen erheblich vereinfachen, sobald der Begriff des Impulses zu Grunde gelegt wird.

4) L. Poinsot (1834) hat einen ganz anderen Weg eingeschlagen und durch die Einführung fiktiver Zentrifugalkräfte ein auschauliches Verständnis der Eulerschen Gleichungen zu vermitteln gesucht*?"). Der Gedanke, der ihn leitete, lässt sich am einfachsten darlegen, wenn man sich der vektoriellen Schreibweise bedient“). Wenn der Vektor des Drehimpulses mit den Komponenten Ap, Bg, Cr durch ®, der Vektor des Momentes der äusseren Kräfte mit M bezeichnet wird, so lassen sich die drei Eulerschen Gleichungen in die eine Vektor- gleichung zusammenfassen:

(11) F-[D-WHM. «

Das Vektorprodukt aus D und der instantanen Winkelgeschwindig- keit w, das auf der rechten Seite steht, lässt sich deuten, indem man sich denkt, dass die instantane Drehaxe im Körper fest sei und dieser um sie mit der konstanten Winkelgeschwindigkeit iw rotiere.. An jedem Massenpunkte P, des starren Körpers wird dann eine Zentri- fugalkraft angreifen, und alle diese Zentrifugalkräfte haben hinsicht- lich des festen Punktes O ein resultierendes Moment, dessen Vektor genau gleich [D-w] ist. Da jedoch bei der wirklichen Bewegung des starren Körpers die instantane Drehaxe ihre Lage im Körper beständig

420) Meccanica, p. 388.

421) J. de math. (1) 16 (1851), p. 44.

422) Vgl. P. G. Tait, Edinburgh Royal Soc. Trans. 25 (1869), p. 279; F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, p: 142; F. Jung, Arch. Math. Phys. (3) 6 (1903), p. 206.

EEE

80. Der einzelne starre Körper: Die Eulerschen Gleichungen. 587

ändert, so hat Poinsot tür diese Zentrifugalkräfte den Namen fiktive Zentrifugalkräfte vorgeschlagen.

Dass Poinsot seine Interpretation als eine Art von Axiom hin- gestellt hat, auf Grund dessen man umgekehrt die Eulerschen Glei- chungen ableiten könne, ist mit Recht beanstandet worden‘®?°).

5) P. Saint-Guwilhem hat in demselben Bande des Liouvilleschen Journals vom Jahre 1851, das den Wiederabdruck von Poinsots Theorie nouvelle de la rotation des corps von dem Jahre 1834 enthält, eine Deutung der Eulerschen Gleichungen gegeben, die im Gegensatze zu Poinsots kinetischer Interpretation durch fiktive Zentrifugalkräfte als eine kinematische Interpretation durch relative Bewegungen bezeichnet werden könnte“). Den Impulssatz für die Momente spricht Saint- Guilhem in der Form aus, dass der Vektor des Momentes der äusseren Kräfte gleich der vektoriell aufgefassten absoluten Geschwindigkeit ist, die dem Endpunkte des Vektors des Impulsmomentes zukommt, wenn er von dem festen Punkte aus abgetragen wird. Diese ab- solute Geschwindigkeit aber zerlegt er in zwei Komponenten; die erste ist die vektoriell aufgefasste absolute Geschwindigkeit des Punktes des starren Körpers, der mit dem Endpunkte des Impuls- vektors zusammenfällt, die zweite die vektoriell aufgefasste relative Geschwindigkeit des Endpunktes gegen den starren Körper. Zerlegt man diese beiden Komponenten nach den im Körper festen Axen dL, dM, dN, dt’ di?’ di und Ng—M;r, Lr—N,p, M,p L,g und hat daher genau wie in Nr. 29a, Gl. 6 die Gleichungen: al

der ©, y, 2, so findet man dafür beziehungsweise

L- au trNg- Hr, dM,

(12) Ya tlır— N an,

Fe —; t+Mr—- Lo

die bei der Annahme, dass die x, y, 2 Hauptaxen sind, in die Eulerschen Gleichungen übergehen. Daneben legt Saint-Guilhem freilich grossen Wert darauf, zu zeigen, dass jene beiden Komponenten auch den von Poinsot gefundenen kinetischen Sinn haben. Erst in einer zweiten Abhandlung, die er, „um einige Dunkelheiten aufzuklären“, im Jahre

423) Für die Kritik der Poinsotschen Ableitung vgl. J. Bertrand, Nouv. ann. (1) 15 (1856), p. 187; Ph. Gilbert, Bruxelles Soc. scientif. Ann. 2B (1878), p. 287; F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, p. 145,

424) Theorie nouvelle, Paris 1834 J. de math. (1) 16 (1851), p. 347.

588 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

1854 folgen liess**), spricht er es ausdrücklich aus, dass jene kinetischen Betrachtungen für lie Ableitung der Eulerschen Gleichungen nicht in Betracht kommen, dass vielmehr diese Gleichungen lediglich die kinematische Tatsache ausdrücken, dass die vektoriell aufgefasste abso- lute Geschwindigkeit des Endpunktes des Impulsvektors die geometrische Summe der relativen Geschwindigkeit und der Fortführungs- Geschwin- digkeit in bezug auf den starren Körper ist.

Saint-Gruilhems Herleitung, die an Einfachheit und Durchsichtig- keit wohl das Höchste leistet, wurde sofort von Ch. Delaunay in den Traite de mecanique, Paris 1856 aufgenommen, jedoch ohne Nennung des Namens. Sie findet sich ebenso in dem Lehrbuch der Mechanik von Ch. Despeyrous, Paris 1886 (2, p. 228)*), und auch P. Appell hat sie bereits in der ersten Auflage seiner Mecanique 2, Paris 1896, p. 192 benutzt.

Zu derselben Herleitung der Eulerschen Gleichungen ist im Jahre 1856 H. B. Hayward gelangt“), und J. Olerk Maxwell hat bald darauf nachdrücklich auf ihre Wichtigkeit hingewiesen‘); auch E. J. Routh hat in seiner Dynamik (1860) auf Hayward Bezug ge- nommen®?®). Aus diesen englischen Quellen hat dann F. Klein die kinematische Herleitung der Eulerschen Gleichungen kennen gelernt®?®) während ihm die Abhandlungen Saint-Guilhems und die anschliessende französische Literatur entgangen waren.

Ein grosser Vorzug der Herleitung von Saint-Guilhem besteht auch darin, dass sie sich sofort auf den Fall] ganz beliebiger Axen übertragen lässt. Hat man nämlich irgend ein Koordinatensystem der «*, y*, z*, das weder im Raume noch im starren Körper fest ist; so braucht man nur die Geschwindigkeit des Endpunktes des Impulsvektors als die geometrische Summe der relativen Geschwindigkeit und der Fort-

425) J. de math. (1) 19 (1854), p. 346; vgl. auch Toulouse M&m. (4) 5 (1855), p. 338 = Nouv. ann. (1) 15 (1856), p. 63; siehe auch die Zitate von Ph. Gilbert, Bruxelles Soc. scientif. Ann. 2 B (1878), p. 266.

426) Vgl. auch die Abhandlung von Ch. Despeyrous, Toulouse Fac. Mem. (8) 3 (1881), p. 145.

427) Cambridge Phil. Soc. Trans. 10! (1858), p. 1; die Abhandlung ist datiert vom 19. Februar 1856.

428) Edinburgh Royal Soc. Trans. 21* (1857) = Scientif. Papers, Cambridge 1890, 1, p. 248.

429) Dynamik 2, p. 4; vgl. auch @. Schouten, Nieuw Archief (2) 5 (1901), p-. 86; C. Barus, Science (2) 13 (1901), p. 914; A. @. Greenhill, Science (2) 14 (1901), p. 973.

430) F\. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, Heft 1, Leipzig 1897, p. 113, 142

31. Der einzelne starre Körper: Reibung. Gebundene Bewegungen. 589

führungsgeschwindigkeit des Koordinatensystems der x*, y*, z* dar- zustellen, um die zugehörigen Differentialgleichungen für die Kom- ponenten p*, q*, r* der Drehgeschwindigkeit w zu erhalten*'), Zu diesen Gleichungen kommen dann selbstverständlich noch die kine- matischen Gleichungen, die angeben, wie die 9*, q*, r* von den drei Lagekoordinaten des Körpers und deren Ableitungen nach der Zeit abhängen. Solche im Raum und im Körper bewegliche Koordinaten- axen hat man im besonderen bei dem Studium der Präzessions- und Nutationserscheinungen und auch bei dem Rollen von schweren Umdrehungskörpern auf einer Ebene angewandt; vergl. Nr. 35 und 38 dieses Artikels.

31. Reibung. Gebundene Beweguugen; nichtholonome Be- dingungen.

Von den gebundenen Bewegungen eines starren Körpers hat vor allem die Kreiselung um einen festen Punkt wegen der Schönheit des analytischen Ansatzes und der Wichtigkeit für praktische Anwen- dungen Interesse erregt. Daneben hat man aber auch andere ge- bundene Bewegungen der mannigfaltigsten Art betrachtet. Während die elementaren Bewegungen eines starren Körpers in erschöpfender Weise untersucht worden sind, soweit dafür die linearen Glieder mass- gebend sind (vgl. Nr. 28 dieses Artikels), steht eine systematische Be- handlung der endlichen Bewegungen allerdings noch aus; schon eine geordnete Zusammenstellung der sehr zerstreuten Literatur würde hier eine verdienstliche Arbeit sein. Das gilt sogar für die einfachste An- nahme über den Zwang, die man nach der Annahme eines im Körper festen Punktes machen kann, dass nämlich der starre Körper K eine Kontakt- oder Berührungsbewegung ausführt, das heisst, dass er bei seiner Bewegung beständig mit einem zweiten starren Körper, der ruht oder sich in bekannter Weise bewegt, der Unterlage K*, in Berührung bleibt“®). Eine solche Berührung kann in Punkten, Kurven und

431) Vgl. etwa G. M. Slesser, Quart. J. of math. 4 (1861), p. 66; H. Resal, Paris C. R. 73 (1871), p. 1160; 74 (1872), p. 10; Trait& de me&canique generale 1, Paris 1873, p. 247; E. J. Routh, Dynamik 1, p. 224; 2, p.1; P. Appell, Meca- nique 2, p. 152, 243, Roulements, p. 12; A. @. Webster, Dynamics, p. 260, 299.

432) Das grosse Lehrbuch von @. Koenigs, Legons de cinematique, Paris 1897 und auch der Artikel IV 8 (A. Schoenflies und M. Grübler) bringen nur sehr wenig über die Berührungsbewegungen. Dass diesen auch für die Geometrie selbst erhebliche Bedeutung zukommt, zeigen die Ausführungen von @. Darboux über das Rollen von krummen Flächen, Lecons sur la theorie des surfaces 4, Paris 1896, livre VIII, chap. 6 und 7; vgl. auch E. Beltrami, Giorn. di mat. 11 (1873), p. 98 = Opere matematiche 2, p. 410.

590 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Flächenstücken stattfinden; auch können mehrere, ja unendlich viele dieser Möglichkeiten gleichzeitig oder nach einander eintreten.

Im Folgenden werde der Einfachheit wegen vorausgesetzt, dass die Berührung nur in einem einzigen Punkte P stattfindet und die Ober- flächen der beiden Körper in P eine gemeinsame Tangentialebene F besitzen; ein Teil der dabei gewonnenen Sätze lässt sich auf die ver- wickelteren Fälle übertragen.

Die relative Geschwindigkeit der Punkte von K gegen K* erhält man folgendermassen. Der Körper K besitzt relativ zu X* 1) eine Translationsgeschwindigkeit vr, die Gleitgeschwindigkeit, die gleich der relativen Geschwindigkeit von P ist; der Geschwindigkeitsvektor dr liegt in der gemeinsamen Tangentialebene E; 2) eine instantane Drehung w mit der Winkelgeschwindigkeit um eine durch P gehende Axe, die man in eine Komponente iv; nach der Ebene E und eine Komponente wy, senkrecht dazu zerlegt; diese heisst die Bohrgeschwin- digkeit, jene die Rollgeschwindigkeit von K. Je nachdem nur eine der Geschwindigkeiten v7, Wz, Wy von Null verschieden ist, wird die Bewegung ein reines leiten (glissement), reines Rollen (roulement), reines Bohren (pivotement) genannt; in manchen Fällen aber wird unter Rollbewegung auch eine solche Bewegung verstanden, bei der kein Gleiten stattfindet *®”).

Die d’Alembertsche Reaktion N steht in P auf E senkrecht. Ausserdem muss sie den Körper K an die Unterlage X* andrücken. Wenn das nicht der Fall ist, hört der Körper auf, die Unterlage zu berühren und setzt seine Bewegung zunächst so fort, als ob die Unterlage nicht vorhanden wäre; es gelten dann ähnliche Betrach- tungen, wie sie bei der Bewegung eines materiellen Punktes auf einer krummen Fläche, Nr. 15, p. 503 dieses Artikels, angestellt worden sind. Diese Bemerkung ist besonders dann von Wichtigkeit, wenn man analytisch gegebene Bedingungen mechanisch zu realisieren ver-

sucht, vgl. Nr 35b 6) dieses Artikels.

3la. Reibung. Um den Verlauf der gebundenen Bewegung eines starren Körpers zu ermitteln, genügt es im Allgemeinen nicht, allein die d’Alembertschen Reaktionen zu berücksichtigen, vielmehr ist die Reibung zwischen dem bewegten Körpen und den Körpern, mit denen er in Berührung steht, von Bedeutung, ja eine Durchführung der Rechnungen ohne Berücksichtigung der Reibung vermag fast überall nicht einmal eine erste Annäherung an den wirklichen Hergang zu geben. So kommt es, dass man schon früh gerade bei

433) Vgl. etwa die Darstellung bei P. Appell, Mecanique 1, p. 68.

31. Der einzelne starre Körper: Reibung. Gebundene Bewegungen. 591

den Problemen des Gleitens, Rollens, Bohrens der d’Alembertschen Reaktionskraft R, die in P auf E senkrecht steht, Reibungskräfte hinzugefügt hat. Man pflegt diese Reibungskräfte auf Grund der so- genannten Coulombschen Gesetze anzusetzen (vgl. Nr. 6 dieses Ar- tikels). Jedoch ist nicht zu vergessen, dass man in der Praxis zur Verringerung der Reibung meistens Schmiermittel anwendet; für die wesentlichen Änderungen, die alsdann eintreten, vgl. IV 10 (K. Heun).

Über die gleitende Reibung im Sinne der sogenannten Coulomb- schen Gesetze ist bereits in Nr. 6 dieses Artikels berichtet worden. Je nachdem die Gleitgeschwindigkeit vr gleich Null oder von Null verschieden ist, unterscheidet man statische und kinetische Reibung. Die kinetische gleitende Reibung F’ ist eine Einzelkraft, die in E liegt und in P angreift; sie ist dem Vektor dr entgegengerichtet. Ihre Intensität 7 wird als proportional der Intensität R der Reaktion R angenommen, sie ist also gleich f- R; die Konstante f heisst der Reibungskoeffizient.

Dem Rollen widersetzt sich die rollende Reibung, ein Kräftepaar, dessen Axe in E liegt und die Richtung der Komponente w; hat?®). Die Grösse des Momentes dieses Paares wird im Coulombschen Sinne ebenfalls proportional A angesetzt, aber mit einem erheblich kleineren Proportionalitätsfaktor; falls gleichzeitig gleitende und rollende Reibung auftreten, pflegt man daher die rollende Reibung zu vernachlässigen. Wenn es darauf ankommt, die Reibungswiderstände zu vermindern, z. B. bei der Bewegung von Axen in Lagern, sucht man, wegen der Kleinheit der rollenden Reibung, die gleitende Bewegung in eine rollende zu verwandeln (Kugellager).

Endlich stellt sich dem Bohren die bohrende Reibung entgegen; sie ist im Coulombschen Sinne ein Kräftepaar, dessen Axe in den Vektor der Drehgeschwindigkeit wy fällt und dessen Intensität wieder proportional R sein soll?”).

Scheinbar geringfügige Nebenumstände, etwa kleine Unregel- mässigkeiten in der Oberfläche der Unterlage, können jedoch die Reibungserscheinungen stark beeinflussen; hierher gehört z. B. das sogenannte Einwurzeln eines Spielkreisels*3). Über die Kritik, die neuerdings P. Painleve nach mathematischer wie nach physikalischer

434) @. W. Leibniz, Berlin Miscellanea 1 (1710), p. 315; vgl. E. Gerland, Leibnizens nachgelassene Schriften physikalischen, mechanischen und technischen Inhalts, Leipzig 1906, p. 115.

435) Über die bohrende Reibung giebt es eine Monographie von H. Leaute, These, Paris 1876; vgl. auch L. Lecornu, Paris, ©. R. 133 (1904), p. 554.

436) Siehe etwa F. Klein und A. Sommerfeld, \heorie des Kreisels, p. 620.

592 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Richtung au der sogenannten Coulombschen Theorie der Reibung geübt hat, vgl. Nr. 6 und 38 dieses Artikels.

Bei der Untersuchung der gebundenen Bewegung mit Reibung hat man zu beachten, dass die Reibungswiderstände immer nur hem- mend wirken und die Geschwindigkeit der Bewegung, der sie sich ent- gegenstellen, höchstens vernichten, aber niemals umkehren können #?), Es kann daher zum Beispiel sehr wohl eintreten, dass eine Be- rührungsbewegung, bei der Anfangs Gleiten stattfand, sich in eine rollend-bohrende Bewegung verwandelt und umgekehrt (vgl. Nr. 38 dieses Artikels). Wenn jedoch der Reibungskoeffizient f sehr gross ist, wird unter normalen Umständen kein Gleiten eintreten können; von hier aus ist es zu verstehen, dass man sagt, für unendlich grosses f trete immer eine rollend-bohrende Bewegung ein. Die Unter- lage heisst alsdann vollkommen rauh, während sie in dem idealen Fall, dass f=() ist, vollkommen glatt genannt wird?®). Zu beachten ist jedoch, dass die Begriffe glatt und rauh nur relative Bedeutung haben; eine Unterlage K* kann also etwa in bezug auf eınen gewissen, Körper K, als vollkommen rauh, aber in bezug auf einen gewissen Körper K, als vollkommen glatt angesehen werden.

3lb. Aufstellung der Differentialgleichungen der Bewegung für einen starren Körper auf einer Unterlage. Der Einfachheit halber werde angenommen, dass die Unterlage im Raume fest sei. Der Anfangspunkt der im Raume festen Koordinaten &, 7, & sei irgend ein Punkt 2, der Anfangspunkt der im Körper K festen Koordinaten sein ak S. Zwischen den beiden Arten von Koordinaten bestehen dann die Gleichungen:

= tm +my+ ae,

= nt br + by+ bz,

eh tue tay + 2. Wenn also die Koordinaten des gemeinsamen Punktes P durch den Index 1 ausgezeichnet werden, hat man die Relationen:

437) Diese Bemerkung gilt indessen nur für Unterlagen, die fest sind oder sich nach einem gegebenen Gesetze bewegen. Ganz anders verhält es sich, wenn Körper und Unterlage zusammen ein zweigliedriges System bilden; denn in diesem Falle kann gerade durch die Reibung Energie von einem der beiden Körper auf den anderen übertragen werden und die Reibung wirkt jetzt be- wegungsfördernd (Reibungskoppelung); vgl. IV 10 (K. Heun).

438) Für die Reibung überhaupt vgl. noch die Darstellungen bei F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, Kapitel VII und P. Appell, Mecanique 1, p. 287 und 2, p. 105.

31. Der einzelne starre Körper: Reibung. Gebundene Bewegungen. 593

(1) sets tahıt a2, (2) y=nmt+dsa + byut 54; (3) sehtrtatı tasht 5A:

Die Oberfläche der Unterlage habe die Gleichung ®(&,n,d)= 0, die Oberfläche des Körpers dagegen werde durch die Gleichung F(x,y, 2) = 0 dargestellt. Mithin ist:

(4) ODE, N> &) =(, (5) Fi&,y,4)=%

Die Normale N der Unterlage im Punkte P habe die Richtungs- kosinus «&,ß,y; diese sind als bekannte Funktionen der Koordinaten &,, Nı, $ anzusehen. Hieraus ergeben sich die Richtungscosinus von N nach den Axen der x,y,2 vermöge der Gleichungen:

cos N,x) = aa, + Pb, + ya, cos (N,y) = aa + Pb, + Y%, cos (N, 2) = aa; + Pb, + 6, und diese Richtungscosinus müssen wegen der Berührung der beiden

Oberflächen in P mit den Richtungscosinus der Normale von K in P übereinstimmen. Man hat daher die beiden Gleichungen:

(6, 7) cos (N,x):cos(N,y):cos (N,z) = (2), ; ( = (5),

wo der Index 1 besagt, dass in die partiellen Ableitungen von F(x, y, 2) für x, y,z die Koordinaten x,,y,,2, von P einzusetzen sind.

Die so entwickelten sieben Gleichungen sollen als die geometrischen Gleichungen des Problems bezeichnet werden. In ihnen kommen ausser den Lagekoordinaten: &,,29, &;5 ®,%,9p des starren Körpers K die unbekannten Koordinaten &,, Yı, 215 & Nı, $ des Berührungspunktes P vor. Werden diese sechs Koordinaten eliminiert, so ergiebt sich eine Bedingungsgleichung zwischen den Lagekoordinaten von X, und man hat es daher mit einem System von fünf Graden der Freiheit zu tun.

Zu den sieben geometrischen Gleichungen treten zunächst die drei kinematischen Gleichungen (Nr. 28e, Gl. 5):

(8) p=bsin®cosp-+®#cosg, (9) g=bsin®cosp— dsinp, (10) r=vÜbceos®# +9,

denen man jetzt die kinetischen Gleichungen hinzuzufügen hat. Das sind aber dieselben Gleichungen, wie bei einem freien starren Körper, vorausgesetzt, dass zu den äusseren Kräften nsch die d’Alembertsche

594 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Reaktion R im Punkte P hinzugenommen wird; ausserdem sind den äusseren Kräften die Reibungswiderstände hinzuzurechnen. Die Reak- tion AR liegt in der Normale N; damit die Körper K und K* wäh- rend des Zeitelementes dt in Berührung bleiben, muss die Reaktion das Bestreben haben, den Körper an die Unterlage anzudrücken.

Auf diese Art ergeben sich für die Bewegung des Schwerpunktes S des Körpers K die Gleichungen:

(11) mi®—=+ Ra,

(12) me —H + RB, d

(13) m —Z+ Ry;

hierin bedeutet AR die Intensität der Reaktion R. Ferner gelten für die relative Bewegung des Körpers K um seinen Schwerpunkt die Eulerschen Gleichungen:

(14) AP + (B— Ogr =L + Bla, cosR,y) cos, 2)), (15) B=4 + A)rp = M-+ Rx, cos WR, 2) 2, cos N, x)),

(16) or. + (A B)pg= N + R(y, cos (R, 2) x, cos N, y)).

Auf diese Art hat man ebensoviele Gleichungen gefunden, als die Anzahl der Unbekannten beträgt???).

In manchen Fällen ist es vorteilhaft, statt der.Eulerschen Glei- chungen die Differentialgleichungen für die Komponenten der instan- tanen Drehungsgeschwindigkeit w nach Axen zu nehmen, die gegen den Körper K beweglich sind; die kinematischen Gleichungen er- leiden dann auch entsprechende Änderungen“). Diese Methode wird in Nr. 38 dieses Artikels an dem Beispiel des rollenden Reifens er- läutert werden.

Wenn der Körper X in P eine Spitze hat, die beständig mit der

439) $. D. Poisson, M&canique, 1. &d., 2, p. 178, Paris 1811. Die Reibung wird hier nicht berücksichtigt; das hat Poisson erst gethan Bull. de Ferussac, 6 (1825), p. 165 und in der zweiten Auflage der M&canique, Paris 1833, 2, p. 229. Vgl. auch A. Cournot, J. f. Math. 5 (1830), p. 133, 223; 8 (1832), p. 1, sowie die Darstellungen bei F. Minding, Mechanik, p. 325; A. Amthor, Diss. Leipzig 1869 und ©. Neumann, Leipzig Ber. 1888, p. 22.

440) Bewegliche Axen finden sich schon bei @. M. Slesser, Quart. J. of math. 4 (1861), p. 65; vgl. auch E. J. Routh, Dynamik 2, Kap. 5, sowie P. Appell, Roulements, Paris 1899.

31. Der einzelne starre Körper: Reibung. Gebundene Bewegungen. 595

Unterlage in Berührung ist, wie das bei dem in Nr. 37 behandelten Spielkreisel der Fall ist, so sind die Koordinaten x,, y, 2, als kon- stant anzusehen. Die Gleichungen (5), (6, 7) kommen alsdann in Wegfall, während sonst alles beim Alten bleibt.

31c. Nichtholonome Bedingungen. Bei der Bewegung eines starren Körpers auf einer Unterlage kann man von vornherein die Bedingung stellen, dass kein Gleiten stattfinden soll, dass also der Körper, im weiteren Sinne des Wortes, auf einer vollkommen rauhen Unterlage rollt. Damit die Geschwindigkeit des Berührungspunktes P ver- schwindet, müssen die beiden Gleichungen bestehen:

an) do +aıda + ydy + 2d,=0, din tadb Fyd, + 2db—0.

Hierin sind da,,---,db, lineare Differentialformen von d®,dy,dy. Wenn man also &,,%79, 9, %, p als die fünf unabhängigen Lagekoordi- naten des rollenden starren Körpers ansieht, so wird seine Beweglich- keit im Infinitesimalen beschränkt durch zwei Bedingungsgleichungen der Form (18) en,

B,=zdy +9%d9 + Ydy + Pdpy=0,

in denen ©,,---,®, Funktionen von &,, 79, 9, %, p sind. Dass trotzdem die Rollbewegung fünf Grade der Freiheit hat, erklärt sich dadurch, dass die Differentialformen F, und F, nicht integrabel sind und auch nicht durch Verbindung mit einander eine integrable Form ergeben, dass also aus ihnen keine endliche Gleichung zwischen den fünf Lage- koordinaten hergeleitet werden kann. Im Sinne von H. Hertz hat man es daher beim Rollen eines starren Körpers mit nichtholonomen Bedingungen zu tun*!), und es gelten auch hier die Betrachtungen, die in Nr. 16 dieses Artikels für nichtholonome Punktbewegungen angestellt worden sind.

Wenn zwischen den Lagekoordinaten endliche Gleichungen be- stehen, pflegt man, um die Reaktionen zu eliminieren, die Anzahl der Koordinaten auf das Minimum zu reduzieren, und erhält zur Bestim- mung der Bewegung nach der in Nr. % dieses Artikels auseinander- gesetzten Methode die betreffenden Lagrangeschen Differentialgleich- ungen. Eine solche Reduktion ist im Falle der Rollbewegungen nicht möglich. Die Mittel zur Überwindung der hierin liegenden Schwierig-

441) Mechanik, Leipzig 1894, p. 91, 96; Hertz ist gerade durch die Be- trachtung von Rollbewegungen auf die Unterscheidung holonomer und nicht- holonomer Systeme geführt worden.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1, r. 39

596 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

keit lagen jedoch schon seit 1788 bereit, da das Verfahren der Euler- Lagrangeschen Multiplikatoren auch bei nichtholonomen Bedingungs- gleichungen zum Ziele führt*?). Werden nämlich die fünf Lagekoordi- naten der Kürze wegen durch q,, @, ''', Q, bezeichnet, so hat man nur mit ihnen die Ausdrücke der lebendigen Kraft 7 und der vir- tuellen Arbeit dW zu bilden. Es sei also

oW = 2'Q,84,, und die Bedingungsgleichungen mögen lauten

S4ö0,=0, ZB,8q,—=0. Alsdann ergeben sich die Lagrangeschen Differentialgleichungen

oT . (19) 75 dr Er 24. ker Q, + Ad, + uB, (x Rue 1, 2, u, 5),

in denen A und u Multiplikatoren bedeuten. Zu diesen fünf Glei- chungen treten noch die beiden Gleichungen

(20) 24,4, _V, SB,4, = (, so dass man sieben Gleichungen zur Bestimmung der sieben Unbe- kannten q,,'',955 A, u hat“).

Anstatt diesen von Lagrange gebahnten Weg einzuschlagen, haben einige Autoren irrtümlicher Weise die Gleichungen (20) benutzt, um aus dem Ausdrucke der lebendigen Kraft T zwei der Geschwindigkeits- komponenten, etwa 9, und d,, zu eliminieren und aus dem wumgestalteten Ausdruck der lebendigen Kraft 7* die zugehörigen Lagrangeschen Differentialgleichungen abzuleiten; dabei wirkte der verführende Um-

442) In der Mecanique analytique, Paris 1788, p. 46 = Oeuvres 11, p. 78 sagt J. L. Lagrange sogar: „en general nous representerons par dL=0, dAM =0, ... les &quations de condition entre ces differentielles, soit que ces &quations soient elles-m&mes des differences exactes ou non, pourvu que les differentielles n’y soient que lindaires“. An anderen Stellen freilich, z. B. Mecanique, p. 227 = Üeuyvres 11, p. 336, drückt er sich so aus, als ob man alle Bedingungsgleich- ungen durch Einführung geeigneter Koordinaten beseitigen könne. Vgl. auch C. Neumann, Leipzig Ber. 1888, p. 22.

443) Vgl. IV 1, Nr. 38 (A.Voss); von der Litteratur sei hier noch genannt: E. J. Routh, Dynamik 2, Kap. 5; A. Vierkandt, Monatshefte f. Math. 3 (1892), p- 31, 97; J. Hadamard, Paris C. R. 118 (1894), p. 397, Bordeaux Soc. de scienc. (4) 5 (1895), p. 397; P. Appell, Roulements, Paris 1899, chap. 4 und M6canique 2, chap. 24; P. Woronez, Moskau Math. Sammlung 22 (1901), p. 659 (russisch), Die Gleichungen der Bewegung eines starren Körpers, der ohne Gleitung auf einer unbeweglichen Fläche rollt, Kijew 1903 (russisch); E. Carvallo, J. de l’&c. polyt. (2) 5 (1900), p. 119; 6 (1901), p. 1; @. Morera, Torino Atti 38 (1903), p. 57.

831. Der einzelne starre Körper: Reibung. Gebundene Bewegungen. 597

stand mit, dass bei den betreffenden Spezialfällen zufällig die Koordi- naten q, und g, in diesen Lagrangeschen Gleichungen fehlten *#). Man überzeugt sich leicht, dass die so erhaltenen Gleichungen im allgemeinen mit den legitimen Gleichungen nicht verträglich sind*°); ausnahmsweise kann es sich allerdings ereignen, dass eine von ihnen richtig ist“). P. Appell hat diesen Fehler in den später ausgegebe- nen Exemplaren der ersten Auflage seiner Mecanique (1896) ver- bessert und bald darauf in einer eigenen Abhandlung auf ihn hin- gewiesen“). Unabhängig von ihm haben ihrerseits $. Tschaplygin*®) und D. J. Korteweg*) dieselbe Bemerkung gemacht.

Es giebt einen Fall, in dem der umgestaltete Ausdruck 7* der lebendigen Kraft immer zu richtigen Ergebnissen führt. Wenn man nämlich die kleinen Schwingungen eines rollenden starren Körpers um eine Gleichgewichtslage untersucht und dabei die Vernachlässigungen vornimmt, die in der Theorie der kleinen Schwingungen üblich sind (vgl. Nr. 9 dieses Artikels), so fallen gerade die Glieder fort, in denen sieh die illegitimen Gleichungen von den legitimen unterscheiden %°).

Durch Elimination von A und u erhält man aus den Gleichungen (19) und (20) fünf Differentialgleichungen zweiter Ordnung, in denen nur die Koordinaten q,,:---,g, nebst ihren ersten und zweiten Ablei- tungen vorkommen. Wie P. Appell gezeigt hat, ergeben sich diese Gleichungen unmittelbar, wenn man statt der lebendigen Kraft 7 die Beschleunigungsenergie S zu Grunde legt, die als das Integral der mit dem Massenelement multiplizierten halben Beschleunigungsquadrate aller Punkte des Systems definiert wird*51). Im vorliegenden Fall wird

444) Vgl. z. B. @. Schouten, Amsterdam Versl. en Meded. (3) ö (1888), p. 292; P. Molenbroek, Nieuw Archief 17 (1890), p. 130; E. Lindelöf, Acta Soc. Fenn. 21 (1894), Nr. 10. Ein einfaches Beispiel für den Fehlschluss giebt %.J. Routh, Dynanik 1, p. 364; vgl. auch Nr. 80 2), p. 584 dieses Artikels.

445) N. M. Ferrers, Quart. J. 12 (1872), p. 1; vgl. auch die Ausführungen in Nr. 80 2) dieses Artikels über die Transitivitätsgleichungen, sowie P. Appell, Roulements, p. 43.

446) Vgl. etwa P. Appell, Mecanique 2, p. 873.

447) Bull. soc. math. de France 26 (1898), p. 265; vgl. auch Palermo Circ. mat. Rend. 14 (1900), p. 1.

448) Moskau, Arbeiten der physikalischen Sektion der Kaiserlichen Gesell- schaft der Freunde der Naturkunde 9! (1897), p. 10 (russisch).

449) Nieuw Archief (2) 4 (1899), p. 130; Palermo Circ. mat. Rend. 14 (1900), p. 7.

450) J. D. Korteweg, Nieuw Archief (2) 4 (1899), p. 180. Dass bei den kleinen Schwingungen in allen Fällen der Unterschied zwischen holonom und nichtholonom fortfällt, hat F. Klein bemerkt, Zeitschr Math. Phys. 47 (1902), p. 260.

451) P. Appell, Paris C. R. 129 (1899), p. 317, 428, 459; J. f. Math. 121

89 *

598 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

S eine Funktion der Koordinaten 9,,---,q, nebst ihren ersten und zweiten Ableitungen. Die gesuchten Differentialgleichungen lauten alsdann:

21)

Die Berechnung von $ wird erleichtert durch einen Satz von P. Ap- pell, der das genaue Analogon des Satzes von Samuel König*°) ist. Hier- nach ist die Beschleunigungsenergie eines Systems gleich der Summe der Beschleunigungsenergie, die der im Schwerpunkt vereinigten Gesamt- masse m zukommt, und der Beschleunigungsenergie für die relative Bewegung des Systems um den Schwerpunkt®®). Alle diese Fragen können jedoch erst in den Artikeln über analytische Mechanik IV 11 bis 13 (P. Stäckel) ausführlicher besprochen werden.

B. Der einzelne starre Körper: Spezielle Ausführungen.

32. Drehung um eine feste Axe. 1) Ein starrer Körper, der gezwungen ist, sich um eine im Raume feste Axe zu drehen, bildet ein System mit einem Grade der Freiheit; denn seine Lage ist voll- ständig bestimmt durch die Angabe des Winkels 9, um den er sich von der Anfangslage aus um die Axe gedreht hat. Wenn man von der Reibung absieht, also das Lager, in dem die Axe liegt, als voll- kommen glatt annimmt, so liefert sowohl der Satz von der leben- digen Kraft als auch der Flächensatz, angewandt auf die Drehaxe, jeder für sich für die Bewegung des Körpers dieselbe Gleichung: (1) mc! m” =N; hierin bezeichnet m die Gesamtmasse des Körpers, c ist der Gyra- tionsradius, N das Moment der wirkenden Kräfte in bezug auf die Drehaxe.

Zur Berechnung der Reaktion der Axe pflegt man in der theo- retischen Mechanik anzunehmen, dass diese in zwei Punkten 0’ und

(1900), p. 310; 122 (1901), p. 205; J. de math. (5) 7 (1900), p. 5; Annuaire des math., Paris 1902, p. 407; Mecanique 2, p. 374; vgl. auch @. A. Maggi, Rom Acc. Line. Rend. (5) 10? (1901), p. 287; H. Poincare, Paris C. R. 132 (1901), p: 369; G@. Hamel, Zeitschr. Math. Phys. 50 (1904), p.1; Th. E. B. Jourdain, Quart. J. of math. 36 (1904), p. 61. Den Namen Beschleunigungsenergie hat A. de Saint-Germain vorgeschlagen, Paris C. R. 130 (1900), p. 1174; er findet sich jedoch schon bei J. König, Math. Ann. 31 (1888), p. 1.

452) Acta erud. Lips. 1751; vgl. auch Nr. 10, p. 488 diese Artikels.

453) P. Appell, Mecanique, 2, p. 381.

32. Der einzelne starre Körper: Drehung um eine feste Axe. 599

O0’ festgehalten wird. Es möge ein im Raume festes Koordinaten- system der &, n, & eingeführt werden, dessen Anfangspunkt der Punkt O0’ ist, und dessen $-Axe mit der festen Axe zusammenfällt. Die &-Koordinate von O0” sei h, die Koordinaten des Schwerpunktes seien &,, 20, &, die Komponenten der Resultante 8 der wirkenden Kräfte nach den Koordinatenaxen Z, H, Z, die Komponenten des resul- tierenden Momentes W nach diesen Axen A,M,N. Alsdann ergeben sich für die Komponenten der Reaktionen in O’ und 0”: Z/,H,, Z und =”, H”, Z” die fünf Gleichungen:

+32" +32=— 9% 9%, H+H"” +H=—- pn + 9, 2) ZI Ze 20 | Te g’ medm = Hfttdm, | +R2’ + M= Hftban Hfnedm.

Um die Integrale S n&dm und f &£dm zu berechnen, die über

alle Massonelemente dm des starren Körpers zu erstrecken sind, hat man ein im Körper festes Koordinatensystem der x, y, z einzuführen, bei dem die z-Axe mit der £&-Axe zusammenfalle, während der Winkel zwischen der x- und der &-Axe gleich p sein möge. Werden die konstanten Deviationsmomente in bezug auf den Punkt 0’ mit D, E, F bezeich- net (vgl. Nr. 28b dieses Artikels), so ist

meam = Esinpg + Deosg,

8) [Fedm = E c0sp Dein P.

Aus den Gleichungen (2) in Verbindung mit (3) lassen sich =, H’, 2”, H” ermitteln, sobald p als Funktion der Zeit bekannt ist; dagegen erhält man aus ihnen nur die Summe der Komponenten Z und Z”, so dass die Reaktionen in und O” nach der Richtung der festen Axe einzeln genommen unbestimmt bleiben. Man hat also hier einen Fall kinetostatischer Unbestimmtheit; vgl. Nr. 29c und 42 dieses Artikels. Um die Unbestimmtheit zu heben, kann man, wie bei der statischen Unbestimmtheit, die elastischen Deformationen heranziehen; vgl. Nr. 27 dieses Artikels.

Für die praktischen Anwendungen, mit denen man es in der physikalischen und technischen Mechanik zu tun hat, ist freilich die angegebene Berechnung der Reaktionen nicht ausreichend; denn die

600 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Drehung um die feste Axe wird hier meistens durch Lager von end- licher Ausdehnung realisiert *°%).

2) In der Maschinentechnik verwendet man oft feste Körper von beträchtlicher Masse, die sich mit grosser Winkelgeschwindigkeit um feste Axen drehen (Mühlsteine, Schwungräder, Laufräder von Tur- binen usw.). Um die Beanspruchung der Axe tunlichst zu vermeiden, hat man nach den Gleichungen (2) die Massen so anzuordnen, dass die Axe möglichst genau mit einer durch den Schwerpunkt gehenden Hauptaxe übereinstimmt. Es sind daher vielfach Verfahren aus- gebildet worden, um eine Ausbalanzierung der Massen in dem ge- nannten Sinn zu erzielen‘) und die Genauigkeit der Einstellung einer Drehaxe im gegebenen Falle zu prüfen *®).

Schwungräder im engeren Sinne des Wortes dienen dazu, den Gang dauernd rotierender Maschinenteile gegenüber den periodisch auftretenden Schwankungen des Kraftfeldes und der Massenkonfigu- ration der Getriebeteile möglichst gleichförmig zu erhalten; vgl. IV 10 (K. Heun). Man erhält einen ungefähren Einblick in die mechanischen Vorgänge, die sich hierbei abspielen, wenn man sich vorstellt, dass das gesamte, aus den treibenden Kräften und den Widerstandskräften resultierende Moment N um die Drehaxe unmittelbar auf das Schwung- rad, beschleunigend oder verzögernd, einwirkt. Bezeichnet man das Trägheitsmoment des Schwungrades in bezug auf die Drehaxe mit C und mit Z die Arbeit von N in dem Teile einer Periode, in dem die Winkelgeschwindigkeit @ der Drehung von ihrem grössten Werte Omax auf ihren kleinsten Wert omin sinkt, so ist:

L= 40 (Omax BEE Din).

In dem Verhältnis von @3.x @2in zu dem mittleren Werte o»? des Quadrates der Winkelgeschwindigkeit hat man ein Mass für die Un- gleichförmigkeit des Ganges der Maschine. Wenn es sich darum handelt, die Größe von C und damit die Dimensionen des Schwungrades für eine auszuführende Anlage zu bestimmen, hat man das Mass der Un- gleichförmigkeit als gegeben anzusehen; über die Schwierigkeiten, die die Bestimmung von L und die genaue Definition des Ungleich- förmigkeitsgrades mit sich bringt, wird in IV 10 (X. Heun) berichtet werden.

f

454) Vgl. auch Nr. 42 dieses Artikels, sowie IV 10 (K. Heun).

456) Vgl. z.B. A. Yvon Villarceau, J. de math. (2) 5 (1870), p. 315 und A. Stodola, Die Dampfturbinen, 3. Aufl., Berlin 1905, p. 181.

456) Beschreibung eines solchen Apparates von Haffner bei P. Appell, J. de l’&c. polyt. (2) 9 (1904), p. 161.

32. Der einzelne starre Körper: Drehung um eine feste Axe. 601

3) Wenn das Drehmoment N der wirkenden Kräfte in bezug auf die feste Axe verschwindet, so ist $—= 0, mithin o konstant. Ver- schwinden auch noch die Momente A und M, so dass die wirkenden Kräfte einer im Punkte O angreifenden Einzelkraft äquivalent sind, so werden die Gleichungen (2), sobald die feste Axe eine zu 0’ gehö- rende Hauptaxe ist, durch

Z=0, "0, Zu0 befriedigt. Es gilt also der Satz: Wenn auf einen starren Körper, der sich um einen festen Punkt O0’ dreht, Kräfte wirken, die einer durch O0’ gehenden Einzelkraft äquivalent sind, so wird der Körper, wenn er sich anfänglich mit einer gegebenen Winkelgeschwindigkeit um eine der zu O0’ gehörenden Hauptaxen drehte, diese Bewegung be- ständig fortsetzen. Man nennt aus diesem Grunde die Hauptaxen auch permanente Drehaxen*”). Sollen auch noch die Komponenten =’, H’, Z' verschwinden, so muß zZ = o!b,, = on, Z=0

sein. Hieraus folgt im besonderen der Satz: Wenn ein starrer Körper, auf den keine Kräfte wirken, sich anfänglich um eine zum Schwer- punkt gehörige Hauptaxe dreht, so setzt er diese Bewegung mit konstanter Winkelgeschwindigkeit fort. Aus diesem Grunde heissen die zu dem Schwerpunkt gehörigen Hauptaxen auch spontane Dreh- axen*®). Für die Frage der Stabilität der permanenten und spon- tanen Drehaxen vgl. Nr. 34a dieses Artikels.

4) Ist die auf den starren Körper wirkende Kraft die Schwere und liegt die feste Axe horizontal, so hat man es mit dem sogenannten zusammengesetzten oder physikalischen Pendel zu tun; für die Geschichte dieses Problems vgl. Nr. 25a dieses Artikels. Einen eingehenden Bericht über die praktische Verwendung des Pendels findet man in IV 7 (Ph. Furtwängler). Dort ist auch die Lehre von der Wage dar- gestellt, die man in erster Annäherung als ein Pendel ansehen kann; in zweiter Annäherung ist sie eine dreigliedrige ebene Körperkette, vgl. Nr. 41c dieses Artikels.

Befindet sich der Schwerpunkt S des Pendels in der Entfernung ! von der Drehaxe, so ist N=mglsinp, und man hat die

457) Diesen Namen scheint A. M. Ampere, Paris M&m. 5, annde 1821/22 (1826), p. 76 eingeführt zu haben. Der Sache nach finden sich die permanenten Axen schon bei L. Euler, Theoria motus, Greifswald 1765, p. 224; Euler sagt dafür freie Axe (axis liber).

458) Vgl. Nr. 25, p. 546 dieses Artikels. J. L. Lagrange versteht in der Mecanique analytique unter spontanen Axen das, was man jetzt permanente Axen nennt, und bezeichnet die jetzigen spontanen Axen als natürliche Azxen.

602 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Gleichung:

d’ I: (1) Fr = en sin @; die Bewegung ist also isochron mit der eines mathematischen Pendels der Länge "= c?/l. Im Falle unendlich kleiner Schwingungen ist die Schwingungsdauer

(4) De

Um diese zu berechnen, müsste man c und / kennen. In der Praxis bestimmt man umgekehrt c und / durch die Beobachtung von Schwingungszeiten; auf das grosse Gebiet der experimentellen Bestimmung von Trägheitsmomenten in Physik und Technik kann jedoch hier nicht eingegangen werden *®).

Man lege nunmehr durch $ und die feste Axe die Halbebene und ziehe in ihr die Parallele zur Axe im Abstande !. Dann schwingen die in den Punkten dieser Geraden enthaltenen Massenteilchen des Pendels so, als ob sie vom starren !Körper losgelöst und jeder für sich mit der Axe fest verbunden seien; wie man /’ hierdurch experimentell bestimmen kann, hat J. Clerk Maxwell gezeigt“). Chr. Huygens nannte jene Parallele Schwingungsaxe und bewies, daß umgekehrt, wenn die Schwingungsaxe festgehalten wird, die ursprüngliche Drehaxe die zugehörige Schwingungsaxe wird*®). Bezeichnet man noch den Gyra- tionsradius, den man für die Parallele zu der festen Axe durch den Schwerpunkt erhält, mit k, so ist ebenfalls nach Chr. Huygens:

.2

(6) 147, ö

und es gilt daher der Satz: Wenn in einer Ebene durch den Schwer- punkt zwei von ihm nicht gleichweit entfernte parallele Axen als feste horizontale Drehaxen genommen dieselbe Länge des isochronen Pen- dels ergeben, so ist diese Länge gleich dem Abstande der beiden Parallelen. Auf diesem Satze beruht das in der Geodäsie viel be- nutzte Reversionspendel*®2).

459) Vgl. etwa Fr. Kohlrausch, Lehrbuch der praktischen Physik, 9. Aufl. Leipzig 1901. Eine monographische Darstellung dieser Untersuchungen wäre

sehr erwünscht; einiges Material dazu findet man bei J. van Rijn, Diss. Utrecht 1890.

460) Matter and motion, London 1876 = Substanz und Bewegung, Braun- schweig 1881, p.115; vgl. auch L. Boltzmann, Prinzipe 1, p- 201.

461) Horologium oscillatorium, Paris 1673.

462) J. @. F. Bohnenberger, Astronomie, Tübingen 1811, p. 447; H. Kater,

Phil. Trans. 1818; vgl. auch F. Kraft, Aufgaben 2, p. 303, J. A. Grunert, Arch. Math. Phys. 47 (1867), p. 119.

33. Der einzelne starre Körper: Ebene Bewegungen. 603

Die Formel (5) zeigt, wie sich 7 ändert, wenn man-die Dreh- axe parallel im Körper verschiebt. Für beliebige Verschiebungen gilt die Formel:

))

u en

hierin bedeuten «&, B, y die Richtungscosinus der Drehaxe gegen die Axen der &,n, & und a,b, c sind die Gyrationshalbmesser, die zum Schwerpunkte gehören“®). Den Komplex der Drehaxen im Körper, für die !’ eine gegebene Länge hat, haben J. B. Biot‘*) und O. Böklen*°°) untersucht.

Zum Schluss sei noch auf die Aufgaben hingewiesen, die sich bei der Lehre von der Regulierung und Kompensation des Uhrpendels ergeben‘); ferner möge auch der Metronom von J. H. Mälzel*®) er- wähnt werden.

5) Im Vorhergehenden ist von der Reibung abgesehen worden. Diese hängt wesentlich davon ab, wie die Forderung der festen Drehaxe realisiert wird, und das ist auf sehr verschiedene Arten möglich‘®#®). Wenn es auch in der Praxis gelingt, durch geeignete Schmiermittel, Kugellager u. s. w. die Grösse der Reibungswiderstände sehr herunter- zudrücken, so darf man diese doch in vielen Fällen nicht vernach- lässigen. Von derselben Grössenordnung ist dann aber auch der Ein- fluss, den andere störende Umstände haben, z. B. die Elastizität des Materials, und man wird so zu Problemen geführt, die durchaus der physikalischen oder der technischen Mechanik angehören *®).

Zum Schluss möge noch für diese ganze Nummer auf die aus- führliche Behandlung der Drehung eines starren Körpers um eine feste Axe bei E. J. Routh, Dynamik 1, Kap. III, hingewiesen werden.

33. Ebene Bewegungen. Die Bewegung eines starren Körpers heißt eine ebene Bewegung, wenn die Geschwindigkeitsvektoren aller

468) $. D. Poisson, M&canique, 1. Ed. 2, p. 119, Paris (1811).

464) J. ec. polyt. cahier 13 (1806), p. 242.

465) J. f. Math. 93 (1882), p. 177; Zeitschr. Math. Phys. 28 (1883), p. 304; vgl. auch H. Ruoss, Math. Nat. Verein in Württemberg Mitteil. 5 (1892), p. 58.

466) Vgl. VIs, 4, Nr. 2, 3 (©. Ed. Caspary).

467) Zeitschr. für Österreichische Gymnasien 6 (1855), p. 851; vgl. auch M. Jullien, Problemes, 2. €d. 2, p. 134—147 und A. Hirn, Paris ©. R. 105 (1887), p. 40.

468) Siehe schon L. Euler, Acta Petrop. pro ann. 1782, P. II (1786), p. 164 Theoria motus, 2. Aufl. Greifswald 1790, Supplementum, cap. 7; vgl. ferner N. Joukowskij, Moskau Arbeiten der phys. Sektion der Kais. Ges. d. Freunde der Naturkunde 7 (1895), Heft. 2, p. 28 (russisch).

469) Vgl. IV 7 (Th. Furtwängler).

604 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

seiner Punkte stets einer festen Ebene parallel bleiben“); das findet zum Beispiel statt, wenn ein Körper mit einer ebenen Grundfläche auf einer festen Ebene gleitet. Da sich jeder Punkt des Körpers in einer Ebene bewegt, die jener festen Ebene parallel ist, so genügt es, die Bewegung in einer der Parallelebenen zu kennen; man sagt daher auch, daß die ebene Bewegung der Bewegung eines starren Gebildes in zwei Dimensionen äquivalent ist. Betrachtet man im besonderen die durch den Schwerpunkt S gehende Parallelebene, so ist die Lage des Körpers vollständig bestimmt, wenn man kennt 1): die Koordi- naten des Schwerpunktes &,, 7, in bezug auf ein in der Ebene festes System der &, 7; 2) den Winkel p, den eine im Körper feste, von S ausgehende und in der &n-Ebene liegende Gerade mit der &-Axe bildet. Mithin hat die ebene Bewegung drei Grade der Freiheit, eben so viele, wie die Drehung eines starren Körpers um einen festen Punkt, aus der sie in der Tat als Grenzfall hervorgeht, wenn man den festen Punkt ins Unendliche rücken lässt.

Bewegungen dieser Art hat schon Johann Bernoulli untersucht (1742), der zeigte, dass die zugehörigen Elementarbewegungen, all- gemein gesprochen, in der Verbindung einer Schiebung (Translation) parallel der festen Ebene und einer Drehung um eine darauf senk- rechte Axe bestehen, deren Durchstosspunkt mit der Ebene variiert *"!). Man kann aber die Schiebung durch Wahl einer besonderen Axe, der Momentanaxe, zu Null machen und der Bewegungsvorgang lässt sich daher, wie wohl zuerst M. Chasles (1829) erkannt hat*"®), kine- matisch als das Abrollen einer im starren System festen Kurve auf einer in der Ebene festen Kurve beschreiben. Diese, Kurven werden als Polbahnen oder auch als Zentroden (Körperzentrode und Raum- zentrode) bezeichnet?"®).

Im 19. Jahrhundert sind die ebenen Bewegungen Gegenstand zahlreicher Untersuchungen geworden, teils weil sie einfache Beispiele für die Dynamik des starren Körpers geben, teils wegen der tech- nischen Anwendungen. Bei den Maschinen ist nämlich ein grosser

470) Wie @. Darboux, Paris C. R. 92 (1881), p. 118 erkannt hat, genügt es nicht, zu verlangen, dass der Geschwindigkeitsvektor eines jeden Punktes in einer Ebene bleibt; vgl. IV 3, Nr. 21 (A. Schoenflies und M. Grübler).

471) Opera omnia 4, Lausanne 1742, p. 265.

472) Vgl. Bull. soc. math. de France 6 (1878), p. 208. Geometrisch ist das Abrollen zweier Kurven schon 1638 von R. Descartes betrachtet worden, Oeuvres 7, p. 88.

473) Vgl. IV 3, Nr. 8 (A. Schoenflies und M. Grübler) sowie für den Aus- druck Zentrode etwa A. Gray, Physik 1, p. 92.

34. Der einzelne starre Körper: Kräftefreier Kreisel. 605

Teil der Organe so gefesselt, dass sie ebene Bewegungen ausführen; man denke etwa an das Kurbelgetriebe bei einer Dampfmaschine. Freilich ist man hier vielfach bei der ÄAinematischen Behandlung stehen geblieben, die dafür bis ins Einzelnste durchgeführt worden ist; vgl. IV 3, Nr. 8—13 (A. Schoenflies und M. Grübler) sowie die Dar- stellung bei G. Koenigs, Legons de cinematique, Paris 1897, p. 137.

Die Schwerpunktssätze liefern die beiden Gleichungen

a’ - a’n (1) ma => Min

==. H,

und dazu kommt vermöge des Satzes von der lebendigen Kraft bei der relativen Bewegung (vgl. Nr. 10 dieses Artikels) als dritte Gleichung:

d? (2) malt —N;

hierin bedeutet c den Gyrationsradius und N das Drehmoment der wir- kenden Kräfte für das Lot, das in $ auf der festen Ebene errichtet wird. Derselbe Ansatz lässt sich benutzen, wenn weitere Bedingungen hinzu- treten; man hat dann nur den wirkenden Kräften die aus den Ver- bindungen entspringenden Reaktionen hinzuzufügen. Ausführliche Angaben über die Aufstellung und Integration der Differential- gleichungen (1) und (2) findet man in den Werken von P. Appel*"*), E. Budde*'s) und J. E. Routh*'®), in denen auch zahlreiche Beispiele behandelt werden. Für weitere Beispiele sei auf M. Jullien*"‘) und A.E. H. Love*"®) verwiesen. Es möge genügen, hier als hübsches Beispiel den bergan laufenden Doppelkegel‘'®) zu nennen, der sich vielfach in den älteren physikalischen Kabinetten findet.

Für die Besonderheiten bei den Bewegungen mit Reibung sei auf Nr. 31 dieses Artikels sowie IV 10 (K. Heun) verwiesen.

34. Kräftefreier Kreisel. Ein Kreisel, d. h. ein starrer Körper, der gezwungen ist, sich um einen festen Punkt O zu drehen, heisst kräftefrei, wenn äussere Kräfte auf seine Bewegung keinen Einfluss haben. Da die Zwangsbedingung verhindert, dass die Resultante 8 der etwa vorhandenen äusseren Kräfte, in O angreifend, dem Körper eine Translation erteilt, so genügt ‘es, dass ihr resultierendes

474) M&canique 2, p. 91—105.

475) Mechanik 2, p. 676—778.

476) Dynamik 1, Kap. 4.

477) Problömes 2, ed. 2, p. 147—170.

478) Mechanics, chap. 8.

479) Vgl. dazu auch H. Resal, Paris C. R. 111 (1890), p. 547.

606 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Moment M in bezug auf O verschwindet; das ereignet sich zum Beispiel, wenn sich ein schwerer Körper um seinen Schwerpunkt dreht.

34a. Synthetische Untersuchung des Bewegungsverlaufes. 1) Bei dem Kreisel reduziert sich die Impulsschraube auf einen Drehstoss D, der in der bekannten Art durch einen Vektor 0J, den Impulsvektor, dargestellt wird; seine Komponenten nach drei auf ein- ander senkrechten Hauptaxen für den festen Punkt O sind Ap, Ba, Cr. Während der kräftefreien Bewegung bleibt der Vektor 0.J der Grösse und Richtung nach unverändert, ist also im Raume fest. Damit erscheint die Trägheitsbewegung des starren Körpers als ein genaues Analogon zu der Trägheitsbewegung des materiellen Punktes. Wie dort folgt auch hier aus der Erhaltung des Impulsvektors die Erhaltung der lebendigen Kraft, die den konstanten Betrag 4h haben möge“). Diese ist aber nach Nr. 28d 3) gleich dem halben skalaren Produkt des Im- pulsvektors OJ und des Vektors der instantanen Drehung w—= OP, also gleich dem halben Produkte der Länge % des Impulsvektors und der Projektion OQ des Drehvektors auf diesen. Mithin hat die Pro- jektion OQ die konstante Länge h/k,t") und der Drehpol P befindet sich stets auf einer im Raume festen Ebene IT, die in Q auf dem Impulsvektor senkrecht steht. Da aber die lebendige Kraft eines Kreisels stets gleich $(Ap? + Bgq? + Cr?) ist, so befindet sich der Drehpol auch auf dem mit dem kräftefreien Kreisel festverbundenen Poinsotschen Ellipsoide:

A?+ BP? +C2=h, das mit dem Cauchyschen Trägheitsellipsoide*®?) des festen Punktes O: + BP +02=]1

ähnlich und ähnlich liegend ist. Endlich folgt aus der Beziehung zwischen der lebendigen Kraft und dem Impuls, dass das Ellipsoid die feste Ebene beständig berührt. Die Trägheitsbewegung eines starren Körpers lässt sich demnach so beschreiben, dass das im Körper feste Poinsotsche Ellipsoid bei festgehaltenem Mittelpunkte auf einer im Raume festen Ebene ohne zu gleiten abrollt; der Kreisel dreht

t

480) Die Konstante der lebendigen Kraft wird im allgemeinen mit Ah be- zeichnet (vgl. p. 465 dieses Artikels); es ist jedoch in dem. vorliegenden Fall üblich, dafür }h zu nehmen, wodurch sich in der Tat die Formeln vereinfachen.

481) Dieser Satz findet sich schon, wenn auch in anderer Ausdrucksweise, bei J. L. Lagrange, Berlin Nouv. M&m. annee 1773 Oeuvres 8, p. 579.

482) A. L. Cauchy, Exercices, 1827 = Oeuvres (2) 7, Paris 1889, p. 124, vgl. IV 4, Nr. 21 (G. Jung).

84. Der einzelne starre Körper: Kräftefreier Kreisel. 607

sich in jedem Augenblicke um den Durchmesser des Ellipsoids, der durch den Berührungspunkt geht, und die instantane Winkelgeschwin- digkeit dieser Drehung ist gleich dem betreffenden Halbmesser*®). Was endlich die Lage des Impulsvektors betrifft, so bleibt dieser im Raume fest, im Körper aber steht er immer senkrecht auf der Ebene, die zu der instantanen Drehaxe in Bezug auf das Poinsotsche Ellipsoid konjugiert ist.

Diese anschauliche Darstellung des Bewegungsverlaufes hat L. Poinsot (1834) gegeben‘). Ihm zu Ehren nennt man die kräftefreie Be- wegung eines starren Körpers häufig kurz eine Poinsot - Bewegung. Freilich trägt Poinsots Darstellung zunächst nur einen kinematischen Charakter“). Sie ist von J. Sylvester (1866) nach der künetischen Seite hin ergänzt worden. Das Trägheitsellipsoid rolle auf einer horizon- talen Ebene /I unterhalb des festen Punktes O. Man entferne die Hälfte des Ellipsoides, die die Ebene nicht berührt, und ersetze sie durch die Hälfte eines kleineren Ellipsoides, das dem ersten konfokalist. Das zweite Ellipsoid soll beständig eine zu // parallele Ebene berühren, die voll- kommen rauh ist (siehe Nr. 31 dieses Artikels) und sich nur um eine vertikale, durch den festen Punkt 0 gehende Axe reibungslos drehen kann. Lässt man jetzt das Doppelellipsoid mit dem unteren Teil seiner Oberfläche auf der festen unteren Ebene rollen (wobei als äussere Kraft nur die Reibung ins Spiel kommen soll), so veranlasst die Reibung zwischen dem oberen Teil der Oberfläche und der oberen Ebene, dass diese Ebene sich um die vertikale Axe dreht, und die verflossene Zeit steht in konstantem Verhältnis zu der Drehung, die man von einem im Raume festliegenden Zifferblatte unmittelbar ablesen kann **®).

483) Modelle für diese Bewegung konstruierten E. Mach, A.v. Obermayer usw.; vgl. darüber etwa L. Boltzmann, Prinzipe 2, p. 74.

484) Theorie nouvelle de la rotation des corps, Paris 1834, in ausführ- licherer Darstellung wieder abgedruckt J. de math. (1) 16 (1851), p. 9, 289; deutsche Bearbeitung von K. H. Schellbach, Berlin 1851. In die Lehrbücher war Poinsots Darstellung schon durch J. M. ©. Duhamel, Mecanique, Paris 1845—46 eingeführt worden. Poinsot selbst benutzt, nur ein Ellipsoid für alle A, aber die Sätze werden einfacher und die Formeln durchsichtiger, wenn man die Schar der Ellipsoide bei veränderlichem A nimmt. Einige Sätze Poinsots beziehen sich auch auf den Zusammenhang seines Ellipsoides mit einer Bewegung des Kreisels unter dem Einflusse beliebiger Kräfte; sie besagen jedoch nur die Tatsache, dass man eine jede Bewegung im Unendlichkleinen durch eine Trägheitsbewegung approximieren kann.

485) Für die Weiterbildung der Poinsotschen Darstellung nach der geo- metrisch-kinematischen Seite vgi. W. Schell, Bewegung, 2. Aufl. 2, Teil 4, Kap. 3, sowie IV 3 (A. Schoenflies und M. Grübler).

486) London Math. Soc. Proc. 1866 Nr. 6, p. 3; vgl. R. Radau, Ann. &e.

608 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

An Stelle der Poinsotschen Ellipsoide hat J. Mac Cullagh das reziproke Ellipsoid

betrachtet, das mit dem Kreisel fest verbunden sein möge. Das Mac Oullaghsche Ellipsoid geht bei seiner Bewegung stets durch einen festen Punkt, der auf der Impulsaxe OJ in der Entfernung k: YHh liegt; das Lot von O auf die Tangentialebene in dem festen Punkte ist die instantane Drehaxe OP, und die instantane Drehgeschwindig- keit ist seiner Länge umgekehrt proportional *”).

2) Poinsot hatte die Darstellung der Bewegung mittels des rollenden Ellipsoides ersonnen, weil das Abrollen der beiden Axenkegel auf ein- ander beim kräftefreien Kreisel im Allgemeinen zu keiner elementaren Anschauung von dem Verlaufe der Bewegung verhilft. Die Polhodie ist allerdings verhältnismässig einfach, sie ist nämlich ein sphärischer Kegelschnitt, aber die Gestalt der Herpolhodie ist verwickelter, und ihre Darstellung durch kartesische Koordinaten oder Polarkoordinaten erfordert elliptische Funktionen.

In einigen besonderen Fällen lässt sich freilich die Untersuchung der Polhodie und Herpolhodie sehr einfach durchführen.

It A=B=(, so ist das Poinsotsche Ellipsoid eine Kugel, die die feste Ebene II in Q berührt, und die Bewegung des Kugelkreisels kann daher nur in einer permanenten Drehung um die im Raume und im Körper feste Axe 0.J bestehen; Polhodie und Herpolhodie arten in Punkte aus“).

Ist A gleich B, aber verschieden von C, so wird die Polhodie ein Kreis und der Polhodiekegel ein Kreiskegel. Dasselbe gilt aber auch von der Herpolhodie und dem Herpolhodiekegel; denn das Poinsotsche Ellipsoid ist ein Rotationsellipsoid, also der Ort seiner Berührungs- punkte mit der festen Ebene, die Herpolhodie, ein Kreis. Mithin besteht die allgemeinste Bewegung eines kräftefreien symmetrischen

norm. (1) 6 (1869), p. 233; (1) 7 (1870), p. 87; N. M. Ferrers, Phil. Trans. 160 (1870), p. 1; @. Darboux, Note XVII zu der M&canique von Ch. Despeyrous 2, p. 503; E. J. Routh, Dynamik 2, p. 140; übrigens hatte auch schon Poinsot selbst einen Versuch gemacht, die verflossene Zeit geometrisch darzustellen, ohne daß er jedoch zu einer durchsichtigen Konstruktion gelangt wäre.

487) Dublin Irish Proc. 2 (1840—41), p. 520; 3 (1845—47), p. 370; Trans. 22, Part I (1855), p. 188 = Collected works, Dublin 1880, p. 239; vgl. auch A. Clebsch, J. f. Math. 57 (1860), p. 73, sowie IV 4, Nr. 14, 21 (G. Jung).

488) T,. Euler, Theoria motus, Kap. 11; L. Poinsot, Theorie nouvelle, Paris 1834 = J. de math. (1) 16 (1851), p. 12.

34. Der einzelne starre Körper: Kräftefreier Kreisel. 609

Kreisels in einer regulären Präzession*®®); vgl. Nr. 28c, p. 566 dieses Artikels.

3) Polhodie. Jetzt mögen A, B, C ungleich sein, und zwar A>B>C. Betrachtet man die Familie der Bewegungen, bei denen die lebendige Kraft denselben Wert 4h hat, während der Impulsvektor nach Grösse und Richtung variiert, so erscheinen die Polhodien als die Schnittkurven des einen Poinsotschen Ellipsoides

(1) A? + By +C0?=h mit dem Kegelbüschel 2) KAaR+ By + 0’) KA + BP + CH) —=0.

Von den beiden Ovalen, aus denen diese Schnittkurven bestehen, kommt für eine Bewegung des Kreisels immer nur dasjenige in Betracht, auf dem der Drehpol P liegt; für die Bedeutung des anderen konjugierten Ovals vgl. Nr. 35a 4). Man markiere auf dem Ellipsoide die End- punkte der Hauptaxen; sie mögen die Hauptpole A*, B*, O* heissen. Dann legt sich, wie die nebenstehende Figur zeigt, um die Hauptpole A* und C* je eine Schar einander umschliessender Polhodien. Die hierdurch charakterisierten beiden Scharen von Polhodien werden durch eine Grenz- polhodie von einander getrennt. Diese ent- spricht dem Werte A? —= Bh, für den der Kegel (2) in zwei Ebenen zerfällt, näm- lich die Ebenen:

Luck FARR Fig. 9.

VA Be + VCB— O0 =0.

Diese schneiden aus dem Ellipsoid zwei Ellipsen aus, die sich in den Hauptpolen B* treffen, und die Ellipsen teilen die Oberfläche des Ellipsoides in vier Felder, die je eine Schar von Ovalen enthalten.

Die erste Schar der Polhodien gehört zu Werten von k? zwischen Ah und Bh, die zweite zu Werten zwischen Ch und Bh; zwischen diesen Grenzen liegt k?, weil die feste Ebene das Ellipsoid berührt. Für k? = Ah reduziert sich die Polhodie auf einen Punkt A*, und für = Ch auf einen Punkt C*. In diesen Grenzfällen schrumpft auch die Herpolhodie auf einen Punkt zusammen, und die Be-

489) L. Euler, Theoria motus, Kap. 12.

610 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

wegung besteht in einer permanenten Drehung um die im Raume feste Hauptaxe grössten oder kleinsten Trägheitsmoments. Diese Drehungen sind stabil, d. h. eine kleine Abänderung der Anfangs- bedingungen bewirkt eine Bewegung des Kreisels, bei der der Dreh- pol immer in der Nähe von A* oder C* bleibt. Permanente Drehung um die Axe mittleren Hauptträgheitsmomentes ist zwar auch möglich, allein sie ist instabil, d. h. bei einer kleinen Änderung der Anfangs- bedingungen vollführt der Kreisel Bewegungen, die den Drehpol lang- sam, aber beständig von B* wegführen, so dass er schliesslich bis in die Nähe des Gegenpunktes von B* kommt. Im allgemeinen wird also der Drehpol periodisch zwischen B* und dem Gegenpunkte von B* hin und her gehen; diese Periode kann jedoch auch unendlich groß werden, wenn sich nämlich der Pol auf der Grenzpolhodie befindet.

Mit der Frage der Stabilität der permanenten Drehungen um eine Hauptaxe hatte sich ZL. Euler schon 1739 in seiner Scientia navalis beschäftigt, die freilich erst 1749 gedruckt worden ist. Dass die Axen extremen Momentes stabil sind, hat er in seiner 1760 ver- fassten, aber erst 1765 gedruckten Theoria motus bewiesen und zwar, indem er durch Rechnung ermittelte, was für Kurven der im Abstande Eins von O befindliche Punkt des Drehvektors oder, in moderner Bezeichnung, die Kreiselspitze beschreibt. Die hier mitgeteilte an- schauliche Form des Beweises verdankt man L. Poinsot.

4) Herpolhodie. Schwieriger ist die Untersuchung der Herpolhodie. Da sie der geometrische Ort der Drehpole P in der Ebene IT ist, die in Q auf dem Impulsvektor OJ senkrecht steht, so ergiebt sich für den Fahrstrahl QP die Gleichung:

op. -0P a E ; und da die Länge von OP, also die in- Beer = IA stantane Winkelgeschwindigkeit ®, wie die nn we Gestalt der Polhodie zeigt, zwischen zwei extremen Werten hin- und hergeht, so gilt Fig. 10. dasselbe für den Fahrstrahl QP. Mithin

liegt die Herpolhodie zwischen zwei um Q beschriebenen Kreisen, die sie abwechselnd berührt. In dem Fall der Grenzpolhodie zieht sich der eine dieser Kreise auf den Punkt @ zu- sammen, dem sich die Herpolhodie in spiraligen Windungen asympto- tisch nähert (Poinsotsche Spirale); ihre Länge ist jedoch endlich, näm- lich gleich der Länge der Polhodie-—Ellipse. Im Allgemeinen wird

34. Der einzelne starre Körper: Kräftefreier Kreisel. 611

durch die Herpolhodie der genannte Kreisring überalldicht erfüllt; diese kann sich aber auch in besonderen Fällen schliessen.

Die genauere Diskussion der Herpolhodie muss auf analytischem Wege vorgenommen werden. Dazu hatte schon L. Poinsot einen An- fang gemacht“). Einfacher ist das Verfahren von @. Darboux“*"), der in der Ebene II der Herpolhodie Polarkoordinaten t, g mit dem Anfangspunkte Q einführt. Setzt man zur Abkürzung

_ (Bh—k?)(Ch k*)

BCR: et (Ch k?)(Ah— k®) ae CAR? Sr B (AR—kYBh—kN) 3 ABK? Be

so genügt nach Darboux die Herpolhodie der Differentialgleichung:

a San d4__ ke,

(3) dt Ve Jw®— Aa)

Aus dieser Gleichung folgt unter anderem, dass, im Gegensatz zu Poinsots Zeichnung, die Krümmung wegen der Ungleichheitsbeziehungen zwischen den Hauptträgheitsmomenten A, B, C immer dasselbe Vor- zeichen ‚behält, dass also die Herpolhodie keine Wendepunkte besitzt*??). Ist umgekehrt eine Differentialgleichung der Form (3) gegeben, in der die Konstanten h/k, «, ß, y irgend welche Werte haben, doch so, dass das Produkt «aßy negativ ausfällt, so lässt sich die dadurch definierte Kurve stets als Herpolhodie einer Poinsotbewegung auffassen; hier- von wird beı der Untersuchung des schweren symmetrischen Kreisels (Nr. 35a 4) dieses Artikels) Gebrauch gemacht werden.

Die Differentialgleichung (3) ist ziemlich verwickelt. Dagegen gelangt man bei der Untersuchung mittels elliptischer Funktionen, über die in IV 13 (P. Stäckel) berichtet werden wird, zu einer viel einfacheren charakteristischen Eigenschaft der Poinsotschen Herpol- hodieen; es wird nämlich nach F. Klein und A. Sommerfeld, wenn in der Ebene IT kartesische Koordinaten r, y eingeführt werden,

490) L. Poinsot, Theorie nouvelle, Paris 1834 = J. de math. (1) 16 (1851). p- 102.

491) Note XVII zu der Mecanique von. Ch. Despeyrous 2, p. 488, vgl. auch H. Pade, Nouv. ann. (4) 3 (1903), p. 289.

492) W. Hess, Diss. München 1880; Math. Ann. 27 (1886), p. 465, 568; M. de Sparre, Paris C. R. 99 (1884), p. 906; A. Petrus, Diss. Halle 1902; vgl. auch IV 3, Nr. 16 (A. Schoenflies und M. Grübler).

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1, ı. 40

612 IV 6. P. Stäckel.. Elementare Dynamik.

rex—=r-+ iy ein Thetaquotient ersten Grades, bei dem die beiden Theta- funktionen zum Argument eine lineare Funktion der Zeit haben.

J. Olerk Maxwell‘) hat versucht, die Lage der instantanen Drehaxe dem Auge sichtbar zu machen, indem er an dem Kreisel eine Pappscheibe befestigte, die in vier verschieden gefärbte Sek- toren geteilt war. Bei der Bewegung sieht man die Farbe nur in der Nähe der instantanen Drehaxe, in einiger Entfernung von ihr aber erscheint ein un- bestimmtes Grau. Die Bewegung des farbigen Flecks im Raume giebt ) dem Beobachter einen Anhalt für die Gestalt des Herpolhodiekegels, während ihm gleichzeitig der Wechsel der Farben einen Anhalt dafür bietet, wie sich die instantane Drehaxe im Körper be- wegt“®®). Das Maxwell- sche Modell ist mit neun regulierenden Schrauben- massen versehen, die es gestatten, innerhalb ge- wisser Grenzen die Grösse der Hauptträgheitsmo- mente des Körpers für den festen Punkt, die Lage der betreffenden drei Hauptaxen und die Rich- tung der Schwerpunkts- axe OS abzuändern; hierdurch lässt es sich erreichen, daß man an dem Modell die Bewegungen allgemeinerer Kreisel studieren kann. Der Apparat, den die Figur 11 zeigt, befindet sich in dem Physikalischen Institut der Clark University zu Worcester (Mass.); siehe A. G. Webster, Dynamics, p. 368.

Apparate, bei denen sich die Herpolhodiekurve bei der Be- wegung automatisch auf der festen Ebene aufzeichnet, haben

493) Edinburgh Royal Soc. Trans. 21, Part IV (1857) = Scientific papers, 1, p. 248.

84. Der einzelne starre Körper: Kräftefreier Kreisel. 613

G. F. C. Searle und A. @. Webster konstruiert‘). Von sonstigen Modellen sei der Herpolhodograph von @. Darboux und @G. Koenigs genannt‘®), zu dem in neuester Zeit die Apparate von H. Grass- mann d. J.**) und A. G. Greenhill“”‘) gekommen sind.

Bei der Anstellung von Versuchen mit einem kräftefreien Kreisel besteht insofern eine grosse Schwierigkeit, als man den Einfluss der Schwere nur dadurch beseitigen kann, dass man den festen Punkt O mit dem Schwerpunkt 5 zusammenfallen lässt, was bloss angenähert verwirklicht werden kann; vgl. hierüber auch Nr. 43d dieses Ar- tikels. Damit man also Bewegungen erhält, die eine angenäherte Vorstellung von den Bewegungen eines kräftefreien Kreisels geben, wird man sich auf kleine Beobachtungszeiten beschränken müssen. Mit diesem Umstande hängt es wohl zusammen, dass, im Gegensatz zu dem schweren Kreisel, siehe Nr. 35b 5) dieses Artikels, bei dem kräftefreien Kreisel der Einfluss der Reibung und anderer störender Kräfte nicht in Betracht gezogen zu werden pflegt.

34 b. Analytische Untersuchung des Bewegungsverlaufes. So wichtig, ja notwendig es ist, sich eine anschauliche Vorstellung von dem Verlaufe der Bewegung ım Raume und in der Zeit zu machen, so „liefert doch die Formel schliesslich die einfachste und präg- nanteste Beschreibung des Bewegungsvorganges; ausserdem ist sie als Grundlage der wirklichen numerischen Ausrechnung unentbehrlich“ **°), Freilich lässt sich die Integration der Differentialgleichungen der Be- wegung für den kräftefreien Kreisel nur in wenigen besonderen Fällen durch elementare Hilfsmittel erledigen, nämlich bei beliebigen Anfangs- bedingungen nur für den Äugelkreisel und den symmetrischen Kreisel, für den unsymmetrischen Kreisel aber, abgesehen von den perıma- nenten Drehungen um die Hauptaxen, nur, wenn der Fall der Grenz- polhodie vorliegt. Sonst muss die Theorie der elliptischen Funktionen herangezogen werden, und es wird daher die Untersuchung des kräfte- freien unsymmetrischen Kreisels erst in IV 13 (P. Stäckel) zum Ab-

494) A. @. Webster, Dynamics, p. 269.

495) Das Modell von @. Darboux und @. Koeniys war auf der Weltaus- stellung zu Paris 1889 ausgestellt; es befindet sich jetzt in dem Conservatoire des arts et metiers. Vgl. auch P. Appell, Mecanique 2, p. 183.

496) Zeitschr. Math. Phys. 48 (1903), p. 329; die drei Modelle veranschau- lichen je einen Fall, wo A? zwischen Ah und Bh, Bh und Ch liegt und gleich Bh ist.

497) Verhandl. III. internat. math. Kongress Heidelberg 1904, Leipzig 1905, p. 100.

498) F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, p. 5.

40*

614 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

schluss gebracht werden können. Immerhin ist es möglich, auch für den unsymmetrischen Kreisel auf elementarem Wege gewisse Periv- dizitätseigenschaften der Bewegung herzuleiten, die eine wertvolle Ver- vollständigung der auf synthetischem Wege gewonnenen Ergebnisse bilden *°°).

1) Bei dem kräftefreien Kreisel feiern die Eulerschen Gleichungen ihren Triumph. Sie lauten in diesem Falle:

AR +(C- Bar=0, (W BE +A—-Om=0,

‚dr CE+B-Ap=0,

und da in ihnen allein die Komponenten p, q, r der instantanen Dreh- geschwindigkeit w vorkommen, lässt sich aus ihnen allein bereits der Geschwindigkeitszustand des Kreisels als Funktion der Zeit berechnen. Nachdem man die p, q, r auf diese Art gefunden hat, liefern hinter- her die kinematischen Gleichungen

= sin $ sing + cos p —p, (2) sin $cosp sinp—q,

d d

5 cs# + var

die Eulerschen Winkel als Funktionen der Zeit. Aus den Gleichungen (1) folgen sofort die ersten Integrale: (3) Ap + BQ’ + Or’—h, (4) Ap+Bf+Or—h, deren Bedeutung aus Nr. 34a dieses Artikels bekannt ist. Nimmt man zu ihnen die Gleichung hinzu (5) "+ +r—ar, so lassen sich p, q, r durch o allein ausdrücken, und für & ergiebt sich aus den Zulerschen Gleichungen die Differentialgleichung: 1 d(o?)

(6) 3.4 = Via! 0°) (0, 0°) (m? @P);

hierin werden die positiv zu wählenden Konstanten ®,, @,, ©, durch

499) Die im Folgenden angegebenen Sätze rühren im Wesentlichen sämt- lich von L. Euler her; siehe besonders 'Theoria motus, Kap. 13. Für die ana- lytische Herleitung ge Poinsotschen Darstellung vgl. Ch. Briot, J. de math. (1) 7 (1842), p. 70.

84. Der einzelne starre Körper: Kräftefreier Kreisel. 615

die Gleichungen

Ri h(B+O—k! 1 BC h(C+ 4A)— k? (7) @,” Bug \ ann 2 a __hA+B—K 3 AB definiert.

2) Da nach (6) die Zeit ein elliptisches Integral erster Gattung mit der Variabeln ®® ist, wird man vor allem fragen, wann sich die Inte- gration durch elementare Funktionen ausführen lässt. Bekanntlich ist dazu notwendig und hinreichend, dass zwei der Konstanten ®,, @,, @; einander gleich werden, und das tritt nur ein, wenn entweder zwei der Hauptträgheitsmomente einander gleich sind, oder wenn A? einen der ausgezeichneten Werte Ah, Bh, Ch annimmt.

Ist in dem ersten Fall A=B=(, so liegt der vollständig er- ledigte Fall des Kugelkreisels vor. Ist ferner etwa A gleich B, aber verschieden von C, wobei A grösser oder kleiner als Ü sein kann, so hat man es mit einem symmetrischen Kreisel zu tun. Macht man die Axe des Impulsvektors zur &-Axe, so werden die Ewlerschen Gleichungen (1) in allgemeinster Weise erfüllt durch:

p= vsin d, sin(9, + ut), (8) g=vsind, cos (p, + ut), r=vcos», + u,

und aus den kinematischen Gleichungen (2) folgt alsdann: (9) Id, yaytrvi, y-ptut;

hierin bedeuten die Grössen mit dem Index Null Anfangswerte für t=0. Die Bewegung des Kreisels ist also, wie schon die synthe- tische Untersuchung ergeben hatte, eine reguläre Präzession. Die Konstante bedeutet die Winkelgeschwindigkeit, mit der sich dabei die Figurenaxe um die Axe des Impulsvektors dreht, oder die Prä- zessionsgeschwindigkeit; die Konstante u aber ist die Drehgeschwindig- keit, mit der sich der Kreisel um seine Figurenaxe dreht, seine Eigendrehung. Zwischen den Konstanten ®,, u, v liefert jetzt die analytische Behandlung die Relation:

(10) [Cu + (C A)v cos 9,]v sin 9, = 0; durch diese Gleichung wird aus der Gesamtheit der kinematisch mög-

lichen oo? Präzessionsbewegungen eine Klasse von 00? Bewegungen ausgeschieden, die man als kräftefreie Präzessionen bezeichnen könnte.

616 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Ist der Neigungswinkel der Figurenaxe 9, spitz, was man unbeschadet der Allgemeinheit annehmen darf, so hat man progressive oder retro- grade Präzession, je nachdem C kleiner oder grösser als A ausfällt. Endlich sind bei gegebenen 9, die Konstanten k und A aus den Gleichungen

(11) k=4Av, h= &(4 cos 8, + Csin? 9)»

zu entnehmen; diese ergeben sich, wenn man in den Gleichungen (4) und (3) für p, g, r die Werte aus (8) einsetzt, aber bei r für u die Relation (10) benutzt.

Von besonderer Wichtigkeit sind die Präzessionsbewegungen, bei denen die Öffnung des Präzessionskegels sehr klein und die Länge des Impulsvektors sehr groß ist. Bei den Verhältnissen, die in der Praxis vorliegen, wird nämlich der Impulsvektor durch die äußeren Störungen relativ wenig geändert, und infolgedessen behält der Prä- zessionskegel und der von der Figurenaxe bei der abgeänderten Be- wegung beschriebene Kegel auch nach der Störung eine sehr kleine Öffnung; der krüftefreie symmetrische Kreisel mit starker Eigendrehung besitzt-also eine Art von Stabilität der Bewegung. Eine Anwendung im Großen findet diese Stabilität bei den modernen Infanterie- und Artilleriewaffen, bei denen man durch den Drall der Läufe den Ge- schossen eine starke Drehung um die Figurenaxe beibringt; vgl.IV 18, Nr. 3g (C. Oranz). Auch bei dem Berichte über die Versuche, die L. Foucault zum Nachweise der Drehung der Erde angestellt hat, siehe Nr. 43d dieses Artikels, werden wir auf diese Erscheinung zurückkommen. e

In dem zweiten Fall, wo k? einem der ausgezeichneten Werte Ah, Bh, Ch gleich sein sollte, braucht man über die Hauptträgheitsmomente keine Voraussetzungen zu machen; diese sollen daher als ungleich angenommen werden, sodass der Kreisel unsymmetrisch ist.

Wegen der Ungleichheitsbedingungen, die zwischen den drei Haupt- trägheitsmomenten bestehen, lassen sich bei den Annahmen k?—= Ah und = Ch die Eulerschen Gleichungen nur durch g=r=0 und p=q=( erfüllen; man hat also permanente Drehungen um die be- treffenden Hauptaxen.

Ist aber k?—= Bh, so genügt es, dass am Anfange der Bewegung:

| _ , YVoe®B-Oo 2 ea en

ist, und der Quotient - behält alsdann diesen Wert für alle Zeiten. Die Polhodie liegt daher in der Ebene r,x 9,%2 = 0; diese Grens-

34. Der einzelne starre Körper: Kräftefreier Kreisel. 617

polhodie ist also eine Ellipse. Das hätte sich auch aus der syn- thetischen Betrachtung entnehmen lassen, die analytische Untersuchung liefert aber das neue Ergebnis, dass sich die Integration der Eulerschen Gleichungen mittels hyperbolischer Funktionen ausführen lässt, und zwar erhält man:

ERDE EEE.

P=5Y AA-O chnt —t)

k (13) ga=tztehnlt hd), en k B(A—B) 1 j Sn ) GA-O Ant —t) Hierin bedeutet n die Konstante

k 1/A—B)(B—O), B AO

der Zusammenhang zwischen den Vorzeichen der verschiedenen Quadrat- wurzeln ergiebt sich aus den Eulerschen Gleichungen °®). Lässt man in (13) die Zeit t wachsen, so nähern sich p und r der

Grenze Null, dagegen hat q zur Grenze + = die instantane Axe

nähert sich also im Körper mit der Zeit der Axe des mittleren Haupt- trägheitsmomentes. Da die £-Axe mit der Axe des Impulsvektors zu- sammenfällt, ist ferner:

Ap=kce =ksin®#sinp, (14) Bq=ko,=ksin®# cosp,

Or= ke =kco9,

woraus folgt, dass die instantane Axe im Raume sich der Impulsaxe nähert. Setzt man die Integrationskonstante i, von vorn herein gleich Unendlich, so erhält man die permanente Drehung um die mittlere Hauptaxe.

3) Damit sind die besonderen Fälle erledigt. Um in den. allge- meinen Falle aus der Gleichung (6) Schlüsse auf den Verlauf der Bewegung zu ziehen, verfuhr L. Euler so, dass er die Bewegung eines gewöhnlichen Kreispendels zu Hilfe nahm, bei dem die Zeit auch durch ein elliptisches Integral und zwar mit dem Ausschlagswinkel des Pendels als Variabeln ausgedrückt wird. Der Punkt des Vergleichs pendels macht auf seinem Kreise Umläufe oder vollführt Schwingungen,

500) Für diesen singulären Fall vgl. auch A. M. Legendre, Traite des fonctions elliptiques 1, Paris 1825, p. 382; L. Poinsot, Theorie nouvelle, Paris 1834 = J. de math. (1) 16 (1851), p. 299; E. J. Routh, Dynamik 2, p. 133; P. Appell, M&canique 2, p. 163.

618 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

je nachdem A(A B)p,’ grösser oder kleiner als C((B— C)r,: ist; im Falle der Gleichheit nähert er sich asymptotisch der Vertikalen. Hieraus erschliesst Euler, dass die instantane Axe im Körper einen Kegel in pe- riodischer Bewegung durchläuft, der die Axe des grössten oder des kleinsten Trägheitsmomentes in sich schliesst; im Falle der Gleichheit jener beiden Ausdrücke aber artet der Kegel in eine Ebene aus, die die mittlere Axe enthält (Grenzpolhodie der synthetischen Untersuchung), und es findet asymptotische Annäherung an diese statt. Wie man durch elementare Betrachtungen aus der Gleichung (6) herleiten kann, dass ® und damit auch p, q, r periodische Funktionen der Zeit sind, hat F. Minding gezeigt’'); vgl. auch Nr. 6, p. 467 dieses Artikels.

Die Integration der kinematischen Gleichungen (2) für den kräfte- freien Kreisel ist Euler nicht gelungen; sie ist erst von J. d’Alembert°®?) und J. L. Lagrange°”) auf ziemlich umständliche Art geleistet worden. Einfacher ist das Verfahren, das Lagrange später in der Mecanique analy- tique angewandt hat°%%). Wird nämlich die im Rauıne feste Impulsaxe zur £-Axe gemacht, so erhält man zunächst für die Komponenten des Impulses nach den im Körper festen Axen die Ausdrücke (14) und kann daher cos® und tg durch p,g, r darstellen, die ihrerseits periodische Funktionen der Zeit sind. Hieraus folgt, dass $ und p sich nach Ablauf einer Periode bis auf ein Vielfaches von 360° bzw. 180° reproduzieren ®®), Ferner aber ist nach den kinematischen Gleichungen (2):

dy psinp+tgcosp N 2 SEE sin $ ,

und diese Gleichung geht mit Hilfe von (3), (4) und (14) über in die Gleichung (15) a a Ne dem ih

Damit ist % durch eine Quadratur bestimmt. Die Gleichung (15) zeigt, dass sich die Länge der Knotenlinie beständig in demselben

501) Mechanik, p. 317.

502) Opuscules math. 4, Paris 1768, p. 1; 5, Paris 1768, p. 501.

503) Berlin Nouy. M&m. annde 1783 Oeuyres 3, p. 579; Mecanique, Aus- gabe von Bertrand 2, p. 222, 230.

504) Ausgabe von Bertrand 2, p. 229; vgl. auch $. D. Poisson, M&canique 1. ed. Paris 1811, 2, p. 145 und Cisa de Gresy, Torino Mem. 24 (1820), p. 495.

505) Der übliche Schluss, nach dem, wenn cos $ und tg p periodische Funk- tionen der Zeit sind, auch $ und selbst solche Funktionen sein müssen (siehe etwa P. Appell, Mecanique 2, p. 161) ist falsch; z. B. ist bei der regulären Prä- zession tgp=tgut eine periodische Funktion der Zeit, aber p= ut keine solche Funktion.

N

35. Der einzelne starre Körper: Schwerer symmetrischer Kreisel. 619

Sinne ändert und im Laufe einer Periode immer um denselben Betrag zu- oder abnimmt.

Zum Schluss dieser Nummer sei noch auf das Werk von @. Woro- nez, (Geometrische Untersuchungen über den Eulerschen Fall der Drehung eines starren Körpers um einen festen Punkt, Kijew 1898 (russisch), hingewiesen, das eine gute Übersicht über die betreffende neuere Litteratur giebt.

35. Schwerer symmetrischer Kreisel.

Ein symmetrischer Kreisel, d. h. ein starrer Körper, der sich um einen festen Punkt O dreht, und der kinetische Symmetrie für die Axe besitzt, die durch O und den Schwerpunkt 5 geht, heisst schwer, wenn auf ihn allein die Kraft der Schwere wirkt; ähnlich wie bei dem sogenannten schweren Punkt wird also durch den Zu- satz schwer nur die Tatsache bezeichnet, dass als äussere Kraft allein die Schwere in Betracht gezogen wird, während über die Grösse des Gewichtes des materiellen Punktes oder des Körpers nicht ausgesagt werden soll.

35a. Allgemeine Sätze über den Bewegungsverlauf. 1) Inte- gration der Differentialgleichungen der Bewegung mittels Quadraturen. Die Schwere wirke auf einen allgemeinen Kreisel, bei dem jedoch der Schwerpunkt $ nicht mit dem festen Punkt O0 zusammenfallen soll.

V. F

. Bash BE:

Fa

- , m fi /

Ry

\ |

Fig. 12. Fig. 13.

Die nach oben gerichtete Vertikale sei die £-Axe, die Gerade OS die z-Axe; diese braucht keine Hauptaxe zu sein. Die Koordinaten des Schwerpunktes sind dann 0, 0, z,; dabei sei 2, positiv. Als äussere Kraft liefert die Schwere ein in der &2-Ebene liegendes Kräftepaar, dessen vektorielles Moment M in die Knotenlinie fällt, und zwar ist der

620 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik,

Grösse und dem Sinne nach

(1) M—= Psin$, wo zur Abkürzung (2) tm, —=P

gesetzt ist; das obere oder untere Zeichen gilt, je nachdem S oberhalb oder unterhalb der horizontalen Ebene durch O liegt. Alsdann gilt der Satz von der lebendigen Kraft:

(3) 4(Ap?-+ BQ? + Cr? —2Dgr —2Erp—2Fpg)=— Pcos®-+h.

Da die Vertikalkomponente N von M gleich Null ist, behält ferner die Vertikalkomponente N, des Drehstosses D stets denselben Wert, und man hat, in der Bezeichnungsweise von 0. @.J. Jacobi, die „Integralgleichung“:

(4) (A— Er—- Fa +(B—Dr— Fp)a+(@— Dg— Ep)a—N..

Als J. L. Lagrange in der ersten Auflage seiner Mecanique ana- lytique diesen Ansatz machte, konnte er bei den genannten allgemeinen Annahmen kein drittes Integral finden; das gelang ihm vielmehr nur in dem besonderen Falle, dass die z-Axe Hauptaxe ist und A=B wird. Unter diesen Voraussetzungen ist nämlich, wie Lagrange er- kannte, auch die Komponente N, des Impulses nach der Figurenaxe, der sogenannte Eigenimpuls des Kreisels, konstant, also

(5) Or=N;

folglich hat die Kömponente r der instantanen Drehgeschwindigkeit w nach der Figurenaxe einen konstanten Wert, der mit r, bezeichnet werde. _

Die Integrale (4) und (5) ergeben sich für den schweren sym- metrischen Kreisel auch sofort, wenn man als Axen der «, y, z Haupt- axen wählt und die Lagrangeschen Differentialgleichungen in den Eulerschen Winkeln ansetzt. Dann wird:

(6) T—=44(#° + $°sin?9) + 40($ + %cos®)};

%y und p kommen in 7 nicht vor, sind also sogenannte cyklische Koordinaten’’®), Ferner wird der Ausdruck der elementaren Arbeit:

(7) oW—=Psin®#.09,

507*) Der Name cyklische Koordinaten stammt von H. von Helmholtz, Ber. Berlin 1884, p. 159; J. f. Math. 97 (1884), p. 111. Jedoch hatte schon vor ihm W. Thomson die Wichtigkeit des Umstandes erkannt, daß bei manchen dynami- schen Problemen in dem Ausdrucke der lebendigen Kraft gewisse Lagekoordi- naten fehlen. Genaueres darüber findet man in dem Artikel IV 11 (P. Stäckel).

35. Der einzelne starre Körper: Schwerer symmetrischer Kreisel. 621

und die Gleichungen für % und @ lauten daher: d oT d oT

er Tere Auf diese Weise erhält man die Gleichungen (4) (Asn#+Cco?d)b +Ccosd-9o=N,

(5) C(p+ 08:4) N, die den Gleichungen (4) und (5) äquivalent sind’).

In Verbindung mit den kinematischen Gleichungen (Nr. 28c, Gl. (5)) führen die Gleichungen (3), (4’), (5), die im Sinne ©. @. J. Jacobis „Integralgleichungen“ des Problems sind, zur Bestimmung der Euler- schen Winkel mittels Quadraturen. Man setze nämlich zur Abkürzung:

ar C —=b: ea

> 8h— Cr,? N, wur de

Ferner sei (9) c8F—=u. Dann gelten die Gleichungen:

(10) () = fu) = («— au) (1—w) (B—br,u)},

day _ _B— br,u (11) ra re u]

dp P—br,u, (12) Ben,

hierin sind a, b Materialkonstanten des Kreisels, dagegen «, ß, r, Inte- grationskonstanten, zu denen bei Ausführung der Quadraturen noch die Anfangswerte 9,, %,, 9, der Eulerschen Winkel zur Anfangszeit t—= 0 hinzutreten°").

2) Periodizitätseigenschaften der Bewegung. Um aus den Glei- chungen (10), (11), (12) die Eulerschen Winkel als Funktionen der Zeit darzustellen, braucht man die Theorie der elliptischen Funktionen, und es muss hierfür auf IV 13 (P. Stäckel) verwiesen werden. Man kann jedoch aus jenen Gleichungen mit elementaren Mitteln gewisse

508) J. L. Lagrange selbst hat diese Gleichungen nicht aufgestellt; man findet sie bei E. J. Routh, Dynamik 1, p. 363 sowie bei F. Klein und A. Sommer- feld, Theorie des Kreisels, p. 220.

509) J. L. Lagrange, M&canique analytique, 2. Aufl., Ausgabe von Bertrand 2, p. 233. Dieselben Formeln gab bald darauf $. D. Poisson, Journ. &c. polyt., cah. 16 (1813), p. 247; vgl. auch P. Appell, Mecanique 2, p. 188.

622 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Periodizitätseigenschaften der Bewegung erschliessen; vgl. Nr. 5, p. 476 dieses Artikels.

Die Gleichung (10) zeigt nämlich, dass u eine periodische Funktion der Zeit ist, die zwischen zwei extremen Werten hin und her geht, nämlich den beiden kleineren Wurzeln e und e’ der Gleichung f(u)= 0, welche immer zwischen 1 und + 1 liegen. Wird also auf der Figurenaxe in dem Abstande 1 von ein Punkt, die Kreiselspitze oder der Apex, markiert, so ist seine Bahn eine sphärische Kurve, die zwischen zwei Parallelkreisen der um O beschriebenen Einheits- kugel periodisch hin und her geht. Im allgemeinen berührt die Bahn diese Grenzkreise. Wenn der Schwerpunkt $ oberhalb des festen Punktes O liegt, können sich Spitzen nur auf dem oberen Kreise finden, und zwar treten sie auf, wenn 8 br,u für diesen Kreis

Fig. 14. Fig. 15. Fig. 16.

Fig. 14a. Fig. 15a. Fig. 16a.

verschwindet; diese Form der Bahn bildet den Übergang zwischen den Bahnen mit und ohne Schleifen, siehe die Figuren 14 bis 16919), Die darunter befindlichen Figuren 14a bis 16a zeigen die orthographi- schen Projektionen dieser Bahnen auf die Aquatorebene der Kugel. Wenn jedoch die Bahnen der Kreiselspitze zu beiden Seiten des Äquators liegen, würde die orthographische Projektion ihre Eigen-

510) A. @. Webster, Dynamics, p. 282; vgl. auch W. Hess, Math. Ann. 19 (1881), p. 121; P. Appell, Mecanique 2, p. 190 und .J. Hadamard, Bull. scienc. math. (2) 19 (1895), p. 228.

35. Der einzelne starre Körper: Schwerer symmetrischer Kreisel 623

tümlichkeiten verwischen, und es empfiehlt sich dann, die stereo- graphische Projektion auf die Äquatorebene von dem AR Punkte

der Kugel, also dem Südpole aus anzu- wenden. Die Figuren 17 bis 19, die als Beispiel für diese Verfahren dienen mögen, sind der Theorie des Kreisels von F\ Klein und A. Sommerfeld entnommen; bei den entsprechenden Bewegungen liegt der Schwerpunkt S unterhalb des Unter- stützungspunktes O0. Sehr viel vollkom- mener sind die stereoskopischen Bilder, die A. @. Greenhill und J. Dewar ver- öffentlicht haben °!).

Die Gleichungen (11) und (12) zeigen, dass während einer jeden Periode sich das Azimuth 9 um denselben Betrag ändert, während sich gleichzeitig die Knotenlinie um einen gewissen konstanten Winkel ge- dreht hat.

3) Beziehungen zwischen den Be- wegungen verschiedener symmetrischer Krei- sel; der Satz von @.Darboux. Man betrachte zwei symmetrische Kreisel; die zugehörigen Grössen sollen durch die Indizes 1 und 2 unterschieden, jedoch wenn sie ein- ander gleich sind, ohne Index gelassen werden. Es sei A, = A, = A, dagegen C, verschieden von (,; ferner sei P, —= P,=P. Die Bewegungen sollen beide zur Anfangszeit = 0 mit den- selben Werten ®,, %,, 9, der Eulerschen Winkel beginnen, und es soll auch der Anfangsimpuls derselbe sein. Mithin haben P,, 9, und 9,, 9, dieselben Anfangswetrte Po, 9, und zwischen den Konstanten r, und r, besteht die Relation:

(13) Gr = Gr.

——

Fig. 17.

Fig. 18.

Fig. 19.

511) London Math. Soc. Proc. 27 (1896), p. 587; Engineering 64 (1897),

p-. 311; Annals of math. (2) 5 (1904), p. 1, 67.

624 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Unter diesen Voraussetzungen folgt aus den Gleichungen (8), dass: a=4,=a, br =br, ae De ze ==, ist; mithin werden die Differentialgleichungen (10,) und (10,) für u, und “, identisch, und es werden daher %, und ®, dieselben Funktionen der Zeit. Dann aber gilt nach (11) dasselbe für die Längen der Knoten- linien y, und %,, und zwischen den Azimuten besteht nach (12) die Beziehung: (14) 91er t+ hr. Demnach bewegen sich die beiden Kreisel so, dass die Lagen ihrer Figurenaxen und ihrer Impulsvektoren immer übereinstimmen, während die Drehungen um die Figurenaxen sich nur um eine gleichförmige Drehung mit der Winkelgeschwindigkeit », r, unterscheiden. G. Darboux, dem man diesen Satz verdankt, hat ihn benutzt, um die Bewegung eines schweren symmetrischen Kreisels auf die Bewegung eines schweren Kugelkreisels zurückzuführen, bei dem der feste Punkt

von dem Schwerpunkte verschieden ist (exzentrischer Kugelkreisel).

ns zu setzen; die Gleichung (14)

Dazu braucht man nur r, gleich

geht alsdann in die Gleichung

(14) 91 =9n+ me {

über°'!?). Das ist eine wirkliche Vereinfachung, da bei dem Kugel- kreisel der Impulsvektor Ap, Ag, Ar stets dieselbe Richtung wie der Drehvektor p, q, r besitzt. Hieraus folgt zum” Beispiel, dass die Herpolhodie des schweren exzentrischen Kugelkreisels eine ebene Kurve ist; denn die Impulskurve, der sie ähnlich ist, liegt in der Ebene &=N,. Dagegen ist die Herpolhodie des allgemeinen schweren symmetrischen Kreisels eine sphärische Kurve.

4) Konjugierte Poinsotbewegungen,; der Satz von C. G. J. Jacobi. Zwischen den Bewegungen des unsymmetrischen kräftefreien Kreisels und des schweren symmetrischen Kreisels besteht eine verborgene Beziehung, die ©. G. J. Jacobi um 1850 entdeckt und ohne Beweis

512) @. Darboux, Paris C.R. 101 (1885), p. 11, 115; J. de math. (4) 1 (1886), p. 408; Note XIX zu der Möcanique von Ch. Despeyrous 2, p. 527; die Gleichung (14°) findet sich schon bei C. @. J. Jacobi, Werke 2, p. 495, der den Hilfswinkel p, einführte, um die Formeln für die Bewegung eines schweren symmetrischen Kreisels zu vereinfachen; die Deutung mittels des Kugelkreisels hat aber erst @. Darboux gefunden. Vgl. im übrigen auch F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, p. 231.

35. Der einzelne starre Körper: Schwerer symmetrischer Kreisel. 625

bekannt gegeben hat°!?), die aber erst genauer erforscht worden ist, nachdem E. Lottner 1882 Jacobis°“*) fragmentarische Aufzeichnungen aus dem Nachlass herausgegeben hatte.

Da bei dem schweren symmetrischen Kreiselr=r, ist, beschreibt der Endpunkt des Drehvektors w im Körper eine ebene Polhodie; von dieser Polhodie des schweren symmetrischen Kreisels aber läßt sich zeigen, daß sie eine Herpolhodie bei einem gewissen unsymme- trischen kräftefreien Kreisel oder kurz eine Poinsotsche Herpolhodie ist. Werden nämlich in der y-Ebene Polarkoordinaten r, x eingeführt, so erhält man für jene Polhodie die Differentialgleichung

(15) = _ HB-YYa enezeny® T V af =)

die genau die Form hat, welche für eine Poinsotsche Herpolhodie

charakteristisch ist; vgl. Nr. 34a, Gl. (3). Eine ähnliche Betrachtung

zeigt, dass sich auch die Herpolhodie des schweren exzentrischen Kugel-

kreisels, von der gerade auf der vorhergehender Seite die Rede war,

als Poinsotsche Herpolhodie auffassen lässt.

Zwischen den beiden Poinsotschen Herpolhodieen, die beim Kugel- kreisel auftreten, also der zugehörigen Polhodie und Herpolhodie, be- steht nun ein Zusammenhang, der sich mittels des von E. J. Routh ein- geführten Begriffes der konjugierten Poinsotbewegungen einfach be-

schreiben lässt. Bei der Bewegung eines unsymmetrischen kräftefreien Kreisels

513) Berlin Monatsber. 1850, p. 77.

514) Werke 2, p. 477, 493; Beweis von E. Lottner, p. 510. Weitere Litteratur: E. Padova, Torino Atti 19 (1884), p. 1007; Venezia Ist. Atti (7) 3 (1892), p. 847, G. H. Halphen, Paris C. R. 100 (1885), p. 1065; Traite des fonctions elliptiques; 2, Paris 1888, chap. 2 und 3; G. Darboux, Paris C. R. 101 (1885), p. 11, 115; J. de math. (4) 1 (1885), p. 403; Note XVII und XIX zu der Mecanique von Ch. Despeyrous 2, p. 511, 527; A. de Saint-Germain, Resum&d de la theorie du mouvement d'un corps solide autour d’un point fixe, Paris 1887; E. J. Routh, Quart. J. of math. 23 (1888), p. 34; Dynamik 2, p. 126, 150; W. Hess, Zeitschr. Math. Phys. 33 (1888), p. 292; A. Gottschalck, Diss. Münster 1893; A. C. Dixon, Quart. J. of math. 27 (1895), p. 362; R. Marcolongo, Ann. di mat. (2) 22 (1895), p. 157; Jornal de scienc. math. et astr. 13 (1896), p. 17; 14 (1900), p. 169, Ann. d. mat. (3) 7 (1902), p. 99; A. @. Greenhill, London Math. Soc. Proc. 26 (1895), p- 215; 27 (1896), p. 545; Annuaire des math. Paris 1902, p. 438; E. Jahnke, Paris C. R. 126 (1898), p. 1126; F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, Heft 2 (1898), p. 485; F. Kötter, Bemerkungen zu F. Kleins und A. Sommerfelds Buch über die Theorie des Kreisels, Berlin 1899; Berlin Math. Ges. Ber. 1 (1902) .p. 11; P. Appell, Me&canique 2, p. 218.

626 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

wird nämlich von den beiden Ovalen, die der Polhodiekegel aus dem Poinsotschen Ellipsoid ausschneidet, nur das eine vom Drehpol durch- laufen. Aber auch zu dem anderen Oval gehört eine Poinsotbewe- gung, bei der die Komponenten des Drehvektors

u 2 a Re

sind, und die zu der ersten Bewegung konjugiert heisst. Sie findet bei einem konjugierten kräftefreien Kreisel statt, dessen Hauptträgheits- momente A’, B’, C’ in bezug auf den festen Punkt den Gleichungen genügen:

(16) 4:B’:C’= A(B+C—A): B(C+A—B):C(A+B—C). Die lebendige Kraft A’ und der Impuls X werden bei dem konjugierten Kreisel durch die Gleichungen bestimmt:

17 AW—kK! Ah—k? Bh—k? Bh—k \ BODEN Eu RE

die durch cyklische Vertauschung daraus hervorgehende dritte Glei- chung ist eine Folge der beiden ersten. Die Gleichungen (16) und (17) bleiben bestehen, wenn man darin die Größen A’, B’, C’, W, k' mit den Größen A, B, C, h, k vertauscht; hierdurch wird das Bei- wort konjugiert gerechtfertigt.

Nunmehr gilt der Satz, dass bei geeigneter Bestimmung der Konstanten die Koordinaten der zu den beiden konjugierten Poinsot- bewegungen gehörigen Herpolhodieen zu jeder Zeit identisch sind mit den durch 2 bezw. + 2 dividierten Koordinaten der beiden Poinsot- schen Herpolhodieen des zugehörigen schweren symrhetrischen Kugel- kreisels. Definiert man als inverse Poinsotbewegung diejenige Bewe- gung, bei der man den Polhodiekegel im Raume festhält und den Herpol- hodiekegel auf ihm abrollen lässt, so lässt sich nunmehr der Satz von C. @. J. Jacobi in der vervollständigten Form aussprechen: Die Bewe- gung eines schweren exzentrischen Kugelkreisels ist identisch mit der relatı- ven Bewegung der zu zwei konjugierten Poinsotbewegungen gehörigen in- versen Bewegungen; beim allgemeinen schweren symmetrischen Kreisel hat man noch dem Satze von G. Darboux entsprechend eine gleichförmige Drehung um die Figurenaxe hinzuzufügen.

So merkwürdig dieser Satz ist, so wird es doch kaum möglich sein, sich von ihm aus etwa eine anschauliche Vorstellung von der Bahn der Kreiselspitze zu verschaffen, und wenn Jacobi sagt: „Le probleme de Lagrange est done ramene au probleme, qui desormais doit ätre considerE comme 6l&mentaire, de la rotation d’un corps suspendu par un point fixe et par le seul effet d’une impulsion

35. Der einzelne starre Körper: Schwerer symmetrischer Kreisel. 627

primitive“, so ist doch die Beziehung zwischen diesen beiden Pro- blemen keineswegs elementarer Art.

35b. Besondere Bewegungsfälle; reguläre und pseudoreguläre Präzession. 1) Einfache Bewegungsformen. Eine gleichförmige Drehung um eine im Raume und im Körper feste Axe kann nur stattfinden, wenn die Axe vertikal gestellt ist. Sie tritt aber auch bei jeder ge- gebenen Neigung #, der Figurenaxe ein, sobald man die Drehgeschwindig- keit © aus der Gleichung

P (18) 0? Re, bestimmt; dabei muss jedoch ein bestimmtes der beiden Enden der Drehaxe nach oben gerichtet werden5%). Für eine im Äquator ge- legene Drehaxe und beim Kugelkreisel für jede Drehaxe wird ® un- endlich; permanente Drehung ist dann physikalisch unmöglich.

Eine besondere Untersuchung erfordert der Fall 9,=0, der über- haupt eine gewisse Ausnahmestellung einnimmt; bei ihm bleibt ® ganz willkürlich. Da ein symmetrischer Kreisel von der Gestalt eines Umdrehungskörpers, der um die vertikal gestellte Figurenaxe rotiert, äusserlich von einem ruhenden Kreisel kaum zu unterscheiden ist, wird er auch ein schlafender Kreisel genannt?°!®) (sleeping top, towpie dormante; auch im Deutschen giebt es das Wort Toppich für Kreisel).

Der Kreisel kann sich auch um eine im Raume und im Körper feste Axe mit ungleichförmiger Geschwindigkeit drehen. Das geschieht dann und nur dann, wenn die Axe eine der auf der Figurenaxe senk- rechten Hauptaxen ist, die man horizontal gelegt hat. Bei einer solchen Bewegung muss N, —=0 sein, und die Neigung gehorcht daher der Differentialgleichung

(1) = ea) I—w) BR

d. h. der Kreisel schwingt wie ein physikalisches Pendel"). Dass der schwere symmetrische Kreisel reguläre Präzessionen ge- stattet, haben gewiß schon J. d’Alembert und L. Euler erkannt°"®),

515) Vgl. O. Staude, J. f. Math. 113 (1894), p. 334 sowie Nr. 86 dieses Artikels.

516) F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, p. 316 sprechen in diesem Fall von einem aufrechten Kreisel.

517) Vgl. B. K. Mlodzjejowskij, Moskau, Arbeiten der phys. Sektion der Kais. Russ. Ges. der Freunde der Naturkunde 7 (1894), Heft 1, p. 64 (russisch), so- wie Nr. 36 dieses Artikels.

518) Beide haben nämlich die Drehung der Erde um ihren Schwerpunkt untersucht, also eine Bewegung, die bei der Annäherung, mit der sie sich be-

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1, ı. 41

628 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

allein erst L. Poinsot ist genauer auf diese Bewegungsform eingegangen, bei der das von ihm benutzte Bild der rollenden Kegel besonders ein- fach und anschaulich ist‘!®). Er beginnt geradezu mit der Frage, wann bei einem symmetrischen Kreisel überhaupt Präzession um eine vertikale Axe stattfinden kann. Wie eine einfache Überlegung lehrt, liegt bei einer solchen Bewegung die horizontale Komponente des Impulsvektor in einer Axe, die auf der Knotenlinie senkrecht steht, und hat in der Bezeichnung von Nr. 28d dieses Artikels die konstante Grösse [Cu + (C— A) v cos 8,] sin $,.

Da nun die vertikale Komponente des Impulsvektors die konstante Grösse

Av sin ?3, + C (v cos d, + u) cos ®, hat und die Knotenlinie sich mit der Präzessionsgeschwindigkeit v um die Vertikale dreht, so erfährt der Impulsvektor ®D im Zeitelemente dt den vektoriellen Zuwachs

dD—= [Cu + (C+ A) v cos 9,] sin 9, - vdt.

Dieser infinitesimale Drehstoss muss dem Kreisel von aussen zugeführt werden, damit er die reguläre Präzession fortsetzt; der Vektor M muss daher der Grösse nach den konstanten Betrag

(19) [Cuv + (C— A)v? cos ,] sin 9,

haben und der Richtung nach in die Knotenlinie fallen.

Beim kräftefreien Kreisel, wo M = 0 ist, liefert die Poinsotsche Bedingung (19) genau die Relation Nr. 34, Gl. (10) zwischen den Präzessionskonstanten ®,, u, v. Beim schweren symmetrischen Kreisel ist die Bedingung für die Richtung des Vektors M von selbst erfüllt, während man aus der Bedingung (19) für seine Grösse die Relation

(20) P= (Cuv + (C— A) v? cos 9,

erhält; hierdurch werden wiederum oo? Präzessionen aus den kine- matisch möglichen o0° Präzessionen herausgehoben. Da aber beim Kreisel die Anfangswerte von p und y willkürlich sind, so gestattet der

schwere symmetrische Kreisel unter der Gesamtheit seiner 00° Bewegungen oo* reyuläre Präzessionen, und zwar um die Vertikale. Unter ihnen

gnügten, der regulären Präzession eines schweren symmetrischen Kreisels äqui- valent ist; vgl. den folgenden Abschnitt 2) dieser Nummer.

519) J. de math. (1)18 (1853), p.41: Theorie des cönes circulaires roulantes; wieder abgedruckt Connaissance des temps 1853; vgl. auch die Abhandlung L. Poinsots: Sur la pr&cession des &quinoxes, Connaissance des temps 1857.

35. Der einzelne starre Körper: Schwerer symmetrischer Kreisel. 629

sind auch die permanenten Drehungen enthalten; diese ergeben sich für u = 0. Aus der Gleichung (20) folgt:

Cu+YVC?’u?— 4(A—C)Pcos®$ (21) oo. "+7 er - a entweder gehören also zu gegebenen Werten der Neigung und der Drehgeschwindigkeit um die Figurenaxe zwei Werte der Präzessions- geschwindigkeit, oder es giebt keinen solchen Wert. Die beiden Werte von v sind sicher reell, wenn # hinreichend gross ist. Für grosse Werte von u sind sie näherungsweise

C P

(22) a re e vs 08: der Kreisel gestattet also für jedes von 90° verschiedene 9, eine schnelle und eine langsame Präzession. Die langsame Präzession ist die wich- tigere, da sie bei den tatsächlich vor sich gehenden Kreiselungen häufig beobachtet wird; diese beginnen allerdings zunächst mit einer sogenannten pseudoregulären Präzession (vgl. den folgenden Ab- schnitt 3) dieser Nummer); allein die zitternden Schwingungen dieser Bewegung werden bald abgedämpft (vergl. Nr. 20b, p. 525 dieses Artikels), und es entsteht so, wenn man von der sogenannten säku- laren Wirkung der Reibung absieht, eine reguläre Präzession.

Zu der regulären Präzession gelangt man auch von der Frage aus, wann sich die Differentialgleichung (10) mittels elementarer Funk- tionen integrieren lässt. Dazu ist notwendig und hinreichend, dass die Gleichung f(u) = 0 eine Doppelwurzel besitzt, und jetzt tritt eine Scheidung der Wertsysteme a, r,b, «, ß in zwei wesentlich verschiedene Arten ein. Im Folgenden wird angenommen, dass P positiv sei; der Fall, dass es negativ ist, lässt sich leicht auf den des positiven P zu- rückführen. Dann giebt es stets zwei Präzessionen, wenn N,” grösser als 2AP(1-e) ist; e bedeutet wieder die kleinste Wurzel der Gleichung f(u) =0. Ist aber N,? kleiner als 2A P(1-+e), so giebt es zwei Präzessionen oder keine, je nachdem N,? grösser oder kleiner als 4A Pe ist. Da der erste Fall bei starkem Eigenimpulse N, des Kreisels eintritt, nennt F. Klein bei ihm den Kreisel einen starken Kreisel und spricht in dem zweiten Fall von einem schwachen Kreisel; die Eigenschaft, stark oder schwach zu sein, wird nicht dem Kreisel sondern seinem Bewegungszustande beigelegt, es kann also ein und derselbe Kreisel je nach den Anfangsbedingungen der Bewegung stark

oder schwach sein ’°?P).

520) Theorie des Kreisels, p. 249. 41*

630 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

2) Anwendung auf die angenäherte Berechnung der Drehung der Erde um ihren Schwerpunkt. Bei der Untersuchung der Drehung der Erde um ihren Schwerpunkt hat man diese zunächst in starker Idea- lisierung als einen starren Riesenkreisel aufgefasst, bei dem der feste Punkt der Schwerpunkt und die Verbindungsgerade des Nordpoles mit dem Südpol die Figurenaxe ist. Alsdann ist näherungsweise A= B, und es verhält sich C zu A ungefähr wie 305 zu 304. Wird als Einheit der Zeit der Tag genommen, so bewegt sich die Erde in regulärer Präzession um die Normale zur Ekliptik, und zwar ist, wenn man den Wert von ®, nimmt, der im Jahre 1905 galt:

2” 9, 2328, yo2n, v—— sn Werden diese Werte von #, und u in die Relation Nr. 34, Gl. (10) zwischen den Präzessionskonstanten des kräftefreien symmetrischen Kreisels eingesetzt, so ergiebt sich für die Präzessionsgeschwindigkeit v der Wert 382.2; mithin ist die tatsächliche Präzession der Erde keine freie, sondern eine erzwungene Präzession. In der Tat wird sie durch die anziehenden Kräfte hervorgerufen, die die anderen Welt- körper, vor allem Sonne und Mond, auf das Erdellipsoid ausüben. Diese Anziehungen liefern in erster Annäherung ein konstantes Dreh- moment, dessen Vektor M in der Schnittlinie der Ekliptik mit dem Erd- äquator, also in der Knotenlinie liegt; es wirkt, von der Seite aus gesehen, wo die Knotenlinie das Frühlings- en trägt, um die Axe im entgegengesetzten Sinn des Uhrzeigers, also ebenso, wie die Schwere bei einem Kreisel, dessen Unterstützungspunkt ea des Schwerpunktes liegt. Bezeichnen ms die Masse der Sonne, m; die Masse des Mondes, rs den mittleren Abstand der Sonne von der Erde, r, dasselbe für den Mond, y die Neigung der Mondbahn gegen die Ekliptik, die im Mittel beträgt, so ist, da die übrigen Himmels- körper zu M nur einen sehr kleinen Beitrag liefern, näherungsweise:

Mg

1 5 (C— 4) sin 8, cos 9, 7 re FU, —- sin? |

Wird dieser Wert statt P sin ®, in die Gleichung (20) eingesetzt, so findet man eine langsame Präzession von rund 50 Sekunden im Jahre, von denen etwa 16 auf die Wirkung der Sonne, 34 auf die Wirkung des Mondes kommen, was mit den Beobachtungen befriedigend stimmt. Die Astronomen sehen übrigens in der Gleichung (20):

P=C(uv+(C— A)? cos®,

35. Der einzelne starre Körper: Schwerer symmetrischer Kreisel. 631

nicht v, sondern —z als Unbekannte an, weil man diesen sonst

schwer zugänglichen Quotienten hieraus am genauesten bestimmen kann °?"),

Da die Mondbahn gegen die Ebene der Ekliptik geneigt ist und ihre Knotenlinie sich in rund 18,7 Jahren einmal um die Normale der Ekliptik dreht, so kommen zu der erzwungenen regulären Prä- zession der Erdaxe noch gewisse erzwungene Schwingungen hinzu, die man als Nutationen bezeichnet; sie lassen sich so beschreiben, dass der Pol des Erdäquators in rund 18,7 Jahren relativ zu der Prä- zession eine Ellipse mit den Halbmessern 9,2 und 6,9 Bogensekunden durchläuft 522).

3) Kleine Schwingungen um einfache Bewegungsformen. Wenn man bei gegebenen Anfangsbedingungen die Lagekoordinaten q,,...,9;, eines Systems aus den Lagrangeschen Differentialgleichungen als Funk- tionen der Zeit f}(£), .- ., f,(t) ermittelt hat, wird man nach den be- nachbarten Bewegungen fragen, d. h. nach den Bewegungen, bei denen

y=ehW+tE,-:,» ehdt+tE

ist, wo die &,,...,&, kleine Grössen bedeuten sollen; nach E. J. Routh nennt man diese Bewegungen auch kleine Schwingungen um jene Be- wegung. Die Methode zu der Bestimmung der kleinen Schwingungen um eine Bewegung ist der Methode zur Bestimmung der kleinen Schwin- gungen um eine Gleichgewichtslage ganz analog; vgl. Nr. 9, p. 484 dieses Artikels. Im allgemeinen ergeben sich bei den üblichen Ver- nachlässigungen für die &,,..., &, wieder lineare Differentialgleichungen zweiter Ordnung, bei denen jedoch jetzt die Koeffizienten von der Zeit

521) Vgl. VIı3, Nr. 58d (P. Pizzetti).

522) Bei der Darstellung im Texte handelt es sich, wie schon hervor- gehoben wurde, nur um eine erste Näherung. Die Astronomen haben, um die Bewegung der Erde um ihren Schwerpunkt befriedigend zu beschreiben, Formeln mit sehr vielen Gliedern aufstellen müssen. In diesen Formeln wird auch die sehr kleine freie Präzession der Erde berücksichtigt, die schon L. Euler ver- mutet hatte, die aber erst am Ende des 19. Jahrhunderts mit Sicherheit durch astronomische Beobachtungen festgestellt worden ist. Genaueres über alle diese Fragen, bei denen auch die Elastizität des Erdkörpers und die auf seiner Ober- Bäche stattfindenden meteorologischen Vorgänge berücksichtigt werden müssen, findet man in dem Artikel VI222 (K. Schwarzschild); im übrigen vergleiche man etwa P. S. Laplace, Traite de mecanique celeste 5, Paris 1825, p. 273; F. Tisserand Trait& de me6canique celeste 2, Paris 1890, p. 442; F. Klein und A. Sommerfeld. Theorie des Kreisels, Kap. VIII. Von Interesse sind auch die Modelle für Prä- zessionsbewegungen, vgl. etwa K. Haas, Progr. d. Staats-Real- und Obergymnasiums Wien VI, 1894,

632 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

abhängen und in denen noch sogenannte gyroskopische Terme auf- treten; vgl. Nr.20, p.516 dieses Artikels. Nach E. J. Routh heisst die Bewegung {f;(t),...,f,(Ü)} stationär, wenn es sich ereignet, dass die Koeffizienten der linearen Differentialgleichungen bei geeigneter Wahl der Lagekoordinaten von der Zeit unabhängig sind; aus diesen Glei- chungen erhält man dann immer dieselben Schwingungen, zu welcher Zeit auch die Bewegung gestört wird.

Die Frage nach den stationären Bewegungen des schweren sym- ınetrischen Kreisels führt wiederum zu den regulären Präzessionen; denn die Koordinaten y und sind zyklisch’’®), die Neigung # aber ist bei der regulären Präzession konstant°?®). Die Bewegungen, die einer regulären Präzession benachbart sind, heissen pseudoreguläre Präzessionen’°*), weil sie meistens für das unbewaffnete Auge von der regulären Präzession gar nicht zu unterscheiden sind.

Zu einem häufig vorkommenden, besonderen Fall der pseudo- regulären Präzession gelangt man folgendermassen. Man versetze einen Kreisel bei festgehaltener Figurenaxe durch Abziehen einer umge- wickelten Schnur in starke Drehung um die Figurenaxe, stelle diese Axe schief und überlasse jetzt den Kreisel allein der Wirkung der Schwere. Alsdann scheint die Figurenaxe um die Vertikale einen Kreiskegel mit gleichförmiger Geschwindigkeit zu beschreiben. Eine solche langsame Präzession widerspricht jedoch der Anfangsbedingung, dass J, 0 sein soll, denn bei ihr ist % gleich der von Null verschiedenen, kon- stanten Präzessionsgeschwindigkeit v. Sie widerspricht auch dem Gesetz von der Erhaltung der Energie; denn wie soll die Schwere eine Bewegung hervorrufen, bei der sich die Punkte’ der Figurenaxe in horizontalen Kreisen senkrecht zur Richtung der Schwere bewegen, so dass die Schwere gar keine Arbeit leisten kann?

Bereits 1813 hat $. D. Poisson die Lösung dieses Rätsels ge- geben°'®). Er fragte nämlich, ob der schwere symmetrische Kreisel Bewegungen ausführen könne, bei denen die Neigung ® nahezu den konstanten Wert #, behält, und gelangte unter der Voraussetzung, dass 9, von Null verschieden und die Drehgeschwindigkeit des Kreisels um seine Figurenaxe sehr gross sei, zu der folgenden angenäherten Darstellung einer solchen Bewegung. Da der Eigenimpuls N, = Cr, sehr gross ist, sollen nur Glieder bis zu der Ordnung von 1/N,?

523) E. J. Routh, Dynamik 2, p. 151. 524) F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, Kap. V.

525) Journ. &c. polyt., cah. 16 (1813), p. 247; M6canique, 2. &d, Paris 1833, 8 p. 177.

35. Der einzelne starre Körper: Schwerer symmetrischer Kreisel. 633

beibehalten werden. Wird noch zur‘ Abkürzung

(23) er N! zu 1 gesetzt, so ist: 98 9, + sin 9, 8? sin &, cos At, (24) W-utrt- sin Dit, 1 P=Mtritt 0088, %.

Mithin geht die Neigung der Figurenaxe periodisch zwischen den Werten ®, und 9, + 2? sin #, hin und her, die einander sehr nahe liegen. Dabei dreht sich die Axe im Mittel mit der langsamen

Präzessionsgeschwindigkeit v z um die Vertikale, und zwar pro- 1

gressiv oder retrograd, je nachdem der Schwerpunkt oberhalb oder unterhalb der horizontalen Ebene durch den festen Punkt liegt.

Um die Bewegung deutlicher zu veranschaulichen, führe man nach V. Puiseux’?) eine Hilfsaxe ein, deren Stellung durch die Glei- chungen

9—9,+6°sin®,, v-htrt

definiert ist. Dann vollführt die Hilfsaxe eine reguläre Präzession, und der Hilfsapex, der auf ihr im Abstande Eins von O liegt, beschreibt auf der Einheitskugel um O einen Parallelkreis; der wahre Apex aber durchläuft relativ zu dem Hilfsapex einen kleinen Kreis vom Halbmesser Ö?, seine Bahn auf der Kugel ist also eine sphärische Zykloide, deren Spitzen auf dem Parallel- kreise 9, aufsitzen; siehe die Figur 20, bei der die kleinen Wellen der Zykloide stark vergrössert sind. Die Geschwindigkeit des wahren Apex auf der Kugel- fläche ist der Größe nach

s > in in 27 sın 9, N pr t,

der Richtung nach aber wird sie durch den Winkel y mit dem Meridian bestimmt der aus der Gleichung

N, gr—tg;z!

zu entnehmen ist. Folglich ist die Geschwindigkeit des Apex für

526) Nach Ph. Gilbert, Me&canique, p. 318, hat V. Puiseux diese Darstellung in Vorlesungen Paris 1855 gegeben.

634 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

{= (0) und weiterhin nach Ablauf jeder Periode gleich Null; zu

diesen Zeiten bewegt sich der Apex immer senkrecht zum Parallel- kreise $—= #,, wobei also die Schwere zu unmittelbarer Wirkung kommt.

Wenn beim Anfange der Bewegung ein kleiner seitlicher Anstoss zugelassen wird, so ist die Bahn des Apex scheinbar wieder ein Parallelkreis, in Wahrheit aber bewegt sich dieser relativ zu einer regulären Präzessionsbewegung so, dass seine Bahn von einem Punkte in der Nähe jenes auf dem Parallelkreise rollenden Kreises erzeugt wird; je nachdem der Punkt innerhalb oder ausserhalb des Kreises liegt, erhält man eine verkürzte oder verlängerte sphürische Zykloide (Trochoide)5?”). A. @. Webster hat die Bahnen sichtbar gemacht, indem

a 2 a

Fig. 21a Fig. 21b.

er an der Kreiselspitze eine winzig kleine elektrische Lampe anbrachte. Die Figuren 21a, b, c sind einige von ihm aufgenommene Photogra- phien?2®); sie lassen den Einfluss von Zufälligkeiten bei der Reibung

deutlich erkennen Aus dem Vorstehenden erhellt, Fig. 21c. dass die pseudoreguläre Präzession eine ziemlich verwickelte Art der Bewegung ist, und so kommt es, dass die zahlreichen Versuche, sie und eine Reihe ähnlicher Erscheinungen (vgl. Nr. 43 dieses Artikels) dem anschaulichen Verständnisse näher zu bringen, teils ganz ver- fehlt, teils mit mehr oder weniger erheblichen Mängeln behaftet sind. Ganz verfehlt ist es, wenn man die pseudoreguläre Präzession als reguläre Präzession auffasst und als solche erklären will. Wenn nämlich auch die Punkte der Bahnkurve des Apex mit sehr grosser Annäherung in einem Parallelkreise liegen, so sind doch ihre Tan- genten wesentlich von den Tangenten dieses Kreises verschieden, mit denen sie Winkel bis zu einem Rechten bilden; man hat hier ein schönes Beispiel für den Übergang von einer Kurve zu einer benach- barten Kurve, den man in der Variationsrechnung als starke Variation bezeichnet; vgl. IIA 8, Nr. 19 (A. Kneser) und IIA 8a, Nr. 2 (E. Zer-

melo und H. Hahn).

527) F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, Kap. V, $ 2. 628) Dynamics, p. 288; vergl. auch E. Merrit, Am. Phys. Review 1897.

35. Der einzelne starre Körper: Schwerer symmetrischer Kreisel. 635

Ein Teil der Autoren begnügt sich damit, die betreffenden Phä- nomene, wie sie dem unbewaffneten Auge erscheinen, möglichst ein- fach zu beschreiben. Als sehr nützlich bewährt sich hierbei die von L. Foucault angegebene Regel, dass ein in rascher Drehung befindlicher Körper, dem von aussen ein Drehmoment um eine Axe zugeführt wird, sich so bewegt, als ob die Axe der Drehung und die Axe des Momentes das Bestreben hätten, sich in gleichsinnigen Parallelismus zu stellen°??). Diese Regel führt allerdings bei vielen Erscheinungen zu einer rich- tigen qualitativen Darstellung der Vorgänge; es wäre jedoch verkehrt, wenn man ihr den Rang eines mechanischen Axioms erteilen wollte.

Endlich beruhen bei anderen Autoren die angeblichen Erklärungen auf Verwechslungen zwischen Figurenaxe, Drehaxe und Impulsaxe; diese liegen zwar bei den betrachteten Bewegungen im Raume nahe zusammen, sind aber doch begrifflich zu trennen; sogar bei H.v. Helm- holtz findet sich diese Verwechslung °®).

Für alle diese populären Erklärungen möge noch auf den Bericht verwiesen werden, den F. Klein und A. Sommerfeld in ihrer Theorie des Kreisels, Kap. V, $3 gegeben haben; dort stehen auch zahlreiche Litteraturangaben.

4) Der im Vorhergehenden ausdrücklich ausgeschlossene Fall, dass 8,0 ist, dass man es also mit einem schlafenden Kreisel zu tun hat, bedarf einer besonderen Untersuchung. Projiziert man die Kreisel- spitze auf die Äquatorebene und lässt nur solche Störungen zu, bei denen die Winkelgeschwindigkeit um die Figurenaxe erhalten bleibt, so ergeben sich bei den Vernachlässigungen, die in der Methode der kleinen Schwingungen üblich sind, für die Koordinaten r, y die linearen Differentialgleichungen:

(25) Ai—Nö=Pr, A)+ Ni Py.

Die Glieder N,), + N,£ sind hier die sogenannten gyroskopischen Terme (vergl. Nr. 20 b, p. 526 dieses Artikels); sie fallen weg, wenn r,—=0 ist, und entsprechen daher in der Tat dem Einfluss, den die Gyration des Kreisels auf die kleinen Schwingungen ausübt.

529) L. Foucault, Sur la tendance des rotations au parall&lisme, Paris C. R. 35 (1852), p. 734; vgl. jedoch schon J. @. Fr. Bohnenberger, Ann. Phys. 60 (1817), p. 60. Siehe ferner @. Sire, Paris C. R. 88 (1879), p. 23; A. Levy, Rev. d’astron. 5 (1886), p. 445, E. Guyou, Paris C. R. 106 (1888), p. 1143, A. M. Wor- thington, Dynamics of rotation, 1. ed. London 1891, 6. ed. 1906, sowie den unter- haltenden Vortrag von J. Perry, Spinning tops, London 1890, deutsch von A. Walzel: Drehkreisel, Leipzig 1904,

530) H. v. Helmholtz, Dynamik, p. 327; vgl. auch H. Grassmann, Zeitschr. Math. Phys. 48 (1903), p. 373.

636 . IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Bei der Integration der Gleichungen (25) sind drei Fälle zu unterscheiden:

1) M'>4AP,

r=1cos,z =. sin nz y—-—1sin Sit. m Gen 2) N < AAR,

L—1cos Zt. sh ee y=-—ı ein ut. oh VAPINS 5, 3) N?—=4AP, -Meostit, y-—Atsin tut.

Dabei bedeutet A einen willkürlichen Proportionalitätsfaktor.

Man hat aus diesen Gleichungen vielfach geschlossen, dass nur in dem Falle 1) die Kreiselspitze in der Nähe des Nord- oder Südpols bleibt, dagegen in den Fällen 2) und 3) sich im Laufe der Zeit immer mehr davon entfernt; in Wahrheit aber liegt hier ein lehrreiches Beispiel dafür vor, wie gefährlich es ist, Vernachlässigungen vorzunehmen, wenn man nicht angeben kann, in welchen Grenzen die dadurch entstehenden Fehler liegen. Die Formeln ergeben allerdings in dem Falle 1) ein angenähert richtiges Bild der Bahn zu beliebiger Zeit, in den Fällen 2) und 3) aber tun sie das nur, so lange £ klein bleibt, und die Be- wegung setzt sich später, nach den Sätzen des ersten Abschnittes, als periodisches Pendeln zwischen zwei Parallelkreisen fort, genau ebenso wie im Falle 1); bei allen diesen Bewegun- gen ist der obere Parallelkreis in einen Punkt, den Nordpol, ausgeartet (Fig.22). Die genauere Untersuchung zeigt jedoch folgen- den Umstand. Während beim starken Kreisel der untere Parallelkreis, wenn man die Störung verkleinert, dem Pole unbeschränkt näher kommt, findet beim schwachen Krei- sel eine unstetige Änderung in der Lage

Fig. 22. dieses Kreises statt; der untere Parallelkreis

springt bei der geringsten Störung sogleich

vom Pol, auf den er sich ursprünglich reduzierte, in einen Kreis von endlicher Ausdehnung über. Man wird daher nach der üblichen Er- klärung beim starken Kreisel die Drehung um die Vertikale stabil, beim schwachen labil zu nennen haben. Praktisch kann freilich die labile Bewegung mit einer stabilen gleichwertig sein, wenn nämlich jener

35. Der einzelne starre Körper: Schwerer symmetrischer Kreisel. 637

Kreis von endlicher Ausdehnung selbst sehr klein ist, und ebenso wird die stabile Bewegung praktisch labil sein, wenn der Halbmesser des unteren Kreises mit wachsender Grösse der Störung rasch zunimmt°®!).

5) Einfluss der Reibung. Um zu bewirken, dass ein starrer Körper, der in bezug auf eine durch den Schwerpunkt gehende Axe, die Figurenaxe, kinetische Symmetrie besitzt, sich um einen Punkt O dieser Axe dreht, hat man Vorrichtungen verschiedener Art angewandt. Wie man aber auch verfahren mag, so gelingt es doch immer nur an- genähert die Voraussetzungen zu erfüllen, unter denen man es mit einem idealen schweren symmetrischen Kreisel zu tun hat. Bei der Cardanischen Aufhängung hat man zum Beispiel im Grunde ein mehr- gliedriges System starrer Körper, und nur wenn die Massen der Ringe sehr klein gegen die Masse des Kreiselkörpers sind, darf man das System mit Annäherung durch einen symmetrischen Kreisel ersetzen; aber auch dann wird die Bewegung durch die Reibung gestört, die in den Lagern stattfindet. Wird aber die unveränderliche Lage eines Punktes O der Figurenaxe dadurch gesichert (Fig. 23), daß diese Axe unten in eine kleine Halbkugel ausläuft, die in einer Pfanne von der Gestali eines flachen Kreiskegels läuft, so findet wiederum an den Berührungsstellen Reibung statt.

Wenn man sich bei den Versuchen auf kleine Zeiträume beschränkt, so wird die wirk- liche Bewegung des schweren symmetrischen Kreisels von der idealen nur wenig abweichen. Allein im Laufe der Zeit wirkt die Reibung zunächst in der Weise, dass die kleinen Schwin- gungen bei der pseudoregulären Präzession ausgelöscht werden, so- dass die Bewegung sich einer regulären Präzession nähert. Alsdann beginnt die sogenannte säkulare Wirkung der Reibung, und es machen sich auch andere störende Kräfte immer stärker geltend. Eine Untersuchung des gesamten Bewegungsverlaufes unter Berück- sichtigung der gleitenden und bohrenden Reibung, des Luftwider-

631) F. Klein, Am. Math. Soc. Bull. (2) 3 (1897), p. 129 = Nouv. ann. (8) 16 (1897), p. 323; F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, Kap. V, 84,88.

638 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

standes, der Elastizität des Kreiselmaterials und der Unterlage kann freilich nur unter Beschränkung auf eine qualitative Diskussion in Angriff genommen werden °®?). Es ergiebt sich, dass die gleitende Reibung die Figurenaxe langsam aufrichtet, während die bohrende Reibung sie umgekehrt aus der Vertikalen zu entfernen sucht. So lange die Neigung der Figurenaxe beträchtlich ist, überwiegt die gleitende Reibung; ist aber die Axe nahezu vertikal geworden, so wird die senkende Wirkung der bohrenden Reibung sehr klein, und diese verzehrt im wesentlichen, wie die gleitende Reibung, nur die Energie der Drehung des Kreisels. Liegt der Unterstützungspunkt O oberhalb des Schwerpunktes S, so wird die Bewegung schliesslich in- stabil, und der Kreisel fällt um.

Fig. 24.

Zahlreich sind die Versuche, für die Zwecke des Unterrichts das Aufrichten der Kreiselaxe in einfacher Weise zu erklären. Der Natur der Sache nach konnten diese Versuche nur mit begrenztem Erfolge gelingen, und wenn bei einigen von der Reibung abgesehen wird, sind sie von vorn herein als missglückt zu bezeichnen°®?).

532) F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, Kap. VII; vgl. auch die in der Anmerkung 560 angeführte Litteratur.

533) Eine Erklärung ohne Berücksichtigung der Reibung giebt z. B. H. B. Lübsen, Mechanik 2, p. 52. Aus der umfangreichen Litteratur seien hier nur genannt die kritischen Abhandlungen von Ph. Gilbert, Bruxelles Soc. scientif. Ann. 2B (1878), p. 255 und M. Koppe, Zeitschr. phys. chem. Unterr. 4 (1890), p. 70; 7 (1894), p. 186; 9 (1896), p. 127 Vgl. auch Nr. 85b 3) dieses Artikels; in Nr. 43d wird über den schweren symmetrischen Kreisel mit zwei Freiheits- graden und das bei ihm streng geltende Prinzip von dem homologen Paralle- lismus der Drehaxen berichtet werden.

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36. Der einzelne starre Körper: Schwerer unsymmetrischer Kreisel. 639

6) Anhangsweise soll hier noch über einen Kreiselapparat be- richtet werden, bei dem die Reibung eine entscheidende Bedeutung hat, nämlich über den sogenannten perimetrischen Kreisel von @. Sire; siehe Fig. 24. Der symmetrische Kreisel besteht hier aus einem dünnen zylindrischen Stabe, der die Figurenaxe darstellt und einem daran befestigten glockenförmigen Kreiselkörper; der Schwerpunkt liegt unterhalb des festen Punktes. Ferner ist eine im Raume feste horizon- tale Scheibe angebracht, die mit einem Rande beliebiger Gestalt ver- sehen ist. Wird jetzt der Kreisel in starke Drehung versetzt und die Figurenaxe an den Rand der Scheibe gelegt, so wird sie bei der gewählten experimentellen Anordnung vermöge der Reibung auf der Randkurve rollen und allen Krümmungen der Kurve folgen, wenn diese nicht zu scharf sind; indem man den Druck bestimmt, den der Kreisel an dem Rande erfährt, ergiebt sich, ob und wann die Axe den Rand verlässt °*%).

36. Schwerer unsymmetrischer Kreisel. Dreht sich ein belie- biger schwerer starrer Körper vom Gewichte G um den festen Punkt O, und werden die Koordinaten seines Schwerpunktes in Bezug auf das im Körper feste System der x, y, z (das von den Hauptaxen in O gebildet werden möge) mit %,, Yo, 2, bezeichnet, so lauten die zuge- hörigen Eulerschen Gleichungen:

d 4A Pa (B— C)gr = 6 (9% 65),

d (1) B n— (0 A)rp = 6 (&6, 2901),

dr C ns (A— B)pg = 6 (ycı %6);

dabei sind c,, 6, c, die Richtungscosinus der nach oben gerichteten Vertikalen. Bei den Gleichungen (1) kennt man von vornherein die beiden ersten Integrale:

(2) 3(Ap?+ B?+ Or) = G(ma+ Ya + 206%) + h, (8) Acp+Boq+lar=k, mit den Integrationskonstanten kA und k; (2) ist das Integral der

534) G@. Sire, M&m. de la soc. d’&mulation du Doubs, 1861; A. H. Resal, Trait6 de cinematique pure, Paris 1862, p. 363; D. Bobylew, Soc. frang. de phys. Seances 1884, p. 134; Analytische Mechanik 2 (1888), p. 656 (russisch); Moskau, Arbeiten der phys. Sektion d. Kais. Russ. Ges. der Freunde der Naturkunde 11 (1901), Heft 1, p. 11 (russisch); Zeitschr. Math. Phys. 47 (1902), p. 354. Einen Apparat verwandter Art hat auch N. Joukowski konstruiert, Verhandl. des I. intern. Math. Kongress Zürich 1897, Leipzig 1898, p. 272.

640 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

lebendigen Kraft und (3) der Satz von der Erhaltung der Flächen in bezug auf die Vertikale oder, anders ausgedrückt, von der Konstanz der Vertikalkomponente des Impulsvektors. Wenn sich noch ein drittes erstes Integral ermitteln lässt, so kann man die Komponenten der instantanen Drehung p, q, r durch die Eulerschen Winkel aus- drücken, kennt also den Drehungszustand des Körpers, sobald man dessen Lage als gegeben betrachtet. Um die Lage des Körpers als Funk- tion der Zeit zu ermitteln und damit das Problem vollständig zu er- ledigen, hat man die Werte von p, q, r in die kinematischen Gleichungen

3 r d d p=sinssinp + cos p SE ; du i ds (4) q=sindcosp „„ np > dv dp r=cad® + 7%

einzusetzen und diese Differentialgleichungen erster Ordnung für 9, %, p zu integrieren. Nun folgt aber aus den beiden ersten kinematischen Gleichungen:

r dy psinp-+gcosuw (8) = -

dt sin $ ?

mithin ist die Länge der Knotenlinie durch eine Quadratur bestimmt, sobald man 9, q; 9, p als Funktionen der Zeit kennt. Beachtet man jetzt, dass die Koordinate » in den Ausdrücken für die Richtungs- cosinus C,, €y, C, nicht auftritt und dass daher Yy auch in den Euler- schen Gleichungen (1) nicht vorkommt, so erkennt man, dass die Integration des Systems der sechs Differentialgleichungen (1) und (4) geleistet ist, sobald man aus den Gleichungen (1) und den Poisson- schen Gleichungen (vgl. Nr. 28c):

ee,

ze d (6) | en =, —r0, dc, Ga Panel hin aa |

P,9,r; 9, p als Funktionen der Zeit bestimmt hat; man kann die Gleichungen (1) und (6) auch als Differentialgleichungen für die sechs Funktionen p, q,r; c,, (4, c, auffassen, bei denen in dem ersten Integral:

(7) +0°+ = const. die Konstante den Wert Eins haben soll.

Wie in Nr. 35a 1) dieses Artikels angegeben wurde, hat sich bereits J. L. Lagrange 1788 mit der Frage nach einem dritten ersten

36. Der einzelne starre Körper: Schwerer unsymmetrischer Kreisel. 641

Integral der Gleichungen (1) beschäftigt und dabei dem Eulerschen Fall der kräftefreien Bewegung (Nr. 34) einen neuen Fall, den be- reits ausführlich behandelten Fall des schweren symmetrischen Kreisels (Nr.35), hinzugefügt. Bei den späteren Untersuchungen über das dritte Integral ist die Auffassung von L. Poinsot massgebend gewesen, dass man in der Dynamik bei schwierigeren Problemen darauf ausgehen solle, besondere Fälle zu finden, in denen sich die Untersuchung mittels elementarer Funktionen, ja womöglich mittels algebraischer Funktionen und den zugehörigen Integralen erledigen lässt. Wie in diesem Artikel wiederholt hervorgehoben worden ist, empfiehlt es sich in der Tat, zuerst einfache Spezialfälle aufzusuchen und sich durch ihre Unter- suchung eine Übersicht über die möglichen Arten der Bewegung zu verschaffen. Allein es fragt sich, was man unter einfachen Fällen zu verstehen hat, und da erscheint es zweifelhaft, ob man die Begriffe algebraisch und einfach als gleichbedeutend ansehen darf. Freilich hat man dem dritten Integral die Bedingung des algebraischen Cha- rakters immer nur in bezug auf die Komponenten der Drehgeschwin- digkeit p, q, r auferlegt und in bezug auf die darin vorkommenden Eulerschen Winkel bloss die Voraussetzung gemacht, dass das Integral eine analytische Funktion dieser Grössen sein soll, dafür aber auf der anderen Seite verlangt, dass die Zeit in dem dritten Integral nicht explizite vorkommen soll. Ob man unter diesen Umständen berechtigt ist, die bei den genannten wesentlichen Beschränkungen gewonnenen Ergebnisse, über die sogleich berichtet werden soll, dahin auszulegen, dass es bei dem Problem der Drehung eines schweren starren Körpers um einen festen Punkt bei allgemeinen Anfangsbedingungen ausser den drei Fällen von Euler, Lagrange und Kowalewski kein einfaches drittes Integral gebe, möge dahin gestellt bleiben.

H. Poincare°®) hat für das Vorhandensein eines dritten von den Integralen (2) und (3) unabhängigen, die Zeit nicht explizite ent- haltenden, in den Geschwindigkeitskomponenten p, q, r algebraischen Integrales die notwendige Bedingung hergeleitet, dass entweder === ist (Eulers kräftefreier Fall, das dritte Integral ist linear in p, q, r) oder dass zwei der Hauptträgheitsmomente, etwa A und B, einander gleich werden. Ist ausserdem == 0, so erhält man den in Nr. 35 betrachteten altbekannten Lagrangeschen Fall der Kreiselung eines schweren Umdrehungskörpers um einen festen Punkt in der Figurenaxe; das dritte Integral ist hier auch linear.

535) Les methodes nouvelles de la RE celeste 1, Paris 1892; vgl. auch Ed. Husson, Paris C. R. 141 (1905), p. 821.

642 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Diesem Falle hat im Jahre 1888 Sonja Kowalewski einen neuen Fall hinzugefügt, bei dm A=B=2(0 und ,=0 ist, und wo das dritte Integral vom vierten Grade in p, q, r wird°®). Damit sind aber auch, wie Ed. Husson neuerdings bewiesen hat, alle Möglich- keiten erschöpft °?”).

Man kann jedoch der Frage eine andere Wendung geben. Bei der Kreiselung eines starren Körpers kommen im ganzen 12 Kon- stanten in Betracht: die 6 Konstanten der Massenverteilung xy, Yo, 2o; A, B, © und die 6 Konstanten der Anfangsbewegung, nämlich die 6 In- tegrationskonstanten der Differentialgleichungen (1) und (4). Bei den drei Fällen von Euler, Lagrange und Kowalewski reduzieren sich die Konstanten der Massenverteilung auf drei willkürliche Grössen, während die sechs Konstanten der Anfangsbewegung beliebig bleiben. Den- selben Grad der Allgemeinheit wird also ein Kreiselproblem haben, bei dem sich die Gesamtheit der 12 Konstanten auf 9 willkürliche Grössen reduziert; damit man neue Fälle erhält, wird man die Kon- stanten der Anfangsbewegung spezialisieren können ?°®#).

Hierher gehört ein von W. Hess behandelter Fall°®). Für die Massenverteilung um den festen Punkt gelten bei ihm die zwei Be- dingungen:

%=0, .(1/B 1/0) = 2(1/A 1/B);

nach N. Joukowskij°'’) besagen sie, dass der Schwerpunkt S auf dem

536) Acta math. 12 (1889), p. 177. Ein ausführlicher Bericht über die zahl- reichen Arbeiten, die sich auf den Kowalewskischen Fall beziehen, wird in IV 13 (P. Stäckel) gegeben werden.

537) Paris ©. R. 141 (1905), p. 100; These, Paris 1905; vgl. auch die Versuche von O. Tedone, Nuovo Cimento (4) 1 (1895), p. 220, 269, 353 und $. Tschaplygin, Moskau, Phys. Sektion d. Kais. Ges. d. Freunde der Naturkunde 9 (1895), Heft 2, p- 15 (russisch). Die Behauptung R. Liouvilles, Acta math. 20 (1897), p. 239, dass

die Annahmen z,=0, A=B= = wo n eine beliebige ganze Zahl bedeutet,

auf algebraische Integrale führen sollten, hat sich als irrtümlich herausgestellt; nur die Werte n—=1 (Fall von Kowalewski) und n—=2 (Fall von Lagrange für eine homogene Kugel) sind zulässig.

538) Vgl. F. Klein und A. Sommerfeld, Kreisel, p. 378.

539) Math. Ann. 37 (1890), p. 153; vergl. auch R. Liowville, Paris C. R. 120 (1895), p. 903, 122 (1896), p. 1050. Die Untersuchung des Hessschen Falles ist dann von verschiedenen russischen Mathematikern weitergeführt worden; aus- führliche Litteraturangaben findet man bei P. A. Nekrassoff, Math. Ann. 47 (1896), p. 445447.

540) Jahresber. d. D. M.-V. 3 (1894), p. 62; vergl. auch A. Sommerfeld, Gött. Nachr. 1898. p, 83.

dl Zn

86. Der einzelne starre Körper: Schwerer unsymmetrischer Kreisel. 643

Lote liegt, das in dem festen Punkte O auf einer der Kreisschnitt- ebenen des reziproken Trägheitsellipsoids

errichtet ist. Zu dieser Bedingung kommt die weitere Beschrän- kung, dass der Impulsvektor zu Anfang in der genannten Kreis- schnittebene durch O liegen soll, so dass im Ganzen wieder 9 will- kürliche Konstanten vorhanden sind. Während der Bewegung verharrt der Impulsvektor in jener Ebene, und diese Eigenschaft ist für den Hessschen Fall charakteristisch, das heisst: fragt man, unter welchen Bedingungen der Impulsvektor dauernd in einer im Körper festen Ebene verbleibt, so wird man gerade zu dem Hessschen Falle geführt°*!). Stellt man diese Frage im besonderen für den schweren symmetrischen Kreisel, so gelangt man zu der sphärischen Pendelbewegung, so dass also der Hesssche Fall auch als eine Verallgemeinerung dieser elemen- taren Bewegung aufgefasst werden kann. Wie N. Joukowskij gezeigt hat, geht die Analogie noch weiter; der Schwerpunkt des Hessschen Pendels bewegt sich nämlich genau so, wie der Massenpunkt eines sphärischen Pendels.

Von besonderem Interesse ist der Fall, dass über die Massen- verteilung gar keine Voraussetzung gemacht, dass also die Konstanten % Y, %; A; B, C als willkürliche Grössen angesehen werden. O. Staude’*?) hat gezeigt, dass man bei einem solchen unsymmetrischen Kreisel stets eine Schar von 00? Bewegungen angeben kann. Die Bewegung des Körpers besteht dabei in einer gleichförmigen Drehung um eine in ihm feste, vertikale Axe. Die Axen, um die solche per- manente Drehungen stattfinden, bilden zusammengenommen einen

541) Vgl. auch die Behandlung des Hessschen Falles bei F. Klein und A. Sommerfeld, Kreisel, p. 378—386; die entsprechende Untersuchung für den Spielkreisel (vgl. Nr. 37 dieses Artikels) hat @. Kolossof durchgeführt, Moskau, Arbeiten der phys. Sektion der Kais. Russ. Ges. der Freunde der Naturkunde 9 (1898), Heft 2, p. 11 (russisch); Göttingen Nachr. 1898, p. 80; Mess. of math. (2) 30 (1901), p. 174.

542) J. f. Math. 113 (1894), p. 318. E.J. Routh hatte bereits gefunden, dass bei einem schweren Kreisel reguläre Präzession um die Vertikale nur möglich ist, wenn man entweder A= B hat (symmetrischer Kreisel, siehe Nr. 35) oder bei un- gleichen Hauptträgheitsmomenten, wenn sich die reguläre Präzession auf eine permanente Rotation um die Vertikale reduziert, siehe Dynamik 2, p. 163. Vgl. ferner F. Klein und A. Sommerfeld, Kreisel, p. 386—390, sowie L. Lecornu, Bull. soc. math. de France 30 (1902), p. 71. O. Staude hat später die Untersuchung nach der geometrischen Seite weitergeführt, Leipzig Ber. 51 (1899), p. 219.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1, ı. 42

644 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Kegel zweiter Ordnung: (8) (B— O)a,y2 + (C A)yez + (A B)2,2Y = 0.

Jede erzeugende Gerade dieses Kegels liefert, wenn sie mit einem be- stimmten ihrer beiden Enden vertikal nach oben gestellt wird, eine permanente Rotationsaxe, sobald der Körper um sie mit einer gewissen Winkelgeschwindigkeit oder der entgegengesetzten Winkelgeschwindig- keit gedreht wird®#?). Im besonderen gehören zu den permanenten Axen die Hauptaxen von 0, für die jedoch die Drehgeschwindigkeit unendlich gross wird’). Auch die Gerade O8 ist eine permanente Axe, und zwar mit der Geschwindigkeit Null; für alle übrigen Axen hat die Winkelgeschwindigkeit endliche, von Null verschiedene Werte. Bei besonderer Massenverteilung treten jedoch Abänderungen ein; alle diese Ausnahmefälle hat O. Staude in erschöpfender Weise ermittelt und diskutiert. Die Gleichung (8) ist z. B. bei dem kräftefreien Kreisel identisch erfüllt; jede Axe durch $ ist hier eine permanente Drehaxe, jedoch im allgemeinen mit der Winkelgeschwindigkeit Null, dagegen wird bei den Hauptaxen der Wert der Winkelgeschwindigkeit un- bestimmt. Auch bei dem schweren symmetrischen Kreisel ist jede Axe durch den festen Punkt O permanente Axe; vgl. Nr 35b 1).

Im Anschluss an O. Staude hat B. K. Mlodgjejowskij’®) unter- sucht, wann ein der Schwere unterworfener starrer Körper sich um einen festen Punkt O so bewegen kann, dass die Axe der instantanen Drehung im Körper fest bleibt, wobei aber die Drehgeschwindigkeit um diese Axe nicht konstant zu sein braucht. Mit Hilfe der Integral- gleichungen (2) und (3) erschliesst er, dass die Drehgeschwindigkeit im allgemeinen konstant sein muss, was auf den Staudeschen Fall zurückführt. Soll aber die Drehgeschwindigkeit von der Zeit abhängen, so muss der Schwerpunkt $ in einer der Hauptebenen durch O liegen; die Bewegung des Körpers besteht alsdann in einer Drehung um die dritte, horizontal zu legende Hauptaxe, die nach Art des physikalischen Pendels erfolgt; vgl. Nr.35b 1).

543) Die Frage nach der Stabilität dieser permanenten Drehaxen ist noch nicht endgültig beantwortet worden; einen Versuch machte J. Hadamard, Assoc. frang. Bordeaux 24 (1895), p. 1.

544) Diesen besonderen Fall hatte vor Staude schon E. Budde, Berlin Phys. Ges. Mitt. 9 (1890), p. 15, betrachtet und Folgerungen für benachbarte Bewegungen gezogen.

545) Moskau, Arbeiten der phys. Sektion der Kais. Russ. Ges. der Freunde der Naturkunde 7 (1894), Heft 1, p. 46 (russisch); vgl. auch T. Siudskij, Moskau, Math. Sammlung 17 (1894) (russisch).

86. Der einzelne starre Körper: Schwerer unsymmetrischer Kreisel. 645

Merkwürdiger Weise hat neuerdings P. A. Schiff °*°*) gefunden, dass man bei dem schweren unsymmetrischen Kreisel mittels algebraischer Operationen und zweier Quadraturen sogar eine Schar von 005 Be- wegungen angeben kann Sie sind dadurch charakterisiert, dass bei jeder von ihnen der Impulsvektor konstante Länge behält; bei der Be- wegung beschreibt dieser im Raume um die Vertikale einen Kreis- kegel von beliebiger Öffnung. Die permanenten Drehungen sind unter den Schiffschen Bewegungen enthalten.

Verschiedene Fälle, in denen die Massenverteilung und die An- fangsbedingungen spezialisiert sind, haben in neuester Zeit russische Mathematiker, besonders W. Stekloff, D. Gorjatschoff und S. Tschaplygin angegeben“); diese Fälle haben jedoch mehr ein analytisches Interesse, und es muss für sie auf IV 13 (P. Stäckel) verwiesen werden.

Endlich hat man unsere sehr lückenhaften Kenntnisse von der Bewegung eines allgemeinen schweren Kreisels dadurch zu erweitern gesucht, dass man Fälle betrachtete, die in der Nachbarschaft be- kannter Fälle liegen. So hat man gefragt, wann kleine Schwingungen um eine Gleichgewichtslage möglich sind, und die Bedingungen für ihre Existenz aufgestellt®’). Wichtiger ist es, dass nach @. Koenigs bei einem schweren Kreisel, dessen Unterstützungspunkt in der Nähe seines Schwerpunktes liegt, stets unendlich viele Anfangsbedingungen vorhanden sind, für die 9, 9, r, €, &%, &, wie beim Eulerschen Fall, periodische Funktionen der Zeit werden“). Man wird daher hoffen dürfen, dass sich auch aus den Ergebnissen in dem Lagrangeschen Fall Schlüsse auf das Verhalten von Kreiseln mit kleiner Asymmetrie ziehen lassen; vielleicht wird man hier zum Ziele gelangen, indem man ein Näherungsverfahren anwendet, das der Methode der allge- meinen Störungen bei den Astronomen‘ nachgebildet ist). Wenn erst noch mehr Untersuchungen nach dieser Richtung hin angestellt sein werden, wird man nach dem Vorschlage von F. Klein und

545*) Moskau, Math. Sammlung 24 (1903), p. 169 (russisch).

546) Siehe den Bericht von R. Marcolongo, Palermo, Circ. mat. Rend. 16 (1902), p. 349; vgl. ferner die Untersuchungen von P. A. Schiff, Moskau, Math. Samml. 24 (1903), p. 169 (russisch) und von P. Burgatti, Ann. di mat. (3) 12 (1905), p. 81,

547) J. L. Lagrange, M&canique analytique, Ausgabe von Bertrand 2, p. 234; vgl. auch R. $. Ball, Dublin Irish Trans. 24 (1869), p. 598; CO. Jordan, J. de math. (3) 1 (1875), p.1 und E. J. Routh, Dynamik 1, p. 388; 2, p. 161.

548) Paris C. R. 122 (1896), p. 1048; vgl. auch @. Kobb, Toulouse, Fac. Ann. (2) 1 (1899), p. 5.

549) Einen Versuch dazu machte M. Winkelmann, Dissertation Göttingen 1904.

42*

646 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

A. Sommerfeld dazu übergehen können, die Verbindung zwischen den verschiedenen bekannten Fällen und ihren Nachbarfällen durch eine Art von Interpolation herzustellen°®). Auch die Andeutungen, die E. Picard’®') über die Verwendung seiner Methode der successiven Approximationen für die Integration der Differentialgleichungen der Bewegung des unsymmetrischen schweren Kreisels gemacht hat, ver- dienten genauer durchgeführt zu werden.

37. Auf horizontaler Ebene spielender Kreisel (Spielkreisel). Im gewöhnlichen Leben versteht man unter einem Kreisel einen homo- genen Rotationskörper, der in eine Spitze ausläuft; durch Abziehen einer Schnur bringt man den Kreisel in rasche Drehung um die Figuren- axe und setzt ihn mit der Spitze auf eine horizontale glatte Ebene. Man hat demnach diesen auf horizontaler Ebene spielenden Kreisel oder kurz den Spielkreisel wohl zu unterscheiden von dem Kreisel, von dem in den vorhergehenden Nummern die Rede war; dort be- deutete nämlich das Wort Kreisel einen starren Körper von kinetischer Symmetrie in bezug auf eine Figurenaxe, der sich um einen in dieser Axe befindlichen Punkt dreht, oder in noch allgemeinerer Bedeutung des Wortes irgend einen starren Körper, der sich um einen festen Punkt dreht. Allerdings wird sich herausstellen, dass zwischen den Bewegungen des schweren symmetrischen Ei und des Spiel- kreisels eine grosse Ähnlichkeit besteht, so dass eine Reihe von Be- trachtungen, die in Nr. 35 dieses A angestellt wurden, sich leicht auf den Spielkreisel übertragen lässt.

1) Die Erfahrung zeigt, dass die Figurenaxe eines rasch rotierenden Spielkreisels sich aus der ursprünglichen geneigten Lage der Schwere entgegen aufrichtet, sodass sie schliesslich fast genau vertikal steht. In permanenter Drug um die Axe verharrt der Kreisel längere Zeit als sogenannter schlafender Kreisel (sleeping top, toupie dormante). Schliesslich wird die Energie der Drehbewegung durch die Reibungs- widerstände stark vermindert, und unter unregelmässigen Zuckungen fällt der Spielkreisel um; vgl. ER ähnlichen Erscheinungen, die für den schweren symmetrischen Krise in Nr.35b 5) beschrieben worden sind.

Diese paradoxen Bewegungen haben bereits die Aufmerksamkeit J. A. Segners (1755) auf sich gezogen, der auch ganz richtig be- merkt hat, dass zur Erklärung des Aufrichtens der Kreiselaxe die Reibung benutzt werden müsse’). Bald darauf haben J. d’Alem-

650) Kreisel, p. 390. 561) Torino Atti 34 (1898), p. 6. 552) Specimen theoriae turbinum, Halle 1755. Das Wort turbo bedeutet

a land

37. Der einzelne starre Körper: Auf horizontaler Ebene spiel. Kreisel. 647

bert?®®) und L. Euler°®*) die Differentialgleichungen der Bewegung angesetzt, zunächst ohne, dann auch mit Berücksichtigung der gleiten- den Reibung.

Es handelt sich bei dem Spielkreisel um einen starren Körper mit 5 Graden der Freiheit. Um die zugehörigen Lagekoordinaten zu gewinnen, wähle man die feste Ebene als &7-Ebene und lasse die & Axe vertikal nach unten gehen. Das im Körper feste System der x, y, z habe den auf der Figurenaxe liegenden Schwerpunkt 8 zum Anfangspunkt, und die z-Axe möge mit der Figurenaxe in der Richtung von S nach der Kreiselspitze O zusammenfallen; die Strecke 08 habe die Länge |. Als Lagekoordinaten nehme man die drei Ewlerschen Winkel 8, ı, p, die die Lage des Kreiselkörpers gegen die Axen der &, n, & festlegen, und die Koordinaten &,, 7, des Schwerpunktes; die dritte Koordinate &, ist mit der Neigung der Figurenaxe gegen die Vertikale durch die Gleichung

(1) o=lcad—=ITe,

verknüpft. Als äussere Kraft wirkt die Schwere. Fügt man ihr die Reaktion R der Ebene hinzu, die eine in O angreifende, vertikal nach oben gerichtete Einzelkraft ist, so darf man das System als frei an- sehen und erhält auf die bekannte Art die 6 Differentialgleichungen der Bewegung, aus denen sich R leicht eliminieren lässt. Um die gleitende Reibung zu berücksichtigen, wird noch eine Reibungskraft eingeführt, die in O angreift und deren Richtung der Richtung ent- gegengesetzt ist, in der sich die Kreiselspitze in der festen Ebene bewegt. Euler gesteht, dass er „nicht im Stande sei, aus den so ge- wonnenen Gleichungen etwas zu erschliessen, woraus man die Natur der Bewegung erkennen könne“, und d’Alembert ist „zufrieden, das Problem auf eine einfache Aufgabe der Analysis zurückgeführt zu haben“.

2) Erst $. D. Poisson hat 1811 die Differentialgleichungen der Bewegung unter der Voraussetzung integriert, dass keine Reibung stattfindet, und einen wichtigen Spezialfall diskutiert). Er verfährt dabei rein rechnerisch. Wenn man aber auch die anschauliche Be-

hier Kreisel; es findet sich schon bei Joh. Bernoulli, Acta erudit. Lips. 1715, p. 242 = Opera 2, p. 187, der jedoch darunter einen starren Körper versteht, der sich um eine feste Axe dreht.

553) Opuscules math. 1, Paris 1761, p. 100; 5, Paris 1768, p. 489 (verfasst 1762).

554) Theoria motus, Greifswald 1765 (verfasst 1760), Kap. 14 und 17, und Supplementum, Kap. 4.

555) Mecanique, 1. ed., Paris 1811, 2, p. 198; 2. &d., Paris 1833, 2, p. 214.

648 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

deutung der Gleichungen ins Auge fasst°°®), lässt sich sein Verfahren folgendermassen beschreiben.

Die äusseren Kräfte sind äquivalent einer vertikal gerichteten Einzelkraft R— mg und einer Drehkraft, deren Axe horizontal liegt und deren Grösse gleich dem Moment von R um S$S ist. Wendet man die Impulssätze an (siehe Nr. 29 dieses Artikels), so folgt zu- nächst für den Schiebestoss des Impulses, dass =, und H, konstant sind. Mithin bewegt sich die Horizontalprojektion des Schwerpunktes gleichförmig in gerader Linie, und sieht man von dieser Bewegung ab, so wird der Schwerpunkt selbst nur mehr auf einer festen ver- tikalen Geraden, die man zur $-Axe machen kann, auf und nieder gehen. Die dritte Komponente Z, des Schiebestosses liefert die Gleichung e (2) m&o—R mg; aus ihr lässt sich die Reaktion R berechnen. Weiter ist von den Komponenten des Drehstosses N, konstant, etwa gleich rn, und das- selbe gilt von N,, also auch von r. Die Konstanz von r lässt sich übrigens, da A = B ist, sofort aus der dritten Eulerschen Gleichung erschliessen. Die beiden anderen Eulerschen Gleichungen aufzustellen ist nicht nötig, da schon der Satz der lebendigen Kraft unter Berücksich- tigung der Konstanz von N, und N, zu einer Gleichung führt, die nur die Neigung # und deren Ableitung nach der Zeit enthält. Die lebendige Kraft des Spielkreisels setzt sich nämlich zusammen aus der lebendigen Kraft der fortschreitenden Bewegung des Schwerpunktes und der drehenden Bewegung um die instantane Axe durch $8. Diese aber hat denselben Ausdruck, wie die lebendige Kraft des symme- trischen Kreisels (siehe Nr. 35 dieses Artikels), und jene unterscheidet sich von 4m &: nur um eine Konstante Da man auch hier un- unbeschadet der Allgemeinheit A= B=( setzen, also auf den Kugelkreisel spezialisieren darf (vgl. Nr. 35a 3) dieses Artikels), so ergiebt sich schliesslich für ,—= u die Differentialgleichung (3) (F) - 2Ah1— u) 2 Amglu1 —u)+2nN u— N’—n?’

dt 4’+ Aml’(1 u) aus der man ? durch eine Quadratur als Funktion von # erhält. Das Zusatzglied 4m & bewirkt also, dass man nicht mehr, wie beim schweren symmetrischen Kreisel elliptische, sondern hyperelliptische Integrale in u bekommt. Vermöge der kinematischen Gleichungen wird schliesslich auch die Länge der Knotenlinie » und das Azimuth p je durch eine Quadratur als Funktionen von # bestimmt.

556) Vgl. F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, p. 514.

37. Der einzelne starre Körper: Auf horizontaler Ebene spiel. Kreisel. 649

3) Aus den so gewonnenen Formeln lassen sich, wie bei dem schweren symmetrischen Kreisel, sofort gewisse Periodizitätseigen- schaften der Bewegung erschliessen; die genauere Untersuchung der Bewegung verlangt jedoch höhere Hilfsmittel®®”). ‚Poisson wendet sich daher sogleich zu einem besonderen Falle; er fragt nämlich, ob es Be- wegungen des Spielkreisels gebe, bei denen die Neigung der Figuren- axe 9 nahezu konstant bleibt, so dass man die Bewegung des Spiel- kreisels als Schwingung um eine reguläre Präzession ansehen kann. Setzt man dementsprechend $—=#, + &, wo is eine kleine Grösse bedeutet, deren Quadrat vernachlässigt werden darf, so führt die in Nr. 9 dieses Artikels auseinandergesetzte Methode zu dem Satze, dass eine solche pseudoreguläre Präzession nur dann eintreten kann, wenn die Komponente des Drehstosses nach der Figurenaxe N, sehr gross ist, wenn also dem Spielkreisel anfänglich eine starke Drehung um die Figurenaxe beigebracht worden ist. In diesem Falle erhält man die Bahnkurve der Kreiselspitze, indem man auf einem Kreise zahl- reiche kleine Zacken aufsitzen lässt. Wegen ihrer Kleinheit und wegen der Schnelligkeit, mit der diese Zacken durchlaufen werden, entziehen sich die entsprechenden Nutationen der groben Beobachtung, und die Bewegung erscheint als reguläre Präzession; die Analogie mit den Bewegungen eines schweren symmetrischen Kreisels ist unverkenn- Dar)

Die Bahn der Kreiselspitze wird durch den Kreisel selbst aufge- zeichnet, wenn man eine berusste Spiegelglasplatte als Unterlage be- nutzt. Die Figuren 25 und 26 auf der folgenden Seite sind Negative von Originalen, die Lord Kelvin und F. Klein auf diese Art erhalten haben °®°),

Man erkennt, dass statt des Kreises eine sich verengernde Spirale entsteht; dass die Windungen der Spirale nach der Seite auseinander- gezogen sind, ist die Wirkung eines Anfangsstosses oder vielleicht auch einer geringen Neigung der Unterlage. Wie die Beobachtung zeigt, ist die Präzession nicht gleichförmig, sondern beschleunigt. Endlich bleibt der Schwerpunkt, auch wenn er sich anfänglich in Ruhe befand, nicht auf einer vertikalen Geraden, sondern beschreibt in einer horizontalen

557) F. Klein, The wmathematical theory of the top, Princeton Lectures, London 1897, letzter Abschnitt.

558) Siehe auch F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, Anhang zu Kap. VI, p. 513, sowie auch V. Puiseux, J. de math. (1) 13 (1848), p. 249 und Finck, Nouv. ann. (1) 9 (1850), p. 310.

659) C. Barus, Science (2) 4 (1896), p. 446; F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, p. 622.

650 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Ebene kleinere kreisähnliche Kurven, wobei er der Bewegung der Kreiselspitze mit 90° Phasenverschiebung folgt; die Figurenaxe durch- läuft daher nahezu ein Rotationshyperboloid, dessen engste Stelle unterhalb des Schwerpunktes 8 liegt. Hieraus folgt, dass die Be- wegungen, die in Wirklichkeit vor sich gehen, durch die Pöissonschen

Fig. 26. Fig. 26.

Formeln auch nicht in erster Annäherung dargestellt werden, dass vielmehr der Einfluss der Reibung, mag die Unterlage auch noch so glatt sein, von primärer Bedeutung ist. Man wird damit zu ganz ähnlichen Betrachtungen geführt, wie bei dem schweren symmetrischen Kreisel, bei denen man sich wiederum auf eine qualitative Diskussion beschränken muss, und es möge daher auf den Bericht in Nr. 35b 5) dieses Artikels verwiesen werden 5).

38. Gleiten und Rollen auf Unterlagen. Einfach und doch lehrreich sind die Untersuchungen über ebene Berührungsbewegungen,

560) Vgl. noch Arch. Smith, Cambridge math. J. 1 (1846), p. 47; A. Amthor, Diss. Leipzig 1869; J. H. Jellett, Reibung, p. 198 und E. G. Gallop, Cambridge Phil. Soc. Proc. 12 (1908), p. 82; Trans. 19 (1904), p. 356.

88. Der einzelne starre Körper: Gleiten u. Rollen auf Unterlagen. 651

d.h. über Berührungsbewegungen (siehe Nr. 31), bei denen die Ge- schwindigkeitsvektoren aller Punkte des Körpers K stets einer festen Ebene parallel bleiben (siehe Nr. 33). Diese Bewegungen haben zwei Grade der Freiheit. Ein Beispiel) hierfür ist die Bewegung einer homo- genen Walze (eines Kreiszylinders), die der Schwere unterworfen ist und eine schiefe Ebene berührt. Die Bewegung ist eben, wenn die Anfangsbedingungen so gewählt werden, dass die Axe der Walze stets horizontal bleibt. Es sei a der Halbmesser der Walze, « der Neigungs- winkel der schiefen Ebene. Soll reines Rollen stattfinden, so ist, wenn © die Winkelgeschwindigkeit um die Axe bedeutet, die Geschwindig- keit des Schwerpunktes gleich aw, und man hat daher für seine Be- wegung die Gleichung

(1) ma“ = mysin«e —F.

Hierin bezeichnet F die gleitende Reibung, deren Maximalbetrag im Sinne der sogenannten Coulombschen Gesetze f Mg cos « ist (vgl. Nr. 32 dieses Artikels). Da aber für die Drehung um eine horizontale Axe die Gleichung gilt:

(2) 4m a Fa, so ist beim reinen Rollen (3) F = 4mg sin «.

Damit also, bei der genannten Anfangsbedingung, die Walze rollt, ohne zu gleiten, darf die Neigung der Ebene den Winkel «* nicht über- steigen, der durch die Gleichung

(4) tgat = 3f

bestimmt ist; sonst findet Gleiten und Rollen statt. Bei dieser Be- trachtung ist von der rollenden Reibung abgesehen worden, die auf der rechten Seite der Gleichung (2) noch ein Zusatzglied k Mg cos «

bedingen würde, wo % den Koeffizienten der rollenden Reibung be- deutet; den kritischen Winkel erhält man jetzt aus der Gleichung

(5) tget—3f—®r.

In ähnlicher Weise lässt sich auch das ebene Rollen inhomogener Walzen und überhaupt beliebiger Zylinder behandeln °®:),

561) J. d’Alembert, Dynamique, Paris 1743, 8 115; L. Euler, Theoria motus.

652 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Ob die Ergebnisse dieser und der folgenden theoretischen Unter- suchungen, bei denen die sogenannten Coulombschen Gesetze zugrunde gelegt sind, in befriedigender Weise mit den Ergebnissen überein- stimmen, die Versuche über solche Bewegungen, besonders bei grösseren Geschwindigkeiten, liefern würden, erscheint zweifelhaft. Experimentelle Untersuchungen über das Rollen einer exzentrischen schweren Walze (Kreisscheibe) auf schiefer Ebene hat H. Chaumat°*'*) im Anschluss an P. Painleves Kritik der Coulombschen Reibungs- gesetze, vgl. Anmerkung 75 dieses Artikels, angestellt; es hat sich dabei ergeben, dass in der Tat der Reibungskoeffizient f, der nach dem sogenannten Coulombschen Gesetze allein durch die Be- schaffenheit der sich berührenden Körperflächen bestimmt sein sollte, unter Umständen merklich von der Massenverteilung in der rollenden Scheibe abhängt.

Die Bewegung einer homogenen schweren Kugel auf einer horizon- talen Ebene hat schon J. A. Euler (Sohn)°®?) betrachtet, und später ist sie besonders von @. Coriolis®2) (im Interesse der Theorie des Billardspiels) und von F. Minding°®®) untersucht worden. Bei Anfangsbedingungen allgemeiner Art wird Gleiten eintreten. So lange es anhält, bewegt sich nach J. A Euler der Mittelpunkt in einer horizontalen Parabel, deren Hauptaxe der Richtung des Gleitens parallel ist. Die Geschwindigkeit des jeweiligen Berührungspunktes hat dabei konstante Richtung und ist gleichförmig verzögert; die gleitende Reibung ist konstant nach Richtung und Grösse. Endlich ist die Komponente der Winkelgeschwindigkeit um die Axe parallel der Richtung des Gleitens konstant, die Kompo- nente um eine dazu senkrechte horizontale Axe aber gleichförmig ver- zögert. Da jedoch die Geschwindigkeit des Berührungspunktes be- ständig abnimmt, so hört das Gleiten nach einer gewissen Zeit auf, und der Mittelpunkt bewegt sich jetzt geradlinig in der Tangente der Parabel weiter. Unter den besonderen Fällen der Bewegung verdient das Zurücklaufen einer Billardkugel erwähnt zu werden, der man

Kap. 19; Ch. Delaunay, Mechanik, p. 397; O. Bender, Archiv Math. Phys. 60 (1877), p. 113; R. Hoppe, Archiv Math. Phys. 66 (1881), p. 213; E. J. Routh, Dynamik 1, Kap. 4.

561*) Paris C. R. 136 (1903), p. 1634.

562) Berlin M&m. annde 1758 (1765), p. 284; annde 1760 (1767), p. 261; vgl. auch L. Euler, Theoria motus, Kap. 18 und Supplementum Kap. 5.

562) Th“orie math6matique des effets du jeu de billard, Paris 1835, chap. 1. Vgl. auch IV 9, Nr. 1 (@. T. Walker).

563) Mechanik, Berlin 1838, p. 345; vgl. auch H. Resal, Nouv. ann. (2) 11 (7872), p- 198.

38. Der einzelne starre Körper: Gleiten u. Rollen auf Unterlagen. 653

durch einen Drehstoss eine starke Drehung nach rückwärts um eine horizontale Axe beigebracht hat°*).

Die Bewegung einer homogenen schweren Kugel auf einer schiefen Ebene ist von F. Minding®) untersucht worden. Damit das Gleiten aufgehoben werden kann, darf hier der Neigungswinkel « nicht grösser sein, als ein kritischer Winkel «*, der durch die Gleichung

(6) tg o* u f

bestimmt wird. Das Rollen einer Kugel auf einer Kugelfläche und allgemeiner auf einer Rotationsfläche haben E. J. Routh”), A. @. Greenhill?®") und A. Vierkandt?‘®) untersucht.

Neben die Kugel tritt der Reifen, nämlich ein starrer Körper, der von einer scharfen Kante in Form eines Kreises begrenzt ist, dessen Schwerpunkt in dem Mittelpunkte dieses Kreises liegt und dessen Trägheitsellipsoid in bezug auf den Schwerpunkt ein Rotations- ellipsoid ist, bei welchem die Symmetrieaxe senkrecht zu der Ebene des Kreises steht. Die Masse des Reifens werde der Einfachheit halber gleich Eins gesetzt; der Halbmesser des Kreises sei a, die Haupt- trägheitsmomente seien A, A, 0; wiederum mögen die sogenannten Coulombschen Reibungsgesetze als exakt vorausgesetzt werden.

Die Diskussion des Verlaufes der Bewegung gestaltet sich am einfachsten, wenn man neben dem im Raume festen Koordinaten- system der &,n,& ein im Raume und im Körper bewegliches System der x*, y*,z* einführt. Die $-Axe sei vertikal nach oben gerichtet, die &n-Ebene die feste Ebene. Der Anfangspunkt der x*, y*, z* sei der Schwerpunkt $, die z*-Axe stehe senkrecht auf der Ebene des Kreises, die x*-Axe sei horizontal, die y*-Axe also eine Gerade grösster

564) Aus der umfangreichen Litteratur seien noch genannt: S. D. Poisson, Mecanique, 2. €d., Paris 1833, 2, p. 249; H. Resal, Paris C. R. 58 (1869), p. 1158; Nour. ann. (2) 2 (1872), p. 193; A. Amthor, Diss. Leipzig 1869; R. Hoppe, Arch. Math. Phys. 60 (1877), p. 159; P. Appell, Roulements, Paris 1899, p. 21; @. A. Maggi, Stereodinamica, Mailand 1903, p. 134; A. @. Webster, Dynamics, p. 304;

.@. Willing, Diss. Leipzig 1904. Verwandte Probleme behandelten: .J. Didion, Paris C.R. 77 (1873), p. 167; M. Pieper, Diss. Jena 1879; E. Padova, Roma Acc. Linc. Rend. (4) 4! (1888), p. 507; E. Crescini, ebenda (4) 5! (1889), p. 204. Für die Anwendungen auf das Billardspiel vgl. IV 9, Nr. 1 (@. T. Walker).

565) Mechanik, p. 325.

566) Dynamik 2, Kap. 5; vgl. auch Cr. Alasia, Rivista di fisica, mat. e scienze nat. 6 (1905), p. 18.

667) Quart. J. of math. 15 (1877), p. 176; 17 (1880), p. 86; 18 (1882), p. 229.

568) Monatshefte f. Math. 3 (1892), p. 97.

654 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Neigung in der Ebene des Kreises; der Berührungspunkt P von Reifen und Ebene liege auf der negativen y*-Axe.

Die Lage des Reifens wird festgelegt durch die Koordinaten &,, No, & des Schwerpunktes und die Winkel $&82*—=9,&Sa*—= y, sowie den Winkel @ zwischen der x-Axe und einem festen Halb- messer des Kreises. Zwischen diesen sechs Grössen besteht die Gleichung (7) 6 =4ac0o8®,

so dass &,,70,®,%, p als Lagekoordinaten genommen werden dürfen.

Die Komponenten der absoluten Geschwindigkeit des Schwer- punktes nach den Axen der x*, y*, z* seien u*, v*, w*, die nr nenten der relativen Drehung um S nach denselben Axen p*, q*, r*. Bei diesen Festsetzungen werden die kinematischen a

(8) rd, Fedsind, r=hcod#-+ 9. Sind ferner U*, Y*, W* die Komponenten der Reaktion der Ebene,

so lauten, wenn die Schwere wirkt, die Differentialgleichungen für die Bewegung des Schwerpunktes:

du* a : TE + 4q(w* cotg #v*) = U*, dv’ & (9) ar + g eotg Hut pu* = V* gsin 9, d * Gt per qu* = W*— ycos®,

und die Eulerschen Gleichungen für die beweglichen Axen ey, (vgl. Nr. 31 dieses Artikels) werden:

A nr + (Ort Ag? ootg 9) = aW*, (10) A ie (Ort Ag* cotg #)p* 0, dr* re —= + .aU*.

Soll kein Gleiten eintreten, so muss die Geschwindigkeit des Berührungspunktes P gleich O sein. Hieraus folgen die Gleichungen:

(11) “+ır=0, H=0, wWw— a0,

und das Problem ist auf Quadraturen zurückgeführt, sobald man r*

kennt. Für r* aber ergiebt sich die lineare Differentialgleichung zweiter Ordnung:

d!r* Ca? (12) ds! +3 Ge en aorumrn

38. Der einzelne starre Körper: Gleiten u. Rollen auf Unterlagen. 655

die sich mittels der hypergeometrischen Reihe integrieren lässt°*®). Formeln, die eine bequeme numerische Berechnung des Verlaufes der Bewegung bei gegebenen Anfangsbedingungen ermöglichen, hat E. Car- vallo bei seinen Untersuchungen über die Theorie des Ein- und Zwei- rades entwickelt?"®).

Wenn man die Bedingung des Rollens von vornherein einführt, wird man auf zwei nichtholonome Bedingungsgleichungen geführt und hat nach den in Nr. 31 angegebenen Grundsätzen die Differential- gleichungen der Bewegung aufzustellen °"!).

Wie neuerdings 8. Tsschaplygin gezeigt hat, lässt sich das Problem der Bewegung eines schweren homogenen Rotationskörpers auf einer horizontalen Ebene stets auf die Integration einer linearen Differential- gleichung zweiter Ordnung zurückführen’”?). Stationäre Bewegungen solcher Körper und Schwingungen um diese (vgl. Nr. 35b 3) dieses Artikels) untersuchte E. J. Routh; bei der stationären Bewegung rollt die Rotationsfläche so, dass ihre Axe mit der Vertikalen einen ge- wissen konstanten Winkel bildet°”?). Hierher gehören auch die Unter- suchungen über den, Spielkreisel, wenn man die Spitze durch eine kleine Halbkugel ersetzt, siehe Anmerkung 560, und über die Er- scheinung, dass ein eiförmiger starrer Körper, der rasch um eine Axe gedreht und dann auf einen glatten Tisch gesetzt wird, sich aufrichtet: Ei des Kolumbus nach Lord Kelvin. Dabei wird allerdings ange-

569) D. J, Korteweg, Nieuw Archief (2) 4 (1899), p. 130, 204; Palermo Cire. mat. Rend. 14 (1900), p. 7; vgl. auch P. Appell, Palermo Circ. mat. Rend. 14 (1900), p. 1; J. f. Math. 121 (1900), p. 310; Mecanique 2, p. 241.

570) Journ. &c. polyt. (2) 5 (1900), p. 119; 6 (1901), p. 1. Für die Anwen- dungen auf das Fahrrad vgl. IV 9, Nr. 4 (G. T. Walker). Ferner beschäftigten sich mit dem Rollen eines Reifens, oder was auf dasselbe herauskommt, einer homogenen Kreisscheibe N. M. Ferrers, Quarterly J. of math. 12 (1872), p. 1; W. Thomson und P. @. Tait, Handbuch, p. 96; R. Hoppe, Arch. Math. Phys. 67 (1881), p. 165; E. Padova, Venezia Ist. Atti (7) 6 (1895), p. 489.

571) A. Vierkandt, Monatshefte f. Math. 3 (1892), p. 97; A. G. Webster, Dynamics, p. 313; P. Appell, M&canique 2, p. 382.

572) Moskau, Math. Sammlung 24 (1903),p.139 (russisch); vgl. auch P. Woronez, Die Gleichungen der Bewegung eines starren Körpers, der ohne zu gleiten auf einer unbeweglichen Fläche rollt, Kijew 1903 (russisch).

573) Dynamik 2, p. 186; vgl. auch p. 77 und 88. Das Rollen eines homo- genen Rotationskörpers auf einer horizontalen Ebene betrachteten ferner $. D. Poisson, M&canique 2, p. 178; V. Puiseux, J. de math. (1) 18 (1848), p. 249; 17 (1852), p. 1; Paris C. R. 32 (1851), p. 621; C. Neumann, Leipzig Ber. 1885, p. 852 Math. Ann. 25 (1885), p. 478; J. M. H. Falkenhagen, Nieuw Archief (2) 6 (1903), p. 104. Das Rollen eines homogenen Kreiskegels auf einer schiefen Ebene untersuchte E. Lampe, Berlin Phys. Ges. Verhandl. 1885, p. 41.

656 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

nommen, dass das Ei gekocht ist, da ein rohes Ei sich trotz einer solchen Drehung nicht aufrichtet °'?®).

Was Körper betrifft, denen keine kinetische Symmetrie in bezug auf den Schwerpunkt zukommt, so hat sich $. D. Poisson mit dem Rollen eines homogenen dreiaxigen Ellipsoides beschäftigt, das unter Einwirkung der Schwere auf einer schiefen Ebene rollt; es gelang ihm die Integration durchzuführen, wenn die Anfangsbedingungen so gewählt werden, dass eine der Hauptaxen stets horizontal bleibt?”*). Seine Ergebnisse lassen sich auch sofort auf das Rollen einer inhomo- genen Kugel mit drei ungleichen Hauptträgheitsmomenten übertragen.

Die Anfangsbewegungen (vgl. Nr. 19 dieses Artikels) beliebiger schwerer Körper, die in Berührung mit einer rauhen horizontalen Ebene festgehalten und dann losgelassen werden, hat J. H. Jellett er- mittelt5), Er und E. J. Routh°‘®) haben auch das bereits im 18. Jahrhundert?’’) in Angriff genommene Problem der kleinen Schwingungen eines auf einer Ebene ruhenden schweren starren Körpers wieder aufgenommen. E. J. Routh gelangte dabei zu der Erklärung einer sonderbaren Eigenschaft, die man zuerst bei antiken Steinbeilen (celts) bemerkt hatte°”*), die jedoch überhaupt starren Körpern mit elliptischer Rundung an der Berührungsstelle zu- kommt, dass sie nämlich auf einem horizontalen Tische in einer Rich- tung stationär rotieren, in der anderen Richtung in Rotation versetzt aber unruhig werden und dann entweder umfallen oder aber anfangen, sich in entgegengesetztem Sinne zu drehen; dieses Verhalten tritt dann und nur dann ein, wenn die Richtungen der beiden Haupt- trägheitsaxen für den Berührungspunkt, die auf der :Drehaxe senk- recht stehen, mit den Richtungen der beiden Hauptkrümmungstan- genten an der Berührungsstelle nicht übereinstimmen.

In engem Zusammenhange mit dem Problem der kleinen Schwingungen steht die Frage nach der Stabilität des Gleichgewichtes eines schweren starren Körpers, der auf einer horizontalen Ebene

573*) Vgl. J. Perry, Spielkreisel (1890), p. 88—89, sowie H. W. Chapman, Phil. Mag. (6) 5 (1908), p. 458.

574) M&canique, 1. 6d. Paris 1811, 2, p. 183. Einen anderen integrablen Fall entdeckte P.* Woronez, siehe Anmerkung 572.

575) Reibung, p. 158.

676) Dynamik 2, Kap. 5.

577) L. Euler, Comment. Petrop. 7 ad ann. 1734—35 (1740), p. 99; Joh. Ber- noulli, Opera omnia, Lausanne 1742, 4, p. 296; J. d’Alembert, Dynamique, Paris 1743, $ 117.

578) Auf diese paradoxen Bewegungen hatte @. T. Walker, Quart. J. of math. 28 (1896), p. 175 hingewiesen.

39. Der einzelne starre Körper: Schwimmende Körper. 657

ruht. Auf dieselbe Frage führt auch, falls die Ebene glatt ist, das viel behandelte Problem der Stabilität des Gleichgewichtes schwim- mender schwerer Körper; vgl. Nr. 39 dieses Artikels, wo ınan Hin- weise auf die betreffende Litteratur findet. Gleichgewicht mit Rei- bung hat besonders J. H. Jellett untersucht°”°).

39. Schwimmende Körper. Damit ein der Schwere unterwor- fener starrer Körper, der auf einer Flüssigkeit schwimmt, sich im Gleichgewichte befindet, ist, wie schon Archimedes erkannt hat, not- wendig und hinreichend, dass die Gerade, die seinen Schwerpunkt @ mit dem Schwerpunkte C des eingetauchten Volumens (Auftriebszentrum) verbindet, vertikal steht und dass das Gewicht dieses Volumens Y gleich dem Gewichte P des Körpers ist. Nachdem Chr. Huygens die Unter- suchung solcher Probleme wieder aufgenommen hatte, haben P. Bouguer, L. Euler und Ch. Dupin einige Begriffe eingeführt, die für die Lehre von der Stabilität des Gleichgewichtes grundlegend geworden sind’).

Jede Ebene, die von dem Körper das Volumen V abschneidet, dessen Gewicht, wenn es mit der Flüssigkeit erfüllt wird, gleich P ist, heisst eine Schwimmebene. Alle Schwimmebenen umhüllen eine krumme Fläche, die Schwimmfläche (F')), die jene Ebene in den Punkten F berühren möge. Der geometrische Ort der Schwerpunkte C der mit Flüssig- keit erfüllten Volumina V ist eine zweite krumme Fläche, die Auf- triebsfläche (C), die geschlossen und überall konvex ist’®!). Nach Dupin ist F der Schwerpunkt des zugehörigen (homogen gedachten) Querschnittes Q durch den Körper, und die Berührungsebene von (0) in C ist der Berührungsebene von (F)) in dem zugehörigen Punkte F parallel. Zieht man ferner in zwei benachbarten Punkten C und Ü’ der Auftriebsfläche die Normalen, so heisst der Fusspunkt ihres ge- meinsamen Lotes ein Metazentrum, und zwar gehört es zu der Dreh- axe a des starren Körpers, die durch den Schnitt der zugehörigen Schwimmebenen bestimmt wird. Der Punkt M liegt im allgemeinen zwischen den beiden Hauptkrümmungsmittelpunkten K, und X, von 0;

579) Reibung, p. 192.

580) Von P. Bouguer, Trait& du navire, Paris 1746 rührt der Name Meta- zentrum her (p. 257, er hat auch schon die curva metacentrica, p. 269). Der Sache nach findet sich dieser Begriff auch in dem bereits 1739 verfassten Werke L. Eulers, Scientia navalis, 2 Bände, Petersburg 1749. Ch. Dupin hatte seine Abhandlung: De la stabilit& des corps flottants schon 1814 der Pariser Akademie eingereicht, veröffentlicht wurde sie aber erst in den Applications de geometrie et de mecanique, Paris 1822; ihm verdankt man die Begriffe Schwimmebene, Schwimmfläche, Auftriebsfläche und die darüber im Texte mitgeteilten Sätze.

581) Die Gestalten der Oberflächen (F)) und (C, sind von A. @. Greenhill, Hydrostatics, London 1894, für eine Anzahl besonderer Fälle untersucht worden.

658 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

er fällt mit einem von ihnen zusammen, wenn die Drehaxe einer der Hauptrichtungen der Fläche (C) in © parallel ist. K, und K, heissen das kleine und das grosse Metazentrum; der Ort der Metazentren ist die Brennfläche (Zentrafläche) der Geraden, die auf der von den Schwimm- ebenen umhüllten Fläche senkrecht stehen. Endlich ist für den (homogen gedachten) Querschnitt @ das Trägheitsmoment J in bezug auf die Achse a gleich V-CM.

Wenn Stabilität herrschen soll, so muss bei einer unendlich kleinen Drehung des Körpers um eine beliebige Drehaxe ein Kräfte- paar entstehen, das den Körper in die ursprüngliche Lage zurück- zuführen strebt, und das ist nur Fall, wenn das zugehörige Meta- zentrum M oberhalb des Schwerpunktes @ des schwimmenden Körpers liegt. Da diese Überlegung für alle möglichen Drehaxen gilt, so ergiebt sich für die Stabilität als notwendige Bedingung, dass der Schwerpunkt G@ unterhalb des kleinen Metazentrums K, liegt.

Die Frage, ob diese von Ch. Dupin aufgestellte Bedingung auch hinreichend ist, haben J. M. C. Duhamel’®®) und $. D. Poisson°®®) unter- sucht, indem sie den in Nr. 17 dieses Artikels besprochenen statischen Ansatz anwandten, und haben sie so auf die Frage zurückgeführt, ob ein auf einer horizontalen glatten Ebene ruhender schwerer Hilfskörper, dessen Oberfläche die Fläche C und dessen Schwerpunkt der Punkt @ ist, sich in stabilem Gleichgewicht befindet. Dem gegenüber hat A. Clebsch’®*) gezeigt, dass die von der Bewegung der Flüssigkeit her- rührenden kinetischen Druckkräfte von derselben Ordnung sind, wie die Glieder, die bei dem statischen Ansatz allein berücksichtigt werden. Allein seine Behauptung, dass jene Druckkräfte unter Umständen die Stabilität zerstören könnten, hat sich nicht bestätigt; denn die Durch- führung der Rechnungen, die Clebsch selbst nicht vollendet hatte, zeigt, dass dessen Methode zu demselben Ergebnisse führt, wie der statische Ansatz °®°).

Bei den Untersuchungen, über die im Vorhergehenden berichtet worden ist, war der Nachweis der Stabilität mittels der Methode der kleinen Schwingungen geliefert worden. Gegen diese Methode lassen sich jedoch dieselben Bedenken geltend machen, wie bei dem all- gemeinen Stabilitätsbeweise von Lagrange (Maximum der Kräftefunk- tion, vgl. Nr. 5 dieses Artikels), und ein strenger Beweis dafür, dass jene Bedingung für das Metazentrum auch hinreichend ist, hat sich

582) Journ. &c. polyt. cah. 24 (1835), p. 12; M&canique 2, p. 252. 583) M&canique, 2. 6d. 2, p. 579.

584) J. f. Math. 57 (1860), p. 149.

6856) L. V. Turquan, Bruxelles Soc. scientif. Ann. 2B (1878), p. 123.

39. Der einzelne starre Körper: Schwimmende Körper. 659

nur führen lassen, indem der Minding-Dirichletsche Stabilitätsbeweis auf den vorliegenden Fall übertragen wurde; nachdem bereits A. Bravais®®) und W. Thomson®®) Ansätze nach dieser Richtung gemacht hatten, hat zuerst E. G@uyou°®®) diesen Gedanken vollständig durchgeführt.

In neuerer Zeit ist das Archimedische Problem der schwimmen- den Körper nach verschiedenen Richtungen hin verallgemeinert worden. P. Duhem’®®) hat den Fall betrachtet, dass der starre Körper in zwei über einander gelagerten Flüssigkeiten schwimmt; für die Stabilität kommt alsdann noch die Bedingung hinzu, dass die leichtere Flüssig- keit sich oberhalb der schwereren befindet. Noch verwickelter wird die Frage der Stabilität, wenn der schwimmende Körper einen Hohl- raum enthält, der zum Teil mit einer Flüssigkeit erfüllt ist (Tank- schiffe mit Petroleum) °°®).

Weitere historisch-litterarische Angaben findet man bei J. L. La- grange, M&canique, Ausgabe von J. Bertrand, 1, p. 167 und P. Duhem, J. de math. (5) 1 (1895), p. 91. Zahlreiche bibliographische Angaben enthält auch die Architeeture navale von J. Pollard und A. Dudebout, 4 Bde., Paris 1890-1894; zur Ergänzung für die englische Litteratur möge A. @. Greenhill, Treatise on hydrostatics, London 1894, chap. V herangezogen werden. Auch in IV 15, Nr. 4 (A. E. H. Love) wird die Stabilität schwimmender Körper behandelt.

Die Lehre von den endlichen Bewegungen eines starren Körpers in einer inkompressiblen, insbesondere reibungslosen Flüssigkeit ge- hört nicht mehr in die elementare Mechanik. Für diesen Gegenstand, der eine eigene grosse Litteratur hat, möge auf den Artikel IV 16 (A. E. H. Love) verwiesen werden; leider hat sich herausgestellt, dass die Ergebnisse der mathematischen Untersuchungen, die zum Teil von besonderer Eleganz waren, mit den tatsächlichen Erscheinungen so wenig übereinstimmen, dass man sie nicht einmal als eine An-

näherung erster Ordnung bezeichnen darf; vgl. IV22 (A. Kriloff).

586) Thöse Lyon 1837 —= Sur l'&quilibre des corps flottants, Paris 1840.

587) W. Thomson and P. G. Tait, Treatise, 2. ed. 2, p. 320.

588) Revue maritime März 1879; siehe auch E. G@uyou, Theorie du navire, Paris 1887, 2. ed. Paris 1894. Eine ausführliche Darstellung des Guyouschen Beweises findet man bei P. Appell, Mecanique 3, p. 211.

589) J. de math. (5) 1 (1895), p. 91.

590) E. Guyou, Theorie du navire, Paris 1887; A. @. Greenhill, Treatise on hydrostatics, London 1894, p. 174; P. Appell, Paris C. R. 129 (1899), p. 567 636, 880; Journ. &c. polyt. (2) 5 (1900), p. 101; P. Duhem, Paris C. R. 129 (1899), p. 879.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1, ı. 43

660 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

C. Systeme starrer Körper.

40. Einleitende Bemerkungen. Ein beträchtlicher Teil der Probleme, die herkömmlicher Weise in der Dynamik des einzelnen starren Körpers ihren Platz gefunden haben, gehört im Grunde in die Dynamik der Systeme starrer Körper. Zum Beispiel lässt sich bei dem physikalischen Pendel die feste horizontale Axe, um die sich der starre, der Schwere unterworfene Körper drehen soll, nur ver- wirklichen, indem man weitere starre Körper zu Hilfe nimmt; aller- dings befinden sich diese Körper in relativer Ruhe, sie reiben sich je- doch in .den Berührungsflächen an dem Pendelkörper, und die Gestalt dieser Flächen ist von Einfluß auf den Verlauf der Pendelbewegung. Wenn ferner die Bewegung eines starren Körpers um einen festen Puukt durch eine Cardanische Aufhängung realisiert wird, so muss man bei einer genaueren Diskussion auch die Massen der Ringe des Gehänges berücksichtigen und hat es dann mit einem System von drei starren Körpern zu tun, die durch Gelenke mit einander ver- bunden sind. Ähnliche Überlegungen gelten immer, wenn es sich um gebundene Bewegungen eines einzelnen starren Körpers handelt.

Auf Systeme starrer Körper, die sich in ihren Bewegungen gegenseitig beeinflussen, wird man aber auch bei zahlreichen Aufgaben der technischen Mechnik geführt, wenigtens wenn man sich mit einer ersten Annäherung begnügt°®'), und es könnte daher scheinen, als ob die theoretische Dynamik solcher Systeme ein Gebiet sei, über das eine umfangreiche Litteratur vorliegt. Wenn das nicht zutrifft, wenn vielmehr die Dynamik der Systeme starrer Körper noch in den An- fängen steckt, so besteht der Grund wohl darin, dass die Untersuchung auch schon in verhältnismässig einfachen Fällen zu verwickelten An- sätzen führt. Vielfach ist bereits die Feststellung der kinematischen Konstitution dieser Systeme, die doch die unentbehrliche Grund- lage für eine erschöpfende kinetische Behandlung bildet, praktisch nur in Grenzfällen durchführbar. Zuweilen gelingt es allerdings, Pro- bleme aus der Dynamik der Systeme starrer Körper auf Probleme der Punktdynamik im engeren Sinne des Wortes oder der Dynamik des einzelnen starren Körpers zurückzuführen und damit wenigstens eine approximative Lösung zu ermöglichen. Nach dieser Richtung zeigt sich in der angewandten Mechanik vielfach die Kunst des konstruie- renden Physikers oder des schöpferischen Ingenieurs darin, dass er

591) Die zweite Annäherung besteht darin, dass man die Körper des Systems nicht als starr, sondern als elastisch ansieht; vgl. IV 28 (L. Prandil).

40. u. 41a. Systeme starrer Körper: Einleitende Bemerkungen u. freie Systeme. 661

mit feinem Gefühl für die Vorgänge in der Wirklichkeit erkennt, welche Umstände für den vorliegenden Zweck vernachlässigt werden dürfen und welche von wesentlicher Bedeutung sind, und dass er so ein idealisiertes Problem herausschält, das eine genügende An- näherung ergiebt. Ob die Annäherung genügt, wird sich freilich meistens erst nachträglich durch Versuche ermitteln lassen, und es wird sich dabei manchmal herausstellen, dass die Annahme, das be- trachtete System lasse sich durch ein System starrer Körper ersetzen, unzureichend ist. Alsdann hat man in zweiter Annäherung das System als elastisch anzusehen und wird wiederum eine geeignete Idealisierung vorzunehmen suchen.

Aus dem Vorhergehenden folgt, dass die Mittel zum analytischen Ansatz von Problemen aus der Dynamik der Systeme starrer Körper in der Regel nicht aus allgemeinen theoretischen Erwägungen, sondern vermöge der Hilfsmittel gewonnen werden, die den einzelnen (Gebieten der angewandten Mechanik eigentümlich sind, und für diese muss auf die betreffenden Artikel, im besonderen auf die vier folgenden Artikel von Ph. Furtwängler, O. Fischer, G. T. Walker und K. Heun (IV? bis 10) verwiesen werden.

41. Die Differentialgleichung der Bewegung eines Systems starrer Körper.

4la. Freie Systeme starrer Körper. Im allgemeinen begnügen sich die Astronomen damit, die Himmelskörper als materielle Punkte anzusehen, das heisst die Bahnen der Schwerpunkte dieser Körper unter der Voraussetzung zu berechnen, dass die gegenseitigen An- ziehungen so erfolgen, als ob die Massen in den Schwerpunkten ver- einigt seien. In besonderen Fällen hat man jedoch auf die räumliche Verteilung der Massen Rücksicht nehmen müssen und hat also Systeme freier starrer Körper untersucht, die auf einander Gravitationswirkungen ausüben. Für jeden Körper eines solchen Systems haben die Diffe- rentialgleichungen der Bewegung genau die Form, die in Nr. 29 dieses Artikels für den einzelnen starren Körper entwickelt worden ist; der Unterschied besteht nur darin, dass jetzt die Kräfte von den Positions- koordinaten aller Körper des Systems abhängen. Da aber die Be- wegungen der Schwerpunkte der Einzelkörper von den Bewegungen um die Schwerpunkte nur unmerklich beeinflusst werden°®?), so darf

592) Am ehesten könnte man noch vermuten, dass die Sonne einen solchen Einfluss auf den Merkur ausübt; allein P. Harzer, Astr. Nachr. 127 (1891), p. 811, hat gezeigt, dass man aus der Ungleichheit der Hauptträgheitsmomente der Sonne die Abweichung bei der Perihelbewegung des Merkur nicht erklären kann.

43*

662 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

man die Bewegungen der Schwerpunkte als bekannt ansehen und sich auf die Ermittelung der Bewegungen um die Schwerpunkte be- schränken. Als Beispiele seien genannt die genauere Theorie der Präzession und Nutation der Erdaxe (vgl. Nr. 35b 2 dieses Artikels) und die Bewegung des Erdmondes um seinen Schwerpunkt, den man, um die Beobachtungen mit genügender Schärfe darzustellen, als ver- schieden von dem geometrischen Mittelpunkt annimmt°”). Erwähnt sei in diesem Zusammenhange auch die in die Kinetostatik der Systeme starrer Körper gehörende Frage nach den inneren Kräften, die in einem starren Ringe auftreten, der um einen Hauptkörper rotiert und mit ihm im Gravitationsverhältnis steht. Bei der Voraussetzung der Starrheit haben sich für die Saturnringe so beträchtliche Bean- spruchungen ergeben, dass man sie überhaupt nicht für Kontinua, sondern für dicht gedrängte Schwärme einzelner Teilchen hält.

41b. Allgemeine Kinetik der gebundenen Systeme starrer Körper. 1. Synthetische Behandlung. Um bei einem gebundenen System starrer Körper zu den Differentialgleichungen der Bewegung zu ge- langen, liegt es am nächsten, den auf das System wirkenden Kräften die Reaktionskräfte hinzuzufügen, die an den Stellen auftreten, wo sich zwei Körper des Systems berühren; ausserdem wird man vielfach für die Berührungsstellen noch Reibungskräfte in Ansatz zu bringen haben. Nachdem man diese Reaktions- und Reibungskräfte hinzu- gefügt hat, darf man die einzelnen Körper des Systems als frei an- sehen und kann auf sie die Sätze anwenden, die in der Dynamik des einzelnen starren Körpers dargelegt worden sind. Dieses Verfahren führt jedoch nur in einfachen Fällen zu den kinetischen Differential- gleichungen, bei denen die expliziten Ausdrücke für einzelne natur- gemäß verschwindende Reaktionskomponenten leicht gebildet werden können. Im allgemeinen aber wird man die Reaktionen nach dem d’Alembertschen Prinzip mit Benutzung des Prinzips der virtuellen Verrückungen als Gleichgewichtsbedingung nur dann methodisch eliminieren können, wenn die kinematische Konstitution des Systems genau bekannt ist. In den Lehrbüchern ist über diesen Gegenstand nur wenig zu finden, und erst in neuester Zeit hat Ä. Heun die Be- deutung des d’Alembertschen Prinzips für Systeme starrer Körper eingehender untersucht). Am günstigsten gestalten sich die Aussichten bei der synthe-

593) Eine allgemeinverständliche Darstellung der betreffenden Untersuchun- gen gab E.J. Routh, Dynamik 2, Kapitel XI und XII; im übrigen vergl. VI» 22 (K. Schwarzschild).

594) Archiv Math. Phys. (3) 2 (1901—02), p. 57, 298.

41b. Systeme starrer Körper: Gebundene Systeme. 663

tischen Behandlung noch für Probleme des Gleichgewichtes mit oder ohne Reibung. Die Lösungen einer erheblichen Anzahl hierher ge- höriger statischer Aufgaben findet man bei M. Jullien®®), J. H.Jellett?°°), E..J. Routh’®”), G. M. Minchin?®) und E. Budde°°°). Hier wird zum Beispiel das Gleichgewicht eines zweirädrigen Karrens erörtert, der sich auf einer rauhen schiefen Ebene befindet, oder es wird bestimmt, welches die @leichgewichtslage einer Anzahl homogener glatter Kugeln ist, die in eine Hohlkugel gesteckt worden sind und der Schwerkraft unterliegen ®®). Bei Aufgaben, in denen die Schwere allein als wirkende Kraft auftritt, erweist sich übrigens oft das Prinzip von E. Torricelli als nützlich, wonach ein beliebiges schweres System im Gleichgewicht ist, wenn sein Schwerpunkt möglichst hoch oder möglichst tief liegt").

2. Analytische Behandlung. Der soeben geschilderten syntheti- schen Behandlung steht eine analytische Behandlung gegenüber, die im Wesentlichen durch J. L. Lagrange begründet worden ist und neuerdings durch @. A. Maggi eine ausführliche Darstellung erfahren hat®%), Als normale Koordinaten eines Systems starrer Körper, die mit einander auf vorgeschriebene Art verbunden sind, bezeichnet Maggi die Gesamtheit der Koordinaten der Schwerpunkte und der Eulerschen Winkel für jedes Glied des Systems; bei n Gliedern hat man also 6n normale Koordinaten. Bei den Bedingungen oder Fesselungen unter- scheidet er solche erster Art, zu deren Angabe die Kenntnis der kinematischen Konstitution des Systems allein ausreicht und die sich daher durch endliche Gleichungen zwischen den normalen Koordinaten und der Zeit ausdrücken lassen, und Fesselungen zweiter Art, zu deren Angabe man den Bewegungszustand des Systems kennen muss und

595) Problemes 1, p. 113.

596) Reibung, p. 49.

597) Statics, chap. IV, V, VI.

598) Staties, 3. ed., 1, p. 198, 227.

599) Mechanik 2, p. 935.

600) Vergl. auch Osb. Reynolds, Phil. Mag. (5) 20 (1885), p. 469 —= Papers on mechanical and physical subjects 2, London 1901, p. 203; hier werden Schrotsysteme betrachtet, nämlich Anhäufungen von Kugeln, die auf einander gleiten, von einander abrollen und sich auch von einander trennen können. Weitere Ausführungen dieses Gedankens hat Reynolds in der grossen Abhand- lung gegeben: On the sub-mechanics of the universe, die 1903 als dritter Band der Papers erschienen ist; vgl. dazu auch J. D. Everett, Phil. Mag. (6) 8 (1904), p- 30.

601) De motu gravium naturaliter descendentium, Öpera geometrica, Florenz 1644.

602) Stereodinamica, Mailand 1903.

664 IV 6, P. Stäckel. Elementare Dynamik.

die sich durch Gleichungen zwischen den normalen Koordinaten, deren ersten Ableitungen nach der Zeit und der Zeit selbst ausdrücken lassen. Er beschränkt sich jedoch, wie es üblich ist, auf Gleichungen, die linear und homogen in den Differentialen der normalen Koor- dinaten sind und den sogenannten nichtholonomen Bedingungen ent- sprechen‘). Reine Gleichungen der Bewegung nennt Maggi den In- begriff derjenigen Differentialgleichungen zwischen den normalen Koor- dinaten und der Zeit, in denen die von den Fesselungen herrühren- den Drucke nicht vorkommen; ihre Anzahl ist gleich der Anzahl der Grade der Freiheit des Systems. Maggi giebt nicht nur ein Verfahren an, wie man diese reinen Gleichungen aufstellen kann, sondern führt auch die Aufstellung an einer Reihe von Beispielen wirklich durch (vgl. auch Nr. 31ec dieses Artikels).

Wenn die Anzahl der Grade der Freiheit des Systems klein, also etwa gleich eins, zwei oder drei ist, erweist es sich als zweckmässig, statt der normalen Koordinaten andere Positionskoordinaten und zwar in möglichst geringer Anzahl einzuführen. Die Differentialgleichungen zwischen diesen Koordinaten und der Zeit werden alsdann häufig un- mittelbar durch das Prinzip der lebendigen Kraft, die Flächen- und die Schwerpunktssätze geliefert°%®). Bei dem Ansatz dieser Differen- tialgleichungen kann man überdies unter Umständen von den Nähe- rungsmethoden Gebrauch machen, die in der Lehre von den kleinen Schwingungen entwickelt worden sind, und ist dann in der Lage, qualitative und quantitative Schlüsse auf den Verlauf der Bewegung zu ziehen, ein Verfahren, das in der angewandten Mechanik eine wich- tige Rolle spielt, dessen korrekte Handhabung aber freilich einen sicheren mechanischen Instinkt erfordert.

t1c. Gelenkketten; Massenausgleich. Eine besondere Ausbildung hat in neuester Zeit die Dynamik der sogenannten Gelenkketten er- fahren, die in der Technik des Maschinenbaues und in der physiolo- gischen Mechanik eine wichtige Rolle spielen. Der Körper I des Systems möge einen Zapfen tragen, und es möge aus dem Körper II ein Lager gebohrt sein, in das der Zapfen passt, sodass die beiden Körper I und II gezwungen sind, relativ gegen einander sich um eine feste Axe zu drehen. Statt eines solchen Zylindergelenks kann man gegebenen Falls auch ein Kugelgelenk nehmen, so dass die beiden Körper sich relativ gegen einander um einen festen Punkt drehen

603) Über die Begriffe holonom und nicht-holonom siehe Nr. 4, Anm. 33, sowie Nr. 88.

604) Vgl. zum Beispiel A. Föppl, Dynamik, p. 129 und A. Love, Mechanics, chap. 7—9.

41c. Systeme starrer Körper Gelenkketten; Massenausgleich. 665

müssen usw. Indem man so durch Gelenke Körper an Körper fügt, erhält man eine Gelenkkette. Systeme dieser Art sind schon uralt; man denke an den Storchschnabel des Paters Chr. Scheiner‘”), an das Parallelogramm von J. Watt®®), an die Geradführung von A. Peau- cellier®"). Aber erst 1875 hat F. Reuleaux‘®) veranlasst durch die Bedürfnisse des Maschinenbaues die dort verwendeten Mechanismen klassifiziert sowie ihre kinematischen Eigenschaften systematisch unter- sucht, und erst am Schlusse des 19. Jahrhunderts ist die Kinetik der Gelenkketten in Angriff genommen worden.

Gewisse spezielle Gelenkketten hatte bereits A. Wangerin (1889) vom Standpunkte der theoretischen Kinetik aus untersucht®®); die Anregungen zu einer eingehenderen Beschäftigung mit diesem Gegen- stande sind aber von der technischen und der physiologischen Mecha- nik ausgegangen.

Aus der Technik ist die Massenausgleichung bei Schiffsmaschinen (1893) zu nennen. Während nämlich bei fest aufgestellten Dampf- maschinen die Rückwirkungen der Maschine auf das Gestell von dem Fundament aufgenommen werden, geben bei Schiffen die Massen- verschiebungen in der Maschine, die sich in regelmässigem Wechsel wiederholen, zu unangenehmen Schwingungen Veranlassung, und bei den grossen Ozeandampfern, bei denen die bewegten Teile sehr schwer sind und überdies grosse Geschwindigkeiten besitzen, können diese Schwingungen gefährlich werden. Damit die bewegten Massen, also ım wesentlichen die Kurbelmechanismen, die zu den einzelnen Zylindern der Dampfmaschine gehören, ohne Einfluss auf die Bewegungen des Schiffes bleiben, muss nicht nur der Schwerpunkt der bewegten Massen relativ zum Schiffe ruhen, sondern es muss auch das statische Moment der Bewegungsgrössen dieser Massen für jeden beliebigen Momenten- punkt in jedem Augenblicke verschwinden. Erst bei Berücksichtigung der zweiten Forderung ist ein praktisch befriedigender Massenaus- gleich möglich, und da man durch geeignete Wahl der Dimensionen

605) Pantographice, Rom 1631.

606) Patent vom 28. April 1784; siehe auch J. P. Muirhead, Mechanical inventions of James Watt 3, London 1854, p. 88.

607) Nouv. ann. (2) 3 (1864), p. 344; (2) 12 (1873), p. 71.

608) Theoretische Kinematik, Braunschweig 1875; ein zweiter Band ist 1900 unter dem Titel: „Die praktischen Beziehungen der Kinematik zu Geometrie und Mechanik“ erschienen; beide Bände zusammen haben jetzt den Titel: „Lehrbuch der Kinematik“. Vg). auch IV 3, Nr. 28—80 (A. Schoenflies und M. Grübler).

609) Über die Rotation mit einander verbundenen Körper, Halle Univ.-Schrift 1889, p. 3; vergl. auch M. v. Rohr, Diss. Halle 1892 und E. Jahnke, J. de math. (5) 5 (1899), p. 155.

666 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

der einzelnen Getriebe und ihrer Schränkungswinkel beide Forderun- gen bei vierzylindrigen Maschinen angenähert erfüllen konnte, ist ein grosser Fortschritt in dem Bau der Ozeandampfer erzielt worden °!P).

In der physiologischen Mechanik hat die Untersuchung der Be- wegungen des menschlichen Körpers, der sich näherungsweise durch das Gelenksystem des Skelettes ersetzen lässt, dazu Veranlassung ge- geben, dass O. Fischer (1893) für die Gelenkketten gewisse Hauptpunkte und Hauptstrecken eingeführt hat, durch die man eine erhebliche for- male Vereinfachung und zugleich eine grössere Anschaulichkeit der Betrachtungen erzielt‘).

Vereinigt man nämlich bei der Betrachtung eines einzelnen Gliedes in dem Mittelpunkte eines jeden begrenzenden Gelenkes die Masse des jenigen Körperabschnittes, der nach Durchschneidung dieses Gelenkes abfallen würde, so ergiebt sich für das Glied, wenn man dessen eigene Masse hinzunimmt, ein Massensystem, das die Gesamtmasse der ganzen Kette besitzt. Es heisst nach O. Fischer das zu dem betreffenden Gliede gehörige reduzierte System. Der Schwerpunkt eines jeden reduzierten Systems wird von ihm der Hauptpunkt des betreffenden Gliedes genannt, und die Strecken, die die Mittelpunkte der Gelenke mit den Hauptpunkten der zugehörigen Glieder verbinden, führen den Namen Hauptstrecken. Hat man etwa ein dreigliedriges Gelenksystem (Fig. 27), und sind m,, Ms, m, die Massen der Glieder, G,, und G,, die Gelenkmittelpunkte, so findet man das zu dem ersten Gliede gehörige reduzierte System, indem man im Punkte G,, die Massen m, und m, vereinigt und dem ersten Körper hinzufügt; ebenso wird für den zweiten Körper in G,, die Masse m, in Gy5 die Masse m, vereinigt, und man fügt diese Massen dem zweiten Körper hinzu. Endlich werden bei dem dritten Körper in G,, die Massen m, und m, vereinigt und diesem Körper hinzugefügt. Es

610) Vgl. etwa O. Schlick, Trans. Inst. of Nav. Arch. 42 (1900), p. 135 (Deutsches Reichspatent Nr. 80 974 vom 10. Nov. 1893); H. Lorenz, Dynamik der Kurbel- getriebe, Leipzig 1901, Mechanik, p. 543; H. Schubert, Theorie des Schlickschen Massenausgleichs, Leipzig 1901; A. Föppl, Dynamik, p. 127, sowie IV 10 (X. Heun).

611) Literatur in IV 8 (O. Fischer); dazu das inzwischen erschienene Werk von O. Fischer, Theoretische Grundlagen für eine Mechanik der lebenden Körper mit speziellen Anwendungen auf den Menschen sowie auf einige Bewegungs- vorgänge bei Maschinen, in möglichst elementarer und anschaulicher Weise dar- gestellt, Leipzig 1906. Ursprünglich hatte Fischer die Hauptpunkte und Haupt- strecken nur bei ebenen Gelenkketten angewandt, und er ist erst neuerdings dazu übergegangen, räumliche Gelenkketten zu betrachten, Leipzig Abhandl. 29, Heft 4 (1905). Spezielle Durchführungen für die dreigliedrige ebene Gelenkkette mit Rücksicht auf technische Anwendungen (Massenausgleich bei Kurbelgetrieben) hat Fischer in der Zeitschr. Math. Phys. 47 (1902), p. 429 gegeben.

42. Systeme starrer Körper: Kinetostatik. 667

versteht sich von selbst, dass dabei jeder Gelenkmittelpunkt das eine Mal als fester Punkt des einen, das andere Mal als fester Punkt des anderen Körpers aufgefasst wird. Die Schwerpunkte H,, H,, H, der so gefun- denen reduzierten Systeme sind die Hauptpunkte der dreigliedrigen Gelenkkette.

Die Hauptpunkte ha- ben in der Dynamik der n-gliedrigen Gelenkketten eine ähnliche Bedeutung, wie der Schwerpunkt bei dem einzelnen starren Kör- per. Im Besonderen er- Fig. 27.

möglichen sie es, einen ein- fachen Ausdruck für die lebendige Kraft der Bewegung der Kette um ihren Gesamtschwerpunkt aufzustellen. Wenn man darin noch die Hauptträgheitsradien der reduzierten Systeme einführt, so ergeben sich für die normalen Koordinaten der einzelnen Kettenglieder Diffe- rentialgleichungen von verhältnismässig durchsichtiger Struktur, die es ermöglichen, einen Einblick in die Art zu gewinnen, wie sich die Glieder in ihrer Bewegung gegenseitig beeinflussen.

Neuerdings hat auch K. Heun die Kinetik der Gelenkketten in eigenartiger Weise behandelt und für sie ein Analogon der Euler- schen Gleichungen beim einzelnen starren Körper aufgestellt‘'?).

42. Kinetostatik der Systeme starrer Körper. Während man in der Kinetik die Bewegungen der einzelnen Teile eines Systems be- trachtet, ist es nach K. Heun die Aufgabe der Kinetostatik „die Ver- änderlichkeit der statischen Verhältnisse in der Mannigfaltigkeit der Lagen der einzelnen Teile zu erforschen“®'?). Heun fügt hinzu, dass es sich also in dieser Disziplin darum handle, „nicht allein die Zapfen- und Lagerdrücke, die Kupplungsspannungen und Fundamentreaktionen während der veränderlichen Bewegungs- und Kraftverhältnisse bei der Maschine zu verfolgen, sondern auch die Kräfte und Momente der inneren Beanspruchungen eines beliebigen Querschnittes jedes einzelnen Maschinenelementes für jede Lage und Stellung desselben zu erkennen“. Er kennzeichnet damit die Bedeutung, die der Kinetostatik für die ge-

612) Archiv Math. Phys. (3) 2 (1902), p. 311. 613) Jahresber. d. D. M.-V. 9, Heft 2 (1901), p. 5.

668 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik,

samte technische Mechanik zukommt. In der Tat ergiebt sich erst aus der Grösse der Reaktionskräfte und ihrer Momente ein Aufschluss über die praktische Ausführbarkeit der könstruierten Mechanismen, deren Bestandteile ja nur dann als starr angesehen werden dürfen, wenn die Beanspruchungen unterhalb gewisser Grenzen liegen. Diesen Umständen entsprechend tragen die Einzelausführungen zur Kineto- statik der Systeme starrer Körper einen so spezifisch technischen Charakter, dass über sie nicht an dieser Stelle, sondern in dem Artikel IV 10 Dynamische Probleme der Maschinentechnik von K. Heun berichtet werden wird. Wohl aber kann hier auf die theoretische Seite eingegangen werden.

Die Anfänge der Kinetostatik liegen weit zurück. Schon I. Newton hatte (1687) auf die Wichtigkeit des von ihm aufgestellten Prinzips der Gleichheit der Aktion und Reaktion für die Maschinen hingewiesen“). Ferner löste Jacob Bernoulli (1691) das Problem des Schwingungsmittelpunktes, indem er davon ausging, dass die Ge- samtheit der Reaktionen der einzelnen Massenpunkte bei einem physi- kalischen Pendel in Gleichgewicht stehen muss®"?). Endlich betrach- tete .J. d’Alembert (1743) beliebige gebundene Systeme, bei denen vermöge der Verbindungen zwischen den einzelnen Teilen Reaktionen stattfinden ®'®); bei vollständigen Systemen müssen diese Reaktionen in ihrer Gesamtheit beständig im Gleichgewicht stehen®!”). Aller- dings verschwinden bei d’Alembert die Reaktionen sogleich wieder vom Schauplatze; sie werden vermöge des nach ihm benannten Prinzips eliminiert. Ähnlich steht es bei J. L. Lagrange (1761—1788), der das d’Alembertsche Prinzip analytisch formulierte. Die Reaktionen erscheinen bei ihm in Gestalt der Multiplikatoren ). Mit einer un- genauen Ausdrucksweise hat Lagrange diese Multiplikatoren manchmal schlechtweg als Kräfte (Reaktionskräfte, Drucke) bezeichnet; J. Bertrand bemerkt hierzu®'?): „les coeffieients A, u, » ne sont pas nommes forces

614) Principia, Scholium zur Lex tertia.

615) Acta erud., Lips. 1686, 1691 = Opera 1, Genevae 1774, p. 227 und 460, vergl. auch E. Mach, Mechanik, 3. Kapitel.

616) Dynamique, Paris 1743.

617) Ein unvollständiger System ist zum Beispiel ein Massenpunkt, der sich auf einer krummen Fläche bewegt; das System wird jedoch vollständig, wenn man die krumme Fläche zum Systeme hinzunimmt. In ähnlicher Weise hat man immer zu verfahren, wenn die von den Verbindungen herrührenden Reaktionen in ihrer Gesamtheit nicht im Gleichgewichte stehen; Reibungskräfte sind hierbei nicht als Reaktionskräfte anzusehen, sondern den äusseren Kräften zuzuzählen.

618) Bertrands Ausgabe der Me&canique analytique 1, p. 153 (= Oeuvres 11, p-. 174), vgl. auch Bertrands Anmerkung zu p. 160.

42. Systeme starrer Körper: Kinetostatik. 669

que par une locution figuree, familiere ä Lagrange. Nous avons averti plusieurs fois qu’il ne fallait pas prendre cette locution & la lettre“. Die Multiplikatoren A, u, v sind allerdings den Komponenten der betreffenden Reaktion proportional, allein welchen Proportionalitäts- faktor man zu nehmen hat, das lässt sich nicht angeben, wenn die zugehörigen Positionskoordinaten lediglich analytische Grössen ohne konkrete Bedeutung sind; sobald aber die Bedeutung der Positions- koordinaten feststeht, wird alles deutlich, indem man den Ausdruck für die elementare Arbeit heranzieht.

Auch bei Lagrange zeigt sich vielfach das Bestreben, die Multi- plikatoren zu eliminieren; jedoch ist das keineswegs immer der Fall, und es entspricht nicht der historischen Wahrheit, wenn man im 19. Jahr- hundert vielfach ausschliesslich diejenigen Differentialgleichungen, in denen allein die unabhängigen Positionskoordinaten vorkommen, als Lagrangesche Gleichungen bezeichnet hat®!?). Noch weniger aber ist die Befürchtung begründet, dass die von Lagrange aufgestellten Diffe- rentialgleichungen zur Bestimmung der Reaktionen ungeeignet seien; sein Verfahren „trennt vielmehr nur das rein kinetische Problem von dem kinetostatischen und erleichtert dadurch gleichzeitig die Behand- lung beider“ 20).

In einem gewissen Gegensatze zu Lagrange steht 8. D. Poisson. Er hat in seiner Mechanik (1811) die Bedeutung der Reaktionen scharf hervorgehoben, wie er denn auch den von Lagranye ganz ver- nachlässigten Einfluss der Reibung gebührend berücksichtigt‘). Neben ihm ist J. V. Poncelet (seit 1826) zu nennen, der die tech- nische Mechanik zu einer selbständigen Disziplin gemacht hat‘??). Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts trat jedoch ein Stillstand ein, und erst in der neuesten Zeit hat die Kinetostatik durch die Unter- suchungen von K. Heun wieder einen Aufschwung erfahren ®?°).

Heun hat sich besonders mit den statischen Verhältnissen bei der Bewegung einer einfach zusammenhängenden Gelenkkette be- schäftigt und die Reaktionskräfte bestimmt, die in den Punkten eines

619) Vergl. Nr. 7 dieses Artikels.

620) @. Hamel, Zeitschr. Math. Phys. 51 (1904), p. 439.

621) Im Anschluss an eine nachgelassene Arbeit Lagranges hat Poisson auch die Wirkung eines Schusses auf die verschiedenen Teile der Lufette einer Kanone untersucht, J. ec. polyt. cah. 21 (1832), p. 187.

622) Einen ausführlichen Bericht über Poncelets Leistungen in der tech- nischen Mechanik gab K. Heun, Jahresber. d. D. M.-V. 9, Heft 2 (1901).

623) Jahresber. d. D. M.-V. 9, Heft 2 (1901); Archiv Math. Phys. (3) 2 (1901—02), p. 57, 298.

670 a RE Stäckel. Elementare Dynamik.

Schnittes wirken, den man durch eines der Glieder oder durch eines der Gelenke geführt hat. Bei der synthetischen Methode benutzt man zu diesem Zwecke jedesmal aufs neue das Prinzip der virtuellen Ver- rückungen, das man auf die beiden durch den Schnitt von einander getrennten Teile der Kette anwendet. Bei der analytischen Methode werden für beide Teile die Lagrangeschen Bewegungsgleichungen an- gesetzt, in denen ausser den gegebenen Kräften noch die unbekannten Reaktionen auftreten; wenn die Bewegung des Systems bekannt ist, lassen sich aber diese Reaktionen mittels jener Gleichungen er- mitteln.

Zum Schluss dieser Nummer möge noch darauf hingewiesen werden, dass sich in der Kinetostatik der Systeme starrer Körper dieselbe Schwierigkeit einstellt, auf die schon bei der Statik des einzelnen starren Körpers (Nr. 27 dieses Artikels) hingewiesen wurde, dass nämlich die vollständige Bestimmung der lokalen Bean- spruchungen nur gelingt, wenn man die betrachteten Körper als elastisch ansieht. Die Lehre vom starren Körper gestattet nur für jeden Querschnitt die Resultante aller Spannungen und ihr resultie- rendes Moment zu berechnen, was jedoch unter Umständen für prak- tische Zwecke ausreicht; vgl. das sogenannte Saint-Venantsche Prinzip in der Elastizitätslehre (IV 25 O0. Tedone und A. Timpe).

43. Spezielle Probleme aus der Kinetik der Systeme starrer Körper.

In dieser Nummer soll nur über einige spezielle Probleme aus der Kinetik der Systeme starrer Körper berichtet werden, die ein grösseres theoretisches Interesse besitzen; im übrigen" möge auf die zahlreichen Beispiele verwiesen werden, die sich in den folgenden Artikeln T7—10 des Bandes IV finden.

Die Konstitution vieler Systeme starrer Körper lässt sich so auf- fassen, dass man einem gegebenen Systeme, auf das gegebene Kräfte wirken, einen einzelnen starren Körper hinzugefügt hat, meistens von kinetischer Symmetrie in bezug auf eine Figurenaxe, um die er sich dreht; je nach der Art, wie dieser Körper mit dem ursprünglichen Systeme verbunden ist (vgl. die Bemerkungen über Gelenkketten, Nr. 4lc dieses Artikels), wird durch ihn die Anzahl der Grade der Freiheit um eine, zwei, drei Einheiten vermehrt. Dies trifft für die Regulatoren, Gyrostaten und Gyroskope zu, die hier behandelt werden sollen.

43a. Regulatoren. Unter dem Regulator einer Kraftmaschine versteht man eine Vorrichtung, die die Drehgeschwindigkeit der

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43a. Systeme starrer Körper: Regulatoren. 671

Maschine dadurch in engen Grenzen hält, dass sie jeder einseitigen Änderung des Kraftfeldes (etwa einer Entlastung durch Ausschaltung von Arbeitsmaschinen) eine sie ausgleichende Änderung entgegensetzt (etwa eine Verminderung des Dampfzutritts). Das klassische Beispiel ist der Wattsche Zen- trifugalregulator (Patent vom Jahre 1784); siehe Fig. 28. Die beiden Schwungkugeln bleiben dauernd symmetrisch zu der Axe, sodass der Maschine nur ein neuer Freiheits- grad zugeführt wird. Der Ausschlagswinkel p hängt wesentlich von der Drehgeschwin- digkeit des Regulators um die Symmetrie- axe ab; bei einer Änderung von p wird die Muffe oder Hülse gehoben oder gesenkt, und diese wirkt mittels eines Stellzeuges auf den Dampfzutritt, die Steuerung oder Fig. 28. dergleichen. In etwas anderer Weise wird

der Wattsche Regulator bei den Triebwerken verwendet, die dazu dienen, Pendeluhren und Chronometer in gleichförmigem Gang zu erhalten oder astronomische Fernrohre auf längere Zeit parallaktisch einzustellen; vgl. VI24, Nr. 12 (C©. E. Caspary).

Über die genauere Behandlung des Problems der Regulatoren, die von den Lagrangeschen Gleichungen ausgeht und vor allem eine eingehende Analyse des Kraftfeldes erfordert, wird in IV 10 (K. Heun) berichtet werden; hier möge es genügen, die wichtigsten Züge der Erscheinungen anzudeuten®?*).

Jedem dauernden Belastungszustande der Maschine entspricht eine bestimmte Stellung p der Regulaturhülse, bei der gerade diejenige Trieb- kraft zugeführt wird, die zur Überwindung der Belastung erforderlich ist. Die statische Behandlung des Problems besteht nun darin, dass der Zu- sammenhang zwischen und der Drehgeschwindigkeit © ermittelt wird, indem man die Sätze über das Gleichgewicht unter Berück- sichtigung der Zentrifugalkraft auf das System der Schwungkugeln anwendet. Diese Untersuchung führt zu einem Kriterium über die Brauchbarkeit des Regulators: es soll & mit p wachsen (statischer Regulator) oder höchstens konstant sein (astatischer Regulator)®?°).

Die kinetische Behandlung des Problems zeigt, dass die soeben

624) Man vgl. auch K. Heun, Kinetische Probleme, Abschnitt F; H. Lorenz, Mechanik, p. 526; A. Föppl, Dynamik, $ 34.

625) Vgl. die historisch-litterarischen Angaben bei W. Hort, Zeitschr. Math. Phys. 50 (1904), p. 234, die auch für das Folgende in Betracht kommen.

672 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

angegebene Bedingung weder notwendig noch hinreichend ist, was aus der Praxis schon lange bekannt war. Den Grundgedanken dieser Behandlungsart, nämlich die Stabilität der Bewegung mittels der Methode der kleinen Schwingungen zu prüfen, hat zuerst @. B. Airy (1840) auf den Wattschen Regulator®2°) und später J. Clerk Maxwell (1868) auf andere Klassen von Reglern angewendet®?”). Bezeichnet man die Winkelgeschwindigkeit um die Drehaxe mit ©, +, den Ausschlagswinkel mit 9, + &, so erhält man bei'den Vernachlässigungen, die in der Methode der kleinen Schwingungen üblich sind, aus den Lagrangeschen Gleichungen für n und & lineare Differentialgleichungen:

etaa+bk+tn=0, „+2 +be+tan=0;

die Koeffizienten sind Konstanten, die von der Massenverteilung und dem Kraftfelde abhängen. Die Bedingungen der Stabilität ergeben sich aus der Forderung, dass die charakteristische Gleichung der linearen Differentialgleichung dritter Ordnung, die sich für & durch Elimination von x ergiebt, keine Wurzeln mit positivem reellen Teil besitzt; man wird so auf eine Frage der Algebra geführt, die bereits E. J. Routh®®®) untersucht hatte und die A. Hurwitz®?) für algebraische Gleichungen beliebigen Grades erledigt hat.

43b. Kreisel mit einem Freiheitsgrade; Gyro- staten. Um eine Einsicht in die Erscheinungen zu gewinnen, die bei den sogenannten Gyrostaten auf- treten, beginnt man am besten mit Versuchen an einem sogenannten Handkreisel mit einem Grade der Freiheit. Dieser besteht aus einem Schwungrade, das reibungslos in einem äusseren Ringe gelagert ist; an dem Ringe befindet sich oben und unten je eine Handhabe, die man mit den beiden Händen anfassen möge. Dreht man die Handhaben in der Ebene des äusseren Ringes, so hat man beiderseits einen Druck (Deviationsdruck) auszuhalten. Diese Drucke entsprechen einem Kräftepaare, dessen Axe Fig. 29. senkrecht gegen die beiden Handhaben ist und in

626) London Astr. Soc. 11 (1840); 20 (1851); vgl. auch E.J. Routh, Dynamik 2, p. 81.

627) London Royal Soc. Proc. 1868 Scientif. papers 2, p. 105. Unab- hängig von Maxwell ist später J. Wischnegradski, Paris C. R. 83 (1876), p. 318; Zivilingenieur (2) 23 (1877), p. 95 zu derselben Differentialgleichung gelangt.

628) Stability of motion, Cambridge 1878; siehe auch Dynamik, 2, p. 224.

629) Math. Ann. 46 (1895), p. 273.

43b. Syst. starr. Körper: Kreisel mit ein. Freiheitsgrade; Gyrostaten. 673

der Ebene des äusseren Ringes liegt. Das Moment dieses Paares ist der Grösse nach Cuv, wenn v die Winkelgeschwindigkeit bedeutet, mit der die Handhaben gedreht werden und u die Winkelgeschwin- digkeit, mit der sich das Schwungrad um seine Axe dreht. Was den Sinn der Drehung anlangt, die das Kräftepaar hervorzurufen strebt, so bestimmt er sich aus der Regel von der Tendenz zum gleichsinnigen Parallelismus der Drehaxen, vgl. Nr.35b 3), p. 635 dieses Artikels. Will man allgemeiner dem Handkreisel eine reguläre Präzessions- bewegung aufzwingen, bei der die Präzessionsgeschwindigkeit v ist und die Axe der Präzession den Winkel 9, mit der Axe des Schwung- rades bildet, so wird das Moment der Deviationsdrucke der Grösse

nach gleich [Cuv + (C— A) v? cos 9,] sin 9,,

und seine Axe fällt in die Knotenlinie; dabei bedeutet u wieder die Winkelgeschwindigkeit, mit der das Schwungrad sich um seine Axe dreht. Der Kreisel scheint also immer senkrecht gegen die Bewegungs- richtung ausweichen zu wollen, was J. Perry mit dem Verhalten eines störrischen Schweines vergleicht, das an einem Stricke gezogen wird ®?P)

Will man aber dem Handkreisel eine beliebig vorgeschriebene Kreiselung aufzwingen, so setzt sich die Dyname, welche die beiden führenden Hände auszuhalten haben, aus drei Komponenten zusammen, nämlich Deviationsdrucken senkrecht zur instantanen Drehaxe und dem Accelerationsdruck in der Richtung dieser Axe.

Beim Kugelkreisel ist der aus der Umlagerung des Drehvektors w entspringende Deviationsdruck gleich Auv sin #, und der aus der Änderung der Grösse von w entspringende Accelerationsdruck gleich Aw, mithin herrscht bei ihm in dieser Beziehung vollständige Analogie mit dem materiellen Punkte der Masse m. Will man nämlich diesem Punkte eine Bewegung auf vorgeschriebener Bahn mit vorgeschrie- bener Geschwindigkeit aufzwingen, so entsteht ein Trägheitsdruck, dessen Komponente nach der Tangente der Bahn, die aus der Änderung der Grösse des Geschwindigkeitsvektors d entspringt, gleich md ist, während die aus der Änderung der Richtung von v entspringende Komponente, die Zentrifugalkraft mv?/R, senkrecht zur Tangente in der Richtung des Krümmungshalbmessers R wirkt. Die Ähnlichkeit geht sogar noch weiter, da zur Überwindung der Deviationsdrucke und der Zentrifugalkraft keine Arbeit erforderlich ist®®!).

630) Drehkreisel, Leipzig 1904, p. 28. 631) Vgl. etwa F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, Kapitel II, $ 8.

674 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Um den überraschenden Eindruck, den die vorher beschriebenen Erscheinungen beim Handkreisel machen, noch zu verstärken, hat man dessen Handhaben in der Höhlung eines starren Körpers befestigt, die nur mittels einer verschliessbaren Öffnung zugänglich ist; nach W.Thomson (Lord Kelvin) heisst dieser Apparat ein Gyrostat. Trägt man einen solchen Gyrostaten im Zimmer umher, nachdem man das Schwungrad in rasche Drehung versetzt hat, „so ist es“, wie sich H. B. Libsen naiv, aber recht ungenau, ausdrückt, „gerade als ob ein in dem Kästchen befindliches lebendes Wesen die Drehung des Kästchens zu hindern suche, kurzum, dass ein Körper durch die Be- wegung [des Schwungrades] gleichsam Leben erhält und in diesem Zustande ein ganz anderes Tier ist als im Zustande der Ruhe“®3?),

Im besonderen hat W. Thomson das Schwungrad in ein bilateral- symmetrisches Gehäuse eingeschlossen, das ringsherum mit einer Schneide versehen ist; siehe die Figuren 30 und 31. Setzt man diesen Gyrostaten auf eine horizontale Glasplatte, sodass sein Schwer- punkt ungefähr senkrecht über der Schneide steht, und lässt das Schwungrad unaufgezogen, so ist das Gleichgewicht selbstverständlich instabil und der Apparat fällt um. Ist aber das Schwungrad in sehr rasche Drehung versetzt worden, so dass in dem Gyrostaten eine ver- borgene Bewegung von hinreichender Intensität stattfindet, so bleibt er stehen; dabei dreht sich die Schneide, falls sie nicht genau senk- recht aufgesetzt wurde, um die durch den Schwerpunkt des Gyrostaten gehende Vertikale langsam herum.

Die analytische Theorie dieser Erscheinung ist die folgende. Wenn sich der Schwerpunkt nur nach links und rechts (Fig. 30) bewegt, hat man ein System von drei Graden der Freiheit‘®®). Die Lagekoordinaten seien die Neigung 90° + # der Axe des Schwung- rades gegen die Vertikale, der Winkel y, den die Tangente an die krumme Schneide im Berührungspunkte mit einer festen Richtung in der Ebene bildet, und der Winkel y, um den sich das Schwungrad gegen die Anfangslage gedreht hat.

Unter der Voraussetzung, dass der Eigenimpuls des Schwung- rades N, sehr gross ist und #, $ und & bei der Bewegung sehr klein bleiben, erhält man bei den Vernachlässigungen, die in der Methode der kleinen Schwingungen üblich sind, für die lebendige Kraft, die

632) Mechanik 2, p. 55; vgl. auch J. Perry, Drehkreisel, Leipzig 1904, p. 15.

632*) Eigentlich hat man ein System mit vier Graden der Freiheit. Jedoch ist der vierte Freiheitsgrad (seitliche Bewegung des Schwerpunktes in Fig. 31) für sich stabil und kommt insofern nicht in Betracht.

43b. Syst. starr. Körper: Kreisel mit einem Freiheitsgrade; Gyrostaten. 675

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Fig. 31. Eneyklop. d. math. Wissensch. IV 1, ı. 44

676 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

dem Gehäuse und dem Schwungrade zusammen zukommt, den Aus- druck: I = +4, +49+2099% + 0°), während die Kräftefunktion U=4P% wird; hierin bedeuten A, und (, die bezüglichen Trägheitsmomente des Gehäuses und des Schwungrades, und P ist das Moment der Schwere

bei der Drehung um die Schneide. Man erhält also als Lagrange- sche Differentialgleichungen der Bewegung die Gleichungen:

d : 2 d . (2)5,(A, 8) Göoy=P9, Ad + GB), a, (Ca )=)0.

Die dritte Gleichung zeigt, dass der Eigenimpuls N, des Schwung- rades konstant ist, und für $ und % gelten daher die linearen Diffe- rentialgleichungen:

(4) A$®—-Nd=P#, Aö+tNd=0.

Weil bei sehr rascher Drehung N,?— A,P, positiv ist, werden diese Gleichungen befriedigt durch die Ausdrücke:

V a 9—=9,+ A: ee

1

(5)

V-n-hr

den Anfangsbedingungen entsprechend sind dabei 9, und & kleine Grössen. Die Bewegung der Gyrostaten setzt sich demnach zusammen aus einer sehr langsamen Drehung der Schneide um die Vertikale und kleinen Schwingungen der beiden Koordinaten $ und Y um diese Drehung ®*?).

Hierbei ist es eine wesentliche Voraussetzung, dass die horizon- tale Ebene glatt ist. Ist sie rauh, so wird durch die Reibung die Kovrdinate % festgehalten; folglich ist die Gleichgewichtslage instabil, und der Gyrostat fällt um.

Lord Kelvin bezeichnet den Apparat, dessen Theorie soeben ent-

633) W. Thomson, Nature 15 (1877), p. 297; Treatise, 2. ed. Cambridge 1886, 1, art. 345x; vgl. auch CO. Neumann, Leipzig Ber. 21 (1869), p. 132 = Math. Ann. 3 (1870), p. 350; Math. Ann. 11 (1877), p. 395; R. Hoppe, Zeitschr. Math. Phys. 17 (1872), p. 167; D. Bobylew, Moskau Math. Sammlung 16 (1892), p. 544 (russisch); 4A. @. Greenhill, Art. Gyroscope and gyrostate in der Encyclopaedia Britannica, und endlich die populäre Darstellung von J. Perry, Spinning tops, London 1890, deutsch von A. Walzel, Drehkreisel, Leipzig 1904.

43c. Systeme starrer Körper: Kreisel mit zwei Freiheitsgraden. 677

wickelt wurde, als einen Gyrostaten mit zwei Graden der Freiheit, indem er die verborgene Bewegung des Schwungrades nicht mitzählt oder, wie er sich auch ausdrückt, die Lagekoordinate x ignoriert. Er hat auch Gyrostaten konstruiert, die, in demselben Sinne des Wortes, drei, vier und mehr Grade der Freiheit besitzen, und gefunden, dass nur bei einer geraden Anzahl der Freiheitsgrade eine solche Stabili- sierung der Bewegung stattfinden kann, wie sie sich vorher bei zwei Freiheitsgraden ergab; der Grund hierfür liegt darin, dass bei der Ver- änderung eines Parameters in einer algebraischen Gleichung immer nur eine gerade Anzahl von Wurzeln von reellen Werten zu komplexen Werten übergehen kann. Endlich hat Lord Kelvin auch Systeme be- trachtet, die aus gelenkig verbundenen Gyrostaten zusammengesetzt sind, und zwar im Hinblick auf seine kinetische Theorie der Materie, bei der alle potentielle Energie als kinetische Energie verborgener Bewegungen von Gyrostaten aufgefasst wird; vgl. Nr. 26, p. 551 dieses Artikels, sowie IV 1, Nr. 26 (A. Voss).

Eine technische Anwendung des Kreisels mit einem Freiheitsgrad ist das Howellschen Torpedo. Es enthält in seinem Innern ein schweres Sehwungrad, das 10000 Umdrehungen in der Minute macht; die Axe des Schwungrades liegt horizontal und steht senkrecht auf der Sym- metrieaxe des Torpedos. Wenn nun ein störendes Kräftepaar das Torpedo horizontal aus seinem geradlinigen Kurse abzu- lenken sucht, so dreht sich die Axe des Schwungra- des in vertikaler Rich- tung, das Torpedo dreht sich daher um seine hori- zontale Längsaxe und jetzt wird, vermöge eines Pendels, eine Steue- rung betätigt, die die horizontale Abweichung der Torpedoaxe von der normalen Bahn und damit auch die Drehung der Kreiselaxe wieder aufhebt. Der Kreisel stellt somit die Torpedoaxe wieder in ihre ursprüngliche Richtung, und das Torpedo bewegt sich so automatisch in gerader Bahn ®**).

43c. Kreisel mit zwei Freiheitsgraden. Zu ganz anderen Er- scheinungen gelangt man bei Versuchen mit einem Handkreisel mit zwei Graden der Freiheit, der etwa durch Fig. 33 dargestellt wird.

634) Vgl. etwa A. G. Webster, Dynamics, p. 272. 44*

678 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik,

Wenn die Masse des Schwungrades die Masse des inneren Ringes erheblich überwiegt,, so ist die natürliche Bewegung dieses Kreisels (bei festgestellter Handhabe) eine reguläre Präzession, bei der sich das Schwungrad mit der gleichförmigen Geschwindigkeit u um die Axe PQ dreht und der innere Ring mit der gleichförmigen Geschwin- digkeit v um die Axe S7 rotiert; dabei findet ein konstanter Druck auf jede der Handhaben statt.

Zu Anfang des Versuches möge keine Drehung des inneren Ringes um die Axe ST stattfinden, dagegen dem Schwungrade eine starke Drehung um die Axe PQ@ erteilt werden. Wenn man jetzt den Handkreisel in der Ebene des äusseren Ringes um einen kleinen Winkel v dreht und ihn dann plötzlich wieder festhält, so hat der innere Ring begonnen sich mit der kleinen Geschwindigkeit

ke ee

in Bewegung zu setzen, während das Schwung- rad die Drehung mit der Geschwindigkeit u bei- behält. Auch hier kommt also die Tendenz zum homologen Parallelismus zur Geltung; vgl. u Nr. 35b 3) dieses Artikels. Dabei entspringt aus Fig. 35, dem beiderseitigen Deviationsdruck ein Moment, dessen Grösse gleich C?u?v/A ist und das die Drehung v rückgängig zu machen strebt. Lassen wir mit den Händen nach, so kehrt der Handkreisel wieder in seine Anfangslage zurück und bleibt dort stehen; er besitzt mithin eine gewisse Widerstands- kraft gegen Richtungsänderungen.

Einen Kreisel mit zwei Freiheitsgraden erhält man auch, wenn man bei der Cardanischen Aufhängung den äusseren beweglichen Ring festhält; dadurch wird der Eulersche Winkel y konstant erhalten. Zur Erläuterung der Regel von der Tendenz zum homologen Parallelismus ist folgender, wohl von Fr. Heinen®**) herrührende Versuch sehr ge- eignet. Man versetze den Kreisel in rasche Rotation und drehe darauf den äusseren Ring mit der Hand um die Vertikale. Alsdann stellt sich der innere Ring so ein, dass die Axe des Schwungrades ebenfalls vertikal steht und der Sinn der Drehung des Schwungrades mit dem

634 *) Über einige Rotationsapparate, besonders den Fesselschen, Braun- schweig 1857. Der Mechaniker Fr. Fessel in Köln hatte nach den Angaben von

J. Plücker einen Rotationsapparat hergestellt; vgl. Ann. d. Physik 90 (1853) p. 175, 851.

43c. Systeme starrer Körper: Kreisel mit zwei Freiheitsgraden. 679

Sinn der Drehung des äusseren Ringes übereinstimmt. Jetzt möge man den Sinn dieser Drehung plötzlich umkehren. Die Folge ist, dass sich die Axe des Schwungrades plötzlich um 180° dreht; denn nur so behalten die beiden Drehungen denselben Sinn. Lässt man also den äusseren Ring im Takte um seinen Durchmesser hin und her gehen, so kann man es so abpassen, dass die Figurenaxe des Kreisels beständig umkippt und zwar immer in demselben Sinne der Drehung. Kreisel mit zwei Graden der Freiheit gewinnen in der Technik eine täglich zu- nehmende Bedeutung. Es genüge hier den Schiffskreisel von O. Schlick zu erwähnen, der den Zweck hat, das Schlingern (Drehen um die horizontale Längsaxe) der Dampfer zu vermindern. Auf dem Schiffe ist ein Rahmen angebracht, der mittels zweier Zapfen um eine wagerechte, querschiffs liegende Axe schwingen kann, und in dem Rahmen befindet sich ein Schwungrad, das um eine daran befestigte, zu der wage- rechten Axe senkrechte Axe durch elektro- / magnetischen Antrieb in rascher Drehung k erhalten wird. Der Schwerpunkt der Vor- Ü richtung liegt unterhalb der wagerechten | Axe, so dass die Axe des Schwungrades in dem ruhigen Schiffe senkrecht steht. Schlingert jedoch das Schiff, so sucht sich die Kreiselaxe während jeder Drehung des Schiffs in homologen Parallelismus zu der Drehaxe des Schiffes zu stellen, und der Kreisel- rahmen gerät dem entsprechend ebenfalls in Schwingungen. Der Erfolg ist, dass die Periode des Schlingerns bei dem Schiffe mit Kreisel grösser ist, als bei dem Schiffe ohne Kreisel. Damit würde aber an sich wenig erreicht sein, und der Schiffskreisel erlangte eine praktische Bedeutung erst dadurch, dass der Kreiselrahmen mit einem hydraulischen Bremszylinder in Verbindung gebracht wurde, der seine Schwingungen dämpft. Die Energie, die durch die Wellen der Schlingerbewegung zugeführt wird, überträgt sich also zum Teil auf den Kreisel, wird von diesem aber nicht wieder an das Schiff ab- gegeben, sondern vermöge der Bremse in Wärme verwandelt. Die Schlingerbewegung des Schiffes wird daher bei einmaligem Impulse

680 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

in kurzer Zeit vernichtet, bei mehrmaligem Impulse aber erheblich verringert. A. Föppl hat die Differentialgleichungen der Bewegung mittels der Methode der kleinen Schwingungen aufgestellt und danach die Dimensionen des Kreisels und die Grösse der vorteilhaftesten Dämpfung für Drehgeschwindigkeiten berechnet, die sich verwirklichen lassen; Versuche haben eine gute Übereinstimmung mit den Be- rechnungen gezeigt ‘?°).

43d. Kreisel als Gyroskope. Unter Gyroskopen versteht man nach L. Foucault®®®) Apparate, die anzeigen, ob und in welchem Sinne ein Körper, an dem sie befestigt sind, eine Drehung im Raume aus- führt. Es ist daher ein Missbrauch, wenn von manchen Autoren der Name Gyroskop schlechtweg für den symmetrischen Kreisel gebraucht wird. Freilich hatte man früher keine kurze Bezeichnung für einen starren Körper mit kinetischer Symmetrie in bezug auf eine Axe durch den Schwerpunkt, auf der der Unterstützungspunkt liegt; jetzt sollte man aber die Worte Gyroskop und symmetrischen Kreisel je in ihrem spezifischen Sinne gebrauchen.

Als Gyroskop kann man einen Kreisel in der Form eines Schwung- ringes verwenden, der um seinen Schwerpunkt frei beweglich ist, also drei Freiheitsgrade besitzt. Wenn man den Schwungring in sehr rasche Drehung versetzt und keine unnötig starken seitlichen Stösse ausübt, so ist, wie bereits in Nr. 34b, p. 616 dieses Artikels aus- geführt wurde, die Bewegung des Kreisels eine Präzessionsbewegung von sehr en Öffnungswinkel, und da sich diese Bewegung bei kleinen Störungen fast unverändert fortsetzt, so giebt uns der Apparat eine Art von absoluter Orientierung im Raume. e

Der Gedanke, solche Gyroskope zum Nachweise der Erddrehung zu benutzen, hat um die Mitte des 19. Jahrhunderts verschiedene Phy- siker beschäftigt, aber erst L. Foucault hat einen ernstlichen Versuch gemacht, ihn zu verwirklichen®”). Dabei stiess er freilich auf grosse technische Schwierigkeiten, und es ist ihm nicht gelungen, entscheidende quantitative Ergebnisse zu erlangen; die Bedeutung seiner Versuche

635) Zeitschr. d. Vereins Deutscher Ingen. 1904; vgl. auch H. Lorenz, Phys. Zeitschr. 1904, p. 27.

636) Paris ©. R. 35 (1852), p. 421, 424 = Recueil des travaux, p. 401, 406.

637) Paris C. R 35 (1852), p. 421, 424 = Recueil des travaux p. 401, 406. Als Physiker, die gleichzeitig mit Foucault den Nachweis der Erddrehung durch einen Kreiselapparat ins Auge fassten, seien genannt .J. C. Poggendorff, Ann. d. Phys. 83 (1851); G. Sire, Paris C. R. 35 (1852), p. 431; Ch. C. Person, Paris C. R. 35 (1852), p. 417; E. Lamarle, Acad. Belg. Bull. (1) 19 (1852), II. part., p. 31, 274, 436. Für die Geschichte des Gyroskops vgl. Ph. Gilbert, Bruxelles Soc. scientif. Ann. 2B (1878), p. 255; J. Bertrand, Revue astron. 5 (1886), p. 441.

43d. Systeme starrer Körper: Kreisel als Gyreskope. 681

liegt daher wohl weniger in einem neuen Nachweise der Erddrehung als. darin, dass die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Kreiselwirkungen gelenkt wurde.

Erst in neuester Zeit hat man durch Versuche mit Gyroskopen die Umdrehungsdauer der Erde bestimmen können, und zwar wurden dabei Kreisel mit zwei Freiheitsgraden benutzt, auf deren Verwendung zu Gyroskopen ebenfalls schon L. Foucault aufmerksam gemacht hatte; bei ihnen kommt nach den Ausführungen in dem vorhergehenden Ab- schnitt dieser Nummer zur Geltung, dass sich die Drehaxe des Kreisels

v ce e| u 1 >> N 4 2 en M2 m ——— Ss r,r (\ u | Ss

zur Drehaxe der Erde, der sogenannten Weltaxe, in homologen Parallelismus zu stellen sucht. Ferner verzichtete man auf die volle Äquilibrierung des Kreisels, die doch nur unvollkommen blieb, liess vielmehr auf die Kreiselaxe ein äusseres Kräftepaar wirken, dessen Moment dem Drehwinkel proportional ist und mass die Grösse des statischen Ausschlags. Zu diesem Zwecke brachte Ph. Gilbert bei seinem Barygyroskop®??) ein kleines Übergewicht an, das in der

638) Bull. seiene. math. (2) 6 (1882), p. 213; vgl. auch F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, p. 752 und P. Appell, Mecanique 2, p- 359%

682 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik.

Figur 35 mit p bezeichnet ist, während A. Föppl einen Elektromotor an drei Stahldrähten aufhing und deren Torsion benutzte‘). Einen ausführlichen Bericht über die Konstruktion dieser Apparate und die Versuche mit ihnen findet man in dem Artikel IV 7, Nr. 43—44 (Ph. Furtwängler).

Die einfache Erklärung der Erscheinungen bei den Apparaten mit drei Freiheitsgraden, die darauf beruht, dass der Präzessionskegel sehr eng ist und dass auch die störenden Einflüsse für die Dauer des Versuches daran nichts ändern können, hat wohl zuerst E. Guyou ge- geben). Die früheren Autoren hatten lange und verwirrende Formeln für die relative Bewegung des Kreisels zur Erde entwickelt; diese sind jedoch vollständig überflüssig. Denn erstens hat es keinen Zweck, in dem vorliegenden Fall die kinetischen Formeln für die Relativ- bewegung heranzuziehen, weil sich der Kreisel nur um seinen Schwer- punkt dreht und dem entsprechend lediglich die Kinematil: der Rela- tivbewegung in Betracht kommt, die dadurch entsteht, dass der Kreisel im ruhenden Raume eine reguläre Präzession ausführt und wir dies von der sich drehenden Erde aus beobachten. Zweitens aber kommt in Betracht, dass man von vornherein konsequent das Gyroskop als verschwindend klein gegen die Erde und seine Um- drehungsgeschwindigkeit als sehr gross gegen die Erdumdrehung an- zusehen hat.

44. Stösse starrer Körper. Die Lehre von dem Impulse eines materiellen Systems, wie sie in den Nummern 7 und 28 dieses Artikels betrachtet wurde, hat einen abstrakt mathematischen Charakter; denn es wird dabei gänzlich von der Frage abgesehen, wie'sich die Stoss- kräfte realisieren lassen, die das System aus der Ruhe in den augen- blicklichen Geschwindigkeitszustand überführen. Streng davon zu sondern ist die Lehre von dem physikalischen Stosse, über die von H. Lamb in dem Artikel IV 26, Nr. 8d ausführlich berichtet worden ist; bei den Problemen aus der angewandten Mechanik hat man über- dies zu untersuchen, ob das gegebene System solche Stösse ertragen würde, das heisst, in welchen Grenzen es erlaubt ist, von der Starr- heit oder von der vollkommenen Elastizität der einzelnen Teile des Systems zu sprechen; vgl. IV 10 (K. Heun). Die Lehre von den Stössen starrer Körper, über die in dieser Nummer berichtet werden soll, nimmt eine eigenartige Zwischenstellung ein: sie ist zwar im

639) München Ber. 34 (1904), p. 5; Phys. Zeitschr. 5 (1904), p. 416. 640) Paris C. R. 106 (1888), p. 1143; vgl. F. Klein und A. Sommerfeld, Theorie des Kreisels, p. 737.

44. Systeme starrer Körper: Stösse. 683

Grunde nichts als eine mathematische Fiktion, aber sie lässt sich doch in gewissem Umfange als erste Annäherung bei wirklichen Stössen verwerten.

Zahlreiche besondere Fälle des Stosses starrer Körper sind schon im 17. und 18. Jahrhundert betrachtet worden #'), aber erst $. D. Poisson hat 1811 die Frage in allgemeinster Weise aufgefasst®*?). Wenn zwei überall konvexe, starre und glatte Körper, die sich beliebig bewegen, in einem Punkte zusammenstossen, so erleiden in diesem Augenblicke, in der neueren Ausdrucksweise, die 6 Koordinaten der Impulsdyname eines jeden der beiden Körper plötzliche Änderungen; diese Änderungen konstituieren je eine Stossdyname, und zwar ist bei dem reibungs- losen Stosse jede dieser beiden Stossdynamen eine Einzelkraft, die in dem Berührungspunkte angreift und deren Richtungslinie in der zugehörigen gemeinsamen Normale der Oberflächen der beiden Körper liegt. Nach dem Prinzip von der Gleichheit der Aktion und der Reaktion sind diese beiden Einzelkräfte entgegengesetzt gleich. Mithin ergeben sich für die 13 Unbekannten des Problems, nämlich die Koordinaten der beiden Impulsdynamen nach dem Stosse und die Grösse der unbe- kannten Einzelkraft, 12 lineare Gleichungen. Hieraus folgt, dass die Annahme der Starrheit noch nicht ausreicht, um das Verhalten der beiden Körper nach dem Stosse zu bestimmen. Man hat sich daher genötigt gesehen, weitere Annahmen zu machen.

Zu einer solchen Annahme wurde /. Newton geführt, indem er die lebendige Kraft zusammenstossender Kugeln vor und nach dem Stoss betrachtete Das Verhältnis der gesamten kinetischen Energieen nach und vor dem Stosse wird von ihm als Restitutions- koeffizient bezeichnet und als eine für den einzelnen Fall charakte- ristische Konstante angesehen. Ist dieser Koeffizient l; gegeben, so hat man eine dreizehnte Gleichung. Im Allgemeinen ist k ein echter Bruch; die Körper heissen vollkommen elastisch, wenn k=1 wird.

Aufandere Art verfuhr $. D. Poisson. Er machte nämlich die Annahme, dass die beiden Körper auch nach dem Stosse in Berührung bleiben, und erhielt so als 13. Gleichung die Bedingung, dass die Geschwindig-

641) Vgl. Nr. 18, Anm. 242° und ausserdem die Monographien von H.P. J. St. Kroese, Diss. Leiden 1879; E. Geleich, Zeitschr. Math. Phys., hist. - litt. Abt. 33 (1888), p. 41, 81.

642) Me&canique, 1. ed. 2, Paris 1811, p. 222; ausführlichere Darstellungen des Stosses starrer Körper enthalten die Lehrbücher von J. V. Poncelet, Meca- nique, 1, p. 451; E. J. Routh, Dynamik 1, Kapitel IV; W. Schell, Bewegung 2, p. 852—86; P. Appell, Mecanique 2, chap. XXVI, p. 476; 7’. Levi-Civita, Mecca- nica, p. 430.

684 IV 6. P. Stäckel. Elementare Dynamik,

keit des Berührungspunktes nach dem Stosse in beiden Körpern die- selbe ist. Einen Grenzfall hiervon untersuchte L. Poinsot®®), nämlich den, bei welchem sich der eine der beiden Körper in Ruhe befindet und seine Masse unendlich gross ist. Poinsots Problem lässt sich auch so formulieren, ein starrer Körper werde plötzlich in einem seiner Punkte festgehalten, und es soll untersucht werden, um welche durch den festgehaltenen Punkt gehende Axe und mit welcher Winkel- geschwindigkeit er sich dreht. Im besonderen betrachtete Poinsot den Fall, dass der Impuls des starren Körpers eine Einzelkraft ist, die entweder in der Ebene durch zwei Hauptaxen des Körpers in bezug auf den Schwerpunkt liegt oder auf einer solchen Ebene senk- recht steht; er ermittelte unter diesen Annahmen die Lagen des fest- gehaltenen Punktes, bei denen der Körper den grössten Stoss erleidet und die Lagen, bei denen die neue Winkelgeschwindigkeit der Drehung um die instantane Axe extreme Werte hat.

Schon Poisson hatte auch den Reibungsstoss untersucht, der statt- findet, wenn die beiden Körper rauh sind und während des Zusammen- stosses auf einander gleiten®%); später haben E. Phillips®®°), G. Dar- boux®*°), E. J. Routh®*‘) und A. Mayer‘*?) sich mit diesem schwierigen Gegenstande beschäftigt, der schon mehr in die technische Mechanik gehört; für den Reibungsstoss von Billardkugeln vgl. IV 9, Nr. I (G. T. Walker).

643) J. de math. (2) 2 (1857), p. 281 = Zeitschr. Math. Phys. 3 (1858), p. 274; J. de math. (2) 4 (1859), p. 161, 171, 421; vgl. auch R. Townsend, Quart. J. of math. 12 (1873), p 138; D. Chelini, Bologna Acc. Mem. (3) 6 (1873), p. 409; (3) 8 (1878), p. 273; N. Joukowsky, J. de math. (3) 4 (1878), p. 417; Petersburg, Physiko-chemische Gesellschaft J. 16 (1884), p. 388 (russisch), sowie A. Gray, Physik 1, p. 191, wo man noch verschiedene andere lehrreiche Beispiele findet.

644) Bull. de Ferussac 6 (1826), p. 163; auf Poissons Veranlassung hat auch der General A. J. Morin Versuche über den Reibungsstoss angestellt.

645) J. de math. (1) 14 (1849), p. 312.

646) Paris C. R. 78 (1874), p. 1421, 1559, 1645, 1767; Bull. scienc. math. (2) 4 (1880), p. 126; Note XXI in der M&canique von M. Despeyrous: Etude geo- metrique sur la percussion et le choc des corps.

647) Dynamik 1, p. 343; vergl. auch Ä. v. Szily, Ungarische Berichte 19 (1904), p. 283.

648) Leipzig Ber. 54 (1902), p. 208, 327.

Namenverzeichnis.

Ein Stern (*) vor dem Namen bedeutet,

dass der betreffende Autor im

Litteraturverzeichnis, p. 437—442 des Artikels, angeführt wird. Die in Antiqua gedruckten Zahlen 435—684 beziehen sich auf die Seiten des Artikels, die cursiv gedruckten Zahlen 7—648 bedeuten die Nummern der Fussnoten.

Abel, N. H. 56, 359.

Abraham, M. 497; 13, 32a.

Airy, G. B. 494, 672; 97.

Alasia, Cr. 566.

*d’Alembert, J. 437, 444, 449, 525, 528, 542, 543, 544, 545, 555, 618, 627, 647, 662, 668; 7, 21, 31a, 33, 63, 89, 278, 326, 332, 359, 385, 561, 577.

Amato, V. 211.

Amodeo, F. 175.

Amontons, G. 471, 472.

Ampere, A.M. 163, 457.

Amthor, A. 439, 560, 564.

Andoyer, H. 124.

*Andrade, J. 441; 153, 222, 254a.

*Antomari, X. 441.

*Appell, P. 438, 441, 445, 490, 506, 511, 518, 529, 578, 585, 588, 597, 605; 36, 37, 40, 63, 88, 130, 131, 146, 157, 168, 173, 175, 187, 192, 203, 206, 211, 224, 231, 232, 233, 234, 239, 243, 271, 272, 293, 294a, 295, 296, 304, 361, 391, 392, 409, 416, 431, 433,'438, 440, 443, 445, 446, 451, 443, 456, 495, 500, 505, 509, 510, 515, 564, 569, 571, 588, 590, 638, 642.

Archimedes 657.

d’Arcy, P. 464.

Arendt, G. 440.

Aristoteles 478.

*Asbeleff, N. 438.

Astor, A. 116.

Auerbach, F. 439.

August, F. 294, 303.

Atwood, G. 528; 263.

v. Baer, K. E. 487; 111.

Bahrdt, W. 204.

*Ball, R. St. 441, 506, 548, 557, 564, 569, 571, 580, 581; 2 366, 390, 406, 411, 547.

Bardelli, G. 14.

*Bartlett, W. H. C. 438.

Barus, C. 429, 559.

Battaglini, G. 157.

Beghin, H. 519; 231.

Beltrami, E. 312, 432.

Bender, 0. 561.

Benzenberg, J. Fr. 103.

Bernoulli, Dan. 444, 464, 480; 96, 163, AT2.

Bernoulli, Jac. 444, 533, 537, 668; 325.

Bernoulli, Joh. 444, 489, 492, 493, 494, 503, 533, 604; 33, 63, 85, 117, 143, 163, 176, 242a, 285, 287, 302, 305, 306, 329.336, 339, 552, 577.

Bertelli, T. 208.

Berthelot, M. 375.

Bertram, H. 103.

Bertram, Th. 191.

Bertrand, E. 442.

Bertrand, J. 437, 478, 479, 498, 499, 506, 516, 517, 659, 668—669; 48, 107, 108, 154, 194, 228, 416, 417, 423, 503, 509, 547, 618, 637.

Biermann, W. 293.

Binet, J. 495; 146, 209, 386.

Biot, J. B. 603.

Bobillier, E. E. 301.

Bobylew, D. 438; 36, 554, 633.

Bohl, P. 55a.

Bohlin, K. 50.

Bohnenberger, J. G. F. 462, 529.

du Bois, H. E. J. G. 357.

du Bois-Reymond, E. 170a

Böklen, O. 603.

*Boltzmann, L. 438, 453; 17, 20a, 28, 36, 37, 112, 151, 179, 198, 314, 316, 416, 460.

Bonacini, G. 153.

Bonnet, OÖ. 490; 131, 153, 154, 290.

Bossut, Ch. 89, 192.

Bouguer, P. 544, 657; 580.

*Bour, E. 438; 116.

*Boussinesq, J. 438; 150c, 191.

Bradley, J. 544.

Braschmann, N. 111.

Bravais, A. 658; 194.

686 IV 6. P. Stäckel.

de Brettes 90.

Breuer, E. A. 207.

Brillouin, M. 76a.

Brinckmann, OÖ. 191.

Brioschi, F. 312.

Briot, Ch. 499.

Brix, A. 69.

*Broch, ©. J. 438.

Bruns, H. 259.

*Budde, E. 438, 555, 605, 663; 161, 167, 177, 192, 319, 363, 544

Bugajeff, N. 36.

Burbury, H. S. 37.

Burgatti, P. 546.

*Burkhardt, H. 442, 485; 125, 272, 308.

des Camus, F. J. 471, 472.

Cantor, M. 375.

Cardanus, H. 559, 660; 375.

Carnot, L. 519.

Cartesius, siehe Descartes.

Carvallo, E. 443.

Casey, J. 155.

*Castellano, F. 438; 8.

Catalan, E. Ch. 202.

Cauchy, A. L. 560, 566; 90, 250, 331, 350, 379, 482.

Cavendish, H. 512.

Cayley, A. 1a, 13a, 153, 312, 334, 341.

*Cellerier, Ch. 438; 157.

Chailan, E. 179.

Chapman, H. W. 573a.

Chappuis, J. 445.

Charlier, ©. V. L. 468; 50, 58, 153, 258.

Chasles, M. 604.

Chaumat, H. 652; 75.

Chelini, D.*) 14, 413, 643.

Chessin, A. S. 116.

Chevilliet, M. 157. y

Chladni, E. F. 537.

Christoffel, E. B. 61a, 94.

*Chwolson, O. D. 438.

Clairaut, A. 486, 496, 503; 107, 163, 192.

CJairaut, J. B.**) 987.

Clausius, R. 52.

Clebsch, A. 439, 490, 658; 31a, 150c, 291, 293, 487.

*Clifford, W. K. 438; 28.

Closterhalfen, B. 153.

*Collignon, E. 438.

Condorcet, M. 89.

*Coriolis, G. 438, 446, 486, 487, 488, 652; 47, 107, 301, 341.

Cormack, T. J. Me. 442.

Coulomb, Ch. A. 471, 473, 591, 652, 658.

*, D., nicht C., wie p. 452, Fuss- note 14 irrtümlich gesetzt worden ist.

**, Die Angabe: Clairaut A. p. 533 ist falsch, die Abhandlung rührt von Clairaut, dem Vater, her.

Elementare Dynamik.

la Cour, J. L. 250. Cournot, A. 36, 439. *Cox, J. 438.

Cranz, C. 442. Crelle, A. L. 359. Crescini, E. 564.

Dainelli, U. 157.

Daniele, E. 75.

Dannehl, H. 293.

*Darboux, G. 438, 534, 565, 611, 618 623—624, 626, 684; 48a, 94, 131, 132 153, 157, 191, 227, 242, 309, 432, 470 486, 495, 512, 514.

Darwin, G. H. 527; 50.

*Decher, G. 438.

*Delaunay, Ch. E. 438, 588; 11a, 192, 228, 269, 561.

Deprez, M. 530; 271.

Desboves, A. 153.

Descartes, R. 456, 491, 542; 28, 29, 128, 472.

*Despeyrous, Ch. 438, 588; 157, 297, 242, 426, 486, 490, 512, 514, 646.

Dewar, J. 623; 293.

Didion, J. 564.

Dillner, G. 58.

Dirichlet, P. Lejeune 467, 658; 55.

Donkin, W. F. 192.

Dudebout, A. 659.

*Duhamel, J. M. C. 438, 658; 238, 484.

*Duhem, P. 442, 659; 20b, 590.

*Dühring, E. 442; 1a, 320.

Dumas, W. 267.

Dupin, Ch. 657—658; 580.

Durtge, H. 192.

v. Dyck, W. 2, 19.

Ebert, H. 19. «'

Eggers, H. 438; 262.

Emery, G. 299.

Enneper, A. 200.

Epstein, Th. 494.

Euler, J. A. (Sohn) 662.

"Euler, L. 437, 444, 463, 464, 471, 489, 503, 511, 542, 543, 544, 545, 546, 547, 554, 558, 559, 561, 574, 578, 581—583, 596, 610, 617, 618, 627, 641, 645, 647, 657; 13a, 21, 31a, 33, 63, 74, 117, 131, 150c, 153, 163, 165, 187, 192, 233, 242a, 257, 287, 304, 306, 331, 336, 359, 376, 378, 383, 392, 405, 412, 457, 468, 488, 489, 499, 522, 561, 562, 577, 580.

Everett, J. D. 600.

Falkenhagen, J. M. H. 573. Faraday, M. 551.

Farkas, J. 36.

Fejer, L. 131.

Fermat, P. 492; 128.

Ferrers, N. M. 33, 445, 486, 570.

Namenverzeichnis.

Fessel, F. 634.

Finck 558.

*Finger, J. 439; 288.

Finsterwalder, F. 538.

Fischer, 0. 666—667; 610.

v. Fleischl, E. 441.

Fleuriais, G. 340.

Flocquet, G. 304.

Fontaine, A. 326.

*“Föppl, A. 439, 486, 539, 679, 681; 8, 13, 30, 47, 66, 67, 88, 110, 178, 249, 268, 351, 360, 604, 610, 624.

Foucault, L. 508, 547, 616, 635, 680681; 529, 637.

Fourier, J. 36, 87.

de Francesco, D. 312.

*Franke, J. N. 439.

Frantz, R. 191.

Franzen, H. 153.

Froude, R. E. 479.

*Fuhrmann, A. 441.

Fuss, N. 287.

*Galilei, G. 437, 443, 478, 480, 500, 508, 533, 542; 8a, 82, 102, 162, 242a.

Gallop, E. G. 560.

Gauss, C. F. 491, 493, 522, 538; 31a, 36, 103, 170a, 179, 246, 247.

var Geer, P. 501; 148, 206.

Gehler, J. 69.

Geleich, E. 641.

Genocchi, A. 208.

Gerhard, C. G. 129.

Gerlach, 0. 25.

Gerland, E. 434.

Germain, Sophie 308.

Gerstner, Fr. J. 298.

Gibbs, J. W. 446; 36, 179.

Gilbert, D. 301.

*Gilbert, Ph. 439, 681; 116, 172, 276, 413, 423, 425, 526, 533, 637.

Girard, A. 438,

Glaisher, J. W. L. 157.

Goldschmidt, B. 295.

Gorjatschoff, D. 645; 257.

Gottschalck, A. 514.

Graf, H. 115.

Grassmann, H. 446.

Grassmann, H.d. J. 613; 530.

Gravelius, H. 441.

Graves, J. Th. 199.

*Gray, A. 439, 517; 38a, 473, 643.

Greenhill, A. G. 613, 623, 658, 659; 148, 153, 192, 293, 429, 514, 581, 590, 633.

Gregory, D. 284.

de Gresy, Cisa 504.

v. Grofe, G. 192.

Gross, Th. 440.

Grübler, M. 319,

Grunert, J. A. 462.

Grünwald, A. 557; 367.

687

Gudermann, Chr. 192, 293.

Guglielmini, G. B. 103.

Guldberg, A. 124.

Gumlich, E. 20a.

Günther, 8. 111.

Guyou, E. 659, 681; 101, 271, 529, 588, 590.

Gylden, H. 32a, 150, 150.

Haas, K. 522.

Hadamard, J. 55a, 175, 443, 510, 543.

Haffner, 456.

Hagen, J. 74, 346.

Hall, A. 13a.

Hall, E. H. 105.

Halphen, H. 506; 157, 179, 192, 194, 514.

Hamel, G. 435; 55a, 232, 417, 451, 620.

Hamilton, R. W. 444, 446, 455, 465, 493.

Hansen, P. A. 150.

Hansteen, Chr. 522.

Hart, H. 145.

Hartmann, J. G. 441.

Harzer, P. 592.

Hausdorff, F. 437.

Haussner, R. 153.

Hayward, H. B. 588.

Heinen, Fr. 678.

Helm, G. 25.

*y. Helmholtz, H. 439, 440, 445, 449, 635; 10a, 11, 47, 62, 90, 225, 250, 374, 507a, 530.

*Henneberg, L. 441, 511; 36, 304.

Hermann, J. 143, 155, 287.

Hermite, Ch. 192.

Herschel, J. 494; 98.

Herrmann, G. 72, 207.

*Hertz, H. 439, 548, 558, 595; 12, 30, 37a, 112, 441.

Hess, W. 570, 642—643; 492, 510, 514, 539, 541.

*Heun, K. 435, 439, 441, 484, 548, 662, 667, 667—668, 669—670; 8, 83, 226, 417, 622, 624.

Hill, G. W. 466; 49, 56, 258.

Hiltebeitel, A. M. 153.

Hinrichs, J. 191.

Hirayama, 8. 157.

Hirn, A. 467.

Hoffmann, B. 111.

Hoffmann, E. 219.

Hoffmann, R. 137.

Hoffmann, W. 191.

Holzmüller, F. G. 10, 152.

Hoppe, R. 157, 191, 259, 291, 561, 564, 570, 633.

Hort, W. 625.

de l’Hospital, G. F. 444; 176.

Hossfeld, A. 179.

Howell, 677.

van Hüllen, A. 89.

Hülsen, B. Th. 153.

688 IV 6. P. Stäckel.

v. Humboldt, A. 522.

Hurwitz, A. 672.

Husson, Ed. 642; 535:

*Huygens, Chr. 437, 443, 486, 499, 500, 503, 533, 542, 602, 657; 128, 161, 242a, 323, 339.

Ide, J. J. A. 163. Imschenetzkij, V. 157. Israel-Holtzwart, K. 494.

Jackwitz, J. 267.

*Jacobi, C. G. J. 439, 444, 472, 495, 501, 504, 548, 620, 621, 624—626; 2, 32a, 36, 45, 63, 153, 154, 262, 512.

Jäger, W. 20a.

Jamet, V. 157.

Jahnke, E. 514, 609.

»Jaumann, G. 439.

*Jellett, J. H. 441, 511, 656, 662; 64, 203, 204, 206, 294, 303, 560.

Joly, C. J. 8.

Jordan, C. 557; 94, 547.

Jouguet, E. 90.

Joukowskij, N. 642—643; 468, 534, 643.

Jourdain, Th. E. B. 451.

*Jullien, M. 441, 501, 605, 662; 63, 146, 147, 150c, 170, 176, 206, 288, 302, 467.

Jung, F. 422.

Jung, G. 511.

Kainz, G. 124.

Kant, I. 28.

Karsten, W.J.G. 345.

Kater, H. 462.

*Keck, W. 439.

Keller, F. 219.

Kelvin, Lord, siehe W. T'homson.

Kepler, J. 463; 378.

Kindel, P. 157.

*Kirchhoff, G. 439, 472, 580; 321, 417.

*Klein, F. 435, 441, 473, 478, 508, 530, 548, 557, 562, 570, 580, 588, 611, 628, 629, 635, 645, 649—650; 9, 28, 33, 370, 60, 81, 37, 99, 111, 133, 192, 231, 346b, 383, 397, 406, 411, 416,

422, 423, 430, 436, 438, 450, 498, 508, 512, 514, 516, 522, 524, 527, 531, 532, 538, 541, 542, 556, 557, 558, 559, 631, 638, 640.

*Klein, H. 442.

Klöden, K. F. 135.

Kneser, A. 55a, 303.

Kobb, G. 191, 547.

Koenigs, G. 605, 613, 645; 6la, 175, 395, 432, 495.

Kohlrausch, Fr. 459.

Kolossoff, G. 541.

König, A. 439.

König, J. 33, 451.

König, S. 488, 568, 598; 378.

Königsberger, L. 153.

157,

Elementare Dynamik.

Kopernikus, N. 485; 102.

Koppe, M. 533.

Korn, A. 437; 76a, 150b.

Körner, Th. 21.

Korteweg, D. J. 597; 150c, 450, 569. Kötter, F. 538; 514.

Kowalewski, Sonja 549; 388, 536, 537. Krafft, G. W. 287.

*Kraft, F. 441; 79, 462.

Krebs, G. 438.

Kretz, X. 440.

Krigar-Menzel, O. 439.

Kriloft, A. 61.

Kroese, H. P. J. St. 641.

Kummer, E. 131, 214.

*Lagrange, J. L. 437, 444, 461, 466, 467, 472, 480, 504, 527, 533, 537, 547, 548, 559, 576, 578, 583—585, 596, 618, 626, 640, 641, 645, 658, 659, 668, 668—669; 1a, 8a, 33, 37a, 48, 82, 93, 94, 94b, 95, 153, 154, 163, 192, 194, 215, 216, 228, 243, 280, 287, 304, 350, 407, 442, 457, 481, 508, 509, 537, 547, 621.

*Laisant, Ch. A. 441; 25, 124.

*Lalande, J. 442.

Lamarle, E. 637.

Lambert, J. W. 441.

Lame, G. 449; 310.

Lampe, E. 435; 219, 573.

*Laplace, P. S. 438, 449, 488, 491, 493, 494; 13a, 94b, 257, 332, 385, 522.

Larmor, J. 453; 17, 292.

*Laurent, H. 439.

Leaute, H. 88, 304, 435.

Lecornu, L. 61a, 75, 176, 192, 254a, 271, 312, 435, 542.+'

Legendre, A. M. 63, 153, 297, 385, 500.

Legoux, A. 116, 124, 148, 409.

Lehmann, G. 267.

Lehmann-Filhes, R. 527; 32a, 150e.

Leibniz, @. W. 533; 47, 128, 434.

Lemni, E. 48.

Lenard, Ph. 154.

Lesage, G. L. 242a.

Lespiault, G. 157.

Levi, A. 529.

*Levi-Civita, T. 439, 507, 586; 29, 99, 227, 642.

Levy, M. 152, 271, 312.

Lie, 8. 364.

Liebmann, H. 199, 213.

v. Lilienthal, R. 214.

Lindelöf, E. 444.

Lindelöf, L. 295.

Lissajous, J. A. 506; 198.

v. Littrow, J. J. 442, 494.

v. Littrow, K. F. 137.

Liouville, J. 153, 209, 257.

Liouville, R. 537, 539.

EI EVEEEEEEUELL ERENTO EETR

Namenverzeichnis.

Ljapunoff, A. M. 55a, 257,

Lloyd, H. 133.

Lodge, O. J. 357.

Lolling, G. 152.

*[orenz, H. 439; 101, 204, 249, 320, 610, 624, 635.

Lorentz, H. A. 497.

Lottner, E. 439, 625; 116, 514.

*Loudon, W. J. 439.

*Love, A. 439, 605; 79, 604.

Lübsen, H. B. 439, 674; 3la, 533.

*Lüroth, J. 439, 441; 8.

Luxenburg, M. 267.

Mac Cullagh, J. 608.

*Macgregor, G. 439.

*Mach, E. 442; 1a, 13, 28, 38a, 85, 125, 129, 242a, 264, 325, 483, 615.

Maclaurin, C. 489; 21.

*Maggi, G. A. 439, 663—664; 75, 216, 304, 312, 322, 451, 564.

Mälzel, J. H. 603.

Mansion, G. 138.

Marci, M. 242a.

Marcolongo, R. 439; 40, 46a, 124, 238, 291, 293, 514, 546.

Marey, J. 530.

Masi, F. 77.

*Mathieu, E. 439.

de Maupertuis, M. 493; 125.

Maurer, L. 212.

“Maxwell, J. Cl. 441, 446, 458, 495, 551, 588, 602, 612, 672; 13, 20, 627.

Mayer, A. 460, 501, 519, 684; 75, 203, 204, 303, 648.

Mayr, R. 385.

Mehmke, R. 25.

Mejer, L. 439.

Merrit, E. 528.

Mersenne, M. 500, 542.

Meschtscherskij, J. 32a, 262.

Meyer, M. W. 494.

Michaelis 136.

*Minchin, G. M. 441, 511, 663; 301.

*Minding, F. 439, 467, 652, 653, 658; ö5, 56, 293, 304, 439.

Mlodzjejowskij, B. K. 644; 517.

*Möbius, A. F. 441, 446, 455, 489, 490, 494; 23, 120, 138, 290.

*Moigno, F. 441; 295.

Molenbroek, P. 444.

*Monge, G. 438, 446, 499, 543.

*Montucla, J. F. 442; 242.

Morera, G. 153, 312, 443.

Morin, A. J. 644.

Mossotti, O. F. 312.

Mühle, G. 153.

Muirhead, J. P. 606.

Müller, Ottomar 291.

Murhard, F. W. A. 437.

Napoleon I. 537.

689

*Navier, H. 439; 289.

Neesen, F. 87.

Nekrassoff, P. A. 539.

Neumann, C. 506; 116, 150b, 357, 439, 442, 573, 633.

*Neumann, F. 439.

Newton, H. A. 32a.

*Newton, I. 438, 443, 444, 450, 464, 478, 485, 494, 495, 498, 508, 513, 542, 544, 668, 683; 28, 29, 63, 82, 242a, 244, 256, 261.

*Niewenglowski, G. H. 439.

Niven, Ch. 518.

Noth, H. Th. 148.

Nouvel, P. 167.

Novikoff, P. 153.

v. Obermayer, A. 483. Oersted, H. Chr. 522. Ohrtmann, C. 175. Olsson, O. 191. Oppenheim, 8. 152. Östrogradskij, M. 33, 36. v. Öttingen, A. 437.

Pade, H. 491.

Padeletti, D. 124.

Padova, E. 116, 304, 514, 564, 570.

Painleve, P. 467, 591—592, 652; 55a, 75, 271.

Pape, C. 439.

Parent, A. 471, 472.

Pasquier, F. 138.

Peaucellier, A. 665.

*Peirce, B. 439; 293.

Pennacchietti, G. 124, 146, 191, 204, 312.

Perlewitz, P. 153.

*Perry, J. 441, 678; 77, 357, 529, 573a, 632, 633.

Person, Ch. C. 637.

Pesci, G. 103.

*Petersen, J. 435, 440, 490; 30, 338 a.

Petrus, A. 492.

Pfaff, H. 261.

Pfaff, J. Fr. 509, 510.

Pflaum, H. 438.

Phillips, E. 684.

Picard, E. 646; 271.

Piceiati, G. 312.

Pieper, M. 564.

Pionchon, J. 87.

Pizzetti, P. 257.

Playfair, J. 219.

Plettenberg, P. 291.

Plücker, A. 580; 37a, 634.a.

Pockels, F. 94.

Poggendorff, J. H. 522; 637.

Poincare, H 446, 641; 20a, 52, 258, 277, 451.

*Poinsot, L. 4a1, 444, 445, 446, 464, 488, 539, 544, 548, 561, 566, 567, 570, 586—587, 607, 608, 610, 611, 624,

690 IV 6. P. Stäckel. 625, 626, 628, 641, 683—684; 3, 8a, 12, 46, 209, 379, 386, 389, 396, 423, 484, 485, 486, 488, 490, 499, 500, 519.

*Poisson, 8. D. "440, 444, 449, 506, 508, 522, 538, 547, 548, 551, 585586, 632, 647 649, 655656, 658, 669, 683, 684; 28, '33, 46a, 53, 75, 87, 90, 94b, 104, 125, 170a, 192, 214, 246, 304, 386, 387, 391, 439, 463, 504, 509, 564, 573, 621, "644.

Pollard, J. 659.

*Poncelet, J. V. 440, 446, 548, 669; 28, 622, 642.

Porro, F. 157.

Prätorius, d. 153.

Preston, T. 199.

Pröll, R. 25.

*de Prony, R. 440.

Prouhet, H. 440.

Puglisi, 'M. 191.

Puiseux, V. 506, 528, 633; 194, 526, 558, 573.

Quidde, W. 188.

Rachmaninoff, J. 312.

Radau, R. 486.

Rankine, W.J.M.*) 546; 356, 357.

*Rausenberger, O. 440.

Rayleigh, Lord 524; 65, 90, 94, 94b, 250.

Razzaboni, A. 204.

Redtenbacher, F. 484; 26.

*Reech, F. 440; 90, 316.

Reich, F. 103.

*Resal, A. H. 440; 157, 191, 192, 199, 304, 431, 479, 534, 563, 564.

Reuleaux, F. 665; 395.

Reynolds, 0. 90, '600.

Riccati, J. 565.

Richelot, Fr. J. 192.

Riecke, E. 152, 170a.

van Rijn, J. 459.

*Ritter, A. 440; 36.

Ritter, E. 152.

*Roberts, H. A. 440.

Robin, G. 519.

Robins, B. 518; 233.

Roger, E. 131.

v. Rohr, M. 609.

Rosenberger, F. 103, 125, 210.

Roth, F. 206.

Röthig, 0. 209.

Rousseau, Th. G. 231.

*Routh, E. J. 440, 441, 511, 518, 521, 524, 525, 588, 603, 605, 625, 632, 658, 655, 656, 663, 672; 52, 79, 88, 94, 94b, 97, 99, 166, 257, 262, 304, 416, 431, 440, 443, 444, 486, 500, 508, 514, 523, 542, 547, 561, 593, 626, 642.

*) Statt W. J.M. steht p. 546 irrtüm- lich J. W.M.

Elementare Dynamik.

Rudio, F. 262. Rueb, A. St. 548. Rühlmann, M. 69. Runge, C. 439, 457. Ruoss, H. 465.

*de Saint-Germain, A. 442, 506; 170, 179, 192, 194, 204, 271, 451, 514. Saint- Guilhem, P. 682, 586, 587588; ‚391.

de Saint- Venant, B. 449.

Salkowski, E. 191.

Saltykoff, N. 153.

Savart, F. 90.

Scheibner, W. 36, 152.

Scheiner, "Chr. 664.

*Schell, Ww. 440, 446; 90, 130, 485, 642.

*Schellbach, K.H. 440, 441; 1506, 484.

Schiff, P. A. 644— 645; 546.

Schepp, A. 440, 441.

*Schiller, N. 440.

Schlegel, M. 293.

Schleiermacher, L. 192.

Schlick, O0. 89, 610.

Schlink, W. 313.

Schlömilch, O. 438.

Schlotke, J. 320.

Schmidt, F. 191.

Schmidt, J. C. 440.

Schnuse, C. H. 438, 440.

Schöne, B. 137.

Schouten, G. 496; 429, 444.

Schubert, H. 610.

Schubring, G. 296.

Schütt, Ö. 36, 167, 179.

Schütte, J. 89.

Schwarzschild, K. 497.

Schweigger, J. S. 522.

Searle, G. F. C. 612.

Seegers, C. 152. u

Seeliger, H. 150, 150b.

Segner, J. A. 545, 546, 646; 73, 2997, 339, 340.

Seidemann, (. 191.

Sella, A. 219.

Serret, J. A. 153.

Serret, P. 463, 490; 191.

Serson, 546.

Servus, A. 152.

Servus, H. 437, 441.

Siacci, F. 157.

Sire, G. 839; 529, 534, 637.

Skutsen, R. 14, 268.

*Slate, F. 440, 462; 22.

Slesser, @. M. 431, 440.

*Sludsky, T.*) 440; 300, 545.

Smith, Arch. 560.

Snellius, W. 491.

*Sommerfeld, A. 441, 446, 473, 497, 548,

562, 611, 623, 635, 646; 9, 60, 81, 99,

*) Statt T. steht in der Fussnote 300

‚fälschlich F.

Namenverzeichnis.

111, 192, 253, 346b, 383, 397, 406, 416, 422, 423, 430, 436, 438, 498, 508, 512, 514, 516, 522, 524, 527, 531, 532, 538, 540, 541, 542, 556, 558, 559, 631, 638, 640.

Sommerville, Mary 494.

*Somoff, F. 440.

Sousloff, G. K. 36.

de Sparre, M. 75, 192, 492.

Sprung, A. 111.

Stäckel, P. 466, 506; 15, 55, 58, 91, 117, 151, 186, 187, 191, 204, 382.

Stader, J. Fr. 150c.

Staude, 0. 643—644, 645; 27, 122, 150e, 153, 177, 191, 515, 542, 544.

*Steele, W. J. 441; 148.

Steinmetz, P. 250.

Stekloft, W. 645; 145.a.

Stephanos, C. 157.

Stern, M. A. 440.

*Stevin, 8. 438; 31a.

Stodola, A. 455.

Strauss, E. 164.

v. Strelecki, F. 198.

Strömgren, E. 32a.

Study, E. 460, 557; 133, 364.

*Sturm, Ch. 440; 228, 413.

Suchar, P. J. 157.

Sylvester, J. 607.

v. Szily, K. 647.

Tadini, A. 103.

*Tait, P. G. 440, 441, 445, 446, 480, 492, 495, 521, 526, 557; 1, 30, 61, 99, 148, 216, 220, 221, 229, 247a, 350, 334, 422, 570, 587, 633.

*Tallgvist, Hj. 440.

de Tannenberg, W. 204.

Tannery, J. 191.

*Tarleton, F. A. 440.

Taylor, Brook, 272, 325.

Tedone, O0. 537

*Thomson, J. J. 441, 453; 20.

*Thomson, W. (Lord Kelvin) 440, 445, 446, 480, 492, 495, 512, 516, 517, 521, 524, 526, 552, 557, 580, 649—650, 655, 658, 673—677; 1, 30, 32a, 60, 61, 99, 216, 220, 221, 229, 350, 384, 507a, 570, 587, 633.

de Tilly, J. 90.

Timerding, H. E. 511.

Timmers, J. 191.

Timpe, W. 206.

Tisserand, F. 152, 192, 522.

Tissot, A. 191.

*Todhunter, J. 441, 511; 218.

Torricelli, E. 663.

Townsend, R. 122, 643.

Tschaplygin, S. 597, 645, 655; 537.

Encyklop. d. math. Wissensch. IV 1, ı.

691

Tschebyscheff, P. L. 538.

Turquan, L. V. 585.

*Varignon, P. 488, 511, 543; 3, 31a, 287, 319.

Velde, W. 154.

Veltmann, W. 259, 268.

Vicaire, E. 131.

*Vieille, J. 442.

Vierkandt, A. 653; 443, 571.

v. Vieth, J. 150e.

Villarceau, A. Y. 498, 506; 455.

*Villie, E. 442.

*van der Vliet, P. 440.

“Voigt, W. 440, 551; 6, 87, 35la, 357.

“Volkmann, P. 442.

Volterra, V. 312.

Voss, A. 508, 538; 214, 318.

Wagner, H. 438.

Walker, G. T. 578.

Wallis, J. 242a.

*Walton, W. 442; 79, 90.

Walzel, A. 357, 529, 633.

Wangerin, A. 665.

Watson, H. W. 37.

Watt, J. 665, 671.

"Webster, A. G. 440, 462, 505, 612, 618, 634; 16, 94, 193, 253, 377, 391, 431, 494, 510, 564, 571, 634.

Weierstrass, K. 468; 94, 94b.

Werner, W 191.

Wernicke, A. 221.

Wertheim, G. 440.

*Whewell, W. 442; 1a, 40.

White, W.H. 89.

*Whittaker, E. T. 441; 94.

Wien, M. 525.

Wien, W. 439.

Wijthoffl, A.G 154.

*Williamson, W. 440.

Willing, @. 564.

Winkelmann, M. 549.

Wischnegradski, J. 627.

Wislicenus, W. F. 138.

Wittenbauer, F. 187.

Wolf, Chr. 378.

*Wolf, R. 442.

Wolfers, J. Ph. 437, 438; 376, 414.

Wölffing, E. 40.

Wöller, Fr. 154.

Woronez, P. 619; 443, 572, 574.

Worthington, A. M. 529.

Wren, Chr. 242a.

Young, Th. 483; 97, 248.

*Zech, P. 442.

Zenneck, J. 253a.

Zermelo, E. 36.

Zeuthen, H. G. 146.

*Ziwet, A. 440, 441.

45

(Abgeschlossen im Dezember 1905.)

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